5 Die Recherche

Georg ließ es dreimal klingeln und nahm erst dann den Hörer ab. Simon schien überrascht zu sein, nicht die Sekretärin am Apparat zu haben. Er fing sich aber gleich wieder.

»Hallo Georg, guten Abend. Ich habe Licht in deinem Büro gesehen und dachte, du hättest vielleicht gerade Zeit für mich und könntest einmal herüber kommen.«

»Ich habe niemals Zeit, das müsstest du doch mittlerweile von mir wissen«, entgegnete Georg. »Wenn du allerdings wieder einen lukrativen Auftrag hast und dazu noch einen Kaffee, lasse ich mich allerdings gerne überreden. Meine Frau Stelljes ist schon gegangen und die Vorräte, die sie mir hinterlassen hat, sind aufgebraucht.«

»Du wirst lachen«, antwortete Simon, »genau das wollte ich dir vorschlagen. Ich sitze hier gerade mit Herrn Kühler zusammen und dein Kaffee wartet schon auf dich. Ob mein Auftrag allerdings lukrativ ist, musst du selbst entscheiden.«

»Gut, überredet, aber den Kaffee noch nicht einschenken«, sagte Georg. »Ich brauche fünfzehn Minuten. Ist das in Ordnung? Wenn ich schneller bin, denkst du tatsächlich noch, ich würde nur auf deinen Anruf gelauert haben.«

Georg wartete nicht auf eine Antwort, sondern legte auf, erhob sich und ging zum Fenster. Er schaute hinüber zum Gelände des Kunst- und Auktionshauses Blammer. Simons Büro ging zur anderen Seite heraus, glaubte er. Er würde es gleich noch einmal feststellen. Er musste tatsächlich noch einige Notizen auf ein Dokument bringen. Später, wenn er von Blammer zurück wäre, hätte er seinen Gedankengang sicherlich schon wieder vergessen. Es dauerte ein paar Minuten, dann griff er sich sein Jackett und verließ das Büro.

Es stand tatsächlich eine Kanne Kaffee für ihn bereit. Er hatte nur knapp sieben Minuten gebraucht, um sein Bürogebäude zu verlassen, über die Straße zu gehen und Einlass bei Blammer zu finden. Simon saß nicht an seinem Schreibtisch, sondern an dem runden Besprechungstisch, auf dem eine Schar von Geräten stand. Es waren zwei Laptops und an jedem war ein surrender Beamer angeschlossen. Das Geräusch kam von den Lüftern der Beamer, die gegen die Hitze der Projektionslampen ankämpften. Simon und Heinz Kühler standen auf und begrüßten ihn mit einem Handschlag. Den Kaffee schenkte sich Georg selbst ein und sah dann erwartungsvoll zu seinen Gastgebern.

»Danke erst einmal, dass es so schnell ging«, begann Simon. »Ich habe natürlich etwas für dich, genau genommen sind es zwei Aufträge. Der eine wird dich nur ein müdes Lächeln kosten. Es geht um einen Vertrag, den deine Kanzlei ausarbeiten soll. Es muss allerdings bis morgen Abend erledigt sein.«

Heinz Kühler reichte Georg einige Notizen. »Es ist unser Standardvertrag zur Übernahme eines Versteigerungsobjekts und der Auktionsabwicklung«, erklärte er. »Ich habe die Änderungen hier markiert und die neuen Daten an den Rand geschrieben.«

Georg überflog das Papier und nickte. »Kein Problem. Das kriegen wir sicherlich hin, auch bis morgen. Was gibt es sonst noch?«

Er nahm einen Schluck Kaffee und sah wieder zu Simon, der etwas an den Laptops einstellte. Die beiden Beamer warfen ihre Lichtkegel auf die Leinwand und Georg sah gespannt auf das, was man ihm zeigen wollte.

»Es ist nicht ganz so einfach«, sagte Simon. »Ich muss etwas ausholen. Auf der Leinwand siehst du rechts das Foto eines Ölgemäldes, das die Signatur Paul Gauguins trägt. Ich denke, selbst so ein Kunstbanause wie du kennt diesen französischen Maler.«

Georg musste über die Bemerkung schmunzeln. »Ich habe den Film gesehen, Leben in Leidenschaft oder so ähnlich, mit Anthony Quinn als Gauguin. Quinn hat sogar den Oskar für die Rolle bekommen.«

Während Heinz Kühler zustimmte, stutzte Simon. »Das kann sein«, sagte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte, »aber du weist auf jeden Fall, wen ich meine. Dieses Ölgemälde wurde uns zur Versteigerung angeboten. Daher auch der Vertragsentwurf, den dir Herr Kühler eben gegeben hat.«

»Ich verstehe«, bemerkte Georg. »Es geht in dem Vertrag um dieses Bild.« Er sah noch einmal auf das Schriftstück vor ihm. »Herr Edmund Linz besitzt also einen Gauguin und will ihn über das Haus Blammer verkaufen?«

»Richtig«, bestätigte Simon. »Aber das hört sich so an, als kennst du Herrn Linz?«

Georg lehnte sich zurück. »Ja, ich kenne Herrn Edmund Linz. Er besaß eine kleine Kunststofffabrik und hat damit eine Millionen-Insolvenz hingelegt, abzüglich aller Spesen, versteht sich. Im letzten Jahr wurde alles, was er noch an Privatvermögen besaß, gepfändet. Alles weg, sein Haus, sein Fuhrpark, und er hatte auch Kunstgegenstände. Die wurden meines Wissens auch versteigert. Vor Gericht hat er angegeben, dass keine weitere Masse mehr vorhanden sei, daher wundert es mich, dass dein Kunde jetzt plötzlich einen Gauguin besitzt. Ich weiß zwar nicht was so ein Gemälde wert ist, aber wenn Antony Quinn schon allein für die Filmrolle einen Oskar gekriegt hat, werden auch die Bilder von Gauguin nicht ganz billig sein.«

Simon sah Georg überrascht an. »Woher weißt du dass alles so genau, ich meine diese Dinge über Herrn Linz?«

»Ich darf dir natürlich keine Details nennen, aber meine Kanzlei hat einen von Herrn Linz Gläubigern vertreten. Nichts kompliziertes, nichts dramatisches, wirklich. Mein Mandant hatte Glück und ist noch sehr gut aus der Sache herausgekommen, aber ich habe die Verhandlungen der anderen Kläger verfolgt und konnte immerhin damals auch Einsicht in die Gerichtsakten nehmen. Ich denke, das sagt alles.« Georg machte eine kurze Pause. »Und was ist so ein Bild, so ein Ölgemälde von Gauguin nun wert?«

»Gauguin hatte zu Lebzeiten wenig Erfolg. Ich bin davon überzeugt, dass sich auch daraus sein Stellenwert ergeben hat und der Grund dafür, dass ein echter Gauguin heute zum Teil mit mehreren hunderttausend D-Mark gehandelt wird. Die ganz berühmten Werke gehen sogar in die Millionen.«

»Und du sagst, der Gauguin gehört wirklich diesem Edmund Linz?«, fragte Georg.

Simon nickte. »Er hat es behauptet und ob er das Bild nun im Auftrag von jemandem verkauft, darüber hat er uns nichts erzählt. Gestohlen ist es jedenfalls nicht. Das haben wir bereits recherchiert.« Simon räusperte sich. »Lassen wir mal die Vergangenheit von Herrn Linz Vergangenheit sein, für den Augenblick zumindest, wir haben nämlich eigentlich ein ganz anderes Problem. Du nimmst ja sicherlich wie selbstverständlich an, dass der Gauguin echt ist.«

Georg setzte sich wieder aufrecht in seinen Stuhl. Er sah Simon an. »Oh, du hast Recht, darüber habe ich mir bislang wirklich noch keine Gedanken gemacht, jetzt bin ich aber gespannt.«

»Nicht dass du mich falsch verstehst.«, sagte Simon ruhig. »Wir handeln natürlich nur mit echten Gauguins.« Er lächelte. »Wobei ich gestehen muss, dass dies hier unser erster ist. Aber Scherz bei Seite. Wir haben uns natürlich vergewissert, ob das Bild authentisch ist. Es fehlt uns nur noch ein Beweis.«

»Und da hast du gedacht, dass ich dir bei der Beweissicherung helfen kann?«, warf Georg ein.

»Ganz richtig. Ich möchte dich bitten, etwas über eine bestimmte Person herauszufinden«, erklärte Simon.

»Ich soll über meine Kanzlei eine Person für dich aufspüren?«, folgerte Georg.

»Ich meine es noch etwas anders«, sagte Simon. »Erinnerst du dich noch an den Fall Hausschild, Igor Hausschild

Georg brauchte nicht zu überlegen. Es war erst zwei oder drei Jahre her. Igor Hausschild war ein bekannter Berliner Künstler, der im Auftrag seiner Kunden Portraits, Landschaften und Stadtszenen malte. Er war bereits Mitte der achtziger Jahre verstorben und hatte keine Erben hinterlassen. Sein Vermögen an Bargeld und Immobilien belief sich auf über drei Millionen D-Mark. Außerdem besaß er noch eine Kunstsammlung, die zum größten Teil aus seinen eigenen Werken bestand und die auch noch einmal auf einige hundert Tausend D-Mark geschätzt wurde, wenn nicht sogar auf mehr. Das Kunst- und Auktionshaus Blammer sollte die Sammlung damals im Auftrag der Stadt Berlin versteigern. Der Gewinner bei diesem Geschäft sollte der Staat sein, was Simon generell störte, wie er selbst sagte. Igor Hausschild war russischer Abstammung, irgendwo musste es noch einen Bruder, eine Schwester, Nichten oder Neffen oder andere Verwandte geben, die Anspruch auf das Erbe hatten. Die Idee hatte damals Georg selbst gegeben. In seiner Kanzlei mussten jedes Jahr mehrere Erbschaftsfälle abgewickelt werden, die in der Regel nicht immer einfach abgelehnt werden konnten, da sie der Kanzlei vom Amts- oder Verwaltungsgericht wie die Bestellung als Pflichtverteidiger zugewiesen wurden. Es ging nur selten um ein richtig wertvolles Erbe, an dem die Kanzlei neben den Gebühren auch prozentual beteiligt wurde, sofern sich tatsächlich ein Erbe fand. Im Falle von Igor Hausschild war das anders. Es war aber auch in diesem Fall schwieriger, etwas heraus zu finden. In Deutschland waren die Quellen schnell versiegt und Georg begab sich in die tiefste Vergangenheit der Familie Hausschild. Er reiste sogar bis nach Samara, einer Großstadt an der Wolga, im westlichen Russland, um Angehörige von Igor Hausschild ausfindig zu machen. Sein Erfolg waren eine neunundsiebzigjährige Cousine dritten Grades und ihr fünfundfünfzigjähriger Sohn. Georg hatte herausgefunden, dass die Cousine und Igor Hausschild einen gemeinsamen Urgroßvater hatten, der 1881 in der Wolgastadt Sysran von einem Pferdefuhrwerk überfahren und getötet wurde. Um diese Fakten herauszufinden, brauchte Georg nicht mehr als den Namen Hausschild, eine Adresse in Sankt Petersburg und mehrere vergilbte Fotografien. Genau an diese Fakten dachte er jetzt, als Simon den Namen Igor Hausschild erwähnte.

»Aber es geht hier nicht um einen Erben?«, fragte Georg. »Du hast doch über einen noch fehlenden Beweis gesprochen, einen Beweis, für die Echtheit dieses Gauguin-Gemäldes.« Er zeigte auf das Bild, das noch immer an die Leinwand projiziert wurde.

Simon nickte. »Ganz richtig, es geht um den Gauguin, um seine Herkunft. Ich will dir kurz die Ausgangssituation erklären.« Er zeigte ebenfalls auf die Leinwand. »Für dieses Ölgemälde fehlt uns ein Herkunftsnachweis. Weder in der Literatur noch in den einschlägigen Archiven finden sich Hinweise darauf, dass Gauguin dieses Bild gemalt hat, aber wir sind natürlich davon überzeugt, dass er hat, dass muss ich hier unbedingt betonen. Alles an dem Bild stimmt ansonsten nämlich. Du sollst uns den fehlenden Beweis beschaffen, so ähnlich, wie du es im Fall Igor Hausschild getan hast. Du sollst zunächst nach einer Person suchen. Wenn du sie gefunden hast, musst du eine Beziehung zwischen dieser Person und unserem Ölgemälde herstellen. Wir haben einen Namen und zwei Fotografien und wir haben natürlich das Gauguin-Gemälde und alle drei haben etwas gemeinsam, stehen in einer Beziehung zueinander.«

»Wie soll so etwas aussehen?«, fragte Georg. »So ganz verstehe ich die Sache noch nicht.«

»Die Menschen schreiben sich Briefe oder machen sich Notizen«, erklärte Simon. »Wir hoffen, dass das Gemälde selbst oder das Motiv, irgendwo erwähnt wurde und dass es eine Beziehung zu Paul Gauguin gibt, eben einen Herkunftsnachweis. Das musst du versuchen herauszufinden.«

»Tut mir leid«, sagte Georg lächelnd. »Du musst mir schon konkret sagen, was du meinst. Womit fange ich an, was hast du als Startinformationen für mich?«

»Wir haben einen großen Glückstreffer gelandet«, sprach Simon weiter in Rätseln. Es war seine Art, die Dinge auszudrücken. Er wandte sich der Leinwand zu. »Wenn du dir die Fotografie auf der rechten Seite bitte ansiehst. Vielleicht ist es dir ja schon aufgefallen. Das kleine Mädchen, dort wo auch der Kreis eingezeichnet ist. Sie ist zweifellos das Mädchen mit dem Sonnenhut auf dem Gauguin-Gemälde und, das Gemälde und die Fotografie sind beide etwa hundert Jahre alt. Warte bitte.«

Simon ging um den Besprechungstisch herum und griff in die Tastatur des Laptops. Er öffnete die andere Datei und die Strandszene mit dem Fischerboot erschien auf der Leinwand.

»Hier trägt sie sogar den Sonnenhut«, sagte er euphorisch.

Er blätterte wieder zurück zu dem ersten Foto. Georg war aufgestanden und an die Leinwand getreten. Er sah sich abwechselnd das Ölgemälde und die alte Fotografie an.

»Ist dass hier allein nicht ein Beweis genug?«, fragte er.

»So einfach ist das nicht«, erklärte Simon. »Stell dir vor, du seiest talentiert, ich meine du könntest richtig gut malen und zeichnen. Du würdest dann im Stile eines Gauguin solch ein Bild malen und du würdest die Person, die du darstellst, von einem alten Foto nehmen. So etwas ist alles schon da gewesen. Nein, ein Herkunftsnachweis ist dieses Foto allein noch nicht. Es fehlt noch etwas.«

»Wer ist die Kleine, oder wer war sie?«, fragte Georg. Er war noch näher an die Leinwand herangetreten.

»Das wissen wir nicht genau. Gauguin hat ihr auf dem Gemälde den Namen Julie gegeben«, erklärte Simon. Er ging an den Laptop und zoomte einen Ausschnitt des Bildes heran. »Hier siehst du die Signatur, Paul Gauguin, 1902 und der Titel des Bildes, Julie des Bois.« Er ging selbst wieder zur Leinwand und zeigte auf die Stelle. »Das muss aber nicht ihr richtiger Name gewesen sein. Bei dem Zusatz des Bois, also vom Walde oder so ähnlich, ist uns auch nicht klar, was es zu bedeuten hat. Dann haben wir noch den Namen des Fotografen, der die Aufnahmen von ihr gemacht hat. Ich denke das wird dein wichtigster Anhaltspunkt sein. Wir wissen wer er war und was er war. Wir haben einen Teil seines Lebenslaufs. Mit den richtigen Quellen kannst du auf seine Spur kommen, aber das weist du besser als ich.«

»Und wie hieß er nun?«, fragte Georg.

»Sein Name war Victor Jasoline. Er war Offizier beim französischen Militär in Übersee, genauer gesagt auf Tahiti. Er hat aber auch auf den Marquesas gelebt. Das ist für uns immens wichtig, weil dort unter anderem die beiden Fotografien entstanden sind, die wir jetzt als Anhaltspunkt haben.«

»Tahiti«, wiederholte Georg. »Ich muss also in Frankreich recherchieren. Tahiti wäre zwar kein schlechtes Reiseziel, aber dieser Victor Jasoline wird wahrscheinlich in Frankreich geboren sein, oder hast du andere Informationen?«

Simon schüttelte den Kopf. »Frankreich ist zwar richtig, wo genau er aber geboren wurde, weiß ich natürlich nicht. In dem Lebenslauf wird Paris und Nantes genannt, dort hat er sich längere Zeit aufgehalten, bevor er dann wohl in die Südsee beordert wurde.« Simon ging zu seinem Schreibtisch und holte einen DIN-A4-Umschlag. »Hier ist alles drin, was du brauchst, der Lebenslauf, die Kopien der Fotos und eine Aufnahme des Ölgemäldes, alles hier drin.«

Georg nahm den Umschlag, öffnete ihn und zog das erste Blatt heraus. Es war der Lebenslauf, er überflog die Zeilen.

»Schade, es gibt kein Geburtsdatum und außer dem Namen Jasoline wird kein weiterer Familienname erwähnt«, sagte er schließlich. »Ich denke aber trotzdem, dass sich die ganze Angelegenheit innerhalb einer Woche erledigen lässt. Du hast Glück, ich wollte eigentlich die nächsten zwei Wochen etwas kürzer treten. Ich habe also ein wenig Luft und könnte schon am Montag oder Dienstag loslegen. Du bist doch daran interessiert, dass ich dir so schnell wie möglich Ergebnisse liefere?«

»Selbstverständlich«, antwortete Simon erfreut. »Wenn es dir passt, dann fang doch gleich nächste Woche an. Die gesamten Spesen übernehmen selbstverständlich wir, bleibt nur noch die Frage, welche Vorstellung du über dein Honorar hast, aber denke daran, noch sind wir Freunde.« Simon lachte.

Georg überlegte. Bei dieser Art von Auftrag brauchte er nicht nach der Gebührenordnung der Anwaltskammer abzurechnen. Das hatte er auch im Fall Igor Hausschild nicht getan und die Freundschaft zu Simon Halter spielte auch keine Rolle, er würde schließlich für das Kunst- und Auktionshaus Blammer arbeiten.

»Ich weiß nicht mehr wie mein Tagessatz das letzte Mal aussah«, sagte Georg, »aber ich nehme für diesen Fall das gleiche Honorar, allerdings musst du mir fünf Tage garantiert bezahlen, weil ich mir nämlich nichts anderes vornehmen werde.« Georg lächelte.

Simon hatte mit dieser Antwort gerechnet. »Einverstanden«, sagte er fröhlich. »Du bist selbstverständlich morgen Abend dabei, schon allein wegen des Vertrages, den du aufsetzten sollst. Herr Linz wird natürlich auch anwesend sein, ich hoffe du hast keine Differenzen mit ihm, diesmal ist er nämlich auf deiner Seite.«

Georg schüttelte den Kopf. »Da ist alles in Ordnung. Ich glaube auch nicht, dass sich Herr Linz noch an mich erinnert. Um wie viel Uhr soll ich hier sein?«

»Sagen wir halb acht. Wir haben uns mit Herrn Linz um acht verabredet. Du bringst den Vertrag mit und meinetwegen auch schon deine Vorschussrechnung für die Recherche und die sonstigen Kosten und wir machen die Angelegenheit soweit klar.«

*

Die vier Männer saßen in Simon Halters Büro und hatten Edmund Linz den Vertrag zu lesen gegeben. Das Ölgemälde stand auf einer Staffelei. Die ganze Atmosphäre im Raum war beinahe feierlich. Zu Beginn ihres Treffens hatten sie Edmund Linz alle Beweise und Ergebnisse der bisherigen Recherche vorgelegt. Er kannte jetzt Victor Jasoline und die beiden Fotografien. Simon hatte ihm die Geschichte mit Florence Uzar als gezielte Aktion beschrieben. Nur Heinz Kühler und Georg kannten die Wahrheit, die im Moment keine Rolle spielte. Wichtig waren allein die Erfolge, die sie bislang erzielt hatten.

Edmund Linz stutze kurz an den fünfundzwanzig Prozent. Bei seinen Zwangsversteigerungen hatte das amtlich bestellte Auktionshaus einen festen Provisionssatz erhalten und keine prozentuale Beteiligung. Im Gegenzug hatten sie sich allerdings auch nicht sehr bemüht, bei der Zwangsversteigerung im letzten Jahr, besonders viel für seine beiden Becker-Modersohns und den Vogeler zu bekommen.

»Sollen wir Ihnen noch etwas dazu erklären?«, fragte Simon, als Edmund Linz bereits auf der letzten Seite war.

Er schüttelte den Kopf. »Ich denke es ist soweit in Ordnung. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass sie die Kosten für die Recherche tragen, das sehe ich ein. Ich hoffe nur, wenn es später um die Versteigerung geht, dass sie aus meinen fünfundsiebzig Prozent das Optimum herausholen. Was passiert mit diesem Vertrag, wenn sie keinen Herkunftsnachweis für das Bild finden?«

»Ohne Herkunftsnachweis werden wir das Ölgemälde auf keinen Fall anbieten«, erklärte Simon. »Der Vertrag wird ungültig, sobald wir bestätigen, dass es uns nicht gelungen ist einen Beweis zu finden. Das Bild gehört dann weiterhin Ihnen. Die Kosten tragen wir. Sie können es mitnehmen und damit machen, was sie wollen.«

»Damit wollen sie aber sagen, dass das Bild in diesem Fall quasi wertlos ist, ich meine, wenn sie keinen Herkunftsnachweis auftreiben konnten?«, fragte Edmund Linz beinahe emotionslos.

»Das ist nicht gesagt«, antwortete Heinz Kühler für seinen Chef. »Das Ölgemälde könnte trotzdem ein echter Gauguin sein. Es ist nur nicht zu beweisen. Es kann aber immer noch genügend Interessenten geben, die das Bild kaufen würden, nur das wir, also das Kunst- und Auktionshaus Blammer, es ohne die richtigen und vollständigen Unterlagen nicht versteigern werden. Das sind unsere Prinzipien, leider.«

»Ich werde das Gemälde in diesem Fall natürlich niemandem verkaufen, sondern selbst weiter nach dem fehlenden Beweis suchen«, entgegnete Edmund Linz lachend. »Seien sie mir nicht böse, aber ich will nicht den Fehler machen, dass ich es billig verscherble und hinterher wird doch noch bewiesen, dass es echt ist und ein anderer wird reich, mit meinem Gauguin.«

»Wir werden uns bemühen, nichts zu übersehen«, antwortete Heinz Kühler, »schon in unserem eigenen Interesse.«

Simon stimmte seinem Mitarbeiter zu. Auf dem Tisch lag ein Kugelschreiber bereit. Edmund Linz griff nach dem Stift und kritzelte ohne weiter zu zögern seine Unterschrift auf die letzte Seite des Vertrages. Er übergab Simon den Kugelschreiber, der ebenfalls unterschrieb. Edmund Linz erhielt eine Kopie des Vertrages, die er lässig in die Innentasche seines Jacketts steckte.

»Wann geht es los?«, fragte er mit einem Tonfall, als sei es ihm eigentlich egal. »Ich habe wohl verständliches Interesse daran, dass sie schnell fündig werden«, fügte er dann aber hinzu.

»Ich denke darüber wird Ihnen Herr Staffa mehr erzählen können. Wir haben ihn mit der Recherche beauftragt«, erklärte Simon.

Edmund Linz wandte sich an Georg. »Wie wollen sie denn vorgehen? sie haben diesen Namen, Victor Jasoline, der Mann ist doch längst gestorben, genauso wie vermutlich die Kleine da. Es ist fast hundert Jahre her, dass das Ölgemälde entstanden ist.«

»Genau dafür ist Herr Staffa der Spezialist«, erklärte Simon. »Nach dem wir in den einschlägigen Archiven nichts über das Gemälde gefunden haben, hoffen wir jetzt, dass von Victor Jasoline eine Spur zu dem kleinen Mädchen führt und dass diese Julie oder ihre Nachfahren wiederum etwas über das Bild wissen. Herr Staffa hat in der Vergangenheit schon ähnliche Recherchen unternommen, bei denen er auch nicht viel mehr Anhaltspunkte hatte als in diesem Fall.«

Edmund Linz überlegte. »Wenn sie meinen. Und sie glauben wirklich eine Spur zu finden, nach fast hundert Jahren. Wenn ich mir den Lebenslauf von diesem Victor Jasoline so ansehe, kann es doch nicht einfach sein. Der Lebenslauf ist ja noch nicht einmal vollständig, wir wissen ja gar nicht, wo dieser Victor Jasoline nach 1906 geblieben ist?«

»Die Menschen hinterlassen Spuren«, antwortete Georg. »Behörden machen Notizen. Bei einem ehemaligen Staatsdiener sind diese Aufzeichnungen wahrscheinlich noch genauer. Und selbst wenn das nicht gegeben wäre, ist es manchmal erstaunlich, was sich alles recherchieren lässt. Man muss natürlich Übung haben und das Gespür für Informationen und man muss wissen wo man nachzuschauen hat.«

»Und sie haben diese Erfahrungen?«, entgegnete Edmund Linz.

»Ich mache so etwas jedenfalls nicht zum ersten Mal und ich habe mittlerweile auch meine besonderen Quellen. Ich habe zum Beispiel Kontakt zu genealogischen Instituten, die regelrecht Ahnenforschung betreiben und deren Dienste man kaufen kann.«

Edmund Linz zuckte mit den Achseln.

»Ich denke, Ende nächster Woche wissen wir schon mehr«, sagte Georg abschließend.

*

Georg hatte sich in den letzten zwei Tagen erkundigt, er war in die Bibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität gegangen. Er suchte Literatur über die französischen Kolonien im neunzehnten- und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Er beschränkte sich dabei zunächst nicht nur auf die Südsee, sondern wollte einen Gesamtüberblick über die Kolonialmacht Frankreich und insbesondere deren Protektorate und Kolonien erhalten. In Afrika waren es die Komoren und Réunion. Neben Französisch-Polynesien gab es in Ozeanien noch die Hebriden, Neukaledonien und Wallis und Futuna. Er hatte eine Akte angelegt. Eigentlich war es nur ein Kunststoffbehälter mit einem Knopfverschluss, in dem sich alle Dokumente hervorragend sammeln ließen. Er hatte von Simon neben dem Namen Jasoline noch einen zweiten Namen erhalten. Es ging um die Fotografie, auf der das kleine Mädchen mit anderen Kindern vor den Auslagen eines Geschäfts stand. Madame Uzar hatte mitgeteilt, dass das Foto mit dem Titel »Handelsposten Gallet in Atuona« beschriftet war. Simon glaubte zunächst, dass es der Familienname des Geschäftsbetreibers sein könnte. Madame Uzar hatte aber noch einmal recherchiert und herausgefunden, dass Gallet eine Firma war, hinter der eine Handelsgesellschaft stand. Sowohl die Firma Gallet, als auch die Handelsgesellschaft existierten seit den dreißiger Jahren nicht mehr. Es war also auch sehr schwer die Namen von ehemaligen Angestellten heraus zu finden. Der Name Jasoline war damit doch die einzige Spur. Victor Jasoline war ein Angehöriger des französischen Millitärs. Die Marquesas und Tahiti mussten nicht seine letzte Station gewesen sein. Er konnte später auch in all den anderen französischen Kolonien und sogar auch in den Protektoraten wie Madagaskar oder Indochina eingesetzt worden sein. Oft lag es nicht in der Entscheidung der Offiziere in welchen Teil der Welt es sie verschlug oder wann sie nach Frankreich zurückkehren durften.

