Maulwurfszeiten

Tief getroffen verlässt Paul Deutschland. Er wird nicht mehr zurückkehren.

Über Deutschland ziehen unterdessen dunkle politische Wolken auf, doch Paul lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Über die Wahlen kann man natürlich nur den Kopf schütteln«, schreibt Paul an Lily, »aber Schwarzsehen liegt mir einmal nicht.«

Die gewaltigen Fackelzüge der Nationalsozialisten, die in der Nacht des 30. Januar 1933 durch Düsseldorf und andere deutsche Städte ziehen, nimmt Paul skeptisch, doch mit Gelassenheit zur Kenntnis. Die Nazis haben die Macht übernommen, und Paul geht wie gewohnt seiner Arbeit nach, als sei nichts geschehen. Erst als auf dem Düsseldorfer Akademiegebäude die Hakenkreuzfahne flattert und sich ein überzeugter Nazi Direktor nennt, meidet er seinen geliebten Arbeitsraum. So langsam wird ihm klar, was es bedeutet, dass Adolf Hitler als Diktator Deutschland regiert.

Auch in Dessau findet Paul keinen Frieden mehr. Als die SA jedes einzelne Zimmer seines Hauses auf den Kopf stellt, um nach politisch verdächtigen Bildern zu suchen und seine gesamten Briefe zu beschlagnahmen, flüchtet er für kurze Zeit in die Schweiz. Es dauert nicht lange, und Professor Paul Klee ist mit sofortiger Wirkung aus der Düsseldorfer Akademie entlassen.

»Der große Klee«, heißt es in der Presse, »erzählt jedem, er habe arabisches Vollblut in sich, ist aber typischer galizischer Jude. Er malt immer toller, er blufft und verblüfft, seine Schüler reißen Augen und Maul auf, eine neue, noch unerhörte Kunst zieht in das Rheinland ein.« Obwohl Paul einen sogenannten Ariernachweis vorgelegt hat, beschimpfen ihn die Zeitungen weiterhin als »bolschewistischen Ostjuden« und »gefährlichen Kulturbolschewisten«.

»Von mir aus etwas gegen so plumpe Anwürfe zu unternehmen, scheint mir unwürdig«, vertraut Paul seinem Tagebuch an. »Denn: wenn es auch wahr wäre, dass ich Jude bin oder aus Galizien stamme, so würde dadurch an dem Wert meiner Person und meiner Leistung nicht ein Jota geändert. Diesen meinen persönlichen Standpunkt, der meint, dass ein Jude und ein Ausländer an sich nicht minderwertiger ist als ein Deutscher oder ein Inländer, darf ich von mir aus nicht verlassen …«


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Das Jahr 1933 fängt nicht gut an für Paul: erst die Hausdurchsuchung, dann die Entlassung aus der Düsseldorfer Akademie. In dieser Zeit entsteht das düstere Bild »Geheim Richter«.


Paul lehnt es ab, sich weiter gegen die haltlosen Vorwürfe zu verteidigen. Seine Bilder verändern sich. Er malt einen düsteren »Geheim Richter«, der den Betrachter mit bedrohlichen Augen anschaut. Er erfindet Marionettenfiguren, die auf satirische Weise das Fremdbestimmtsein thematisieren. Und er malt ein Selbstporträt mit heruntergezogenen Mundwinkeln und verschlossenen Augen, auf dem ein dickes schwarzes Kreuz prangt: »Von der Liste gestrichen«, nennt Paul das Bild. Seine Arbeit ist in Deutschland nicht mehr erwünscht.


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Mit gedämpften Farben malt Paul ein Gesicht, aus dem Niedergeschlagenheit und Zukunftsangst sprechen. Gerade hat er in Deutschland Berufsverbot erhalten. Er ist als Künstler »von der Liste gestrichen«, wie er sein Bild nennt.

Im Exil

»Wann kommen nur endlich die Franzosen über den Rhein und befreien uns von dieser Pest!« Lily ist verzweifelt. Sanft, aber beharrlich drängt sie zur Ausreise in die Schweiz, doch Paul tut sich sichtlich schwer mit dieser Entscheidung. Natürlich haben ihn die Anfeindungen aus Deutschland tief getroffen, doch schließlich lebt er bereits seit seiner Studienzeit in München …

Lily will von seinen Einwänden nichts wissen. »In diesem Land hast du nichts mehr zu suchen«, erklärt sie bestimmt. Als die SA im selben Moment grölend am Haus vorüberzieht, springt Kater Bimbo, Pauls »weiser Mao«, fauchend vom Tisch. Paul blickt ihm gedankenverloren nach und denkt: Er hat ja so Recht.