Georg las alles über das Kolonialthema. Die meisten Bücher enthielten Fotografien in schwarzweiß, einige aber auch koloriert, in merkwürdig unnatürlichen Farben. Auf den Bildern wurden die Eingeboren, deren Lebensweise, die ersten größeren Siedlungen und Städte und natürlich auch die Militärpersonen abgebildet. Oft standen die uniformierten Männer in Gruppen zusammen, sahen streng in die Kamera und schienen das Herrschaftssystem der damaligen Zeit zu verkörpern. Die Bibliothek war gut ausgestattet und verfügte auch über zahlreiche Computerarbeitsplätze, die für eine Internetrecherche genutzt werden konnten. Er ließ den Bücherstapel an seinem Platz zurück und suchte sich einen freien Terminal. Im Internet fand er vor allem aktuelle Informationen. Die Auseinandersetzung und die Aufarbeitung der Kolonialmacht Frankreich wurde diskutiert, die heutigen Probleme in den Zuwanderer-Ghettos, in den Trabantenstädten und den Vororten von Paris und anderer französischer Großstädte wurde als Folge früherer Politik gewertet. Dies alles interessierte ihn wenig, ihn interessierte das Gestern. Bei seiner Suche fand er schließlich einen Hinweis auf eine Ausstellung in Paris. Es war der krasse Gegensatz zu den politischen Themen. In der Ankündigung wurde damit geworben, dass der Besucher sich in die Welt der Kolonien zurückversetzen lassen konnte. Eine Reise in die Kolonien, ohne ein Schiff oder ein Flugzeug zu besteigen, und eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit vor hundert oder hundertfünfzig Jahren. In dem Internetauftritt der Ausstellung gab es eine Rubrik mit dem Titel: »Haben sie Vorfahren in den Kolonien«. Hier ließ sich laut Ankündigung nach Familiennamen suchen. Als Ergebnis sollte einem dann mitgeteilt werden, ob der eigene Name oder der von Verwandten auf Saint-Martin, auf den Guadeloupe-Inseln, auf Martinique oder sogar auch auf Tahiti bekannt war und vielleicht heute noch existierte. Georg hatte damit gerechnet, eine solche Recherche auf den Web-Seiten der Ausstellung selbst durchführen zu können. Dies war aber nicht möglich. Er druckte sich die Seiten aus und legte sie in seine Mappe.

 

*

Georg hatte zu Hause nicht mehr gefrühstückt. Die Frühmaschine nach Paris trug ihn bereits um 6:15 Uhr am Bodensee vorbei in Richtung der französischen Hauptstadt. Der Flug dauerte fast zwei Stunden. Vom Flughafen Charles-De-Gaulle ließ er sich mit dem Taxi in die Stadt fahren. Die Verpflegung der Air France war nicht gerade üppig, so dass er sich am Boulevard Montmartre in ein Bistro setzte und das bestellte, was die Einheimischen aßen, wenn es Einheimische waren und nicht wie er Touristen. Die Ausstellung im Grand Palais öffnete an diesem Mittwoch ab 10:00 Uhr. Er war aber erst um elf dort. Da es eine Dauerausstellung war, hielt sich der Besucherandrang in Grenzen. Er schlenderte etwa eine Stunde durch die Räume und Säle. Es gab sogar eine kleine Halle, die mit Hütten, Sand und Palmen bebaut war. Er musste durch eine dicke, zweiflüglige Tür gehen, um in die Halle zugelangen. Ein Mann war extra abgestellt, die Tür zu öffnen und die Besucher einzulassen. Als sich Georg in der Halle befand, merkte er gleich, warum dieser Aufwand betrieben wurde, schlagartig hatte sich das Klima verändert. Es war sehr warm, die Luftfeuchtigkeit war deutlich höher und es roch nach Bounty, wie er meinte, nach diesem Schokoriegel mit Kokosfüllung. Das ganze war untermalt mit den Stimmen exotischer Tiere und Insekten. Eine Art von Schaufensterpuppen stellten in einer Ecke die Ureinwohner Polynesiens und in einem anderen Bereich Menschen aus Madagaskar da. Das ganze erinnerte ihn an das Überseemuseum in Bremen, das ähnliche Ausstellungen zeigte. Dort gab es jedoch diesen Klimaschock nicht, dafür aber die Möglichkeit, innerhalb einer Stunde die ganze Welt zu durchqueren, von der Taiga Sibiriens bis hin zur Tropenhölle Neuguineas. Als er die Halle wieder verließ, schwitzte er sogar ein wenig. Nach seinem Orientierungslauf wandte er sich an einen der Ordner und fragte nach der Möglichkeit, etwas über Vorfahren in den Kolonien heraus zu bekommen. Der Mann brachte ihn persönlich zum Informationscenter und verwies auf eine Reihe von Computern und an einen seiner Kollegen, der aber gerade im Gespräch mit einem anderen Besucher war. Georg wollte sich die Art der Recherche genau erklären lassen und wartete daher geduldig, bis der Mann wieder frei war. Er kramte inzwischen seine Unterlagen heraus. Der Ausstellungsmitarbeiter hatte ihn bereits bemerkt und ging lächelnd auf ihn zu.

»Monsieur, kann ich Ihnen helfen, mein Name ist Jason Flo«, sagte er freundlich.

»Danke, mein Name ist Georg Staffa. Ich interessiere mich für ihr Angebot mit dem Titel: Haben sie Vorfahren in den Kolonien.«

Monsieur Flo nickte und wies mit der Hand auf die Reihe von Terminals, neben denen sie standen. »Da sind sie hier genau richtig. Wir bieten die Möglichkeit, dass sie selbst nach ihren Vorfahren suchen können. Natürlich unterstützen wir sie dabei.«

Monsieur Flo schien sich nicht an Georgs deutschen Akzent zu stören und fragte sich wahrscheinlich auch nicht, ob der Mann vor ihm wirklich französische Vorfahren hatte. Er zog den Stuhl an einem der freien Terminals vor und Georg setzte sich.

»Victor Jasoline, ich suche einen Mann namens Victor Jasoline«, erklärte Georg und gab Monsieur Flo einen Zettel, für die richtige Schreibweise.

Jason Flo zog sich ebenfalls einen Stuhl heran, setzte sich und griff hinüber zur Tastatur des Terminals. Er tippte den Namen in eine Suchmaske ein. Das Programm, das er dazu benutzte, befand sich auf dem Desktop des Rechners. Während die Suche lief, tanzte das Bild einer hölzernen Statue über den Monitor. Georg hatte diese Figuren schon überall in der Ausstellung gesehen. Es handelte sich um polynesische Ritualkunst. Die Figur verschwand plötzlich und ein neues Bildschirmfenster öffnete sich. Eine Liste erschien mit einem blauen Balken horizontal in der Mitte. Die Suche hatte genau einen Treffer ergeben:

 

Victor Jasoline, geb. 12.02.1858 Paris, Frankreich, gest. 06.08.1935 Hatfields Beach, Auckland, Neuseeland.

 

Georg blickte auf den Eintrag. Eigentlich hatte er erst heute Morgen mit der Suche nach Victor Jasoline begonnen und schon gab es die ersten wichtigen Anhaltspunkte. Der kurze Lebenslauf, den er von Simon erhalten hatte, sagte weder etwas über Victor Jasolines Geburtstag noch etwas über sein Ableben. Jetzt kannte er wenigsten einen Ort, an dem sich dieser Mann nach 1906 aufgehalten hatte. Dieses Ergebnis konnte aber erst der Anfang sein.

»Sind das alle Informationen, die sie von dem Mann haben«, fragte Georg.

Jason Flo führte den Mauszeiger über die markierte Zeile und öffnete mit einem Doppelklick ein weiteres Datenblatt. Es erschien jetzt eine neue Seite.

»Bitte, Monsieur, sie wissen jetzt wie es geht. Wenn sie noch Fragen haben, helfe ich Ihnen gern.«

Jason Flo erhob sich und schob seinen Stuhl wieder zur Seite. Er stand noch eine Zeit lang hinter Georg, der sich die Anzeige auf dem Bildschirm durchlas. Es war eine Aneinanderreihung von Daten. Victor Jasoline war im Januar 1895 nach Tahiti gekommen. Es folgte die Angabe seiner Aufgaben, seiner Einsatzorte und seiner Dienstgrade, es war um einiges detaillierter als der Lebenslauf aus dem Fotolabor auf Tahiti. Victor Jasoline war mehrfach auf den Marquesas stationiert gewesen. Er war schließlich im Range eines Commandanten im Jahre 1906 aus dem Dienst ausgeschieden. Die gesamte Beschreibung handelte nur von Victor Jasoline und sie endete auch im Jahre 1906, lediglich das Datum seines Todes war noch aufgeführt, wie schon in der Ausgangszeile, hinter die sich diese Beschreibung befunden hatte. Es gab keinen Hinweis darauf, ob Victor Jasoline verheiratet war oder ob er Kinder hatte. Georg sah sich um. Jason Flo sprach gerade wieder mit einem anderen Besucher. Als er kurz zu ihm herübersah, winkte Georg dezent. Jason Flo nickte, sprach aber weiter mit seinem Gegenüber. Georg wandte sich wieder dem Programm zu. Er ging zurück auf die Suchmaske und überlegte, nach welchem Namen er noch suchen konnte. Er dachte sofort an Florence Uzar. Er dachte an ihre Begegnung vor ein paar Wochen auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude der Firma Blammer. Florence Uzar, er sah sie vor sich, mit ihren grünen Augen, wie sie ihn angelächelt hatte, dieses Lächeln, dachte er spontan. Dann fiel ihm wieder seine Amsterdamreise ein, die er doch hätte verschieben sollen. Er tippte den Namen Uzar in das Suchfeld. Die Holzfigur trat wieder von rechts in den Computermonitor ein und begann zu tanzen. Nach wenigen Sekunden erschien eine neue Ergebniszeile.

 

Gustave René Uzar, geb. 01.06.1860 Brest, Frankreich, gest. 05.02.1947 Papeete, Tahiti, franz. Polynesien.

 

Mit einem Doppelklick öffnete er das Dokument, das sich hinter der Ergebniszeile befand, aber er kam nicht mehr dazu, es zu lesen.

»Monsieur, wie kann ich Ihnen noch helfen?«, fragte Jason Flo, der sein Gespräch mit dem anderen Besucher beendet hatte.

»Danke, dass sie noch einmal gekommen sind«, sagte Georg. »Ich habe tatsächlich noch eine Frage. Wie war das noch mit ihrem Motto, also mit den Vorfahren in den Kolonien? Ich habe nach einer Person gesucht und einen Lebenslauf gefunden, aber gibt es keinen, sagen wir mal Stammbaum, mit dem ich diese Person in die Gegenwart verfolgen kann, zu den Nachfahren?«

»Oh, das haben sie falsch verstanden, Monsieur«, erklärte Jason Flo. »Mit dem Suchprogramm können sie eine Person finden, deren Namen sie bereits kennen, zum Beispiel den Namen ihres Urgroßvaters, natürlich den vollständigen Namen, damit es keine Verwechselungen gibt. Wenn sie die Person tatsächlich in unserer Datenbank finden, soll Ihnen der kleine Lebenslauf helfen, damit sie sicher sind, dass es sich tatsächlich um ihren Urgroßvater handelt. Sie verstehen?«

»Gut, ich habe das Problem, dass ich eigentlich nicht nach meinen Vorfahren suche. Ich suche nach einem Mann, der in den Kolonien gelebt und gearbeitet hat und ich möchte wissen, ob es heute noch Verwandte, also Nachfahren dieses Mannes gibt.«

Jason Flo zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, es ist lediglich ein Blick in die Vergangenheit.«

Georg überlegte. »Woher stammen denn die Lebensläufe. Es muss doch noch andere Quellen geben, auf die sie sich mit ihrer Datenbank berufen?«

Jason Flo schaute zunächst so, als verstünde er nicht, was Georg meinte. »Ich weiß darüber leider nichts«, sagte er schließlich. »Ich wurde nur an diesen Geräten und der Software geschult, um Besuchern wie Ihnen den Umgang zu zeigen und sie bei der Suche zu unterstützen.«

»Und wer kann mir dann weiterhelfen?«, fragte Georg.

Jason Flo überlegte. »Es ist nicht üblich, aber ich könnte mit der Leitung für diesen Bereich hier sprechen, wenn sie es wünschen. Ich kann allerdings nicht garantieren, dass heute jemand für sie Zeit hat. Ich weiß nicht, wer gerade da ist.«

»Würden sie das tun, es wäre wirklich wichtig. Wie gesagt, mein Name ist Staffa, Georg Staffa aus München, aus Deutschland.« Georg fummelte eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche und gab sie Jason Flo. »Ich bin Rechtsanwalt.«

Es war immer hilfreich, wenn Georg seinen Beruf nannte. Der Beruf des Rechtsanwalts hatte etwas positives, nicht so, als wenn jemand sagte, ich bin von der Polizei oder gar Privatdetektiv.

Jason Flo sah sich die Karte genau an und nickte dann. »Ich werde sehen, was ich für sie tun kann, Monsieur.« Er lächelte und wandte sich zum Gehen um.

Georg blieb zurück. Er drehte sich wieder zu dem Terminal und dachte nach. Auf dem Monitor wurde eine Seite angezeigt. Er erinnerte sich wieder an die Suchanfrage, die er vor ein paar Minuten gestartet hatte: »Uzar, Gustave René«. Es war nicht besonders spannend, ein Apotheker aus Brest. Sein Leben war auf zwei Absätze komprimiert, nicht einmal eine halbe Seite. Der Höhepunkt schien die ehrenamtliche Tätigkeit als Kurator des Zentralkrankenhauses Papeete zu sein. Georg ging zurück auf die Startmaske. Er tippte seinen eigenen Namen ein, er dachte wieder an das Motto der Ausstellung. Diesmal tanzte die Holzfigur sehr lange, um schließlich keinen Treffer anzuzeigen. Der Name Staffa war nicht französischen Ursprungs, das wusste er selbst, aber es hätte ja einen Zufallstreffer geben können. Er probierte es mit dem Namen Gauguin. Die Holzfigur konnte nicht einmal zu ihrem ersten Sprung ansetzen, als bereits die Zeile mit dem Ergebnis erschien. Natürlich gehörte auch der Maler Paul Gauguin in die Datenbank. Hinter dem Eintrag fand sich eine vierseitige Biographie. Georg hatte keine Lust, sie durchzulesen. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und drehte sich wieder in die Richtung, in die Jason Flo verschwunden war. Jetzt kam er zurück, bei ihm ein junger Mann, nicht älter als dreißig. Georg erhob sich, als die beiden zu ihm traten.

»Herr Staffa?«, der junge Mann hatte Georgs Visitenkarte in der Hand. »Mein ist Name Richard Völler«, stellte er sich auf Deutsch vor. »Sie interessieren sich für unsere Ausstellung?«

Georg nickte. »Ja, aber ich fürchte, dass ich etwas mehr wissen möchte als andere Besucher.«

»Kein Problem denke ich. Worum geht es denn genau?«, fragte Richard Völler freundlich.

»Wie ich ihrem Kollegen bereits erklärt habe, möchte ich die Nachfahren einer gewissen Person finden. Ich habe hier einen Namen und möchte wissen, ob es Kinder oder Kindeskinder gab, ob es noch lebende Verwandte gibt, und wo ich sie finden kann. Ihr Archiv ist sicherlich ganz nett gemacht, aber sie müssen ihre Daten doch auch irgendwo her bekommen haben. Ich interessiere mich also für ihre Quellen, um es ganz einfach zu sagen.«

Richard Völler sah ihn die ganze Zeit mit offenem Mund an. Er schluckte und fasste sich dann ans Kinn. »Ich bin der Projektleiter für die Vorfahrenrecherche«, erklärte er schließlich. »Natürlich haben wir weitere Informationen, die wir aber hier nicht so öffentlich zugänglich machen dürfen, der Datenschutz, sie verstehen.« Er überlegte erneut. »Sie sind Rechtsanwalt, für wen interessieren sie sich denn, ich meine in welcher Beziehung stehen sie zu dieser Person?«

»Es geht um Ahnenforschung«, erklärte Georg. »Es geht um einen französischen Offizier Namens Victor Jasoline. Ich habe eine Klientin, eine Französin, die in München lebt und dort auch verheiratet ist. Sie hat alte Briefe von ihrer Großmutter geerbt und in diesen Briefen taucht der Name Jasoline auf. Meine Klientin vermutet jetzt, dass Victor Jasoline ein Onkel ihrer Großmutter sein könnte, der um die Jahrhundertwende aus Europa ausgewandert ist.«

Georg wunderte sich selbst über seine Geschichte, die er sich erst beim Erzählen ausgedacht hatte. Das mit der in München verheirateten Klientin war gar nicht so sehr gelogen. Er dachte dabei an Colette Halter, schließlich war er tatsächlich im Auftrag der Halters, im Auftrag von Simon, hier in Paris. Richard Völler setzte sich ohne Vorankündigung auf Georgs Platz, an das Terminal. Er suchte im Betriebssystem die Rubrik »Neu anmelden«. Als die Maske erschien, tippte er seine User-ID und ein Passwort ein. Der Rechner startete das Betriebssystem neu und als der Desktop-Bildschirm wieder erschien, waren deutlich mehr Icons auf der Benutzeroberfläche installiert, als noch zuvor bei dem öffentlichen Monitor. Er klickte auf eines der Icons, ein Programm mit einer Suchmaske öffnete sich. Dann drehte sich Richard Völler zu Georg um.

»Wie schreibt sich der Name?«, fragte er.

Georg nahm einen seiner Zettel, auf dem er den Namen Victor Jasoline und das Geburts- und Sterbedatum aufgeschrieben hatte. Er hielt Richard Völler das Blatt hin, ohne etwas zu sagen. Richard Völler sah auf die Angaben und wandte sich dann wieder dem Terminal zu. Mit flinken Fingern tippte er den Namen Jasoline in ein Feld der Suchmaske und startete das Programm. Diesmal war keine Holzfigur zusehen, die über den Monitor tanzte, lediglich die stilisierte Sanduhr zeigte an, dass der Rechner arbeitete. Richard Völler drehte sich wieder zu Georg um.

»Das kann jetzt einige Minuten dauern«, erklärte er.

Georg nickte und zog sich einen freien Stuhl heran. Jason Flo hatte die ganze Zeit neben dem Geschehen gewartet, jetzt wandte er sich wortlos ab und ging in Richtung des Informationstresens.

»Danke!«, rief Georg ihm hinterher.

Jason Flo drehte sich noch einmal um. »Rien, Monsieur Staffa.«

Georg sah kurz zum Bildschirm des Terminals hinüber. Die Suche war immer noch in Gange. »Sie sind Deutscher«, fragte er.

»Aus Kassel«, antwortete Richard Völler nickend. »Aber bevor sie fragen, ich bin nicht mit Rudi verwandt.«

»Rudi«, wiederholte Georg.

»Ich meine mit Rudi Völler«, klärte Richard Völler ihn auf, »dem Fußballer.«

»Ach so, natürlich«, sagte Georg. »Da haben sie aber mit mir den Falschen, ich interessiere mich nicht für Fußball, Sorry, aber Rudi Völler kenne ich natürlich.« Er machte eine kurze Pause. »Was hat sie hier nach Frankreich verschlagen?«

»Ich bin Historiker. Ich habe Europäische Geschichte studiert«, erklärte Richard Völler. »Und da ich nicht als Lehrer arbeiten wollte und sich auch keine Anstellung in einem deutschen Staatsarchiv auftreiben ließ, bin ich vor drei Jahren nach Paris gekommen. Die Bedingungen sind super und das Geld stimmt auch, nur die Franzosen sind ein wenig zu sehr auf ihre eigene Geschichte fixiert. Es ist etwas einseitig, aber ich ertrage es.«

Georg wollte gerade auf das antworten, was ihm Richard Völler erzählt hatte, als sich mit einem Klickgeräusch die Monitoransicht des Terminals veränderte. Die Suche war beendet. Richard Völler ging mit der Maus auf die angezeigte Ergebniszeile, in der sieben Treffer angekündigt wurden. Mit einem Doppelklick rief er die Information auf, die sich dahinter verbarg. Es erschienen mehrere neue Zeilen auf dem Monitor. Georg ging näher an den Bildschirm heran. In den Zeilen stand:

 

1880: 20. September: Ernennung zum Sous-Lieutenant der französischen Republik: Victor Jasoline.

1884: 3. Oktober: Ernennung zum Lieutenant der französischen Republik: Victor Jasoline.

1891: 1. November: Ernennung zum Capitaine der französischen Republik: Victor Jasoline.

1904: 17. Dezember: Ernennung zum Commandant der französischen Republik: Victor Jasoline.

1914: 07. Januar: Standesamtliche Eheschließung Thérèse und Lucien Pallet.

1915: 05. März: Gefallen bei Vouziers: Lieutenant Lucien Pallet.

1976: 23. Juni: Sterbeurkunde: Thérèse Pallet.

 

»Ich vermute, die Mehrzahl der Treffer sind Informationen aus einer militärischen Datenbank«, erklärte Richard Völler. »Sie sehen es an den Dienstgraden. Ich wundere mich nur, dass es lediglich zwei zivile Treffer gab.«

»Auf welche Quellen haben sie denn zurückgegriffen?«, fragte Georg.

»Für die Ausstellung haben wir zunächst alle Datenbanken genommen, in denen bereits standesamtliche, militärische und sonstige zivile Personenstandinformationen elektronisch erfasst waren. Das ist unsere Basis, die den Zeitraum 1850 bis 1939 abdeckt. Dann haben wir noch Archive gewälzt und selbst eine weitere Datenbank angelegt. Hier haben rund dreißig Studenten ein halbes Jahr alles eingehackt, was wir Ihnen vorgelegt haben.«

Georg sah sich noch einmal den letzten Treffer an. Er tippte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Warum hat das Programm einen Eintrag aus dem Jahr 1976 gefunden, sie sagten doch, es ginge nur bis 1939?«

»Das mit dem Jahr 1976 liegt daran, dass wir die Daten aller Personen, die nach 1939 noch nicht verstorben waren, weitergeführt haben«, erklärte Richard Völler. »Hier brauchten wir zum größten Teil nur auf die staatlichen Archive zurückzugreifen, die bis ins Jahr 1950 zurückgehen und bereits elektronisch erfasst waren. Die Zeitspanne von 1939 bis 1949 haben wir dann wieder durch unsere Studenten eintippen lassen.«

Georg nickte. Er sah zum Monitor und deutete mit dem Finger auf die Trefferliste. »Der Name Jasoline taucht aber nicht überall auf, warum wurden die letzten drei Treffer angezeigt?«

Richard Völler griff wieder nach der Computermaus und fuhr mit dem Cursor über den Bildschirm. Er klickte auf einen der besagten Treffer. Das Programm arbeitete einige Sekunden, dann erschien eine neue Seite auf dem Monitor. Georg rückte wieder näher heran und begann den französischen Text zu lesen.

 

07. Januar 1914: Die Stadtverwaltung Paris, das 2. Pariser Arrondissement (Bourse), gibt die beurkundete Vermählung der Eheleute Thérèse Pallet, geb. Jasoline und Lieutenant Lucien Pallet, wohnhaft 88 Rue Mandar, bekannt.

 

»Ach, ich verstehe«, sagte Georg. »Da liegt der Zusammenhang, diese Thérèse Pallet ist eine geborene Jasoline. Und was verbirgt sich hinter den anderen Einträgen?«

Richard Völler schloss den Link und kam wieder auf die Liste mit den Treffern. Er ging auf zweitletzte Zeile und öffnete auch diesen Eintrag. Es dauerte erneut einige Sekunden. Der Text war wieder sehr kurz und klang wie eine amtliche Bekanntmachung.

 

05. März 1915: Das französische Oberkommando unter General Joseph Joffre, der 4. Armee, gibt bekannt, dass Lieutenant Lucien Pallet in der Offensive vom 03. bis 05.  März 1915, nahe der Stadt Vouziers, in Ausübung seiner Pflicht für die Dritte Französische Republik gefallen ist. (Kopie an Madame Thérèse Pallet, geb. Jasoline)

 

»Sie sehen, auch hier taucht der Name Jasoline wieder auf«, erklärte Richard Völler. »Die Artikel sind teilweise sogar aus der Militärkorrespondenz übernommen worden. Diese traurige Mitteilung wurde wahrscheinlich für einen Brief an die Witwe verwendet.«

Georg nickte. »Aber wie kann ich herausfinden, ob Victor Jasoline etwas mit dieser Thérèse zu tun hat?«

»Das tut mir leid, da kann ich Ihnen auch nicht weiter helfen«, antwortete Richard Völler bedauernd. »Was sie hier sehen ist wohl schon alles was wir über den Namen Jasoline haben und unsere Daten sind wirklich recht umfangreich.« Er zuckte mit den Achseln. »Wir können uns ja noch den letzten Artikel ansehen.«

Er führte die Computermaus bereits wieder über den Bildschirm schloss das geöffnete Fenster und klickte auf den Eintrag, nachdem die gesamte Trefferliste wieder erschienen war. Nach kurzer Verzögerung öffnete sich erneut ein Fenster. Auch hier ging es um den Tod eines Menschen.

 

23. Juni 1976: gestorben um 8:34, Thérèse Pallet, geb. Jasoline, geboren am 17. März 1895 im Bezirk Redon, wohnhaft in der 88 Rue Mandar, 2. Arrondissement (Bourse), 75002 Paris.

 

Richard Völler überlegte. »Die Adresse«, sagte er schließlich. »Die Rue Mandar hier in Paris, vielleicht wohnen ja noch Angehörige von dieser Thérèse Pallet dort, oder Nachbarn wissen, wo die Familie jetzt lebt, wenn dort niemand mehr zu finden ist. Außerdem können sie in den alten Pariser Adressbüchern nachsehen, wer alles in der 88 Rue Mandar gemeldet war. Ich denke mit der Adresse haben sie einen guten Anhaltspunkt und vielleicht treffen sie auf jemanden, der Ihnen sagen kann, ob die Leute mit ihrem Victor Jasoline verwandt sind.«

Georg nickte. Er las sich noch einmal die Todesanzeige durch. Mehr als sechzig Jahre, dachte er. Thérèse Pallet war schon im Jahre 1915 Witwe geworden und lebte noch bis 1976. Sie hatte nicht wieder geheiratet oder sie hatte bei einer späteren Heirat den Namen ihres verstorbenen Mannes behalten.

»Die Adressbücher?«, fragte er schließlich. »Wo kann ich da nachsehen?«

Richard Völler schmunzelte. »Hier kann ich Ihnen natürlich auch helfen.«

Er betätigte das Druckersymbol in der oberen Menüleiste und schloss dann das geöffnete Programm.

»Ich habe noch schnell alle Treffer mit ihren Anhängen ausgedruckt«, erklärte er. »Ich werde sie gleich aus meinem Büro holen.«

Dann öffnete er einen der Ordner auf dem Desktop. Es erschienen die Icons mehrerer Programme. Die Icons trugen das Logo der France Télécom und unterschieden sich im Programmnamen nur durch die Jahreszahlen.

»Hier finden sie die Adress- und Telefonbücher, beginnend mit dem Jahr 1950", sagte Richard Völler, während er sich von seinem Platz erhob. »Leider gibt es für eine Adresssuche in ganz Frankreich nur das Buch aus diesem Jahr, nur Pariser Adressbücher gehen bis ins Jahr 1950 zurück.«

Georg nickte. Er rückte seinen Stuhl wieder näher an das Terminal heran, um die Tastatur und die Computermaus erreichen zu können. Richard Völler stand noch einige Sekunden neben ihm, bis Georg das Programm hinter dem Icon mit der Bezeichnung Adressbuch Frankreich 1998 gestartet hatte. Als die Suchmaske erschien, wandte sich Richard Völler schließlich ab und ging in Richtung einer Tür, die sich direkt hinter dem Informationstresen befand. Zunächst versuchte Georg es mit dem Namen Jasoline, er gab keinen Vornamen an. Die Suche lief. Der Datenbestand musste sehr groß sein. Eine Uhr, die in der Maske unten links die Suchdauer anzeigte, zählte schon eine Minute hoch. Georg starrte anfangs noch auf den Bildschirm, dann wandte er sich um und sah hinüber zu dem Informationstresen und weiter in die Runde. Dann schaute er wieder auf den Monitor. Die Uhr zählte bereits fast zwei Minuten, bis schließlich das Ergebnis angezeigt wurde. Der Satz war eindeutig:

 

#0001  Null Treffer bei ihrer Anfrage ##Jasoline##

 

Sofort griff Georg in die Tastatur und tippte den Namen Pallet ein, auch diesmal ohne einen Vornamen anzugeben. Er saß vorgebeugt in seinem Stuhl. Das Programm arbeitete. Dann lehnte er sich zurück und drehte sich wieder zum Informationstresen um. Richard Völler trat aus der Tür, durch die er vor wenigen Minuten verschwunden war. Er hatte eine DIN-A4-Seite in der Hand und kam direkt auf Georg zu.

»Bitte sehr, Herr Staffa«, sagte er, als er den Terminalplatz erreicht hatte. »Funktioniert das Programm mit der Adresssuche?«

Georg nickte. »Es ist nur sehr langsam, ich bin noch nicht viel weiter gekommen.« Er zeigte auf den Monitor.

»Gut, das ist normal. Wenn sie noch weitere Hilfe benötigen, können sie mich rufen lassen.«

Richard Völler lächelte und wandte sich dann ab. Er ging wieder hinüber zu dem Informationstresen, blieb dort stehen und unterhielt sich mit einem der Ausstellungsmitarbeiter, es war diesmal nicht Jason Flo. Georg sah wieder zum Monitor, in Erwartung, dass sich bereits etwas getan hatte. Das Ergebnis lag tatsächlich schon vor. Die Anzeige lautete:

 

#0001    57 Treffer bei ihrer Anfrage ##Pallet##

 

Unter diesem Satz wurde eine ganze Liste von Namen angezeigt. Es begann mit »Pallet, Anna« und ging bis zu einem »Pallet, Paul«. Hinter den Namen stand die vollständige Adresse. Ein Marcus Pallet wohnte zum Beispiel in Straßbourg, eine Helene Pallet in Lyon und so weiter. Georg suchte in der oberen Menuleiste nach dem Druckersymbol. Er würde Richard Völler später bitten, ihm die Liste zu geben. Er hielt sich nicht weiter mit dem Adressbuch für ganz Frankreich auf, sondern ging wieder auf die Desktopoberfläche des Terminals. Er öffnete das Pariser Adressbuch der Jahre 1950 bis 1959. Er tippte den Namen Jasoline ein, erhielt auch hier wie erwartet, keinen Treffer. Dann versuchte er es mit dem Namen Pallet. Nach zwei Minuten erschienen im unteren Bereich der Adressbuchmaske mehrere Einträge. Georg überflog die Zeilen. Der elfte Treffer war das, was er gesucht.

 

#0010...

#0011    Pallet, Thérèse, 88 R. Mandar, 75002 Paris (1950...1959)

#0012...

 

Er wechselte in das nächste Adressbuch. Auch hier fing er zunächst wieder mit dem Namen Jasoline an. Die Ergebnisliste zeigte null Treffer. Unter dem Namen Pallet erschien aber wieder die Pariser Adresse, diesmal für die Jahre 1960 bis 1969. Im Adressbuch der Jahre 1970 bis 1979, war Thérèse Pallet nur noch bis 1978 eingetragen. Georg versuchte es weiter mit den übrigen Adressbüchern, bis hin zur aktuellen Ausgabe, die er bereits überprüft hatte. Den Namen Jasoline gab es überhaupt nicht und unter den Pallets kam keine Thérèse mehr vor. Die Adressbücher deckten nur die Arrondissements von Paris und deren Vorstädte ab. Eine Suche nach Personen mit den Namen Jasoline oder Pallet in ganz Frankreich war nur in der aktuellen Datenbank möglich. Georg ging noch einmal auf das Adressbuch der Jahre 1970 bis 1979 und ließ sich die Adresse von Thérèse Pallet anzeigen. Er wollte sich die Angaben eigentlich abschreiben, ihm fiel aber ein, dass die Adresse bereits auf den Ausdrucken stand, die ihm Richard Völler gebracht hatte. Dann entdeckte Georg auf der Suchmaske eine Schaltfläche mit der Aufschrift Straßennamen. Er schob den Zeiger der Computermaus auf die Schaltfläche und klickte sie an. Eine neue Maske öffnete sich, in der er jetzt statt des Namens einer Person, die Hausnummer und Straße einer Adresse eintragen konnte. Er gab »88« und »Rue Mandar« ein. Die Datenbank suchte automatisch die richtige Postleitzahl für das 2. Arrondissements heraus. Die Suche startete ebenfalls automatisch. Es war wie eine Rückwärtssuche. Es dauerte diesmal nicht so lange, bis zwei Treffer angezeigt wurden:

 

#0001    Pallet, Thérèse (1970-1978)

#0002    LaRosa, Joaquim und Maria (1978-1979)

 

Er blickte einige Sekunden auf das Ergebnis, LaRosa, der Name war ihm bislang noch nicht bekannt. Er wechselte in das aktuelle Pariser Adressbuch des Jahres 1998 und startete auch hier die Rückwärtssuche. Diesmal wurde nur noch ein Treffer ausgegeben:

 

#0001    LaRosa, Maria (...)

 

Es gab jetzt mehrere Möglichkeiten, wer diese Frau war, die heute in der 88 Rue Mandar in Paris lebte. Sie konnte mit Thérèse Pallet verwandt sein, vielleicht ihre Tochter, eine Tochter die mit einem Italiener oder Spanier verheiratet war. Georg dachte dabei an ihren Namen, Madame LaRosa, es klang nicht sehr französisch. Eine Verwandte war in jedem Fall hilfreich für die weiteren Recherchen, auch wenn jetzt noch nicht feststand, dass Victor Jasoline und Thérèse Pallet selbst mit einander verwandt waren. Im ungünstigsten Fall hatten die heutigen und früheren Bewohner der Rue Mandar nicht das Geringste miteinander zu tun. Georg machte noch einige Notizen und überlegte sich sein weiteres Vorgehen.

*

Zur Mittagszeit hatte Georg die Ausstellung im Grand Palais wieder verlassen. Er stand auf der belebten Straße und dachte über seine Ausbeute nach. Besonders viel war es nicht. Er hatte in der ersten Runde, wie er es nannte, nur eine Verbindung von Victor Jasoline zu einer anderen Person gefunden, zu dieser Thérèse Pallet, die eine geborene Jasoline war. Er wusste, dass Madame Pallet im Jahr 1976 verstorben war und er kannte ihre frühere Adresse in Paris, die 88 Rue Mandar, in der heute eine Madame LaRosa lebte. Bevor er sich in ganz Frankreich auf die Namenssuche machte, wollte er heute unbedingt noch in der Rue Mandar vorbeischauen. Ein Taxi näherte sich. Er konnte erst nicht erkennen, ob es frei war. Er hob trotzdem den Arm und der Wagen hielt neben ihm. Er setzte sich nach hinten und nannte sein Ziel. Die Fahrt dauerte nicht lange. Das Taxi setzte ihn in der Rue Montmartre ab, die Straße, in die er eigentlich wollte, war für den Autoverkehr gesperrt. Die Nummer 88 befand sich fast am Ende der Straße. Es war eine reine Fußgängerzone. Es gab auch keine Geschäfte, die mit Waren beliefert werden mussten. Es waren Wohnhäuser, nur unter der Adresse zu der er wollte, wurde eine Pension betrieben. Von dem kleinen Schild im Vorgarten erfuhr er, dass es acht Zimmer gab und dass die einfache Übernachtung mit Frühstück hundertachtzig Francs kostete. Er bestieg die fünf Stufen bis zur Eingangstür und betrat das Haus. Am Ende eines großen Windfangs baute sich links der Tresen einer Rezeption auf. Rechts ging eine Treppe hinauf in die oberen Stockwerke. Im Treppenkasten befand sich eine eingesetzte Tür, die vermutlich in den Keller führte. Von außen hatte er zwei Etagen gezählt. Hinter dem Tresen befand sich noch ein Flur, an dessen Ende vier Türen abgingen. Er hörte das Klappern von Töpfen. Das Geräusch kam wohl aus der Küche. Auf dem Tresen stand eine Klingel. Es war ein Drücker, ähnlich einem Lichtschalter, von dem ein Kabel in die Holzplatte des Tresens führte. Er drückte und ein Summen erklang aus einem der Räume. Er drückte nur einmal und musste dann nicht lange warten, bis der Kopf einer Frau hinter einer Tür hervorlugte. Sie schaute auf diese Weise nur ganz kurz, um festzustellen, durch was sie gestört worden war. Sie glaubte in Georg einen neuen Pensionsgast zu erkennen und erschien augenblicklich in voller Körpergröße auf dem Flur und eilte lächelnd zum Tresen. Sie war an die sechzig, sah gepflegt aus, etwas mollig, was aber für eine Frau in ihrem Alter nicht unschön wirkte. Sie trug ein Haarnetz, das einen dicken, aufgerollten Zopf zusammen hielt.

»Bonjour, sie wünschen?«, fragte sie, als wenn sie schließlich doch ahnte, dass Georg nicht nach einem ihrer Gästezimmer verlangen würde.

»Bonjour, mein Name ist Georg Staffa, ich bin Rechtsanwalt aus Deutschland. Ich suche eine Madame LaRosa.«

Georg hatte sich entschlossen sofort zum Punkt zu kommen und seinen Besuch möglichst offiziell wirken zu lassen. Er hatte dabei wieder die Geschichte der Klientin aus München im Kopf, die nach ihren französischen Verwandten suchte.

Die Frau nickte schüchtern. »Ich bin Madame LaRosa, Maria LaRosa. Aber bitte, warum suchen sie nach mir, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Entschuldigen sie, Madame«, erklärte Georg. »Eigentlich wollte ich mich nach einer Frau Namens Thérèse Pallet erkundigen. Nach meinen Recherchen hat sie vor mehr als zwanzig Jahren unter dieser Adresse, also hier in der 88 Rue Mandar gewohnt.«

»Oh Gott«, entfuhr es Madame LaRosa. »Sie suchen nach Madame Pallet. Das ist aber schon lange her, sehr lange.«

»Sie haben sie also gekannt?«, fragte Georg erwartungsvoll.

Madame LaRosa trat neben den Tresen, so dass sie jetzt direkt vor Georg stand. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, dass nicht«, sagte sie, immer noch mit leicht erregter Stimme. »Mein Mann und ich haben dieses Haus 1978 gekauft. Es stand zwei Jahre leer. Es wurde versteigert. Wir haben den Zuschlag bekommen. Gekannt habe ich Madame Pallet aber nicht, nein. Wir sind erst in diesen Stadtteil gezogen, nachdem wir das Haus gekauft haben.«

Georg überlegte. »Sie haben das Haus gekauft«, sagte er. »Ich habe gehofft, dass sie vielleicht mit Madame Pallet verwandt sind, sie zumindest näher gekannt haben. Das ist natürlich schade.«

Madame LaRosa schüttelte erneut den Kopf. »Tut mir leid, ich bin nicht mit ihr verwandt. Wir haben damals aus der Zeitung von der Versteigerung erfahren. Das Haus war anfangs nicht einmal unser Wunschobjekt. Wir suchten etwas, um ein Hotel oder eine Pension zu eröffnen. Bei der Versteigerung hatten wir Glück, wir haben das Haus günstig kaufen können, dass Madame Pallet die Vorbesitzerin war, das haben wir erst später, beim Notar erfahren.«

»Wer hat das Haus denn damals zur Versteigerung angeboten? Gab es vielleicht Verwandte oder Freunde von Madame Pallet, mit denen sie damals zu tun hatten, an wen haben sie den Kaufpreis gezahlt? Ich würde gerne jemanden finden, der Madame Pallet noch gekannt hat und vielleicht über ihre Familie und Herkunft Bescheid weiß.«

»Es ist alles an die Stadt gegangen«, erklärte Madame LaRosa zögernd. »Es gab ja keine Verwandten. Aber jetzt sagen sie nicht, dass sich plötzlich doch jemand für das Erbe von Madame Pallet interessiert, womöglich jemand aus Deutschland, wo sie doch Rechtsanwalt sind.«

Georg lächelte sie beruhigend an. »Nein, um ein Erbe geht es nicht«. Er berichtete wieder von seiner Klientin in München. Mittlerweile gefiel ihm die Geschichte selbst ganz gut.

»Oh, dass sind immer so schöne Geschichten, wenn man nach seinen Ahnen forscht«, sagte Madame LaRosa euphorisch. »Die Großeltern meines Mannes stammen aus Italien, wie sie unschwer an meinem Nachnamen feststellen können.«

»Aber sie selbst sind in Paris geboren, Madame?«, fragte Georg.

Sie lächelte. »Nein, nein, ich bin ein richtiges Landei, ich stamme aus einem kleinen Ort an der Mittelmeerküste, am Golfe du Lion. Es ist nicht gerade Saint Tropez, aber es ist dort auch sehr schön. Meine Eltern hatten bereits ein Hotel. Die Arbeit wurde mir und meinem Mann aber zuviel. Die Touristen in einem Badeort haben andere Ansprüche, als die Touristen oder Geschäftsleute, die nach Paris kommen. Ich wollte immer schon in Paris leben. Wir sind 1975 in die Stadt gezogen. Nach drei Jahren hat es dann endlich mit dem eigenen Hotel geklappt. Wir haben das Haus mit den Möbeln, mit eigentlich allem übernommen. Wir mussten natürlich etwas umbauen. Heutzutage will ja jeder sein eigenes Bad, aber insgesamt konnte es so bleiben, wie es war und die Lage ist natürlich auch sehr gut, sehr zentral.«

»Hat sich denn in den letzten zwanzig Jahren überhaupt einmal jemand von Madame Pallets Verwandten oder vielleicht auch Freunden gemeldet?«, fragte Georg erwartungsvoll.

»Nein, niemand, wer auch. Die Stadt hat doch zwei Jahre lang nach einem Erben gesucht und niemanden gefunden. Wir wären allerdings vorbereitet gewesen. Das Haus gehört uns natürlich. Der Kauf lässt sich nicht rückgängig machen. Das Inventar haben wir entweder behalten oder fortgeschmissen, auf den Müll.« Sie zögerte einen Moment. »Aber es gibt immer noch ein paar persönliche Dinge von Madame Pallet, die ich noch aufbewahre.«

Georg horchte auf. »Darf ich fragen, was das für Sachen sind?«

»Es sind eigentlich nur Fotografien«, antwortete sie. »Wir waren damals ein wenig betroffen. Es sind schließlich sehr persönliche Dinge, die Madame Pallet hinterlassen hat. Die Behörden haben wohl vor der Versteigerung sorgfältig alles Geld, Sparbücher und Dokumente an sich genommen. Das was an Wert noch vorhanden war, soll gerade einmal die Kosten des Leerstands abgedeckt haben. Ich weiß es noch wie heute. In einem der Küchenschränke haben wir ein paar lose Fotografien und einige Briefe gefunden. Das hatten die Behörden wohl übersehen. Meinem Mann war es zu aufwendig, die Sachen abzugeben, es war ja auch nichts von Wert dabei. Wir haben uns die Sachen angesehen, wir kannten Madame Pallet ja nicht. Wir wollten dann alles fortwerfen, haben es aber schließlich doch verwahrt und dass seit mehr als zwanzig Jahren.«

»Darf ich es sehen?«, fragte Georg in einem ruhigen, fast feierlichen Ton, als wenn es darum ginge, die sterblichen Überreste eines Menschen anzuschauen.

»Es hat sich eigentlich noch nie jemand für die Sachen interessiert«, sagte Madame LaRosa. »Ich habe mir die Bilder zwar immer mal wieder angesehen, aber sonst habe ich sie noch niemandem gezeigt.« Sie stutzte. »Na gut, warum sollen sie nicht der erste sein, dem ich es zeige.«

Bevor sich Madame LaRosa anschickte, ihn in ihre Wohnung zu bitten, zog Georg noch eine Visitenkarte aus seiner Manteltasche.

»Danke«, sagte er. »Entschuldigen sie, ich wollte Ihnen noch meine Karte geben.«

Sie sah auf die Visitenkarte und las sich die Zeilen durch. »Sie kommen aus München?«

»Ja, ich habe in München meine Kanzlei.«

Madame LaRosa nickte. »Interessant«, bemerkte sie. Sie blickte ihn wieder an. »Wenn sie mir folgen wollen, dann kann ich Ihnen die Sachen von Madame Pallet zeigen.«

Sie ging voraus. Die Wohnung hinter dem Tresen nahm fast das gesamte Erdgeschoß des Hauses ein. Georg folgte ihr über den Flur in ein Wohnzimmer. Sie bot ihm einen Platz an und holte einen Blechkasten aus der untersten Schublade eines Eichenschrankes. Der Kasten war nicht viel größer als eine Keksdose. Zuerst holte Madame LaRosa eine verzierte Kokosnussschale hervor und legte sie auf den Wohnzimmertisch.

»Oh, was ist das?«, fragte Georg.

»Ein Wandschmuck. Den haben wir auch im Haus gefunden. Anfangs hat er mir noch gut gefallen. Ich habe ihn sogar im Flur aufgehängt, aber dann fand ich ihn irgendwann zu kitschig und habe ihn zusammen mit den Fotos in dem Kasten hier verwahrt.«

Georg betrachtete sich die Kokosnussschale. Madame LaRosa schwieg einige Sekunden und holte dann die Fotografien aus dem Blechkasten. Die Aufnahmen waren wohl lange vor 1970 entstanden. Viele in schwarz-weiß, nur einige wenige Farbaufnahmen, die dem Kontrast zu urteilen aber auch schon älter zu sein schienen. Zuoberst lag eine Aufnahme, die eine ältere Frau mit zwei kleinen Kindern zeigte. Sie saßen auf einer Bank und lächelten wie auf Kommando in die Kamera.

»Ist sie das«, fragte Georg und zeigte auf das Foto.

Madame LaRosa drehte den Blechkasten, sah hinein und schüttelte den Kopf. »Wer diese Frau ist weiß ich nicht, es ist aber nicht Madame Pallet.« Madame LaRosa nahm das Foto heraus und drehte es um. »Es ist nicht beschriftet, es sind nicht alle beschriftet.«

Madame LaRosa legte das Bild wieder zurück und kramte nach einer anderen Fotografie. Sie fand was sie suchte und zeigte es Georg.

»Das ist Madame Pallet«, sagte sie. Sie drehte das Foto kurz um. Auf der Rückseite hatte jemand mit krakeliger Handschrift die Worte Madame Pallet vor dem Geschäft, 19. Februar 1968 geschrieben. Die Aufnahme zeigte eine alte Frau in einem dicken Mantel. Sie stützte sich auf einen Stock und stand da, wie ausgerichtet. Im Hintergrund war ein Fotogeschäft zu sehen. Das Schaufenster war mit zahlreichen Aufnahmen dekoriert. Die Motive der Bilder im Schaufenster ließen sich sogar erkennen. Hochzeitsbilder, Aufnahmen von Kindern und Gruppen von Menschen, vielleicht auf einem Betriebsausflug entstanden oder bei einem Vereinstreffen. Georg sah sich die alte Frau an. Er glaubte kurz, sie schon einmal gesehen zu haben.

»Wie alt ist sie geworden«, fragte er.

Madame LaRosa antwortete nicht gleich, sondern suchte in dem Kasten nach etwas. Sie holte schließlich einen Zeitungsausschnitt hervor, eine Auflistung von Namen.

»Freunde von mir haben dies hier gefunden«, erklärte sie, »in einem Haufen alter Zeitungen, die jahrelang auf ihrem Dachboden lagen. Zufälle gibt es«, sinnierte sie kurz. »Madame Pallet ist ja gestorben, lange bevor wir überhaupt daran gedacht haben, das Haus zu kaufen. Es gab natürlich keine Todesanzeige. Aber es wird in irgendeiner Zeitung einmal die Woche abgedruckt, wer auf den Friedhöfen hier in Paris beerdigt wurde. Sie wurde wohl verbrannt und man hat die Urne anonym beigesetzt.«

Sie hielt Georg den Ausschnitt hin und zeigte auf eine Zeile auf der Seite. Dort stand nur der Name Thérèse Pallet und die Jahreszahlen ihres Lebens, 1895 bis 1976, keine Angaben zu Tag und Monat. Die Zeitungsseite war vollständig und trug in der Kopfzeile den Titel einer regionalen Pariser Tageszeitung und das Datum des Erscheinens. Es war der 23. Juli 1976, einem Freitag. Über und unter dem Namenseintrag von Thérèse Pallet waren weitere Personen aufgelistet, immer ein Name pro Zeile, in vier Spalten aufgeteilt. Über dem ersten Namen der Auflistung, stand ebenfalls ein Datum, vermutlich der Tag der Beerdigung, all der Menschen, die darunter aufgeführt waren. Fast am Ende der Seite begann eine neue Auflistung, die diesmal aber mit dem Namen des Friedhofs und dann erst mit dem Datum begann. Auf welchen Friedhof Thérèse Pallet ruhte, musste auf einer der vorherigen Zeitungsseiten gestanden haben. Die Seiten fehlten jedoch. Madame LaRosa hatte aber anscheinend nur dieses eine Blatt.

»Sie wissen nicht, auf welchem Friedhof sie beerdigt wurde«, fragte Georg aber trotzdem.

Sie nahm die Zeitungsseite und zeigte auf den unteren Rand. Georg versuchte es zu entziffern. Es war eine Fußnote: Cimetière de Rueil.

»Der Friedhof liegt etwas außerhalb, noch weit hinter dem Bois de Bologne«, erklärte Madame LaRosa.

»Sie ist doch recht alt geworden, über achtzig, wenn jemand so alt wird, kann es sein, dass zum Schluss niemanden mehr da ist«, sagte Georg. Er starrte kurz auf die Zeitungsseite und blickte dann wieder auf.

Madame LaRosa nickte. »Mehr weiß ich leider nicht von ihr. Hier ist noch ein Brief und eine Postkarte, die sie bekommen hat, aber da werden keine Kinder, Enkel, Nichten oder Neffen erwähnt, sonst hätten die Behörden das Haus nicht versteigern müssen. So bewahre ich die Sachen einfach nur auf. Anfangs habe ich immer geglaubt, dass sich doch noch ein Verwandter von Madame Pallet meldet, plötzlich vor der Tür steht. Für diesen Fall bewahre ich die Sachen auf. Aber mittlerweile glaube ich, dass das nicht mehr geschehen wird. Sie sind wirklich der erste, der mich nach Madame Pallet fragt, seit dem ich hier wohne.«

Sie faltete den Zeitungsausschnitt wieder zusammen. Georg sah sich erneut die Fotografie an, die er noch immer in der Hand hielt. Wieder glaubte er, die Frau auf dem Foto schon einmal gesehen zu haben, aber vielleicht war es nur Einbildung. Dann gab er Madame LaRosa die Fotografie und sie legte das Bild zurück in den Blechkasten. Er hatte Thérèse Pallet gefunden. Er war jetzt in dem Haus, in dem sie gelebt hatte. Eigentlich war er aber nicht viel weiter gekommen. Es war noch lange nicht geklärt, dass Thérèse Pallet etwas mit Victor Jasoline zu tun hatte.

»Haben sie den Namen Jasoline schon einmal gehört?«, setzte Georg seine Gedanken fort. »Victor Jasoline ist der Name des Urgroßonkels meiner Klientin. Er gehörte zum Militär, das in Französisch-Polynesien, in den Südseedepartments, stationiert war«, erklärte Georg und blieb damit bei seiner erfundenen Geschichte.

»Victor Jasoline kenne ich nicht, aber den Familiennamen Jasoline habe ich schon einmal gehört und gelesen«, sagte Madame LaRosa, ohne zu zögern oder überlegen zu müssen. »Es ist doch der Mädchenname von Madame Pallet.«

»Das ist richtig«, bestätigte Georg überrascht. »Das ist natürlich auch der Grund, warum ich bei meinen Recherchen auf Madame Pallet gekommen bin.« Er stutzte kurz. »Und woher kennen sie den Geburtsnamen von Madame Pallet?«

Madame LaRosa stand auf und ging zu einem Bücherbord, dass nur drei Regalbretter besaß. Sie suchte kurz und zog dann ein Band heraus und brachte es mit an den Wohnzimmertisch.

»Ich glaube, dies hier ist eine kleine Rarität«, sagte sie und schlug den Einbanddeckel auf. »Sehen sie, es ist eine Sherlock-Holmes-Geschichte von Arthur Conan Doyle, Das Zeichen der Vier, die Erstausgabe von 1890. Es ist auf Englisch, aber eine Französin hat es gelesen.«

»Wie meinen sie das«, fragte Georg.

Madame LaRosa schlug noch seine Seite um, auf der sich eine handschriftliche Eintragung befand. Madame LaRosa reichte ihm das Buch und er versuchte den Text zu entziffern.

 

Liebe Madame Jasoline,

es hat mich sehr gefreut, mit ihnen zu reisen, ich danke ihnen, dass sie mich an ihrer kleinen Bibliothek teilhaben lassen, um uns Abwechselung zu verschaffen. Dieser Band hier hat mir besonders viel Freude gemacht und daher nutze ich ihn für meine Botschaft an sie. Ich wünsche ihnen und den ihren Gottes Segen.

Schwester Jolanta, im Jahr des Herrn 1895

 

»Das ist in der Tat sehr außergewöhnlich«, sagte Georg schließlich. »Es ist ja ein Brief, der wie ein Widmung geschrieben ist.

»Wir haben dieses Buch erst später im Haus gefunden«, sagte Madame LaRosa. »Wir kannten den Namen Jasoline aber schon vorher. Es steht im Grundbuchauszug. Über den Notar haben wir die Unterlagen erhalten. Vor uns haben die Pallets das Haus 88 Rue Mandar besessen und das schon seit 1914.«

Georg nickte. Natürlich, dachte er, im Grundbuch waren die Vorbesitzer eingetragen, Thérèse und Lucien Pallet, Thérèse Pallet, geborene Jasoline. Schon bei der Hochzeit der Pallets war die Adresse 88 Rue Mandar erwähnt worden, wie er bei seiner Recherche in der Kolonialausstellung erfahren hatte. Er fragte sich kurz, ob das Grundbuchamt eine neue Quelle für ihn sein konnte, ob er dort etwas über die Herkunft von Thérèse Jasoline erfahren würde. Er verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder. Er kannte sich schließlich aus, das Kataster war kein Standesamt, die Herkunft eines Menschen war unerheblich für die Beurkundung von Besitzverhältnissen einer Immobilie. Er sah auf das Büchlein vor ihm auf dem Wohnzimmertisch.

»Was sind denn noch für Bilder in dem Kasten«, fragte er schließlich. »Darf ich sie mir ansehen?«

Madame LaRosa gab ihm den Blechkasten. Georg holte die Bilder heraus. Es waren nicht die Fotografien eines ganzen Lebens. Er erkannte die Rue Mandar. Nachbarn unterhielten sich. Dann gab es eine Reihe von Landschaftsaufnahmen, ohne Menschen darauf, nur einfach die Landschaft, die aufgenommen worden war, um den schönen Moment festzuhalten. Es war Reisen, die die alte Madame Pallet unternommen hatte. Sie stand in einer Gruppe, dann allein an einem Bus, einem richtigen Omnibus aus den fünfziger oder sechziger Jahren. Ein Bild zeigte sie auch noch vor einer Möbelhandlung. Neben ihr stand eine Frau, deren linker Arm fehlte. Kein Bild machte den Eindruck, als wenn es Verwandte oder ein Familie zeigte. Die jüngsten Bilder mochten Anfang der siebziger Jahre aufgenommen worden sein.

»Darf ich mir auch einmal die Schriftstücke ansehen?«, fragte Georg.