Bild 24

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Paul und Lily mit Kater Bimbo vor ihrer Wohnung im Kistlerweg 6 in Bern, 1935


»Ich bin jetzt ausgeräumt«, schreibt Paul in einem letzten Brief aus Deutschland an Felix und Euphrosine. »Morgen Abend verlasse ich wahrscheinlich diesen Ort. Es kommen dann die schönen Weihnachtstage, wo in jedem Kindskopf Glocken läuten. Ich bin in den letzten Wochen etwas älter geworden. Aber ich will nichts von Galle aufkommen lassen, oder nur humorvoll dosierte Galle. Das gibt’s bei Männern leicht. Frauen pflegen in solchen Fällen der Tränen …«

Paul und Lily kehren zunächst nach Bern in Pauls Elternhaus zurück. Ida ist inzwischen verstorben, doch Mathilde und Hans leben noch immer in dem kleinen Haus, in dem Paul seine Kind heit verbracht hat. »Wir versuchen nach vorn zu blicken«, schreibt Paul, »haben uns auch so weit gefunden, dass es gelingen wird, das Zurückliegende als Geschehen oder als Stück unserer Geschichte zu notieren, es aus dem Bereich unseres Tuns zu eleminieren.«

Ein halbes Jahr später ist eine kleine Mietwohnung am Stadtrand von Bern gefunden, mit Schafzimmer, Musikzimmer und improvisiertem Atelier mit Balkon, von dem aus man die schneebedeckten Berge sehen kann. Im Gästezimmer stapeln sich unzählige Bilder, viele davon ehemalige Leihgaben an deutsche Museen und Galerien, die er in der Zwischenzeit zurückgefordert hat. Paul ist in all den Jahren anspruchslos geblieben; ihm gefällt das einfache Leben.

Die Wohnung im Kistlerweg 6 wird zum Lebensmittelpunkt. Endlich kann Paul wieder in Ruhe den ganzen Tag arbeiten. Wie recht Lily doch hatte, ihn zur Flucht aus Deutschland zu drängen. Nie wieder will er dieses Land betreten, wo den »entarteten« Künstlern inzwischen das Malen verboten ist.

Im Herbst 1935 wird Paul krank. Die Ärzte vermuten zunächst Masern, doch tatsächlich handelt es sich um die ersten Anzeichen einer Hautkrankheit, Sklerodermie, von der sich Paul nie wieder ganz erholen wird. Zwei Monate lang liegt er im Bett, an Arbeit ist nicht zu denken. Lediglich fünfundzwanzig Werke entstehen 1936, so wenige wie nie zuvor in einem Jahr. Geige spielen darf Paul auch nicht mehr, und das gemütliche Pfeifeschmauchen hat der Arzt ebenfalls verboten.

Zur Erholung halten sich Paul und Lily wochenlang im Wallis und Tessin auf. Für Lily ist es ein wahres Wunder, dass sich Pauls Zustand wieder bessert. Und mehr als das: »die Produktion nimmt ein gesteigertes Ausmaß in sehr gesteigertem Tempo an«, schreibt Paul in einem Brief an seinen Sohn Felix. »Wenn die Freude zu leben heute manches Hindernis erfährt, so kann man sie vielleicht auf dem Umweg über die Arbeit rekonstruieren? Mir kommt das so vor, und ich glaube, es glückt auch bis zu einem gewissen Grad. Da die Arbeit gute Zeiten haben kann, stellt sich manchmal eine Art Glück ein.«

Doch Paul spürt, dass seine Krankheit weiter fortschreitet, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. In aller Stille entsteht ein Bild nach dem anderen – rätselhafte, sehr persönliche Werke, die kaum jemand zu deuten weiß. Paul experimentiert mit verschiedenen Malgründen, verwendet mal Zeitungspapier, mal Jute, dann wieder Kistenholz. Die Bildformate wachsen ins Monumentale; die Farben, hergestellt nach Spezialrezepten, werden kräftiger; die Linie wächst zu dicken schwarzen Balken an. Oft sind nur noch wenige Striche, Zeichen und einfache Formen auf seinen Bildern zu sehen. Paul versucht sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, alles Erlebte und Gewesene soll verdichtet werden.


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Dieser schreckliche Nationalsozialismus. Paul malt eine Gestalt, die es buchstäblich in Stücke zerrissen hat.