Madame LaRosa nickte, als wenn sie auf diese Frage gewartet hätte. Sie hatte bereits ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus dem Blechkasten genommen. Sie reichte es Georg. Schweigend überflog er den Brief. Eine Freundin, es muss eine Freundin gewesen sein, berichtete über Rückenschmerzen und dass sie zum Arzt gefahren sei. Der ganze Brief handelte von ihren Leiden, es war wenig ergiebig. Am Ende des Briefes hatte sie mit dem Namen »Adèle« unterschrieben. Schade, dachte Georg, ein Name, ein vollständiger Name oder sogar eine Adresse, hätten ein neuer Hinweis sein können.

»Haben sie noch einen Briefumschlag?«, fragte er, in der Hoffnung, diesen Hinweis doch noch zu erhalten.

Madame LaRosa schüttelte den Kopf. »Der Brief lag einfach nur so in dem Kasten, zwischen den Fotografien.«

Sie blickte in den Blechkasten hinein und suchte nach etwas. Georg dachte im ersten Augenblick, dass es ein weiteres Foto sei. Doch es war kein Foto, sondern eine Postkarte. Sie reichte Georg die Karte. Es war eine sehr alte Postkarte. Erst schaute er sich das Ansichtsbild an, dann drehte er die Karte um. Der Poststempel war von 1913, vom 24. November 1913. Die Postkarte war an Thérèse Pallet geschrieben, mit der Adresse in Paris, der 88 Rue Mandar, in der er sich jetzt und hier befand. Georg sah sich noch einmal die Bildseite der Postkarte an. Sie zeigte einen Park, in dem neben einigen kleineren Gebäuden ein großes, breit angelegtes Anwesen stand. Auf der Fotographie war der Park am rechten unteren Bildrand durch einen Wald begrenzt. Es konnte aber auch lediglich eine kleine Schonung sein. Die Postkarte zeigte nur ein kleines schwarzes Dreieck, aus dem einige Baumkronen hervorstachen. Erst beim genauen hinsehen, erkannte er eine Linie, einen Pfeil, der in die Fotografie der Postkarte eingezeichnet war. Der Pfeil zeigte genau auf das schwarze Walddreieck. Die Postkarte trug die Aufschrift »Sanatorium pour des dermatoses, Allaire, France«. Georg drehte die Karte wieder um und betrachtete die beschriebene Seite. Sie war mit einer roten Briefmarke versehen. Der Poststempel war schwarz und leicht verlaufen. Genauso fein wie die Anschrift war auch die Nachricht auf der linken Kartenseite geschrieben. Er las sich den Text durch.

 

Meine liebe Thérèse,

heute bin ich auf der Kutsche zum Sanatorium mitgefahren. Ich habe diese Karte gekauft. Ich habe dir eingezeichnet, wo ich sie geboren habe. Ich habe noch einmal meinen ganzen Spaziergang gemacht, wie damals. Ach, ich hätte es so gern meiner Julie gezeigt. Am Abend haben einige Patienten das Sanatorium verlassen und ich konnte in einer Droschke mit zurückfahren. In wenigen Tagen will ich wieder in Paris sein.

Yvette, A.F. 24. November 1913

 

Als Georg den Namen Julie las, wurde er aufmerksam. Der erste Brief aus dem Nachlass von Thérèse Pallet mochte für seine Sache unbedeutend sein, aber diese Postkarte hier, enthielt eine Information, die ihn weiterbringen konnte. Eine Frau namens Yvette hatte eine Postkarte aus einem Sanatorium geschickt, von einem Ort namens Allaire. Dieser Ort lag irgendwo in Frankreich und diese Yvette schrieb etwas über die Geburt ihrer Tochter Julie. War es die Julie, fragte sich Georg.

»Wissen sie, wer Yvette ist?«

Madame LaRosa hatte die ganze Zeit geschwiegen, während er sich die alte Postkarte genauer ansah. Auf seine Frage hin schüttelte sie den Kopf.

»Ich weiß es nicht, vielleicht eine Freundin, vielleicht Madame Pallets Schwester.«

»Hatte sie eine Schwester?«, fragte Georg überrascht.

»Das weiß ich nicht, ich habe es nur vermutet«, antwortete Madame LaRosa schnell. »Ich habe mir die Nachricht auf der Postkarte oft durchgelesen, es klingt etwas merkwürdig, aber sicher wussten Madame Pallet und diese Yvette schon, worum es ging.«

 Georg nickte. »Wissen sie, wo der Ort Allaire liegt?«

Madame LaRosa erhob sich und ging zur Schrankwand in ihrem Wohnzimmer. »Ich habe es vor langer Zeit einmal nachgeschlagen«, sagte sie, während sie in dem Schrank nach etwas suchte. »Ich habe es aber wieder vergessen.«

Sie kehrte mit einem Atlanten an den Wohnzimmertisch zurück und schlug das Buch auf. Es gab ein Register, in dem sie nachsah. Sie fand den Eintrag und blätterte zurück auf die Seite siebenundneunzig. Sie schlug eine Karte auf. Der Ort oder die Stadt Allaire lag im Landesinneren, aber nicht weit von der Atlantikküste entfernt, in der Bretagne. Mit dem Finger strich Madame LaRosa über die Seite, den Kopf dicht über der Karte, so dass Georg selbst zunächst nichts sehen konnte.

»Nantes ist ganz in der Nähe«, sagte sie, während sie wieder aufblickte.

Er sah sich den Maßstab der Karte an. Ganz in der Nähe bedeutete etwas mehr als einen Zentimeter, was vielleicht hundert Kilometer entsprachen. Und nach Paris mussten es ungefähr vierhundert Kilometer sein. Schade, dachte er, heute würde er es nicht mehr nach Allaire schaffen und den morgigen Tag hatte er für seine kleine Dienstreise zunächst nicht mehr eingeplant.

»Kann ich mir die Postkarte kopieren und auch eines der Fotos von Madame Pallet?«, fragte er nach kurzem Zögern.

»Ich denke schon«, antwortete Madame LaRosa »Und an welches Foto haben sie gedacht?«

»Vielleicht die Aufnahme von Madame Pallet, auf der sie vor dem Fotogeschäft steht.«

Madame LaRosa suchte das Bild in dem Blechkasten, in den sie es zurückgelegt hatte. Sie fand es, nahm Georg die Postkarte aus der Hand und erhob sich. Sie wollte das Wohnzimmer verlassen und deutete Georg an, ihr zu folgen. Sie gingen wieder über den Flur zum Rezeptionstresen. Madame LaRosa besaß tatsächlich einen Computer und einen Drucker, mit dem auch gescannt werden konnte. Der Computer war auf Standby gestellt.

»Ich bekomme meine Buchungen mittlerweile häufig als E-Mail. Auch ich muss mit der Zeit gehen«, sagte sie lächelnd.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Georg. »Wenn sie E-Mail haben, dann können sie mir die Unterlagen doch auch zumailen.«

Sie nickte und legte zunächst das Foto von Madame Pallet auf die Glasscheibe des Scanners. Über den Computer startete sie den Scanvorgang. Dann nahm sie auch die alte Postkarte und scannte nacheinander Vorder- und Rückseite. Sie konnte gut mit dem Computer umgehen. Die drei Bilddateien, die das Gerät erstellt hatte, hängte sie an ein E-Mail-Formular. Dann blickte sie sich auf dem Tresen der Rezeption um.

»Oh, ich weiß gar nicht, wo ich ihre Visitenkarte gelassen habe«, sagte sie.

»Kein Problem«, meinte Georg.

Er holte eine weitere Karte aus seinem Jackett hervor und reichte sie Madame LaRosa. »Sie können es an mein Büro senden«, erklärte er.

Sie nahm ihm die Karte nicht aus der Hand, sondern las nur die Mailanschrift ab und tippte die Adresse in das dafür vorgesehene Feld des E-Mail-Formulars. Zum Abschluss versendete sie die E-Mail.

»Als Betreff habe ich einfach den Namen Madame Pallet geschrieben«, sagte Madame LaRosa. »Ich hoffe sie finden die Nachricht dann auch wieder, sie werden ja sicherlich eine Menge elektronischer Post in ihrer Rechtsanwaltskanzlei erhalten, nicht wahr?«

»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Georg. »Außerdem bekomme ich nicht so häufig Post von jemandem mit so einem schönen Nachnamen.«

Madame LaRosa sah ihn etwas verlegen an und lächelte dann. »Danke«, sagte sie. Sie zögerte einen Moment. »Wenn sie wollen, dann kann ich Ihnen auch noch das Haus zeigen.«

Georg überlegte nicht lange. »Das wäre nett«, sagte er lächelnd.

Madame LaRosa zeigte auf die Treppe neben dem Empfang. »Die Zimmer liegen im ersten und zweiten Stock. Hier unten habe ich nur meine eigene Wohnung und der Keller ist zu einem Frühstücksraum umgebaut. Bei mir gibt es die Zimmer mit Übernachtung und einem reichhaltigen Frühstücks-Buffet.« Sie lächelte.

Georg blickte zur Treppe.

»Ich habe acht Zimmer«, fügte Madame LaRosa noch hinzu. »Fünf im ersten Stock und noch einmal drei unter dem Dach.«

Georg erinnerte sich an das Schild im Vorgarten. Madame LaRosa ging auf die Treppe zu. Georg folgte ihr. Sie stiegen die Stufen hinauf. Die Treppe führte in einem leichten Bogen nach oben. Sie kamen zu einem quadratischen Flur, von dem die ersten fünf Zimmer abgingen.

»In der Nummer Eins und der Nummer Fünf sind Gäste, aber die anderen Zimmer sind momentan frei, die kann ich Ihnen zeigen«, erklärte sie.

Sie holte ihr Schlüsselbund aus der Kitteltasche und schloss die Nummer Vier auf. Als sie die Tür öffnete, wurde der Flur vom Licht aus dem Zimmer erhellt. Madame LaRosa trat zur Seite und ließ Georg vorgehen. Von einem kurzen Gang teilte sich links ein offenes Bad ab. Auf der rechten Seite befand sich ein brauner Kleiderschrank. Georg ging weiter und betrat den Schlafbereich. Die Möbel bestanden aus einem französischen Doppelbett mit Nachtschränken auf jeder Seite. Gegenüber dem Bett befand sich eine Kommode, über der ein breiter Spiegel hing. Das Zimmer war sehr groß, wirkte aber etwas altmodisch eingerichtet, was an den Möbeln lag, die sich in dem Raum verloren. Es war aber alles akkurat sauber, selbst der Spiegel glänzte und wies keinerlei Schlieren auf der Glasoberfläche auf.

»Hier oben haben wir aus drei Zimmern fünf gemacht«, erklärte Madame LaRosa. »Die drei Zimmer zur Straße hin, waren einmal ein riesiger Raum. Madame Pallet hat ihn wohl als Wohnzimmer genutzt. Mein Wohnzimmer unten war dagegen früher ein Esszimmer. In diesem Raum hier hat Madame Pallet wohl geschlafen. Das Zimmer war damals noch etwas größer als heute. Wir haben eine Wand versetzt, weil das Gästezimmer nebenan etwas zu klein gewesen wäre.«

Georg trat an die Wand und klopfte leicht dagegen. Sie bestand aus Holzplatten, die wohl von Innen isoliert waren. »Eine Menge Arbeit«, sagte er schließlich.

Madame LaRosa nickte. »Ja, richtig. Der erste Stock war ursprünglich aufgeteilt, wie eine separate Wohnung. Das Geld, das wir beim Hauskauf gespart haben, mussten wir doppelt in den Umbau investieren. Selbst die Möbel mussten wir neu kaufen, das was im Haus war, haben wir fast alles fortgeschmissen, nur in zwei der Zimmer ganz oben haben wir noch alte Sachen von Madame Pallet stehen.«

»Haben sie überhaupt noch andere Dinge, also Einrichtungsgegenstände aufbewahrt, die noch von Madame Pallet stammten?«

Madame LaRosa überlegte. »Ihre alten Kleider haben wir als erstes an einen Trödler gegeben, ja und sonst, eben nur einige der Möbel. Wir können hinaufgehen, oben ist gerade keines der Zimmer belegt.«

Georg sah sich noch einmal in dem Raum um. Es war wirklich sauber, aber für seinen Geschmack zu ungemütlich. Wochenendgäste fühlten sich hier sicherlich wohl, oder auch Geschäftsleute, die eine günstige Unterkunft suchten. Madame LaRosa war wieder vorangegangen. Sie stand bereits auf dem Flur und hatte den Schlüssel in das Türschloss gesteckt, um hinter Georg abzuschließen.

Auf dem Weg in den zweiten Stock ließ sie diesmal aber Georg den Vortritt. Der Flur oben war etwas kleiner als im ersten Stock. Es gingen vier Türen vom Flur ab. An einer hing ein Messingschild mit der Aufschrift privat. Es sei ein Abstellraum, erklärte Madame LaRosa noch. Sie schloss das Zimmer mit der Nummer sieben auf und ließ Georg eintreten. Das Zimmer war kleiner, als das Zimmer, das er unten gesehen hatte. Es hatte aber auch zwei Fenster, die diesmal nicht zum Garten, sondern zur Rue Mandar hinausgingen. Es gab wieder ein offenes Bad. Der Kleiderschrank stand aber dem Doppelbett gegenüber. Bett und Schrank passten eigentlich nicht zusammen. Das Bett war das gleiche Modell wie im unteren Zimmer. Es war allerdings wie auch der Schrank nachträglich rot gestrichen. Es war ein dunkles Rot, das an einigen Stellen ausgebessert worden war. Der Raum sagte Georg noch weniger zu.

»Das Bett ist neu, aber der Schrank stammt noch von Madame Pallet, genau wie einer der Nachttische«, erklärte Madame LaRosa.

Georg waren die Nachttische gar nicht aufgefallen. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Das Zimmer lag hoch über der ruhigen Straße. Außer den Möbeln war das Zimmer schmucklos. Es gab auch keine Kommode, dafür war der Schrank sehr groß und besaß in einer seiner Türen einen eingelassenen Spiegel. Madame LaRosa kam auch zu einem der Fenster und stellte es auf schräg, um Luft herein zu lassen.

»Neben an habe ich auch ein Einzelzimmer«, sagte sie schließlich. »Dort stehen noch weitere Möbel von Madame Pallet.«

Georg nickte und sie verließen den Raum wieder. Madame LaRosa schloss das Zimmer ab und wandte sich gleich zur nächsten Tür. Sie wusste genau, welcher Schlüssel hier passte. Ein zentrales Schließsystem gab es anscheinend nicht. Sie musste bei jedem Raum einen anderen Schlüssel ihres Bundes nehmen. Das Einzelzimmer war genauso groß wie der Raum neben an, ebenfalls mit zwei Fenstern. Das Zimmer wirkte aber größer, weil das Bett darin weniger Platz einnahm. Der Kleiderschrank stand seitlich an der Wand. Gegenüber dem Bett befand sich wieder eine Kommode. Die Möbel waren in einem hellen Braunton gebeizt und passten nicht nur farblich zueinander, sie schienen auch alle aus einer Serie zu stammen, selbst der Nachttisch, der links neben dem Bett stand. Der Kleiderschrank war schmaler als in dem Zimmer nebenan, besaß aber ebenfalls einen eingelassenen Spiegel. Georg stellte sich vor das Bett.

»War das ihr Bett«, fragte er.

»Nein, sie hatte wohl ein Gästezimmer im Haus«, antwortete Madame LaRosa. »Es befand sich auch im ersten Stock. Wir haben alles hier nach oben gebracht, auch das Bild.«

»Das Bild?«, fragte Georg und sah sich um.

»Nein, hinter Ihnen, über der Kommode«, dirigierte ihn Madame LaRosa.

Georg drehte sich in die andere Richtung. Er hatte es gar nicht gesehen, es hing über der Kommode. Es hatte einen verschnörkelten goldenen Rahmen, der nicht zu den dunklen Farben passte. Georg ging instinktiv einige Schritte zurück, bis er mit den Kniekehlen von hinten gegen das Bett stieß. Er erkannte eine dreibögige Brücke, mit groben Pinselstrichen gemalt. An der Uferpromenade verlief eine Straße, dahinter standen große Gebäude, die Dächer einer Stadt zogen sich grau am Horizont entlang. Alles war nur angedeutet, es gab keine Details und dennoch konnte der Betrachter sofort erahnen, was dargestellt sein sollte. Der Fluss unter der Brücke war in einem eigenartigen dunklen blau gemalt, mit weißen Strichen, die wie Wellenkämme wirkten, kleine Wellen auf einem fließenden Strom.

»Es ist die Seine«, durchbrach Madame LaRosa die Stille, in der beide sich das Bild für einige Sekunden betrachtet hatten. »Es ist am Saint Michel, der Pont Saint Michel

Georg nickte und ging jetzt näher an das Ölgemälde heran. Er suchte am Rand des Bildes nach der Signatur. Es gab keinen Bildtitel, der die Behauptung von Madame LaRosa bestätigte, dafür gab es etwas anderes, etwas, das Georg sehr überraschte. Mit feinen schwarzen Pinselstrichen war die Jahreszahl 1949 an den rechten Rand des Bildes geschrieben, daneben die Signatur. In geschwungenen Buchstaben hatte sie ihren Namen hinterlassen: »T. Pallet«.

»Ist das wahr, hat Madame Pallet dieses Bild gemalt?«, fragte er.

Madame LaRosa ging ebenfalls näher an das Gemälde heran und trat wieder neben Georg. »Das Bild stammt aus ihrem Nachlas. Wir haben es nur von unten hier heraufgebracht, es hing auch in ihrem Gästezimmer. Ich bin sicher, es stammt von ihr.«

»Und woher wissen sie, dass es die Pont Saint Michel zeigt, dass es überhaupt Paris ist?«, fragte Georg ungläubig. »Das Bild hat keinen Titel.«

»Ich kenne Paris«, antwortete Madame LaRosa. »Hier am Bildrand ist der Place Saint Michel zusehen, eindeutig. Es wurde mit Blick auf das Südufer der Seine gemalt.«

Georg dachte kurz darüber nach, warum er hier war. Das Bild vor ihm hatte so gar nichts von dem Gauguin-Gemälde, es war aber immerhin ebenfalls in Öl gemalt, er war zumindest davon überzeugt, dass Thérèse Pallet Ölfarben für ihr skurriles Werk verwendet hatte. Madame LaRosa unterbrach seine Gedanken.

»Ja, das ist also meine kleine Pension«, sagte sie. »Ich hoffe es gefällt Ihnen. Wo wohnen sie denn hier in Paris?«

Georg sah sie an und lächelte. »Ich würde natürlich hier wohnen, aber ich bin nur für heute in der Stadt. Ich fliege am Abend zurück nach München, aber das nächste Mal, wenn ich über Nacht bleiben sollte, werde ich mich bei Ihnen nach einem freien Zimmer erkundigen, das verspreche ich.«

»Das ist sehr höflich von Ihnen, danke«, sagte sie.

Georg ging noch einmal ein paar Schritte zurück und betrachtete das Gemälde über der Kommode. Er wandte sich schließlich Richtung Tür und sie verließen gemeinsam das Zimmer. Madame LaRosa verschloss den Raum wieder sorgfältig. Sie ließ Georg vorangehen, die beiden Treppen hinunter bis ins Erdgeschoß, zu der kleinen Rezeption, vor der sie stehenblieben.

»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Madame«, sagte Georg schließlich. »Sie haben mir wahrscheinlich sehr geholfen. Vielleicht werde ich schon bald nach Allaire reisen und dort meine Recherchen fortsetzen. Mit etwas Glück ergeben sich neue Hinweise. Wer auch immer diese Yvette war, wenn sie in Allaire, vermutlich in dem Sanatorium dort, ein Kind zur Welt gebracht hat, dann gibt es auch Unterlagen darüber. Denn wenn ich den vollständigen Namen von Yvette herausfinde, gibt es vielleicht wieder eine Spur zu Madame Pallet und zum Urgroßonkel meiner Klientin.«

»Das klingt furchtbar spannend«, sagte Madame LaRosa. »Wenn sie mehr über Madame Pallet erfahren, dann finden sie ja vielleicht auch jemanden, dem ich endlich den Inhalt des Blechkastens geben kann. Es würde mich zu mindest sehr freuen.«

»Ich werde an sie denken, wenn sich etwas ergibt«, versprach Georg. »Ich schreibe Ihnen, ich habe ja jetzt auch ihre E-Mail-Adresse. Ist Ihnen das recht?«

Sie lächelte und sah ihn zufrieden an. Georg reichte ihr zum Abschied die Hand. Madame LaRosa brachte ihn noch zur Tür. Sie sah ihm nach, als er die Rue Mandar hinauf Richtung Rue Montmartre ging. Er drehte sich kurz um, bevor die Straße einen Bogen machte. Sie winkte zurückhaltend und er nickte ihr zu, ging dann aber weiter.

*

Georg kam wieder an die Hauptstraße. Diesmal suchte er nicht nach einem Taxi. Es war früher Nachmittag. Sein Rückflug sollte erst nach 20:00 Uhr gehen, er hatte zwar nicht mehr genug Zeit für ein richtiges Sightseeing, aber für einen Spaziergang an die Seine reichte es. Er schaute sich um und ging dann die Rue Montmartre abwärts, in die Richtung, wo er den Fluss vermutete. Er dachte über den Erfolg dieser Woche nach. Der Montag und Dienstag zählten nicht richtig, dass was er an diesen beiden Tagen recherchiert hatte, könnte ihm vielleicht später einmal nützlich werden, wenn es darum ging die richtig interessanten Fakten und Entdeckungen miteinander zu verknüpfen. Am Montag und Dienstag hatte er sich lediglich in den Auftrag hineingedacht. Heute war das anders. Er war über Victor Jasoline auf zwei weitere Namen gestoßen, die untereinander eine Verbindung haben mussten. Thérèse Pallet, geborene Jasoline, und diese Yvette, die eine Postkarte geschickt hatte, eine Postkarte an ihre Schwester, Cousine, Freundin, Bekannte oder was immer Thérèse Pallet für diese Yvette auch war. Die Entdeckung einer Julie war aber beinahe der größte Fund. Der Frauenname Julie konnte natürlich ein Allerweltsname im Frankreich der Jahrhundertwende gewesen sein. Es konnte aber auch die Julie sein, die Gauguin auf seinem Gemälde verewigt hatte. Die Sache mit dem Wald war ebenfalls eine sonderbare Sache. Die unbekannte Yvette hatte ihre Tochter Julie in einem Wald oder am Waldrand geboren. So ließ sich die Nachricht auf der Postkarte wenigstens interpretieren, die Nachricht und der eingezeichnete Pfeil, der den Ort der Geburt kennzeichnete. Er dachte an den Titel des Gauguin-Gemäldes. Sicherlich gehörte viel Fantasie dazu, aber in gewisser Weise hatte Georg erste Spuren einer Julie des Bois entdeckt.

Eine Gruppe Passanten kam ihm entgegen und er musste ein Stück auf die Straße treten. Es waren junge Leute, die sich unterhielten und ihn nicht beachteten. So etwas ärgerte ihn normalerweise, doch jetzt war er selbst in Gedanken. In der Kolonialausstellung war er erst auf den Namen Pallet gestoßen, vielleicht gab es weitere Namen. Wer war diese Yvette, es war schon schade, dass sie nicht mit ihrem vollständigen Namen unterschrieben hatte. Auch über den anderen Brief, den Thérèse Pallet von dieser Adèle bekommen hatte, dachte er jetzt noch einmal nach. Ein vollständiger Name hätte ihn vielleicht zu einer Freundin oder zu Kindern und Enkeln geführt, zu Leuten, die Thérèse Pallet noch gekannt haben, oder die von ihr wussten, weil die Mutter oder Großmutter von ihr erzählt hatte. Mit einem vollständigen Vor- und Nachnamen wäre es eine Spur gewesen, der er hätte folgen können. Und dann noch dieser Brief, der als Widmung in das alte Buch eingetragen war, Schwester Jolanta, genauso aussichtslos, es sei denn man stieße später noch einmal in einem anderen Zusammenhang auf diesen Namen.

Er hatte schon längst die Kreuzung an der Rue Etienne Marcel überquert. Er folgte der Rue Montmartre bis zum Ende und überquerte dann das Gelände, auf dem sich früher die Markthallen von Paris befunden hatten. Er ging durch die Rue du Roule. Mittlerweile war er gut zu Fuß und erreichte nach einer knappen halben Stunde den Pont Neuf. Er stieg hinunter zur Promenade unterhalb des Voie Georges Pompidou. An einem Kiosk kaufte er ein belegtes Baguette und eine französische Zeitung. Dann suchte er sich eine Bank, setzte sich und sah zunächst hinüber zur Ile de la Cite, bevor er schließlich sein Baguette auspackte und zu essen begann. Er ließ sich Zeit. Das Wetter in Paris war Anfang April schon recht angenehm, warm und trocken. Er blätterte die Zeitung durch und las den einen oder anderen Artikel. Der Verkehr auf dem Voie Georges Pompidou drang nur leise hinunter auf die Promenade. Ab und an beobachtete er Spaziergänger, die an seiner Bank vorübergingen. Dann faltete er die Zeitung zusammen, nahm das Brotpapier, das er neben sich gelegt hatte und erhob sich. Er gab alles in einen Papierkorb in der Nähe seiner Bank und machte sich auf den Weg zum Pont Neuf. Er winkte nach einem Taxi und hatte Glück. Der Fahrer freute sich über die lukrative Fahrt und brachte Georg hinaus zum Roissy-Charles de Gaulle. Am späten Abend landete er wie geplant wieder in München.

*

Georg war am nächsten Morgen schon früh in der Kanzlei. Er hatte gerade mit Simon Halter telefoniert. Seine Ergebnisse waren zwar noch nicht sehr aussagekräftig, aber Simon meinte, dass es ein Anfang sei, ein guter Anfang. Besonders interessierte ihn die alte Postkarte. Georg kopierte alle Unterlagen, die Notizen aus der Kolonialausstellung und auch die Postkarte und das Foto von Thérèse Pallet und schickte die Dateien an Simons E-Mail-Adresse. Keine zehn Minuten, nachdem er alles versendet hatte, klingelte auch schon sein Telefon.

»Es ist noch einmal Herr Halter für sie«, kündigte Frau Stelljes an und legte das Gespräch auf den Apparat ihres Chefs.

»Hallo«, meldete sich Simon. »Ich hab mir die Postkarte angesehen. Dieses Allaire, weißt du wo das liegt?«

Georg hatte die Bilddatei der alten Postkarte auf dem Monitor seines Computers geöffnet und blickte jetzt darauf. »Ich habe es mir kurz im Atlas angesehen«, erklärte er. »Es ist in Nordwestfrankreich, in der Bretagne. Bekannte Städte in der Nähe sind Nantes, Rennes und Vannes.«

»Aber der Ort Allaire wurde in der Biographie von Victor Jasoline nicht erwähnt«, stellte Simon fest.

»Richtig, weder in dem Lebenslauf, den ich aus Paris mitgebracht habe, noch in der Vita, die wir von Madame Uzar bekommen haben, ist ein Allaire erwähnt«, bestätigte Georg. »Das Bild von Victor Jasoline hat sich aber weiter komplettiert. Die Recherche in der Kolonialausstellung hat ergeben, dass er in Paris geboren wurde und in Auckland, Neuseeland, gestorben ist. Abgesehen von Tahiti oder den Marquesas, sind das bislang die einzigen Orte, die ich mit seinem Namen in Verbindung bringen konnte.«

Er hörte, wie Simon blätterte. »Die Postkarte zeigt doch dieses Krankenhaus oder Sanatorium. Die Frau, diese Yvette schreibt von der Geburt ihrer Tochter Julie. Vielleicht ist das schon unsere Julie, die Julie, die Gauguin gemalt hat, was meinst du?«

»Gut, natürlich war das auch mein erster Gedanke, aber sag selbst, wie viele Julias kennst du. Der Vorname ist schließlich nichts Exotisches und diese Übereinstimung kann ein Zufall sein und es kann auch sein, dass Thérèse Pallet gar nichts mit unserem Victor Jasoline zu tun hat. Für eine Verbindung zwischen den beiden habe ich noch keinerlei Beweise, geschweige denn für eine Verbindung zwischen Victor Jasoline, dieser Yvette und ihrer Tochter Julie. Weder die alte Postkarte noch der Ort Allaire, noch Yvette und Julie, müssen etwas mit dem Gauguin-Gemälde zu tun haben.«

Am Telefon war es wieder still. Simon schien zu überlegen. »Aber du kannst da doch trotzdem hinfahren«, sagte er schließlich, »und dieses Krankenhaus suchen, vielleicht findest du ja eine Verbindung oder hast du noch andere Spuren?«

»Nein, nichts weiter«, erklärte Georg. »Ich habe aber eben erst angefangen zu recherchieren und es gibt weitere Orte, außer in Paris, an denen ich suchen kann.«

»Und das wären?«, wollte Simon wissen.

»Am einfachsten wäre es zwar, weiter in Frankreich nach Spuren von Victor Jasoline und seinen Nachfahren zu suchen, aber ich gehe aus Erfahrung gerne den direkten Weg.«

»Und das bedeutet?«, fragte Simon ungeduldig.

»Ich dachte da an Neuseeland«, antwortete Georg ohne zu zögern. »Wenn Victor Jasoline in Auckland gestorben ist, dann gibt es dort vielleicht noch Spuren von ihm, auch wenn alles schon mehr als siebzig Jahre her ist. Auf jeden Fall ist der Hinweis Auckland konkreter als alles andere, was ich bisher gefunden habe. Wir haben ja sogar noch eine Einschränkung des Ortes. Victor Jasoline ist in Hatfields Beach gestorben. Ich habe nachgesehen, es liegt ganz in der Nähe von Auckland und ist eher ein Dorf. Dort ist es natürlich einfacher, jemanden ausfindig zu machen, als in einer Großstadt.«

»Neuseeland«, wiederholte Simon. »Du willst ja nur eine tolle Dienstreise unternehmen, auf meine Kosten«, sagte er mit spaßigem Unterton.

»Ich sagte ja nur, dass ich normalerweise so Vorgehen würde«, erwiderte Georg. »Ich habe aber trotzdem so ein Gefühl, dass uns dieses Allaire weiterbringen wird. Darum denke ich, dass du Recht hast. Ich sehe mich wohl zunächst einmal dort um, ist ja auch billiger. Parallel dazu könnte ich den Namen Jasoline einmal in ganz Frankreich suchen. Bisher weiß ich nur, dass der Name in den letzten fünfzig Jahren nicht bei den Behörden in Paris registriert war.«

»Du meinst deine Suche in den Adressbüchern?«, fragte Simon.

»Richtig, ich muss wissen, ob Victor Jasoline nach 1906, nachdem er offensichtlich die Südsee verlassen hat, nicht doch noch einmal nach Frankreich zurückgekehrt ist«, erklärte Georg. »Vielleicht ist er erst später nach Auckland gezogen.«

»Ich verstehe«, sagte Simon. »Mach einfach weiter. Was meinst du, wann kannst du wieder nach Frankreich reisen?«

»Es kommt darauf an, entweder gleich morgen, oder spätestens am Montag, ich muss sehen wann ich fliegen kann und natürlich vor allem, wo ich überhaupt genau hin muss.«

Diesen letzten Satz ließ er einfach so stehen. Sie beendeten das Gespräch und Georg legte den Telefonhörer wieder in die Ladeschale. Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er würde heute Vormittag kein Tagesgeschäft erhalten, dafür hatte er gesorgt. Am Nachmittag hatte er jedoch noch eine Besprechung mit den Mitarbeitern und Partnern der Sozietät. Er schwang sich wieder zu seiner Schreibtischplatte und zog die Tatstatur und die Maus seines Computers zu sich herüber. Die Bewegung der Computermaus ließ den Bildschirm aufflackern. Er suchte nach dem Internet-Icon und öffnete den Explorer. Über die MetaGer-Suchmaschine gab er den Begriff Allaire ein. Er wartete einen Moment und erhielt mit den Ergebnistreffern auch die Weisheit dieser Suchanfrage: »Reich sein ist wirklich nur schön, wenn man arm ist (Jean Anouilh).«

Unter den Treffern war ganz oben auch ein Kartenverlag. Die Internetseite zeigte eine Landkarte mit Straßen und dem deutlich erkennbaren Ortskern von Allaire. Der Ansichtsmaßstab ließ sich vergrößern, so dass auch die Umgebung angezeigt werden konnte. Georg betätigte den Zoom und die kleineren Straßen verschwanden in der Auflösung. Mit der dritten Zoomstufe tauchte der Atlantik an der linken Bildseite auf und als nächst größere Stadt erschien Nantes. Bevor er weiter machte, notierte er sich einen Gedanken. Wenn er nach Allaire wollte, konnte er entweder über Nantes oder Rennes fliegen. Von Paris aus war es mit dem Auto oder Zug eindeutig zu weit bis zum Atlantik, er wäre für die knapp vierhundert Kilometer den halben Tag oder länger unterwegs. Er fuhr mit der Maus auf die Taskleiste und öffnete noch einmal das Bild der alten Postkarte. Er startete einen Ausdruck des Dokuments, wartete bis es der Drucker ausgegeben hatte und holte es sich dann an seinen Schreibtisch. Er legte sich den Ausdruck der Postkarte vor die Tastatur und hielt den Finger unter die Beschriftung der Bildseite. Seine neue Suchanfrage lautete »Sanatorium pour des dermatoses«. Er bekam eine Vielzahl von Treffern und versuchte es sofort mit den Begriffen »Allaire Sanatorium pour des dermatoses«. Jetzt erschienen ganz oben in der Liste wieder einige der Antworten zum Thema Allaire, die er schon zuvor erhalten hatte. Bei seinem dritten Versuch änderte er die Reihenfolge der Worte. Er verwendete diesmal die Begriffe »Sanatorium pour des dermatoses Allaire«. Wieder erhielt er zahlreiche Treffer. Es waren die Internetseiten von Krankenhäusern in ganz Frankreich. Erst am Ende der Liste tauchten die Namen von zwei Apotheken in Allaire auf. Schließlich versuchte er es auf ganz andere Weise. Er ging auf die offizielle Internetseite der Gemeinde Allaire und durchsuchte das Angebot nach Krankenhäusern und Kliniken. Das nächste Krankenhaus gab es aber erst in Redon, einige Kilometer von Allaire entfernt. Er überlegte sich einen anderen französischen Begriff für Hautkrankheit, aber ihm fiel nichts ein. Er hatte auch kein französisches Dictionnaire zur Hand, so dass er aus dem Internet ein Übersetzungsprogramm öffnete. In die Übersetzungsbox trug er das Wort »Hautkrankheit« ein und erhielt nur den Begriff »Dermatose«. Er versuchte es mit »Hautarzt« und es kamen die Begriffe »Médecin de peau« und »Dermatologue«. Er kopierte sich die letzte Übersetzung in den Zwischenspeicher und übertrug sie in die MetaGer-Suchmaschine. An das Ende des neuen Suchtextes schrieb er wieder den Begriff »Allaire«. Die Suchmaschine lieferte zunächst wieder einen weisen Spruch: »Die Zeit ist schlecht? Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen (Thomas Carlyle)«.

Die Treffer folgten gleich darunter, aber es war nichts Verwertbares. Er lehnte sich wieder in seinen Schreibtischstuhl zurück und überlegte. Dann schnellte er erneut vor und scrollte mit der Maus die Seiten mit den Treffern durch. Wie gehofft fand er ziemlich am Ende der Trefferliste wieder die Einträge von zwei Apotheken in Allaire. Er öffnete den ersten Eintrag und gelangte auf die Homepage der Pharmacie de pigeon. »Taubenapotheke«, ein ungewöhnlicher Name für eine Apotheke, dachte er. Er ging auf den Reiter Kontakt und fand dort eine Telefonnummer. Er griff sofort zum Hörer und hielt ihn vor den Monitor seines Computers. Er las die Nummer ab und tippte sie gleichzeitig in das Tastenfeld. Die Verbindung brauchte einige Sekunden, bis sie zustande kam.

»Bonjour, Pharmacie de pigeon, was kann ich für sie tun?«, meldete sich eine Frauenstimme.

Georg hielt sich nicht mit Erklärungen auf. »Entschuldigen sie, ich suche etwas bei Ihnen in der Gegend, gibt es in Allaire eine Klinik für Hauterkrankungen, es muss ein schlossartiges Anwesen sein, das mindestens hundert Jahre alt ist.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg. Georg wollte seine Frage schon wiederholen, als doch noch eine Antwort kam.

»Pardon, Monsieur, aber ich weiß nicht, was sie meinen«, sagte die Frau. »Das nächste Krankenhaus befindet sich in Redon und es gibt dort auch eine Dermatologie. Wenn sie allerdings ein Schloss suchen, dann gibt es dass erst wieder an der Loire, meines Wissens.«

»Nein, ich suche kein Schloss«, versuchte Georg zu erklären. »Das Gebäude, das ich suche sieht nur so aus. Ich besitze eine alte Postkarte, auf der ein Gelände gezeigt wird, mit der Bezeichnung Sanatorium pour des dermatoses, Allaire, France. Sagt Ihnen das etwas?«

»Nein«, antwortete die Frau zögerlich. »Ich würde es vielleicht wissen, wenn ich ihre Postkarte sehe. Kommen sie doch einfach hier in die Apotheke, wir haben heute Mittag bis 13:00 Uhr geöffnet und am Nachmittag bis sechs.«

Georg stutzte. »Danke, Madame, heute werde ich es wohl nicht schaffen, au revoir.«

Er legte auf und dachte sekundenlang nach. Er konnte es bei der anderen Apotheke versuchen, oder vielleicht sogar bei der Stadtverwaltung in Allaire. Das Beste schien ihm aber, selbst nach Frankreich zu reisen, so wie er es ohnehin vorgehabt hatte. Er beugte sich wieder nach vorne und legte die Finger auf die Tastatur. Die Suchmaske im MetaGer war noch immer geöffnet und für eine neue Eingabe bereit. Er tippte einfach drauflos: Julie, Yvette, Thérèse, Jasoline. Mit der Return-Taste schickte er die Suche ab. Der nächste Spruch lautete: »Aufschub ist die tödlichste Form der Ablehnung (Winston Churchill).«

Bei dem ersten Treffer, den er erhielt, handelte es sich um die Homepage eines College, dem Villa Julie College in Greenspring Valley, Baltimore. Er öffnete es nicht, sondern scrollte die Liste herunter. Zum Namen Jasoline gab es nichts, das Suchprogramm hatte lediglich die Seiten zweier Yvettes und ganzer sieben Thérèse gefunden.

*

Die Air France Maschine landete pünktlich. Georg war aber noch müde, er nickte während des Fluges immer wieder ein. Er war an diesem Montagmorgen bereits um 4:00 Uhr früh aufgestanden. Er hatte nur eine Umhängetasche, so dass er im Flughafengebäude direkt zu einer Autovermietung gehen konnte und nicht noch auf sein Gepäck warten musste. Er ließ sich einen Kombi geben. Die Dame am Schalter nannte ihm auch ein Hotel in der Nähe des Chateau Bougon Airports von Nantes. Nachdem er den Wagen übernommen hatte fuhr er zuerst zum Hotel und checkte dort ein. Dann fuhr er direkt weiter, zunächst aus Nantes heraus. Er hatte sich gleich zu Beginn verfahren. Er fuhr ein kurzes Stück Landstraße und wendete dann an einem Forstweg. Er fuhr die Landstraße zurück und nahm schließlich die Autobahn in Richtung Vannes. An einer Tankstelle hielt er an, um sich eine Straßenkarte zu besorgen. In dem Verkaufsraum gab es jede Menge Zeitschriften, aber nur wenige Karten und Pläne. Das genaueste, was er bekommen konnte, war ein dünner Atlas mit einem Straßenverzeichnis von Frankreich und den BeNeLux-Ländern. Er kaufte noch einen Schokoriegel und machte sich dann wieder auf den Weg zu seinem Wagen. Er lief auf ein Straßenschild zu, das er vorher nur von der Rückseite gesehen hatte. Er stellte sich direkt davor. Die Aufschrift lautete Soritie und darunter standen die Namen mehrerer Orte, zu denen auch Redon gehörte. Er schlug den Atlas auf und suchte nach Redon. Auf der Karte war es nicht weit von Allaire entfernt. Er versuchte auch den Weg zu finden, auf den die Ausfahrt verwies, aber der Maßstab war noch zu groß. Nicht einmal die Tankstelle war in der Karte verzeichnet. Auf der Autobahn wäre er zu weit von Allaire abgekommen und hätte auf einer Landstraße ein ganzes Stück zurückfahren müssen. Er entschied sich, dem Wegweiser zu folgen. Er klemmte sich den Atlas unter den Arm und kehrte zu seinem Mercedes zurück. Er musste den Wagen etwa fünfzig Meter zurücksetzen und über den Platz mit den Tanksäulen fahren, um zu der Ausfahrt zu gelangen. Dann bog er vor dem Tankstellengebäude scharf rechts ein. Es war schon etwas ungewöhnlich, aber er gelangte schließlich von der Autobahn auf eine enge Straße. Erst nach einigen Kilometern führte der Weg zu einer belebten Landstraße, auf der auch wieder Schilder aufgestellt waren. Nach einigen hundert Metern kam ein Schild mit dem Hinweis auf den Ort Redon. Der Wegweiser wurde jetzt sogar um den Namen Allaire ergänzt. Nach weiteren fünf Kilometern kam er an eine Gabelung. Rechts ging es Richtung Redon und geradeaus nach Vannes und Allaire. Die Straße war kurvig, aber gut ausgebaut. Es kamen ihm vor allem Lastwagen entgegen. Dann gelangte er zu einer unscheinbaren Abbiegung. Auf der Hauptstraße ging es geradeaus weiter Richtung Vannes. Er blinkte und fuhr rechts in die Straße nach Allaire. Es waren wieder gut fünf Kilometer. Er fuhr direkt in den Ort hinein, hielt an einer beschilderten Kreuzung und suchte nach einem Hinweis auf sein eigentliches Ziel. Auf den Tafeln war wieder Vannes ausgeschildert. Darunter die Orte Questembert, Rochefort und Elven. Von dem was er suchte stand nichts. In Deutschland war er es gewohnt, das Krankenhäuser oder andere öffentliche Gebäude auf weißen Schildern angekündigt wurden. Er hatte ähnliche Schilder auf seiner Fahrt aus Nantes heraus gesehen, hier in Allaire wusste anscheinend jeder, wo er was zu finden hatte. Er überlegte kurz und bog dann an der Kreuzung rechts ein. Er fuhr noch etwa zweihundert Meter die Straße hinauf. Links, unter einem Baum auf einer Parkbank saßen zwei Jugendliche. Georg hielt seinen Wagen direkt unter dem Baum. Die Jugendlichen sahen auf. Sie hatten gemeinsam in einem dünnen Heft gelesen, einem Asterix-Comic, wie es schien.

»Bonjour«, sagte er freundlich. »Könnt ihr mir helfen? Gibt es hier ein Krankenhaus?«

»Hier nicht«, antwortete einer von beiden sofort. »Aber wenn sie nach Redon fahren, da gibt es eines.«

»Nein, es muss hier sein, hier in Allaire«, erklärte Georg. »Es muss einen richtigen Park haben. Es ist auch kein Krankenhaus, es ist mehr ein Sanatorium.«

Sie sahen sich an und schüttelten dann beide den Kopf. »Nein, das wüssten wir. Hier in Allaire gibt es bestimmt kein Krankenhaus, hier gibt es nicht einmal ein Kino.«

Aus dem Hintergrund, aus einem Hauseingang erklang plötzlich die Stimme einer Frau. »Ihr Dummköpfe, natürlich gibt es hier ein Sanatorium. Es ist nur keines mehr.«

Georg sah hinüber, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Im Schatten des Hauseingangs erkannte er eine schlanke Frau, die mit einem Besen lautlos die Treppenstufen fegte. Sie unterbrach ihre Arbeit, als Georg sie ansah.

»Bonjour, Madame«, begrüßte er sie, »was meinen sie mit, es ist kein Sanatorium mehr?«

»Wie ich es schon sagte, Monsieur«, antwortete die Frau. »Ich meine, es ist einmal ein Sanatorium gewesen, es wird heute nicht mehr betrieben, schon seit gut zwanzig Jahren nicht mehr, wenn sie verstehen.«

Jetzt trat die Frau aus dem Hauseingang und ging auf den Wagen zu. Sie war um die fünfzig und gut gekleidet, obwohl sie eine Schürze und ein Kopftuch trug. Sie blieb vor der Fahrertür stehen.

»Es wurde geschlossen und jetzt ist es ein Lager. Die Räume werden als Lager verwendet«, erklärte sie. »Vorausgesetzt, wir sprechen über dasselbe, Monsieur.«

»Ein Gebäude ähnlich einem Schloss, mit einem Park, zumindest muss früher ein Park dort gewesen sein«, beschrieb Georg es noch einmal.

Die Frau nickte. »Ich denke, wir meinen dasselbe.«

»Es war früher ein Sanatorium für Hauterkrankungen«, fügte Georg noch hinzu.

»Ja, richtig, das Sanatorium pour des Dermatoses«, bestätigte die Frau. »Das ist lange her.«

Georg holte die alte Postkarte hervor und zeigte sie der Frau. Sie beugte sich vor. »Ja, Monsieur, das ist es, wir meinen dasselbe, auch wenn es dort heute nicht mehr so sieht.«

»Und wie komme ich dorthin, oder ist das Gelände nicht mehr zugänglich?«

»Das Gelände schon. Es ist ja ein alter Park, wie es auf der Postkarte zu sehen ist. Nur in das Gebäude kommen sie wahrscheinlich nicht mehr hinein. Es ist jetzt in Privatbesitz, es gehört irgendeiner Firma. Es gibt auch einen kleinen Wald und alles grenzt an einen See. Der See, der Wald und Teile des Parks gehören zu einem Naherholungsgebiet, wie man heute wohl sagt. Viele Leute von Auswärts gehen dort wandern oder fahren mit dem Rad. Es gibt auch einen Campingplatz direkt am See. Aber um diese Jahreszeit ist noch nicht sehr viel los. Erst in den Sommerferien, wenn es wärmer wird, kommen sie.«

»Und wie muss ich jetzt fahren?«, fragte Georg noch einmal.

»Ja, Monsieur, da müssen sie jetzt erst einmal wenden und zurück zur Kreuzung«, erklärte die Frau. »Halten sie sich dann rechts und fahren sie aus Allaire heraus. Sie müssen dann wieder rechts, ich glaube es ist die vierte oder fünfte Straße. Jedenfalls in die Rue de la Noëlle Fleury. Es gibt Straßenschilder, sie können es nicht verpassen, Rue de la Noëlle Fleury.«

Die Frau zeigte in die Richtungen, die sie beschrieben hatte. »Danach finden sie auf einem Schild einen Hinweis auf den Campingplatz. Sie können dort parken und zu Fuß weiter.«

»Und wenn ich direkt zu dem alten Sanatorium fahre?«

»Das können sie auch machen, Monsieur, aber um das Gebäude ist ein Zaun und sie kommen von der Straße nicht an den See heran. Sie müssten sich durch das Gestrüpp einen Weg suchen. Das würde ich Ihnen allerdings nicht empfehlen. Vom Campingplatz aus kommen sie an den See und durch den Wald auch hinter das Sanatorium.«

»Gut, dann werde ich es wohl so machen«, sagte Georg.

Er lächelte sie wieder an und sie lächelte zurück. Er bedankte sich bei der Frau. Die beiden Jugendlichen hatten die ganze Zeit schweigend auf ihrer Bank gesessen und das Gespräch verfolgt. Georg fuhr an und steuerte den Wagen links in eine Einfahrt, um zu wenden. Er winkte noch einmal im Vorbeifahren und kam schließlich wieder an die Kreuzung. Er fuhr rechts Richtung Vannes. Nach etwa vier Kilometern erreichte er die Rue de la Noëlle Fleury, so wie die Frau es beschrieben hatte. Das Straßenschild war zwar verrostet, aber noch gut zu lesen. Er bog dort ab. Die Straße verlief in einem großen Bogen. Nach weiteren zwei Kilometern ging auf der linken Straßenseite ein gepflasterter Weg ab. An dieser Gabelung stand ein Schild mit dem großen Symbol eines Campingplatzes. Darunter war noch ein kleineres Schild angebracht, mit einem Firmenlogo. Georg blinkte. Er musste noch einen Kleinlaster und eine Limousine vorbei lassen, bevor er in den Weg hineinfahren konnte. Die Pflasterung war holprig und ließ sich anfangs nur im Schritttempo befahren. Der Weg führte an Wiesen und Feldern vorbei. Nach etwa fünfhundert Metern wurde die Fahrbahn besser. Er konnte etwas schneller fahren. Der Weg wurde jetzt auch wie eine Allee von Bäumen gesäumt. Mehrfach gingen rechts und links kleine Pfade ab, die auf die Felder führten. Sie führten in die Wiesen und hatten zwei ausgefahrene, sandige Spuren, zwischen denen eine Grasnabe verlief. Er sah auf den Tacho seines Wagens. Er hatte sich den Kilometerstand gemerkt als er in den Weg eingebogen war. Es waren dreieinhalb Kilometer als der Weg einen leichten Bogen machte und sich dann gabelte. Geradeaus ging es weiter zum Campingplatz. Genau in der Gabelung zwischen dem geteilten Weg, war ein weiteres Schild aufgestellt. Der Firmname bestand aus den Buchstaben »BTH« und darunter aus dem vielsagenden Begriff »Logistic«. Das Ganze war noch von einem großen Pfeil unterstützt. Die so ausgeschilderte Straße lief in einem Bogen von der Gabelung weg und verlor sich nach einigen Metern hinter den Bäumen der Allee. Er überlegte, was ihm die Frau in Allaire gesagt hatte. Er wollte aber zu dem alten Sanatorium und nicht an den See. Er folgte daher dem ursprünglichen Verlauf der Straße. Vor über hundert Jahren gab es nur diesen Weg. Die Straße war beinahe wie eine Allee ausgebaut. Links und rechts standen in regelmäßigem Abstand alte Bäume. Die Straße wurde schmaler und machte nach wenigen hundert Metern wieder einen Bogen nach rechts. Jetzt führte die Allee ganz geradeaus. Ein Gebäudeflügel des Sanatoriums war schon aus der Ferne zu sehen. Die Straße war holprig und hatte zwei breite Spurrillen. Es mussten oft schwere LKWs über das Pflaster gefahren sein und hatten mit ihren Reifen die Steine eingedrückt, die für solche Belastungen nicht ausgelegt waren. Es mochte gut ein Kilometer gewesen sein, den er seit der letzten Kurve gefahren war, als er an einem Drahtzauntor ankam. Das Tor war geöffnet und er fuhr hinein und hielt direkt vor dem Gebäude. Das Eingangsportal war noch vollständig intakt. Er stieg aus, verschloss den Wagen und ging direkt zum Eingang, die Treppe hinauf. Er zog die schwere Tür auf und betrat einen großen Vorraum. Auf der linken Seite war eine gläserne Pförtnerloge, in der eine Dame saß und etwas über die Computertastatur eintippte. Eine zweiflüglige Tür, die weiter in das Gebäude führte war verschlossen. Die Dame am Computer hob ihren Kopf, sah ihn zögernd an, stand dann aber sofort auf und schob eine Scheibe der Pförtnerloge zur Seite.

»Sie wünschen, Monsieur?«, fragte sie freundlich.

»Entschuldigen sie, war dieses Gebäude nicht einmal ein Sanatorium?«, fragte Georg, ohne weitere Erklärungen.

Die junge Frau stutzte. »Das weiß ich nicht, Monsieur, heute hat die Firma BTH Logistic hier ein Lager.« Sie zeigte neben sich, auf das Firmenlogo, das an die Scheibe der Glasloge angeklebt war. »Aber wenn sie ein Krankenhaus suchen, dann müssen sie nach Redon«, fuhr sie fort.

»Nein, ich suche kein Krankenhaus, danke«, erwiderte Georg.

Er musste beinahe lachen, immer wenn er heute nach dem Sanatorium gefragt hatte, bekam er den Hinweis auf das Krankenhaus in Redon. Er sollte tatsächlich einmal dort hinfahren, vielleicht brachte es ihn auf wundersameweise weiter, vielleicht war es eine Art Omen.

Er besann sich wieder. »Es geht mir nur um dieses Gebäude hier. Ich wollte mir nur einmal das Haus und den Park ansehen, der dazugehört.«

Die junge Frau nickte. »Einen Park gibt es hier eigentlich nicht«, sagte sie. »Hinter dem Haus gibt es einen Wald und einen See, aber da müssen sie wieder ganz zurück fahren und sich links halten. Sie kommen dann zu einem Campingplatz. Von dort können sie am See entlang laufen. Es ist ein schöner Spaziergang, ich bin am Wochenende öfters draußen am See.«

Er lächelte. »Eigentlich interessiere ich mich mehr für die Geschichte dieses Gebäudes. Wer könnte mir da weiterhelfen?«

Die junge Frau überlegte. »Ich kann Ihnen den Betriebsleiter rufen. Vielleicht kann er Ihnen mehr sagen. Ich weiß leider nichts darüber. Ich bin aus Vannes und komme nur zur Arbeit hier her.«

»Und am Wochenende«, ergänzte Georg.

Sie lächelte. »Manchmal, zumindest. Ich rufe dann mal eben in der Verwaltung an.«

Sie tauchte wieder in ihre Loge ein und griff nach dem Telefon. Als sich jemand meldete, erklärte sie mit wenigen Worten worum es ging. Georg hätte es nicht besser ausdrücken können. Sie legte auf und sah ihn an.

»Es wird gleich jemand von oben aus den Büros herunterkommen.«

»Danke, Madame«, erwiderte Georg.

Er lächelte sie an. Sie zögerte einige Sekunden, setzte sich dann aber zurück an ihren Schreibtisch und nahm ihre Arbeit am Computer wieder auf. Die Scheibe der Pförtnerloge ließ sie geöffnet. Es dauerte vielleicht fünf Minuten, bis sich die große Tür neben dem Glasverschlag öffnete und ein Mann in den Vorraum trat. Er war klein, um einiges kleiner als Georg. Georg ging direkt auf ihn zu und begrüßte ihn mit entgegengestreckter Hand.

»Bonjour, mein Name ist Georg Staffa, ich komme aus München«, erklärte er.

Sein Gegenüber lächelte freundlich. »Mein Name ist Yves Gast, meine Mitarbeiterin sagte sie wünschen etwas über die Geschichte dieses Hauses zu erfahren?«

Georg nickte erwartungsvoll.

»Wie ich gehört habe, wussten sie, dass es einmal ein Sanatorium war«, begann Yves Gast. »Es wurde aber vor zwanzig Jahren geschlossen. Soweit ich es noch weiß, war es zuletzt ein Erholungsheim, also keine richtige Klinik mehr. Außerdem gab es seit Mitte der sechziger Jahre das große Krankenhaus in Redon. Es hat dann fünf oder sechs Jahre leer gestanden, bis unsere Firma hier eingezogen ist. Der Unterhalt des Gebäudes ist relativ teuer, dafür ist aber die Miete günstig. Insgesamt reicht es für unsere Zwecke. Wir lagern hier Ersatzteile von ausgelaufen Produktserien, elektronische Komponenten, sie verstehen, und wir haben hier auch eines unserer Callcenter.« Er überlegte noch einmal. »Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht berichten. Dass heißt, stopp, ich weiß noch, dass das Gebäude 1860 gebaut wurde. Ich glaube es steht sogar draußen am Portal, an irgendeinem Stein.«

»Das ist schon eine Menge an Informationen. Ich besitze eine alte Postkarte, die das Gebäude aus der Zeit vor über achtzig Jahren zeigt.« Georg holte die Kopie der Postkarte aus seiner Jackentasche und zeigte sie Monsieur Gast.