Einmal malt er einen Menschen, dessen Körperteile wie bei einer Gliederpuppe in seine Einzelteile zerfallen sind. Das Gesicht drückt Entsetzen und Verzweiflung aus, Augen und Mund sind weit aufgerissen. »Angstausbruch III«, verzeichnet Paul als Titel in sein Werkverzeichnis. Ein anderes Mal malt er eine liegende Figur, die von vielen menschlichen Wesen umringt ist, die scheinbar nicht wissen, was zu tun ist. »Die Ratlosen«, nennt Paul dieses in gedämpften Farben gemalte Bild, das eine gedrückte Stimmung vermittelt. Genauso fühlt sich Paul manchmal, wenn die verschiedenen Ärzte ihn untersuchen und jeder zu einer anderen Diagnose kommt.


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Mit feinen Strichelungen malt der Künstler eine geisterhafte Traumwelt, die auf den ersten Blick verwirrend erscheint. Und ebenso fühlen sich die vielen durchsichtigen Gestalten angesichts des Liegenden: Paul nennt sie »Die Ratlosen«.

Doch auch die späten Jahre haben viele verschiedene Gesichter, und neben allem Ernst spiegeln sich auch immer wieder Zuversicht und Lebensfreude in seinen Bildern. Leben und Sterben, denkt Paul, das ist der Kreislauf des Lebens. »Der Tod ist nichts Schlimmes, damit habe ich mich längstens abgefunden. Weiß man denn, was wichtiger ist, das Leben jetzt oder das, was kommt?«

»Diesseitig bin ich gar nicht fassbar«

Während sich Paul in seinem Berner Atelier vergräbt, wird im benachbarten Deutschland eine gewaltige Ausstellung geplant, die durch verschiedene deutsche und österreichische Städte wandern soll. Siebzehn von Pauls Bildern sind darunter, die wie die Werke von Wassily Kandinsky, Franz Marc und anderen als »krankhafte Auswüchse irrsinniger und verkommener« Künstler verspottet und einer »gesunden« deutschen Kunst gegenübergestellt werden, die dem Ideal der Nationalsozialisten entspricht. Pauls Bilder sind in ihren Augen Werke eines Geisteskranken, die eine Gefahr für den »gesunden Verstand des deutschen Volkes« darstellen.

Auch die »Zwitscher-Maschine« wird in der Ausstellung »Entartete Kunst« in München, Berlin, Leipzig, Düsseldorf, Salzburg, Hamburg und Weimar gezeigt – absichtlich ohne Rahmen und noch dazu schief gehängt, damit die Besucher eine Abneigung, ja, regelrechten Hass auf Pauls Kunst entwickeln. Schließlich verkaufen die Nazis sein Ölfarbeblatt mit vielen anderen wertvollen Bildern ins Ausland, damit die »Verfallskunst endgültig der deutschen Öffentlichkeit entzogen wird«. Der Erlös wird unter anderem für die Aufrüstung der deutschen Armee verwendet.

Rund 17 000 moderne Kunstwerke lassen die Nationalsozialisten aus deutschen Museen abhängen und beschlagnahmen. Ein großer Teil davon wird im März 1939 im Hof der Berliner Hauptfeuerwache verbrannt.

Paul lässt das alles nicht mehr an sich herankommen. Er zieht sich zurück, empfängt kaum noch Besucher. Auch wenn Lily kein Wort der Klage von ihm hört, leidet er unter starken körperlichen Schmerzen. Am 10. Mai 1940 verlässt er Bern, um im Sanatorium in Muralto-Locarno Erholung zu suchen. Auf seiner Staffelei steht ein Bild, das er gerade begonnen hat.


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Während das Geschehen in Deutschland immer unbegreiflicher wird, vergräbt sich Paul in seinem Atelier in Bern.


Sein Zustand verschlechtert sich nun täglich. Wenige Tage später reist Lily ihrem Mann unruhig und voller Sorge nach. Paul, der lieber sterben wollte, als einen zweiten Weltkrieg zu erleben, hält sein Versprechen. Am Morgen des 29. Juni 1940 schläft er in eine andere Welt hinüber. Seine Urne wird auf dem Schlosshaldenfriedhof in Bern beigesetzt, und Lily lässt das Grab mit Rosen, Astern und Begonien bepflanzen.

Auf Pauls Grabstein finden sich die folgenden Worte, mit denen er sich einmal selbst beschrieben hat:

»Diesseitig bin ich gar nicht fassbar
Denn ich wohne grad so gut bei den Toten
wie bei den Ungeborenen
Etwas näher der Schöpfung als üblich
Und noch lange nicht nahe genug.«