»Oh, tatsächlich, das sind wir. Viel hat sich nicht verändert.«

Georg nickte. »Der Park vielleicht«, meinte er. »Und die beiden Nebengebäude stehen wohl auch nicht mehr.«

»Gut, die Nebengebäude wurden meines Wissens schon in den fünfziger Jahren abgerissen. Und der Park wird von uns nicht genutzt. Wir brauchen die Fläche nicht. Wir mähen hier zwei- dreimal im Jahr, das ist alles, aber das Haus wird natürlich gut unterhalten.«

»Sie sehen, das Sanatorium war früher auf Hauterkrankungen spezialisiert.« Georg zeigte mit dem Finger auf die Bildüberschrift.

»Das mag sein, aber nach dem Zweiten Weltkrieg war es ein ganz normales Krankenhaus. Es lag nur leider etwas weit außerhalb, aber wie gesagt, seit es in Redon die große Klinik gibt, wurde es nach und nach geschlossen.«

Georg faltete die Kopie zusammen und steckte sie wieder in sein Jackett. »Gibt es in Allaire ein Museum, in dem ich noch etwas mehr über das Sanatorium erfahren könnte?«

»Im Stadtamt oder Rathaus werden sie vielleicht einiges haben, aber sicher bin ich mir da natürlich nicht.«

»Danke Monsieur Gast«, sagte Georg. Er sah zu der jungen Frau hinüber, die aufgeblickt hatte, als er sich verabschiedete. »Merci, Madame.«

Sie lächelte ihn an und nickte.

Yves Gast ging mit ihm zur Tür. Er hielt sie geöffnet und trat gemeinsam mit Georg auf den obersten Treppenabsatz. Er ging noch zwei Stufen hinunter und zeigte dann auf einen Stein, der in die Mauer neben der Treppe eingelassen war.

»Sehen sie«, sagte Yves Gast, »1860 stimmt.«

Georg ging ebenfalls zwei Stufen hinunter und stellte sich neben den kleinen Mann. Der Block mit der Jahreszahl war etwas heller als die restlichen Steine des Mauerwerks. Die Ziffern waren sauber gemeißelt und hatten an der Ober- und Unterkante Serifen, wodurch die Zahlen beinahe schon wieder modern wirkten.

»Das Gebäude ist wirklich schön«, meinte Georg. »Schade nur, dass sie den Park aufgegeben haben.«

Yves Gast sah ihn an. »Die Zeit verändert die Dinge eben. Vielleicht wird das Haus in ein paar Jahren wieder anders genutzt und dann lebt der Park auch wieder auf.«

Georg lächelte ihn an. »Weise Worte. Also nochmals besten Dank.«

Er wollte sich schon abwenden, besann sich dann aber. »Entschuldigen sie, Monsieur Gast, darf ich einmal um das Gebäude herumgehen, ist das möglich?«

»Warum nicht. Soll ich sie begleiten?«

»Danke, aber ich möchte ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, ich gehe eben alleine, ich kann mich ja schließlich nicht verlaufen.«

»Gut, wie sie wollen. Dann wünsche ich ihnen noch einen schönen Tag.« Yves Gast verabschiedete sich und ging wieder zurück in das Gebäude.

Georg sah sich um. Es gab einen gepflasterten Weg, der um das ehemalige Sanatorium herumführte. Auf der Rückseite des Gebäudes schloss sich der Park an, oder das, was von ihm übrig geblieben war. Mitten durch das Gelände zog sich der hohe Maschendrahtzaun, der oben noch mit Stacheldraht gesichert war. Auf der Wiese stand das Gras noch nicht so hoch. Georg konnte bequem bis an den Zaun gehen und blickte hinüber zu dem Wald. Von dem See, der hinter dem Wald sein musste, ließ sich aber nichts erkennen. Georg holte noch einmal die Kopie der alten Postkarte hervor und versuchte die Platz am Waldrand zu finden, auf den der eingezeichnete Pfeil wies. Es war schwer zu erkennen. An einer Stelle am Waldrand gab es einen großen Stein oder Fels und es sah so aus, als wenn dort ein Weg in den Wald führte. Georg blieb noch eine Minute vor dem Zaun stehen und blickte auf den Felsblock, dann ging er zurück auf den gepflasterten Weg, weiter um das Sanatorium herum und zurück zu seinem Wagen.

*

Mit dem Wagen fuhr Georg die Allee entlang, an der Abzweigung zum Campingplatz vorbei und Richtung Allaire. Der Ort war klein. Er war vorhin an einem Schild vorbei gekommen, das stolz eine Einwohnerzahl von tausendsiebenhundertzweiundzwanzig auswies. Er fragte sich ob es hier überhaupt ein Rathaus geben würde oder ob Redon für Allaire zuständig sei. Tatsächlich zeigte aber ein Schild mit der Aufschrift »Hotel de Ville« in Richtung einiger älterer Häuser. Er suchte sich einen Parkplatz direkt vor dem Gebäude, das sich als Rathaus bezeichnete. Er schaute auf die Uhr. Es war erst halb zwei. Natürlich würde das Rathaus zur Mittagszeit geschlossen sein. Er ging trotzdem das Portal hinauf und probierte es an der Tür. Sie war verschlossen. Als er wieder zu seinem Wagen ging, kam ein junger Mann aus einem der Seiteneingänge des Rathauses heraus.

»Pardon, Monsieur«, sprach er Georg an, obwohl er es offensichtlich eilig hatte. »Das Rathaus ist am Mittwochnachmittag geschlossen, aber morgen früh ab acht haben wir wieder geöffnet.«

»Ich suche nach standesamtlichen Informationen aus der Zeit um die Jahrhundertwende«, erklärte Georg sein Anliegen.

»Aus der Zeit um die Jahrhundertwende«, wiederholte der junge Mann. »Oh, für solche Informationen sind sie hier in Allaire aber falsch, tut mir leid. Wir verwalten unsere standesamtlichen Urkunden erst seit 1950. Davor  wurde alles zentral von Redon aus gemacht und dort sind die Unterlagen auch heute noch archiviert.« Er überlegte. »Sie haben aber Glück, das Rathaus in Redon ist ganztags geöffnet und zwar heute noch bis 16:30 Uhr.«

Georg bedankte sich für den Hinweis. Den Weg nach Redon kannte er. An der großen Kreuzung war Redon ebenfalls ausgeschildert. Er musste links abbiegen und kam wieder an der Bank vorbei, auf der die beiden Jugendlichen gesessen hatten. Sie waren aber fort und auch die Frau, die ihm den Weg zum Sanatorium beschrieben hatte, war bereits mit dem Fegen ihres Hauseinganges fertig. Nach Redon waren es nur wenige Kilometer. Der Ort war schon deutlich größer als Allaire. Das Rathaus war ein alter Backsteinbau. Die Stadtmitte war durch zahlreiche Geschäfte, Cafés und Restaurants belebt, die sich direkt auf dem Rathausplatz befanden oder sich weiter in die Nebenstraßen erstreckten. Er parkte seinen Wagen am Rande der Fußgängerzone und betrat das Rathaus durch einen Seiteneingang. Für die Besucherabfertigung gab es drei Schalter, von denen aber nur zwei besetzt waren. Er sah sich um und hatte Glück. Ein Mann war gerade mit seinem Anliegen fertig. Eine junge Frau bediente den Schalter. Sie war nicht älter als zwanzig, hatte langes blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Georg sah auf das Namensschild, das von innen vor der Glasscheibe des Schalters aufgestellt war.

»Bonjour Mademoiselle DeFoube«, begrüßte er sie. »Mein Name ist Georg Staffa, ich suche nach standesamtlichen Informationen, insbesondere nach alten Geburtsurkunden.«

Die junge Angestellte lächelte ihn an, sie fand es charmant, dass er sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. In der Regel achteten ihre Kunden nicht auf das Namensschild.

»Sie suchen nach alten Geburtsurkunden?«, fragte sie.

Georg nickte.

»Wie meinen sie das, Monsieur Staffa, geht es um ihre eigene Geburtsurkunde, sind sie hier geboren?«, fragte sie etwas ungläubig.

Georg überlegte nicht lange. Seine Geschichte musste auch jetzt wieder herhalten, genau wie letzte Woche in der Kolonialausstellung und bei Madame LaRosa.

»Nein, entschuldigen sie, Mademoiselle DeFoube, es geht um etwas ganz anderes«, begann er. »Ich bin Rechtsanwalt, aus Deutschland. Ich vertrete eine Frau, die nach ihren französischen Verwandten sucht.«

Er holte die Kopie der alten Postkarte hervor. Das Papier war mittlerweile etwas zerknittert. Er faltete es auseinander und schob es halb durch den Sprechschlitz des Schalters.

»Es ist etwas kompliziert. Meine Klientin ist Französin, sie lebt aber heute in München, ist dort verheiratet. Sie sucht nach einem Urgroßonkel, der vermutlich Victor Jasoline hieß und in den Südseekolonien gelebt hat. Bei meinen bisherigen Recherchen bin ich bereits in Paris gewesen und habe eine Frau namens Thérèse Pallet ausfindig gemacht, die eine geborene Jasoline ist.« Er tippte auf die Kopie der Postkarte. »Diese alte Postkarte habe ich im Nachlass von Madame Pallet gefunden. Leider hat Madame Pallet keine Angehörigen mehr, die ich noch befragen könnte. Es gibt nur diese Postkarte als Bezug zu möglichen Nachfahren, die wiederum mit meiner Klientin verwandt sein könnten.«

Während Georg erzählte, fiel ihm auf, dass er die Geschichte von dem angeblichen Urgroßonkel immer besser und glaubwürdiger herüberbrachte. Leider musste es sein.

Mademoiselle DeFoube nickte und las sich den Text auf der Postkarte durch. »Eine Yvette hat die Karte an Madame Pallet geschrieben und berichtet von ihrer Tochter Julie«, fasste sie zusammen.

»Ganz richtig«, bestätigte Georg. »Sehen sie das Foto. Die Tochter Julie wurde offenbar an diesem Ort geboren. Es ist in der Nähe von Allaire.«

Mademoiselle DeFoube senkte erneut den Kopf und schaute sich jetzt auch das Bild der Postkarte an, dann sah sie wieder zu Georg auf. »Ich kenne das Gebäude. Vor einigen Jahren gab es im Rathaus eine Ausstellung zum Thema Architektur der Loire-Region. Es wurden auch Fotografien von dem alten Sanatorium gezeigt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, weil ich letztes Jahr Freunde auf dem Campingplatz am See besucht habe und wir mehrmals zu dem Gelände gewandert sind.«

»Es geht mir um Yvette und ihre Tochter Julie«, erklärte Georg. »Ich möchte gerne herausfinden, wie sie mit Nachnamen hießen. Es wäre ein wichtiger Hinweis, um zu klären, ob es tatsächlich eine Verbindung zu meiner Klientin gibt. Wäre es möglich, nur an Hand der Vornamen auf einen Nachnamen zu kommen. Sehen sie, die Postkarte stammt von 1913. Die Tochter, also diese Julie, muss demnach vor 1913 in Allaire, in dem Sanatorium, geboren worden sein. Wenn es eine Geburtsurkunde gibt, dann gibt es auch Namen, Nachnamen.«

»Das ist schon recht spannend«, sagte Mademoiselle DeFoube. »Aber was stellen sie sich denn vor, wie ich Ihnen weiterhelfen kann?«

»Es mag etwas ungewöhnlich sein, aber vielleicht ist es ja möglich, nachzusehen, ob es Geburtsurkunden gibt, in denen die Vornamen Julie für das Kind und Yvette für die Mutter vorkommen. Es sind natürlich nur die Geburtsurkunden vor 1913 interessant.«

Mademoiselle DeFoube dachte über den Vorschlag nach. »Es ist nicht so einfach«, sagte sie schließlich. »Wir haben alle Geburten und andere standesamtliche Daten ab 1950 in einer Datenbank gespeichert. Die Urkunden, die vor dieser Zeit ausgestellt wurden, liegen in Archiven. Ich müsste jede einzelne Urkunde durchsehen und bis ins Jahr 1871 zurückgehen, denn soweit reichen die Unterlagen in den Standesämtern. Alles vor dem Jahr 1871 finden sie, wenn überhaupt, nur noch in den Kirchenarchiven.«

Georg dachte sofort an das Gauguin-Gemälde und auch an die Fotografien, die aus der Südsee stammten. Das kleine Mädchen, nach dem er suchte, war im Jahre 1902 nicht älter als zehn gewesen, wenn überhaupt. Sie konnte also nicht früher als 1892 und auf keinen Fall später als 1898 geboren sein. Wenn sich herausstellte, dass sie davor oder danach geboren war, konnte er wenigstens ausschließen, dass es jene Julie war, die von Paul Gauguin portraitiert wurde. Dennoch war es natürlich wichtig einen Nachnamen für Yvette und ihre Tochter Julie zu erhalten, denn er wusste ja noch immer nicht, ob Thérèse Pallet überhaupt mit Victor Jasoline verwandt war und ob er hier die richtige Spur verfolgte.

»Ich fürchte, sie müssten schon in der Zeit von 1871 bis sagen wir mal 1913 suchen«, erklärte Georg, nachdem er seine Überlegungen abgeschlossen hatte.

Mademoiselle DeFoube stutze erneut. Es schien, als versuchte sie den Arbeitsaufwand, der auf sie zukam, abzuschätzen. »Vielleicht reicht es ja, wenn ich aus unserer Datenbank eine Liste mit den Frauen erstelle, die nach 1950 in den umliegenden Gemeinden verstorben sind und die den Vornamen Julie hatten?«

Georg sah sie mitleidig an. »Gut, ich verstehe, die Suche in ihrem Archiv ist sehr aufwendig, aber wie soll ich anders an die Informationen herankommen. Was ist, wenn das Mädchen oder die Frau gar nicht hier in diesem Bezirk verstorben ist, vielleicht hat sie bis zu ihrem Tod nicht einmal mehr in Frankreich gelebt. Alles was ich einigermaßen sicher weiß, ist, dass sie hier in der Gegend um Allaire geboren wurde.«

Mademoiselle DeFoube lächelte. »Aber versuchen können wir es doch, bevor ich in unseren Keller hinunter steigen muss.«

Georg lächelte zurück. »Natürlich, Mademoiselle.«

Sie schwieg kurz. »Leider oder zum Glück sind wir eine Behörde«, erklärte sie schließlich. »Für Ihre Recherche brauche ich die Genehmigung des Amtsleiters, aber das hört sich schlimmer an, als es ist. Sie müssen einen Antrag ausfüllen. Wichtig ist dabei, dass sie begründen, warum sie diese Recherche machen lassen wollen.«

»Was heißt Begründung?«, fragte Georg. »Können sie mir da nicht helfen?«

Sie lächelte, drehte sich nach hinten um und zog einen Zettel aus einem Fach in der Wand. Sie begann das Formular im unteren Teil auszufüllen. Die oberen Felder ließ sie offen. »Ich habe geschrieben, dass sie nach ihren eigenen Verwandten suchen«, erklärte sie. »Ich habe einfach auch einen Nachnamen vorgegeben. Mein Chef würde sich sonst wundern, welchen seltsamen Anfragen wir hier nachgehen. So wie ich es geschrieben habe, wird es ihn nicht sonderlich interessieren und er unterschreibt es blind. Wir müssen hier oben nur noch ihren vollständigen Namen und die Adresse eingeben.«

Sie hob das Formular an und zeigte ihm kurz die noch nicht ausgefüllten Felder. »Wie lautet ihr vollständiger Name?«, fragte sie ihn, nachdem sie das Blatt wieder auf ihre Schreibunterlage gelegt hatte.

»Georg Staffa«, antwortete er.

»Und sie kommen aus Deutschland?«, fuhr sie fort.

Georg nannte seine Anschrift in München. Die Straße buchstabierte er. Mademoiselle DeFoube schrieb alles sorgfältig auf.

»Haben sie auch eine Adresse hier in Frankreich, ihr Hotel zum Beispiel?«

Georg überlegte. »Ich werde heute im Hotel in Nantes übernachten. Morgen wollte ich aber wieder nach München zurück fliegen. Bis wann kann ich denn mit einem Ergebnis der Recherche rechnen?«, fragte er.

Jetzt sah sie auf. »Ich werde es nicht vor Anfang nächster Woche schaffen«, erklärte sie. »Es geht nicht so schnell.« Sie lächelte. »Ich muss ja auch noch ins Archiv hinunter.«

Georg nickte. Er gab ihr die Visitenkarte, die er aus der Hotellobby mitgenommen hatte. Sie übertrug die Adresse des Hotels in Nantes auf das Formular.

»Vielleicht ist es besser, wenn sie mir die Ergebnisse der Recherche in einer E-Mail übersenden«, schlug er vor.

»Ja, gut«, sagte sie etwas enttäuscht. »Das ist sicherlich einfacher, als wenn sie am Freitag noch einmal hierher kommen müssen.«

Georg holte eine seiner Visitenkarten aus der Jackentasche und schob sie durch die Öffnung in der Glasscheibe.

Sie überflog die Karte. »Ich kenne sonst keine Rechtsanwälte aus Deutschland«, bemerkte sie.

Georg lächelte sie an. »Jetzt kennen sie einen«, sagte er und zeigte dabei auf die Visitenkarte. »Sie können mich unter der ersten Nummer tagsüber in meiner Kanzlei erreichen. Und über die Handynummer, wenn ich nicht im Büro sein sollte.«

»Gut, ich werde mir alle Mühe geben. Wenn ich etwas herausfinde, lasse ich es sie wissen und sie können dann besser planen, wann sie wieder bei mir vorbei schauen.« Sie lächelte ihn an.

Georg hatte ein wenig den Eindruck, dass sie sogar darauf bestand, dass er noch einmal persönlich bei ihr vorsprach. Zum Abschied gab sie ihm dann eine Karte mit der Anschrift und der Telefonnummer des Rathauses in Redon, auf der sie noch einmal ihren eigenen Namen schrieb. Georg nahm die Karte.

»Sie heißen Liane, ein schöner Name.« Georg lächelte sie an. »Danke Liane DeFoube.«

Er nickte noch einmal und wandte sich dann ab. Als er durch den Schalterraum zum Ausgang ging, sah sie ihm nach.

 

*

Georg fuhr die Straße, die er gekommen war, ein Stück zurück. An einer Gabelung musste er links fahren. In Redon gab es viele Einbahnstraßen, die ihn zu einem Umweg zwangen. Er entkam schließlich dem Gewirr aus Sträßchen und Gassen und gelangte zu einer großen Kreuzung, an der Nantes, Vannes und einige andere Orte ausgeschildert waren. Er hielt an und besah sich unschlüssig das Hinweisschild. Jemand hupte hinter ihm, zog dann aber auf der breiten Straße problemlos an ihm vorbei. Georg war im Norden Deutschlands, in einem kleinen Dorf am Meer aufgewachsen. Die nächst größere Stadt neben Hamburg war Cuxhaven. Im Stadtzentrum von Cuxhaven, auf einem Platz, gab es einen großen Findling mit dem Wappen der Stadt Vannes. Daran erinnerte er sich jetzt in diesem Moment. Cuxhaven und Vannes waren Partnerstädte und das schon seit 1963. Georg hatte dieses Wappen vor Augen. Das auffälligste darauf war ein Tier, ein Iltis, der aussah, als hätte er Flügel. Als Kind hatte Georg lange geglaubt, dass der Iltis ein Otter sei und dass er etwas mit seinem eigenen Heimatdorf zu tun hätte. Er war es eigentlich von Kind an gewohnt am Meer zu leben, die Gezeiten schon am Geruch der Luft wahrzunehmen. Warum er heute so fernab vom Meer lebte, konnte er eigentlich nicht erklären, oder doch. Er war erwachsen und konnte hingehen und leben, wo er wollte. Er verdiente nun einmal in München sein Geld und war mit der Arbeit und seiner Kanzlei zufrieden, sehr zufrieden sogar. Er besann sich wieder. Das Straßenschild wies sechsundfünfzig Kilometer bis nach Vannes aus. Er befand sich auf einer Landstraße und rechnete aus, dass er bestimmt eine Stunde nach Vannes brauchte und zurück nach Nantes eine weitere Stunde oder sogar zwei. Er fuhr wieder an, blinkte links und nahm die Straße Richtung Nantes. Er blieb auf der Landstraße, obwohl er auch die Autobahn hätte nehmen können. Es war später Nachmittag, als er wieder in Nantes eintraf. Er parkte vor seinem Hotel, ging aber nicht auf sein Zimmer. Er wollte noch ein Stück am Nordufer der Loire spazieren gehen. Er liebte es, am Wasser, am Meer oder an Uferpromenaden zu schlendern und seine Gedanken zu befreien, wie er es nannte. Er konnte jetzt aber nicht viel nachdenken, weil er immer wieder durch das Treiben am Fluss abgelenkt wurde. Kleine Kähne legten an, alte Segelschiffe mit zwei oder sogar drei Masten lagen vertäut an ihrem letzten Ankerplatz. Die Takelage spannte sich knackend, wenn der Wind gegen die Seile drückte. Obwohl es für das Abendessen noch recht früh war, kehrte er in der Rue Constantine in ein Restaurant ein. Hinter dem Haus verlief eine Bahnlinie, über die ab und zu Regionalzüge in mäßigem Tempo vorbeizogen, was aber kaum störte. Er nahm sich eine französische Zeitung und bestellte ein Nudelgericht. Als er das Restaurant wieder verließ, dämmerte es bereits. Er hatte keine Schwierigkeit zu seinem Hotel zurückzufinden. Aus einem Imbiss nahm er noch zwei Flaschen Bier mit und verbrachte den Abend vor dem Fernseher in seinem Hotelzimmer. Er legte sich um kurz nach zehn schlafen. Er war müde und der Flug am nächsten Morgen, zurück nach München, sollte ebenso früh gehen, wie der Hinflug nach Nantes. Er lag zunächst wach im Bett und dachte noch einmal über den Tag nach. Er erinnerte sich plötzlich an eine Fernsehreportage über Ahnenforscher. Ein alter Herr suchte nach den Spuren seines Ur-Ur-Großvaters. In einem hessischen Dorf traf er schließlich auf den Bürgermeister, der sich noch an den Familiennamen erinnern konnte. In dem Beitrag wurde ganz besonders darauf aufmerksam gemacht, dass es wichtig sei, nicht nur in Büchern oder Archiven nach Dokumenten und Urkunden zu suchen, sondern auch an die vermeintlichen Orte zu fahren, an denen die gesuchten Ahnen gelebt hatten. Georg hatte sich an diesem Tag auch die Orte der Vergangenheit angesehen. Er konnte allerdings noch nicht einordnen, was es ihm einbringen würde. Auf richtige Spuren war er bislang noch nicht gestoßen. Seine Hoffnung lag jetzt bei der jungen Rathausangestellten, die versprochen hatte, für ihn etwas über Yvette und Julie herauszufinden, auch wenn seine Startinformationen mehr als dürftig waren. Das letzte, woran er dachte, bevor er einschlief, war die Überzeugung, dass gerade das Aussichtslose zum Erfolg führen kann.

*

Georg hatte noch am Freitagabend mit Simon telefoniert und ihm von dem Besuch in Allaire berichtet. Er bedauerte es, noch keine handfesteren Hinweise erhalten zu haben. Liane DeFoube meldete sich erst am Donnerstag der darauffolgenden Woche. Am Vormittag war Georg noch bei einem Mandanten. Nach dem Mittagessen sah er sich die Mails an, die in den letzten Tagen eingegangen waren. Er arbeitete die Nachrichten normalerweise chronologisch ab, in der Mailliste fiel ihm aber der Absender auf und er übersprang die restlichen Einträge und öffnete sofort die Mail der jungen Rathausangestellten aus Redon. Sie schrieb ein paar einleitende Worte und entschuldigte sich, dass es doch länger gedauert hatte. In den Worten lag eine gewisse Euphorie, die Georg nicht gleich einordnen konnte. Zunächst berichtete sie über ihr Vorgehen bei der Datenbankrecherche. Sie erklärte die Zugehörigkeit der Region um Redon zum Arrondissement Vannes und dass Vannes wiederum die Präfektur des Départements Morbihan war. Die Verwaltung war so organisiert, dass alle Rathäuser und Gemeindevertretungen Zugriff auf die Daten ihres Départements hatten. Georg kannte den Aufbau der Verwaltungsbezirke in Frankreich. Er hatte sein Wissen letzte Woche aufgefrischt, als ihm Liane DeFoube das erste Mal von der Personenstandsdatenbank erzählt hatte. In Frankreich gab es zweiundzwanzig Regionen, wie die Bretagne, die Aquitaine oder die Rhone-Alpes, die sich wiederum in die sechsundneunzig europäischen Départements aufteilten. Georg dachte jetzt an das koloniale Frankreich. Es gab noch einige Überseedépartements, die wie die europäischen Départements direkt an Frankreich angeschlossen waren. Tahiti und die Marquesas gehörten dagegen zu den sogenannten Collectivité d'outre-mer, den französischen Autonomiegebieten. Wenn es eine Personenstandsdatenbank für das Départements Morbihan gab, dann würden auch die übrigen Départements und vielleicht auch die Autonomiegebiete über eine solche Einrichtung verfügen, bestenfalls gab es einen gemeinsamen Zugriff auf alle Datenbestände. Georg musste Liane DeFoube unbedingt darüber befragen. Möglicherweise konnte sie sich auch Zugriff auf die Datenorganisationen der anderen französischen Départements verschaffen. Er dachte immer noch daran, nach dem Namen Jasoline in ganz Frankreich suchen zu lassen, um die Namen und Adressen möglicher Nachfahren von Victor Jasoline ausfindig zu machen. Alleine würde er es nicht schaffen. Er las weiter in Lianes Nachricht. Sie hatte also das Département Morbihan durchsucht. Die Daten waren ab dem Jahr 1950 elektronisch erfasst. Sie erwähnte, dass es ihr anfangs aussichtslos erschien, einfach nur nach Vornamen zu suchen. Sie schränkte die Suche daher noch einmal ein, in dem sie sich nur Personen mit dem Namen Julie anzeigen ließ, die vor 1913 geboren waren. Bei der Mutter nahm sie als Geburtsdatum das Jahr 1900 oder früher an. Sie äußerte sich nicht über das erzielte Ergebnis, sondern verwies in ihrer Mail auf einen Dateianhang. Georg öffnete den Anhang sofort und suchte unter den Treffern aus der Datenbankrecherche nach dem Familiennamen Jasoline, der aber nicht auftauchte. Dann stellte er fest, dass der Name Julie um die Jahrhundertwende ein beliebter Mädchenname gewesen sein musste. Es waren an die zweihundert Julies, die zwischen Dezember 1899 und Oktober 1913 im Département Morbihan geboren wurden. Die älteste Julie passte zwar durchaus zu der Postkarte, aber nicht zu dem kleinen Mädchen auf Gauguins Gemälde, sie war zu jung. Das Mädchen, das Gauguin im Jahre 1902 gemalt hatte war älter als zwei oder drei Jahre, was auch die Fotografien aus der Südsee zeigten. Liane DeFoube hatte in der Liste noch darauf hingewiesen, dass Personen, die vor 1950 verstorben waren oder das Département Morbihan verlassen hatten, nicht in die Datenbank aufgenommen wurden. Es konnte also auch sein, dass die gesuchte Julie genau in dieses Raster passte. Noch ein Unsicherheitsfaktor, dachte Georg. Jetzt sah er sich auch die Treffer zum Namen Yvette an. Die Datenzeilen waren auf der zweiten Seite der Liste. Der Nachname Jasoline fand sich auch bei diesen insgesamt neun Einträgen nicht. Das Geburtsdatum einer Frau lag hier sogar im Februar 1875. Vom Alter her konnte sie durchaus die Mutter von Gauguins Julie gewesen sein. Georg schloss die Datei und widmete sich wieder der Mail. Liane DeFoube war tatsächlich in das Gemeindearchiv hinabgestiegen, wie sie Georg lebhaft schilderte. Sie habe dort in den alten Akten gewühlt, berichtete sie beinahe dramatisch und habe nach Geburts- und Sterbeurkunden gesucht, die dort für die Jahre 1871 bis 1944 lagerten. Sie musste Jahr für Jahr durchgehen und wurde tatsächlich fündig. In der Mail verwies sie wieder auf einen Dateianhang. Georg öffnete das Dokument und erwartete die Kopie einer vergilbten Urkunde. Es war aber ein Blatt Papier, auf das Liane DeFoube eine handschriftliche Notiz gemacht hatte. Sie musste den ursprünglichen Zettel unten in dem schmutzigen Kellern des Rathauses geschrieben haben. Das Papier war fleckig und wirkte leicht zerknittert. Georg scrollte den Text in die Mitte der Bildschirmansicht und las die Notiz.

 

Urkunde VF-12-11-5256-1895

Kinder: Julie Jasoline, 17.03.1895, 11:03Uhr, Thérèse Jasoline 11:35Uhr, Mutter: Yvette Jasoline, geborene Malkoue, Vater: Victor Jasoline

 

Er hatte bewusst keine Vermutungen angestellt, als er die alte Postkarte bei Madame LaRosa in Paris das erste Mal gesehen hatte. Das Alter von Thérèse Pallet stimmte gut mit dem vermuteten Alter von Gauguins Julie überein, so gut, dass die beiden Frauen hätten Schwestern sein können. Dies bestätigte sich jetzt. Sie waren nicht nur Schwestern, sie waren auch noch Zwillinge. Aber die Notiz sagte noch viel mehr aus. Das Bild hatte sich jetzt komplettiert. Der Fotograf Victor Jasoline hatte durchaus etwas mit Thérèse Pallet zu tun. Er war ihr Vater und er war auch der Vater der zweiten Tochter Julie. Die Sache mit den Zwillingen, machte alles noch interessanter, dachte Georg. Er hatte alle Unterlagen zu dem Fall auf seinem Rechner gespeichert. Er suchte sich in einem der Ordner das Foto von Thérèse Pallet heraus, das Foto, das sie als alte Frau zeigte. Er verglich es mit dem Ölgemälde. Wenn die Kinder eineiige Zwillinge waren, dann sah er jetzt, was aus Gauguins Modell, der kleinen Julie, geworden war, wie sie als alte Frau aussah. Es war ein merkwürdiges Gefühl, einen solchen Zeitsprung vor sich zu sehen. Als er die Fotografie von Thérèse Pallet das erste Mal gesehen hatte, kam ihm die alte Frau gleich so bekannt vor, jetzt wusste er warum. Georg ging wieder zurück auf den Dateianhang aus Lianes Mail. Er hatte bereits beim Öffnen der Datei gesehen, dass es noch eine zweite Seite gab. Er blätterte mit der Maus an der rechten Laufleiste des Dokuments. Die zweite Seite war ebenfalls ein Hand beschriebener Zettel, den Liane DeFoube eingescannt und als Datei gespeichert hatte.

 

Urkunde KK-881-29-442-1938

Verstorbene: Yvette Jasoline, geborene Malkoue, geb. 01.11.1869 in Vannes, gest. 22.09.1938 in Paris, beigesetzt in Saint-Eutrope, Allaire

 

Es rundete das Bild der Familie Jasoline weiter ab, dachte er. Er formte sich eine Geschichte und machte Notizen dazu. Er war mit den Gedanken schon an einer ersten Präsentation seiner Ergebnisse vor Simon Halter, Heinz Kühler und diesem Edmund Linz. Das wichtigste war, dass er jetzt wusste wer das kleine Mädchen auf dem Gauguin-Gemälde im richtigen Leben war. Er kannte die Namen ihrer Eltern und einer ihrer Geschwister, hatte die Lebensdaten dieser Menschen. Er stockte, legte den Kugelschreiber auf das Blatt und lehnte sich zurück. Julie Jasoline war 1895 geboren, wie lange sie gelebt hatte wusste er nicht, diese Daten kannte er nur über ihre Schwester Thérèse. Warum hatte der Vater in Neuseeland gelebt, während die Mutter in Paris gestorben ist. Gut, dachte Georg, Madame Jasoline konnte auch nach 1935, also nachdem Tod ihres Mannes wieder nach Frankreich zurückgekehrt sein. Die Tochter Thérèse musste diesen Schritt aber schon viel früher gemacht haben, denn sie hatte 1914 geheiratet und war dann anscheinend Zeit ihres Lebens in Frankreich geblieben. Wieder dachte Georg an die Hauptperson, an Julie Jasoline, an das kleine Mädchen mit dem Sonnenhut. Wo war sie geblieben? Bei den Eltern in Neuseeland, in Frankreich oder irgendwo anders in Europa oder der Welt? Die Fragen, machten ihm deutlich, dass er noch nichts, noch gar nichts erreicht hatte, zumindest nichts, was einem Herkunftsnachweis für das Gauguin-Gemälde nahe kam. Er dachte auch noch einmal an das Gespräch mit Madame LaRosa. Das Eigentum von Thérèse Pallet wurde nach ihrem Tod versteigert. Juristisch gesehen bedeutete dies, dass niemand das Erbe angetreten hatte, ob nun mit Absicht oder weil es tatsächlich keine lebenden Verwandten mehr gab oder weil niemand ausfindig gemacht werden konnte. Zunächst musste er davon ausgehen, dass Thérèse Pallet ihre Zwillingsschwester überlebt hatte, einen Beweis dafür gab es allerdings nicht. Georg musste herausfinden, was aus Julie Jasoline geworden war. Er wusste nur, dass sie mit ihren Eltern und der Schwester eine Zeit lang in Französisch-Polynesien gelebt hatte. Die Schwester war spätestens 1914, aber wohl eher noch davor, wieder nach Europa zurückgekehrt. Die Spur des Vaters und vermutlich auch der Mutter führte nach Neuseeland, aber es war nicht sicher, das die Tochter Julie in der Nähe ihrer Eltern geblieben war, vielleicht in Neuseeland geheiratet hatte. Es gab aber sicherlich weitere Theorien über den Verbleib von Julie Jasoline. Sie konnte als Kind auf Tahiti oder den Marquesas gestorben sein. Sie konnte aber auch ihrer Schwester nach Frankreich gefolgt sein. Sie hatte dann aber irgendwann nicht mehr in Paris gelebt, ansonsten hätte er eine Spur von ihr finden müssen, als er die alten Adressbücher der französischen Hauptstadt durchgesehen hatte. Ein Aufenthalt in Redon oder Allaire oder im Département Morbihan konnte er wohl ebenfalls ausschließen, ansonsten hätte Liane DeFoube eine weitere Spur von Julie Jasoline entdeckt. Es gab aber noch neunundneunzig weitere Départements in Frankreich und den Überseegebieten. Er schrieb sofort eine Mail an Liane. Er bedankte sich für ihre Arbeit und teilte ihr mit, dass er schon Mitte nächster Woche wieder nach Redon reisen wolle. Er ging noch einmal auf die Datenbankrecherche ein und fragte nach, ob Liane ihre Suche nicht auf sämtliche der französischen Départements ausdehnen könnte. Das einzige Problem war nur, dass alle elektronischen Aufzeichnungen erst ab dem Jahr 1950 begannen. Für den Fall, dass Julie Jasoline bereits vor 1950 verstorben war, würde ihr Leben nicht in Bytes und Bits erfasst worden sein, zumindest nicht, nach dem, was Liane ihm über die Datenerfassung in den französischen Behörden erzählt hatte. Es wäre sicherlich aussichtslos gewesen, in allen Archiven des Landes nach Urkunden zu suchen. Es gab in Frankreich immerhin fast vierzigtausend Kommunen wie die in Redon. Es war daher unmöglich alle Rathauskeller nach Urkunden und Dokumenten zu durchsuchen, so wie es Liane in ihrem Zuständigkeitsbereich getan hatte. Georg schickte die Mail ab und lehnte sich wieder in seinen Schreibtischstuhl zurück. Er sah die staubige Luft vor sich, die durch das Sonnenlicht angestrahlt wurde, dass durch die Fenster in sein Büro flutete.

*

Am kommenden Mittwoch hatte Georg den gleichen Sechs-Uhr-Flug nach Nantes, wie schon zwei Wochen zuvor. Es war die gleiche Prozedur. Er fuhr zuerst ins Hotel und dann sofort weiter mit dem Mietwagen Richtung Vannes, erst auf der Autobahn und dann über die Abfahrt von der Tankstelle aus nach Allaire. In Allaire brauchte er nur in den Ortskern zu fahren. Die Kirche hatte er schon bei seinem ersten Besuch gesehen. Er vermutete den Friedhof ganz in der Nähe und er lag richtig. Direkt neben der Kirche, hinter einer Mauer, über die er von der Straße aus nicht hinüber sehen konnte, befanden sich die Felder mit Kreuzen und Steinen. Es waren hauptsächlich Grabsteine. Die wenigen Metallkreuze standen wie Gerippe über den Gräbern. Der Friedhof war in der Übersicht nicht groß. Er konnte nicht schätzen, wie viele Gräber es waren, die er möglicherweise aller ansehen musste. Er ging zunächst durch die Reihen und las die Aufschriften auf den Steinen. Ihm fiel auf, dass einige der Kreuze keine Namen trugen, was die Suche noch erschwerte. Nach einiger Zeit blickte er auf, es waren doch zu viele Gräber. Er schaute zur Kirche. Das Hauptportal stand offen. Er ging hinüber und betrat das Kircheninnere. Er vermutete den Pfarrer oder irgendeinen anderen Gemeinedemitarbeiter in der Sakristei, die sich im hinteren Teil der Kirche befand. Er durchschritt langsam und leise das Kirchenschiff. In den Bänken saßen drei ältere Frauen, das Gesicht Richtung Altar gewandt. Die Tür zur Sakristei stand offen. Es war aber nicht der Pfarrer, der einige liturgische Geräte sortierte, sondern ein kleiner Junge, vermutlich einer der Messdiener. Georg klopfte an der Tür, um den Jungen nicht zu erschrecken.

»Bonjour, vielleicht kannst du mir helfen?«, fragte er.

Der Junge drehte sich um und nickte. »Bonjour, Monsieur.«

»Wo finde ich jemanden von der Friedhofsverwaltung oder besser noch den Pfarrer?«, fragte Georg.

Er senkte den Kopf, um nicht an den Türdurchgang zu stoßen und betrat die Sakristei. Der Junge wollte gerade antworten, wurde aber abgelenkt. Georg hatte die Schritte ebenfalls gehört und drehte sich um. Vor ihm stand ein älterer Mann in dem unverkennbaren Gewand des Geistlichen.

»Sie suchen mich, mein Sohn?«, fragte der Pfarrer mit sanftem Ton.

»Bonjour, Vater«, setzte Georg die Art der Anrede fort. »Richtig, ich hoffe sie können mir helfen, ich habe ein Anliegen.«

Der Pfarrer sah ihn milde an, als habe er einen Sünder vor sich, der jetzt, nach Jahren, bereit war zu beichten. Er machte sogar eine Handbewegung, als wolle er Georg den Weg zum Beichtstuhl weisen. Die Geste galt jedoch dem Messdiener, der sofort verstand und die Sakristei mit gebeugtem Haupt verließ. Der Pfarrer schloss dann auch noch die Tür hinter sich und trat mit gefalteten Händen vor Georg.

»So, jetzt kannst du sprechen, mein Sohn«, sagte der Pfarrer mit weiterhin sanfter, fast feierlicher Stimme.

 Georg lächelte ihn an. »Ich weiß nicht, was sie denken«, erklärte er, »aber ich suche lediglich ein Grab auf ihrem Friedhof, es ist das Grab einer Frau. Sie ist in den dreißiger Jahren hier in Allaire beerdigt worden.«

Der Pfarrer schien nicht überrascht, er überlegte. »In den dreißiger Jahren, hier in Allaire?«

Georg nickte. »Ich habe den Namen der Frau und die Angaben Allaire und Saint-Eutrope, aber ich weiß nicht, ob es außer dem Friedhof neben der Kirche noch andere Gräberfelder gibt, darum habe ich nicht selbst weiter gesucht.«

»Nein, nein«, antwortete der Pfarrer, »Saint-Eutrope, das ist diese, unsere Kirche hier und es gibt in Allaire auch nur den einen Friedhof, den dort draußen. Ich denke, sie sind hier bestimmt richtig.« Der Pfarrer hob die Hände und deutete auf einen schweren hölzernen Schrank an einer Wand in der Sakristei. »Der Raum hier ist angenehm trocken, daher verwahren wir an diesem Ort die Kirchenbücher und die Verwaltungsunterlagen des Friedhofs.«

Er ging auf den Schrank zu, zückte ein Schlüsselbund und öffnete eine der Schranktüren. Im Innern standen auf dem obersten Bord eine Reihe schmaler Bücher in schwarzem Ledereinband.

»Wie lautet das genaue Todesjahr und der Name der Verstorbenen?«, fragte der Pfarrer.

Georg holte einen gefalteten Zettel aus seinem Jackett. Er hatte die komplette Mail von Liane DeFoube ausgedruckt.

»September 1938 und die Frau hieß Yvette Jasoline«, las Georg vor.

Der Pfarrer nickte und nahm ein Buch mit der Jahresaufschrift 1930 bis 1939 aus dem Schrank. Er blätterte nacheinander die Seiten um und suchte mit dem Finger die Zeilen ab.

»September«, murmelte er. »Und wie war noch einmal der Name?«, fragte er ohne aufzublicken.

»Jasoline, Vorname Yvette.«

Der Pfarrer setzte seine Suche in der aufgeschlagenen Buchseite fort. Sein Finger strich über die Zeilen.

»Im Jahr 1938 gab es nicht viele Totenmessen.« Sein Finger stockte. »Ich habe es, tatsächlich, Jasoline, Yvette, ungewöhnlich, sie hatte nur einen Vornamen. In Frankreich ist es eigentlich noch heute üblich, seinen Kindern mindestens zwei Vornamen zu geben.«

Er räusperte sich und sah Georg an. Dann beugte er sich wieder über das Buch und las den Eintrag weiter vor, den er gefunden hatte.

»Sie wurde am 1. November 1869 in Vannes geboren und ist am 22. September 1938 in Paris gestorben. Sie lebte gar nicht in unserer Gemeinde, wurde aber hier beerdigt. Vielleicht war es ihr Wunsch, wo sie doch in der Nähe, in Vannes zur Welt gekommen ist. Sie wurde damals auf Feld 17B Nr. 21-E-35 beigesetzt. Ja, sie staunen, so klein unser Friedhof auch ist, haben wir hier doch ein System, nach dem die Positionen der Gräber geordnet sind.« Der Pfarrer lächelte stolz.

»Existiert das Grab heute noch?«, fragte Georg.

»Mein Sohn, wir sind doch nicht in Paris, wo man die Toten wieder ausgräbt und in Höhlen unter der Stadt lagert. Wir können uns das Grab ansehen, wir haben hier in Allaire eine große Unterstützung durch unsere Jugendlichen und andere Gemeinde Mitglieder. Der Friedhof wird mit großer Mühe gepflegt, so dass auch die älteren Gräber, die keiner mehr besucht, in gutem Zustand sind.«

Während er dies sagte, klappte er das Buch zu, legte es in den Schrank und schloss wieder ab. Er öffnete die Tür und wies Georg den Weg aus der Sakristei, überholte ihn im Kirchengang und ging voraus. Das Feld 17B lag eigentlich in der Nähe der Kirche. Der Pfarrer suchte nach dem Grab. Er blieb immer wieder stehen und überlegte. Er wunderte sich über etwas, sagte aber nichts. Sie entfernten sich immer mehr von der Kirche. Das Feld 17B war fast quadratisch, es gab aber eine Art Zipfel. Zwischen dem Hauptteil und diesem Zipfel führte ein schmaler Weg, der in der Mitte einen steinernen Buckel aufwies. Der Pfarrer blieb erneut stehen und trat nachdenklich mit dem Fuß auf den Buckel. Georg sah auf den Boden und glaubte die Überreste einer Mauer zu erkennen. Der Pfarrer lief weiter und Georg vergaß seinen Gedanken. Das Anhängsel von Feld 17B war ebenfalls quadratisch angelegt, mit vielleicht fünfzehn Gräbern. Direkt dahinter folgte ein breiter, mit Kieseln ausgelegter Weg, an den sich das nächste Feld anschloss. Das Grab von Yvette Jasoline sah gepflegt aus, obwohl es keine Blumen gab, sondern nur mit Bodendeckern bepflanzt war, die in einem satten Grün auf die gesamte rechteckige Fläche verteilt waren. Die Ränder waren sorgfältig abgestochen. Georg blickte sich um. Erst jetzt bemerkte er, dass es in der Nähe nur einen einzigen Grabstein gab, auf die anderen der wenigen Gräber waren Metallkreuze gesetzt. Der Pfarrer blieb vor dem Grab von Yvette Jasoline stehen und starrte nachdenklich darauf. Er hockte sich schließlich hin. Georg stand neben ihm und las die Inschrift auf dem Grabstein. Es war nur das eingetragen, was er ohnehin schon wusste. Er hatte gehofft, auch Julies Namen zu finden. Wenn sie hier gestorben, oder zumindest beerdigt wäre, dann hätte er Liane DeFoube noch einmal gebeten, im Archiv nach Julie zu suchen.

Der Pfarrer mühte sich wieder aufzustehen. Georg half ihm. »Was haben sie da gesucht?«, fragte er.

»Ich habe nur geschaut, wer den Stein angefertigt hat. Am Fuß der Steine, dicht über dem Boden, ist eine Nummer eingetragen zusammen mit den Initialen der Steinmetzwerkstatt. Wir haben hier in der Umgebung nicht viele Steinmetze, da kennt man sich halt.«

»Und wer war der Meister?«, fragte Georg.

Der Pfarrer hockte sich noch einmal hinunter und tippte auf die Stelle mit der Signatur. »T. B., Torre Bruel«, sagte er. »Ich kenne ihn persönlich, er hat etwa zur gleichen Zeit seine Werkstatt eröffnet, als ich in diese Pfarrei bestellt wurde, das war im Jahre des Herrn 1959. Ich kam frisch aus dem Seminar, aus Limoges. Ich war noch jung, ich hätte nicht gedacht, dass es einmal fast fünfzig Jahre sein würden. Ich wollte eigentlich als Missionar in den Kongo, aber sie haben nur Belgier genommen. Ja, auch ein Mann Gottes darf träumen, das verbietet der Herr nicht und wenn es ihm gefällt, dann gibt er dir hier einen Platz, an dem du sein Werk vollbringen kannst oder im Kongo, aber was erzähle ich dir da, mein Sohn.«

Georg hatte sich ebenfalls hinunter gebeugt und lächelte verständnisvoll. »Torre Bruel«, wiederholte er nach einer kurzen Pause. »Der Name klingt nicht sehr französisch.«

»Er ist Norweger«, erklärte der Pfarrer. »Die Liebe hat ihn an die Loire gespült. Er hat sein Geschäft in Redon. Er ist sehr geschickt und hat uns auch schon oft bei der Renovierung der Kirche geholfen.«

Beide erhoben sich wieder und blickten auf das Grab.

»Und haben sie schon einmal von dieser Frau gehört, von Madame Yvette Jasoline?«, fragte Georg. »Ich nehme an, das Grab wird von ihren Jugendlichen gepflegt, oder haben sie hier vielleicht sogar einmal Angehörige gesehen?«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Ich kenne natürlich viele meiner Schäflein, entschuldigen sie den Ausdruck. Ich weiß auch, wo sie ihre letzte Ruhe gefunden haben, aber diese Frau hier, kenne ich leider nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, schon einmal jemanden an diesem Platz gesehen zu haben. Außerdem ist sie ja auch lange vor meinem Dienstantritt hier her gebettet worden, nein ich kennen sie nicht.«

Georg sah ihn an. Irgendetwas von dem, was der Pfarrer erzählt hatte, machte ihn stutzig, aber er wusste nicht, was es war, er kam jetzt nicht darauf. Eigentlich hatte er für solche Dinge ein Gespür. Er verdrängte es zunächst. Mehr gab es hier für ihn nicht zu sehen. Er überlegte, noch ein Foto von dem Grabstein zu machen, aber er wusste nicht, wie der Pfarrer darüber dachte. Es war schon beinahe 11:00 Uhr. Georg wollte noch nach Redon. Vielleicht hatte Liane DeFoube etwas Neues für ihn. Vielleicht hatte sie seinem Wunsch entsprochen und das zentrale Personenstandsregister angezapft, wenn es überhaupt ein solches zentrales Datenarchiv gab. Der Pfarrer unterbrach ihn in seinen Gedanken.

»Ich kann noch einmal in meinen Büchern nachsehen, mein Sohn, vielleicht haben wir etwas über die Verstorbene aufgeschrieben. Wie kann ich dich erreichen?«

Georg sah ihn überrascht an. »Ich bin für jeden weiteren Hinweis dankbar.«

Ihm fiel ein, dass er dem Pfarrer bislang nicht erzählt hatte, aus welchem Grund er das Grab von Yvette Jasoline suchte. Der Pfarrer hatte aber auch nicht nach einem Grund gefragt, er hatte nicht einmal eine Andeutung versucht. Georg beschloss, es dabei zu belassen. Er hatte sich einige Visitenkarten in die Hemdtasche gesteckt. Er fummelte das gesamte Päckchen heraus.

»Hier finden sie meine Nummer«, erklärte er. »Das Handy habe ich dabei, sie müssen nur eine Vorwahl vorne anhängen.«

Georg wollte ihm die Zahlen auf die Visitenkarte schreiben. Er holte noch einen Kugelschreiber aus der Innentasche. Der Pfarrer legte ihm die Hand auf den Arm.

»Du wirst dich wundern mein Sohn, aber ich habe den Vorwahlcode im Kopf. Du kommst aus Deutschland, nicht wahr. Ich habe einen Freund in Speyer, er lehrt am Priesterseminar. Ich rufe ihn immer über sein Handy an, ich kenne mich aus.«

Georg nickte. »Umso besser, ich bin heute Nachmittag noch in Redon und am Abend in Nantes. Ich könnte also kurzfristig noch einmal hier bei Ihnen vorbeischauen, wenn sie etwas Interessantes haben. Vielleicht können sie mir aber auch ihre Nummer geben.«

»Das kann ich wohl tun«, antwortete der Pfarrer milde. »Willst du mitschreiben?«

Georg hatte das Päckchen mit den Visitenkarten umgedreht und notierte sich die Nummer auf die Rückseite der untersten Karte. Als Stichwort schrieb er noch Kirche Allaire. Dann sah er den Pfarrer verlegen an.

»Entschuldigen sie, ich habe sie noch gar nicht nach ihrem Namen gefragt?«

Der Pfarrer lächelte. »Mein Name ist Pater Edmond Noury, aber ich bitte dich, sage einfach nur Pater Edmond zu mir, ich bin es so gewohnt.«

Georg schrieb den Namen zu der Nummer, dann drehte er das Päckchen mit den Visitenkarten wieder um. Erst jetzt nahm er die oberste Karte und reichte sie dem Pfarrer, der sie sich gleich ausgiebig ansah.

»Oh, du bist Rechtsanwalt, mein Sohn«, sagte er interessiert.

Georg nickte. Jetzt hätte er seine Geschichte erzählen können, doch der Pfarrer sah sich die Visitenkarte nur an, stellte aber keine weiteren Fragen. Sie wandten sich wieder dem Grabstein zu.

»Darf ich eine Aufnahme machen?«, fragte Georg.

»Eine Fotografie von dem Stein?«, wiederholte der Pfarrer. »Wir sind nicht abergläubisch. Gott hat einem der seinen gelehrt, einen solchen Apparat zu bauen, damit er ihn auch benutze.« Er machte eine kurze Pause. »Ich bin dem Heiligen Vater in Rom verpflichtet, dennoch meine ich, dass Gott auch diesem Luther den Weg gezeigt hat und meine Kirche ihn nicht hätte verurteilen dürfen und natürlich auch all die anderen nicht.«

Georg sah weiter auf den Grabstein und ging bewusst nicht auf das Gesagte ein. Er hasste religiöse Auseinandersetzungen und Diskussionen, er behauptete immer, keine Meinung darüber zu haben. Er tastete sein Jackett ab, in dem sein Fotoapparat steckte. Er zog die Kamera an ihrer Handschlaufe heraus und legte an. Er ging etwas in die Knie und machte zwei Aufnahmen. Auf dem kleinen Bildschirm der Kamera überprüfte er die Helligkeit und Qualität. Er war zufrieden. Dann drehte er sich in Richtung Kirche und machte ebenfalls ein Foto, das er gleich wieder kontrollierte. Auf dem Rückweg würde er die Kirche noch einmal von der anderen Seite aufnehmen.

Georg wandte sich an den Pfarrer. »Ich glaube, ich habe ihre Zeit schon genug in Anspruch genommen. Ich danke Ihnen.«

»Mein Sohn«, sagte der Pfarrer mit ruhigen Worten. »Es gehört zu meinen Pflichten, aber ich freue mich auch immer wieder, wenn man sich der Verstorbenen erinnert. Ich werde wie versprochen noch einmal nachsehen, was in den Aufzeichnungen über unsere Tochter Yvette zu finden ist.«

*

Sie gingen gemeinsam bis zum Weg vor der alten Steinkirche, der direkt hinaus auf den kleinen Parkplatz führte. Georg bedankte sich noch einmal und gab dem Pfarrer die Hand. Dann verließ er das Gelände, ging zu seinem Wagen und fuhr direkt nach Redon. Er stellte den Wagen diesmal in einer der Seitenstraßen ab. Er war heute gut zwei Stunden früher hier, als noch bei seinem ersten Besuch vor knapp zwei Wochen. Es war später Vormittag und in der Rathausverwaltung war nur ein einziger Schalter besetzt, vor dem zwei Frauen warteten, während ein junger Mann von einer älteren Rathausangestellten bedient wurde. Georg kannte die Frau nicht. Er stellte sich in die kleine Schlange, um am Schalter nach Liane DeFoube zu fragen, sobald er an der Reihe war. Er sah sich um. Die Tür auf der fensterlosen Seite des Raumes hatte er zunächst gar nicht erkannt, weil sie in die Täfelung eingebettet war. Plötzlich erschien das Gesicht von Liane in der Tür. Sie winkte ihm lächelnd zu und er ging zu ihr hinüber. Als er vor ihr stand, öffnete sie die Tür soweit, dass er eintreten konnte. Der Raum war von innen ebenfalls holzvertäfelt und diente wohl als Besprechungszimmer. In der Mitte stand ein großer Tisch mit dreißig oder mehr lederbezogenen Stühlen davor. Liane freute sich, ihn zu sehen.

»Salut Monsieur Staffa«, sagte sie und verschloss hinter ihm die Tür, ohne ihren Blick von ihm zu nehmen.

»Salut Liane DeFoube«, begrüßte er sie lächelnd. »Sie sehen, ich bin wie versprochen noch einmal persönlich vorbeigekommen.«

»Ich freue mich«, sagte sie. »Das ganze ist ja fast schon wie ein Detektivspiel. Waren sie heute Morgen schon in Allaire?«

Er nickte. Sie ging ans Ende des großen Besprechungstisches und zog einen Stuhl vor. Georg folgte ihr und setzte sich. Sie nahm seitlich von ihm Platz, faltete die Hände über der Tischplatte und sah ihn erwartungsvoll an. Er holte den Fotoapparat aus seiner Jackentasche, schaltete ihn ein und zeigte ihr die Aufnahmen.

»Die Kirche kennen sie doch sicherlich?«, fragte er. »Und hier ist der Grabstein.«

»Wie haben sie das Grab denn gefunden? Der Friedhof ist ja nicht gerade klein.«

»Ich habe nur kurz selbst auf dem Friedhof nachgesehen«, erzählte er. »Sie haben Recht, es war natürlich sinnlos, auf gut Glück zu suchen. Ich bin daher gleich in die Kirche gegangen. Dort habe ich den Pfarrer getroffen und er hat in seinen Unterlagen nachgesehen und tatsächlich einen Eintrag über Yvette Jasoline gefunden, mit der Nummer des Feldes und der Grabstelle. Ich bin dann gemeinsam mit ihm hingegangen.«

Georg vergrößerte die Aufnahme auf dem kleinen Display der Kamera. »Sehen sie, hier steht der Name, Yvette Jasoline. Es ist die Frau, von der die alte Postkarte stammt, sie muss es sein. Ich habe gehofft, dass auch Julie dort ruht, denn ich möchte gerne wissen, was aus ihr geworden ist. Wenigstens weiß ich dank ihrer Hilfe, dass Yvette und Victor Jasoline die Eltern von Thérèse und Julie sind. Es gibt eben nur keine Hinweise auf noch lebende Nachfahren. Der Pfarrer kannte unsere Yvette leider nicht, er konnte sich auch nicht daran erinnern, jemals irgendjemanden an dem Grab gesehen zu haben. Er wollte aber noch einmal in den Kirchenbüchern nachsehen. Er wollte sich wieder bei mir melden. Bislang habe ich also nur diese Fotos, aber ich denke, es war gut einmal dort gewesen zu sein.«

»Ich bezweifle, dass der Pfarrer noch viel Neues finden wird«, kommentierte Liane. »Die Archive der kleineren Kirchen wurden aufgelöst und zentral in die Standesämter übernommen. Wir hier in Redon sind ein solches Standesamt. In einem Arrondissement gibt es etwa vier bis fünf Standesämter. Wir allein haben die Archive von fast siebzig Kirchengemeinden in der näheren Umgebung übernommen. Es sind alle Vorgänge seit 1871 bei uns registriert.«

»Sie wissen eine Menge darüber«, sagte Georg.

Liane lächelte. »Ich muss zugeben, dass ich es bis vor kurzem auch nicht so im Detail gewusst habe. Erst als ich für sie in unser Archiv gegangen bin, habe ich mich schlau gemacht. Normalerweise habe ich mehr mit der aktuellen Verwaltung zu tun, Reisepässe ausstellen, Personalausweise verlängern. Vielleicht einmal eine Geburtsurkunde beglaubigen. Das sind dann meist Leute, die noch nicht so alt sind und die natürlich in unserer Datenbank verzeichnet sind oder ich stelle eine Anfrage an das Zentralregister, wenn einer der Ehepartner von außerhalb kommt.«

Georg sah sie an. »Das ist doch das Stichwort«, sagte er. »Konnten sie im Zentralregister etwas Neues für mich finden?«

Liane hatte auf diese Frage gewartet. »Nicht, dass sie denken, ich hätte es nicht versucht«, sagte sie mit Bedauern in der Stimme. »Ich bin für sie gestern Morgen in den Zentralrechner eingebrochen. Zum Glück hatte ich eine hochoffizielle Recherche zu machen. Es wird hier nämlich alles dokumentiert, wegen des Datenschutzes. Bevor ich das System wieder verlassen habe, bin ich noch schnell auf die Suche nach Julie Jasoline und Thérèse Pallet gegangen. Ich habe im Prinzip die gleiche Recherche wiederholt, wie schon auf unserer kleineren Datenbank. Über Thérèse Pallet habe ich nur die Lebensdaten gefunden. Sie stimmen natürlich mit dem überein, was sie schon wussten.«

Sie zeigte ihm einen Zettel und las ihm die Daten vor. Georg nickte.

»Ich musste alles abschreiben«, erklärte sie. »Einen Ausdruck zu machen, wäre leichter gewesen, aber es wäre im Zugriffsprotokoll registriert worden. Leider habe ich sonst nichts aufschreiben können, weil nichts da war. Ich habe nichts über Julie Jasoline gefunden. Der Name Jasoline ist wahrscheinlich sehr selten, denn es gibt gar keine Jasolines mehr, zumindest nicht in Frankreich, oder alle sind vor 1950 gestorben. Wenn man nur den Vornamen Julie eingibt, erhält man über den Zentralrechner unzählige Treffer. Ich habe die Suche daher noch eingeschränkt, in dem ich das Geburtsjahr, also 1895 mit vorgegeben habe. Dann hatte ich gar keine Treffer mehr. Es gab keine Julies, die 1895 geboren wurden und nach 1950 noch gelebt haben. Als Gegenprobe habe ich den Namen Thérèse verwendet und in den Treffern auch Thérèse Pallet gefunden. Dann fiel mir noch ein, dass ich vielleicht andere Schreibweisen oder Varianten des Namens Julie verwenden könnte. Ich habe statt Julie die Schreibweisen Juli, Julia und Juliane eingegeben, aber wieder nichts. Sie sehen aber, ich habe mich sehr bemüht.«

Georg lächelte sie an. »Ich bin ihnen darum auch sehr dankbar.« Er überlegte. Die Suche in den französischen Adressbüchern konnte er sich jetzt sparen. Liane hatte es für ihn erledigt, in dem sie den Zentralrechner befragt hatte. Georg versuchte dann die Informationen noch einmal zusammenzufassen.

»Auch kein Ergebnis, ist ein Ergebnis«, sagte er schließlich. »Wir wissen, dass Julie Jasoline hier in Frankreich geboren wurde sie könnte vor 1950 gestorben sein, vielleicht im Zweiten Weltkrieg. Wo könnten wir dann aber den Beweis für diese Annahme finden?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Liane. »Sie warten noch fünf bis zehn Jahre und dann schaue ich noch einmal für sie im Zentralrechner nach.«

»Wie meinen sie das?«, unterbrach er sie. »Was ist in fünf oder zehn Jahren anders?«

»Ganz einfach, irgendeine Verwaltungsstelle wird in den nächsten Jahren beginnen, auch die bisher noch nicht registrierten Gemeindearchive elektronisch zu erfassen. Sie werden dann wohl bei uns im Keller arbeiten und alles eintippen oder scannen und schließlich katalogisieren. Bislang ist mir aber da unten noch niemand begegnet.« Sie lächelte. »Entschuldigen sie diesen Scherz. Auf jeden Fall sollen alle Dokumente und Urkunden bis zurück ins Jahr 1871 erfasst werden. Vielleicht gehen sie ja sogar noch weiter zurück, dann werde ich wohl allerdings schon in Rente sein.«

Georg verstand. »Und die andere Möglichkeit?”, wollte er wissen.

»Die andere Möglichkeit ist eigentlich auch nicht realistisch«, erklärte Liane schnell. »Es gib fast zweitausend Gemeinden in Frankreich, mit Archiven wie unserem hier. Sie müssten zweitausend Lianes finden, die in ganz Frankreich für sie auf die Suche gehen, so wie ich es hier bei uns gemacht habe, denn wenn ich nicht ins Archiv gestiegen wäre, dann hätten wir auch die Urkunden nicht gefunden.«

»Zweitausend Gemeinden«, wiederholte Georg nachdenklich. »Nur zeitlich wird das etwas schwierig sein. Man verlässt sich heute immer mehr auf die moderne Datenverarbeitung und rechnet gar nicht damit, dass sich eine Menge Informationen, mehr als man denkt, nur mit enormer Handarbeit herausfinden lassen.«

»Das ist ja noch nicht alles«, erklärte Liane. »Was ist, wenn diese Julie in den Überseegebieten gelebt und gestorben ist. Frankreich besitzt ja noch immer sehr viele Überseeterritorien, wie die Départements Französisch-Guayana, Réunion, Guadeloupe oder Martinique. Außerdem gibt es noch einige Autonomiegebiete wie Neukaledonien, Französisch-Polynesien und Wallis und Futuna. Es zählen sogar noch Südpolar- und Antarktische Gebiete dazu. Sie sehen, Frankreich ist nicht gleich Frankreich. Überall dort könnte Julie Jasoline gelebt haben. Wenn sie nicht im Zentralrechner steht, bleibt Ihnen auch hier nichts anderes übrig, als mit einigen exotischen Lianes zu sprechen.« Sie lächelte über ihre Bemerkung.

»Ich müsste also zum Beispiel nach Guadeloupe reisen und in einem Rathaus wie diesem hier beginnen. Wie viele Rathäuser gibt es dort?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Liane. »Aber es ist das Leichteste so etwas heraus zu finden. Vielleicht haben sie ja auch Glück und es gibt dort sogar ein Zentralarchiv, dann wäre es einfacher, aber richtig leicht ist es nicht. Mit mir haben sie schon die größtmögliche Unterstützung gehabt, die es geben kann, möchte ich sagen, ohne unbescheiden zu sein. Ich habe alle lokalen Quellen durchsucht und sogar im zentralen Personenstandsregister Frankreichs, Sektion Europa, nachgeforscht. Sie müssten an jedem der Orte, die ich Ihnen genannt habe auch so eine Person wie mich finden.« Sie lächelte ihn an.

Georg lachte. »Schönen Dank für die Aussicht. Es wäre mir nicht unangenehm, ihre Kolleginnen kennenzulernen, natürlich nur wenn sie so nett wären wie sie. Abgesehen davon, ist es dann doch zu viel Aufwand oder ich komme tatsächlich in ein paar Jahren wieder, wenn sich der Datenbestand verbessert hat.«

»Ich würde mich zumindest freuen, sie hier wiederzusehen”, sagte sie kess. »Sie können ja jedes Jahr einmal vorbeischauen und wir sehen gemeinsam nach, wie weit die Datenerfassung vorangeschritten ist.«

Georg lächelte. Er hatte die Anspielung schon verstanden.

»Ich werde gerne darauf zurückkommen«, sagte er gespielt ernst, »aber vorher möchte ich mich noch bei Ihnen bedanken, für ihren Einsatz und ihre Mühen.« Er sah auf die Uhr. »Können sie jetzt gleich ihre Mittagspause nehmen? Ich möchte sie gerne einladen. Es soll auch keine Bestechung sein.«

Sie sah ihn verlegen an. »Da muss ich erst in den Richtlinien nachsehen, ob ich das überhaupt annehmen darf«, sagte sie und musste gleich lachen.

»In spätestens einer Stunde wären wir wieder zurück.«

»Ich denke wir haben Glück«, erklärte sie. »Wenn mein Chef heute hier wäre, könnte ich mich nicht so davon machen. Ich muss nur noch den Kollegen Bescheid geben. Wollen wir denn sofort los?«

Georg nickte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Sie erhoben sich von ihren Plätzen. Der Besprechungsraum hatte noch einen zweiten Ausgang, der wohl in den nichtöffentlichen Bereich des Rathauses führte, dorthin, wo die Angestellten ihre Büros hatten. Liane ließ ihn wieder aus der Tür heraus, durch die er gekommen war. Sie verließ den Besprechungsraum durch den zweiten Ausgang. Sie freute sich über die Einladung. Um diese Zeit war ohnehin immer nur ein Schalter geöffnet und sie hatte erst wieder am Nachmittag Dienst mit Publikumsverkehr. Ihren beiden Kollegen teilte sie mit, dass sie die Mittagspause jetzt sofort nehmen würde, weil sie mit einem Freund verabredet sei. Georg wartete im Schalterraum, bis sie schließlich im Mantel erschien. Sie war wieder durch das Besprechungszimmer gekommen. Die Tür schloss sie hinter sich ab. Gemeinsam gingen sie zu Georgs Wagen. Mit der Fernbedienung öffnete er die Zentralverriegelung und hielt Liane die Beifahrertür geöffnet, damit sie einsteigen konnte. Er ging um den Wagen herum, setzte sich auf den Fahrersitz, schloss die Tür und sah sie an.

»Sie dürfen einen Vorschlag machen.«

»Ich habe damit gerechnet, dass sie mich das fragen würden. Ich habe mir auch schon etwas überlegt. Fahren sie erst einmal aus der Innenstadt heraus.«

*

Georg setzte Liane DeFoube genau nach einer Stunde wieder vor dem Rathaus von Redon ab. Er sah ihr noch nach, wie sie das Gebäude durch den Seiteneingang betrat. Dann ging er über die Straße zu einem Imbiss. Der Laden war wie ein kleiner Supermarkt. Georg nahm das Nötigste mit, so dass er auch in Nantes nicht einkaufen gehen musste und für den Abend versorgt war. Als er fast wieder seinen Wagen erreicht hatte, klingelte sein Handy. Der Pfarrer hatte es nicht zum ersten Mal probiert. Georg hatte sein Handy ausgeschaltet, als er mit Liane in dem Waldcafé zum Essen war. Auf die Mailbox wollte der Pfarrer allerdings nicht sprechen und so hatte er es bis jetzt mehrfach wieder versucht. Georg öffnete noch die Wagentür und stellte die Einkaufstüte auf die Rückbank, bevor er an das Handy ging.

»Staffa«, meldete er sich, in Erwartung mit einem seiner Mitarbeiter aus der Kanzlei in München zu sprechen.

»Hallo, hier spricht Pater Edmond von Saint-Eutrope«, sagte der Pfarrer mit seiner ruhigen, sanften Stimme.

Georg dachte kurz nach. »Hallo Pater, ich habe nicht damit gerechnet, so schnell wieder von Ihnen zu hören.«

Der Pater räusperte sich »Ich hatte Ihnen doch versprochen, nachzusehen, ob ich noch etwas über die Verstorbene finde, mein Sohn. In den Unterlagen der Friedhofsverwaltung selbst gab es nichts, aber die Nummer auf dem Grabstein, nach der ich gesehen habe. Der Stein stammt aus der Werkstatt von Torre Bruel, wie ich Ihnen ja schon gesagt habe.«

»Torre Bruel, natürlich, sie haben mir von ihm erzählt, von dem Steinmetz aus Norwegen.«

»Ja genau«, bestätigte der Pfarrer. »Torre Bruel hat sich 1959 in Redon angesiedelt. Er ist verheiratet mit Joséfine, sie stammt aus Redon und er aus Norwegen. Torre lebt seither in Frankreich. Wie gesagt seit 1959. Den Stein hat er gemacht. Ich habe ihn angerufen und gefragt. Ich habe ihm die Nummer durchgegeben, die auf dem Stein steht. Er hat ihn gemacht, verstehen sie. Ich hatte erst angenommen, Torre Bruel hätte den Grabstein vielleicht repariert. So etwas haben wir schon öfter bei ihm in Auftrag gegeben. In diesem Fall war es aber anders. Torre hat den Stein ganz neu angefertigt. Das war 1961, nachdem, was er in seinen Büchern gefunden hat. Alles Weitere sollten sie sich selbst von Torre erzählen lassen, wenn sie Interesse haben. Seine Anschrift lautet: 61 Rue Gallor, in Redon.«

»Danke«, sagte Georg. Er öffnete mit der freien Hand die Fahrertür seines Mietwagens und setzte sich vor das Lenkrad. Er beugte sich hinüber zum Handschuhfach und holte Block und Kugelschreiber heraus.

»Bitte nennen sie mir die Straße noch einmal, damit ich mitschreiben kann«, bat er den Pfarrer.

Pater Edmond wiederholte die Angaben. »Das Grab von Yvette Jasoline wurde 1938 angelegt, der Grabstein aber erst 1961 aufgestellt«, fasste er noch einmal zusammen.

»Und jetzt stellt sich natürlich die Frage, wer den Auftrag dazu erteilt hat«, folgerte Georg.

»Ja«, sagte der Pater. »ich denke, sie sollten mit Torre sprechen. Sie wollten doch wissen, ob jemand von den Angehörigen das Grab pflegt. Vielleicht sind es dieselben Leute, die den Grabstein beauftragt haben.«

»Das könnte natürlich sein.« Georg sah auf die Uhr. »Ich habe noch Zeit, ich könnte ihren Torre Bruel besuchen. Vielleicht können sie mir helfen. Ich stehe derzeit vor dem Rathaus in Redon. Können sie mir sagen wie ich von dort in die Rue Gallor komme?«

Der Pfarrer überlegte und es wurde für einige Sekunden still. »Suchen sie bitte nach einer Straße, nach der Rue Manor. Sie muss von dem Kreisverkehr abgehen, der sich direkt vor dem Rathausplatz befindet. Wenn sie sie gefunden haben, fahren sie bitte stadtauswärts. Die Rue Gallor geht rechts von der Rue Manor ab. Sie müssen nur nach den Namen der Querstraßen sehen, es sind nicht viele. Sie finden es schnell.«

Georg machte sich keine weiteren Notizen. Die Wegbeschreibung war einfach. »Ich danke Ihnen Pater.«

»Grüßen sie bitte Torre von mir, mein Sohn«, sagte der Pfarrer noch und verabschiedete sich dann.

Georg steckte das Handy zurück in sein Jackett und zog die Fahrertür zu. Er fuhr wie beschrieben in den Kreisverkehr. Die Rui Manor war gleich die erste Ausfahrt. Er folgte der Straße gut drei Kilometer, bis er die Rue Gallor gefunden hatte. Torre Bruels Werkstatt lag etwas außerhalb des Zentrums. Er war blond mit einigen grauen Haaren und er war groß, so wie man sich einen Norweger vorstellte. Er sprach französisch mit hörbarem Akzent. In der Werkstatt arbeiteten noch zwei weitere Männer und eine Frau. Er hatte sogar einen Lehrling, einen dünnen, schlaksigen Kerl, der sich anscheinend erst noch die Muskeln anarbeiten musste, die er für sein Handwerk benötigte. Die beiden anderen Männer und auch die Frau waren Gesellen. Sie meißelten an Steinen oder bauten Modelle zur Rekonstruktion von Fassaden und Stuckwerk. Der Pfarrer hatte Georg bereits angekündigt. Torre Bruel nahm ihn sofort mit in ein staubiges Büro, in das das Hämmern aus der Werkstatt nur schwach drang. Auf dem Schreibtisch lag noch der Aktenordner, den der Steinmetz beim Anruf des Pfarrers aus einem Schrank gezogen hatte, um nach der Nummer des Grabsteins zu suchen.

»Es war guter Marmor, damals genauso teuer wie heute«, erklärte Torre Bruel. Er bot Georg einen Stuhl an und sie setzten sich nebeneinander.

»Die Inschrift kostete insgesamt nicht so viel, es waren ja nur der Name und das Datum. Ein solcher Stein wird in der Regel mit einem Spruch versehen, hundertzehn Francs pro Buchstabe, die kleineren kosten sogar hundertdreißig. Aber das habe ich bei diesem Auftrag nicht gemacht. Ich denke der Auftraggeber wollte es nicht.«

Georg sah auf das leicht vergilbte maschinengeschriebene Blatt, dass ziemlich am Anfang des Ordners eingeheftet war. Seine Augen suchten nach dem Auftraggeber. Auf der ersten Seite standen aber nur die Daten, die für die Fertigung des Steines benötigt wurden.

»Und wer war der Auftraggeber?«, fragte er schließlich.

Torre Bruel blätterte um. Die Rückseite war ebenfalls beschrieben und sollte wohl eigentlich die erste Seite sein. Der Auftrag war lediglich falsch herum eingeheftet worden. Die Adresse war handschriftlich eingetragen und nicht mit der Maschine getippt, wie die Angabe für die Inschrift des Grabsteines. Den Namen konnte Georg aber dennoch sofort entziffern.

Torre Bruel beugte sich über das Blatt. »Den Auftrag habe ich am 3. November 1961 erhalten. Als Auftraggeber habe ich mir den Namen Pallet notiert, mit einer Pariser Adresse, und zwar in der 88 Rue Mandar.« Er überlegte. »Paris«, wiederholte er. »Ich habe eigentlich keine Kunden aus Paris und ich kann mich auch nicht an einen Monsieur Pallet erinnern. Ist eben schon lange her.«

»Es ist kein Monsieur«, sagte Georg. Es lag ein wenig Enttäuschung in seiner Stimme. »Sie müssen damals mit einer Frau telefoniert haben, mit einer Madame Pallet, Madame Thérèse Pallet.«

Georg dachte sofort, dass ihm auch der Besuch bei dem Steinmetz keine neuen Informationen gebracht hatte. Es war wirklich schade. Er hatte gehofft, dass weitere Namen der Familie Jasoline auf dem Auftrag notiert wären, Namen mit noch lebenden Nachfahren, Leuten, mit denen man sprechen konnte, über die Familiengeschichte sprechen konnte, über Paul Gauguin und über ein Portrait, ein Ölgemälde, von der die Großmutter oder Urgroßmutter gesprochen hatte.

Torre Bruel stellte fest, dass Georg in Gedanken war. Der Steinmetz sah ihn eindringlich an. »Sie kennen die Dame?«

»Ich kenne nur ihren Namen und weiß, dass sie die Tochter der Verstorbenen war«, erklärte Georg.

»Na gut, Madame Pallet, aus Paris«, sinnierte Torre Bruel. Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich trotzdem nicht erinnern.«

»Was haben sie da noch notiert, da unten auf dem Blatt?«, fragte Georg und zeigte auf drei engbeschriebene Zeilen am unteren Rand des Auftragsformulars.

Torre Bruel beugte sich wieder über das Blatt und las sich seine eignen Notizen durch, die er vor mehr als dreißig Jahren geschrieben hatte.

»Ich glaube jetzt dämmert es mir«, sagte er. »Also, ich habe mir notiert, dass ich den Stein aufstellen sollte, sobald er fertig ist. Der Auftraggeber, also diese Madame Pallet wollte dann irgendwann nach Allaire kommen und sich alles ansehen. Eigentlich ungewöhnlich.«

»Was ist daran ungewöhnlich?«, fragte Georg.

Torre Bruel blickte ihn an. »So ein Stein mit Gravur ist immer etwas Besonderes, kein Massenprodukt. Fast jeder Kunde kommt hier zu mir in die Werkstatt und sieht sich das Ergebnis an, bevor ich den Stein aufstelle und dann wird bezahlt, wenn die Arbeit in Ordnung ist. Oft wollen die Kunden auch noch Änderungen, zum Beispiel noch ein Relief oder eine Erweiterung der Inschrift, wenn das möglich ist.«

»Und Madame Pallet hat sich den Grabstein erst angesehen, als er schon auf dem Friedhof aufgestellt war?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube, dass ich Madame Pallet nie kennengelernt habe. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie nur ein einziges Mal angerufen hat. Sie musste sich vorher recht gut informiert haben. Sie kannte wohl die Standardgrößen für die Grabsteine und hatte sich ein Format ausgesucht und natürlich auch das Material des Steins. In der Regel muss ich meinen Kunden das Material und alles erst zeigen, damit sie sich etwas aussuchen. Es kann natürlich auch sein, dass ich ihr den Vorschlag gemacht habe, was sie nehmen soll, nur dann hätte ich ihr bestimmt etwas Teureres angeboten, schon wegen der Qualität.« Er überlegte noch einmal. »Nein, ich bin mir sicher, es lief alles telefonisch.«

»Und als der Stein fertig war, haben sie da noch einmal mit ihr gesprochen?«

Er schüttelte zögernd den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«

Er starrte auf den Ordner und überlegte. »Sie hat mir das Geld per Post überwiesen, ja genau, so wird es gewesen sein. Weil der Auftrag telefonisch vereinbart wurde, habe ich noch gewartet, bis das Geld eingetroffen war, dann habe ich losgelegt. In der Regel brauchen wir zehn Tage, dann steht der Stein. So werde ich es mit ihr vereinbart haben. Wenn ich mir das Datum so ansehe, bis das Geld da war und wir mit der Arbeit begonnen haben, war bestimmt schon Mitte November. Ja, ich glaube mich zu erinnern, dass ich den Stein noch kurz vor dem ersten Advent aufgestellt habe. Ich weiß, dass wir an dem Tag auch Grabgestecke verteilt haben, meine Frau hat früher solche Sachen gemacht, wissen sie, heute lohnt es nicht mehr. Jedenfalls habe ich von Madame Pallet danach nie wieder etwas gehört, nicht einmal, ob ihr der Stein gefallen hat.«

»Aber sie erinnern sich an das Gespräch mit ihr, als sie Ihnen den Auftrag erteilt hat?«, fragte Georg.

Torre Bruel zuckte mit den Schultern. »Was heißt erinnern. Wenn ich mir meine Notiz so ansehe, dann muss es so gewesen sein. Es fehlt ja auch die Quittung, dass alles in Ordnung war. Ich notiere es mir eigentlich immer, wenn der Kunde zufrieden war, oder es Ärger gab. Auf dem Auftrag steht aber weder das eine noch das andere. Also, an das Gespräch selbst kann ich mich nicht mehr erinnern.«

Georg überlegte, ob es noch etwas gab, das er fragen konnte. Eigentlich konnte ihn die Information, die er hier erhalten hatte, nicht weiterbringen. Wenn Thérèse Pallet sich den Grabstein angesehen hätte, wenn sie mit noch anderen Mitgliedern der Familie Jasoline oder Pallet nach Allaire gekommen wäre und wenn sich Torre Bruel an die Leute und vor allem an deren Namen erinnert hätte, aber auch das war nicht der Fall. Es gab einfach nichts Neues. Die beiden Männer saßen fast eine Minute schweigend nebeneinander. Georg berührte noch einmal das Papier, auf dem der Auftrag geschrieben stand.

»Können sie mir das kopieren?«, sagte er schließlich.

»Ich habe keinen Kopierer«, stellte Torre Bruel fest.

»Und wie sieht es mit einem Faxgerät aus?«

Der Steinmetz nickte. Er öffnete die Bindung des Ordners und zog das Papier heraus. Georg gab ihm seine Visitenkarte und zeigte ihm die Faxnummer darauf. Das Faxgerät war einfach. Torre Bruel fummelte daran herum und schickte die Vorder- und Rückseite des Auftrages in zwei getrennten Faxen. Georg hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Der Steinmetz setzte sich schließlich wieder neben ihn und heftete den Auftrag zurück in den Ordner.

»Als sie den Stein gesetzt haben, mit was war das Grab vorher gekennzeichnet, stand da bereits ein Stein?«

»Nein, sicherlich kein Stein, es wird ein schwarz lackiertes Stahlkreuz gewesen sein«, antwortete er sofort.

»Warum wissen sie das so genau?«, fragte Georg überrascht.

»Ich weiß es nicht, ich vermute es nur. Auf dem Feld, wo das Grab liegt, gibt es eigentlich sonst keine Steine. Es muss also eines der Armenkreuze gewesen sein.«

Jetzt erinnerte sich Georg daran, was ihm am Grab von Yvette Jasoline aufgefallen war, die anderen Gräber auf dem Feld trugen nur diese Metallkreuze.

»Was heißt Armenkreuz?«, fragte er.

»Ach, das ist so ein Ausdruck von mir«, erklärte Torre Bruel. »Wer das Geld hat, nimmt immer einen Stein. Die von der Gemeinde gestellten Stahlkreuze kosten die Angehörigen nichts, darum eben Armenkreuze.«

Georg verstand nicht. »Und was ist an dem Feld anders als auf dem Rest des Friedhofs?«

»Es ist eigentlich das Feld der Anonymen«, sagte Torre Bruel. »Fast keines der Kreuze trägt einen Namen, wohl weil die Toten unbekannt sind.«

»Dann hatte das Grab von Yvette Jasoline ebenfalls keinen Namen?«

Torre Bruel stutzte. Er überlegte. »Ich weiß es nicht«, sagte er und nahm den gesamten Ordner hoch, um auf dem Auftragsblatt nach etwas zu suchen.

»Sie kannte die Nummer des Grabes«, erklärte er schließlich. »Ich habe das Grab an Hand seiner Nummer gefunden und konnte den Stein dann aufstellen.«

»Aber sie wissen nicht mehr, ob Yvette Jasoline Anfangs anonym begraben war?«, fragte Georg.

Der Steinmetz schüttelte den Kopf. »Es ist doch auch egal, sie hat seit langem einen schönen Stein, mit ihrem Namen und das ist doch, was zählt.«

Georg lächelte ihn an. »Sicher haben sie Recht. Ich danke Ihnen auf jeden Fall für die Auskunft und der Stein ist wirklich sehr schön, selbst noch nach so vielen Jahren.«

Sie standen beide auf, verließen das Büro und gingen zurück in die Werkstatt, in der es jetzt etwas stiller war. Torre Breul brachte Georg noch zu seinem Wagen und sah ihm nach, wie er vom Hof fuhr.