FÜNFUNDZWANZIG
»Da wären wir«, sagte Marjorie, als wir ins Haus traten. »Geht einfach durch und macht es euch gemütlich.« Sie deutete auf das Wohnzimmer, in dem ein rosa Sofa vor dem Feuer stand, auf den Seitenlehnen lagen gelbe Spitzendeckchen. Davor köchelte etwas in einem Topf und erfüllte den ganzen Raum mit dem Duft wilder Beeren.
Ich bedeutete Arden und Lark mit einer Handbewegung, ins Haus einzutreten. »Alles ist gut«, flüsterte ich, als Marjorie die Pistolen auf den Küchentisch legte. »Wir sind in Sicherheit.«
»Otis!«, rief Marjorie die Treppe hinauf. »Otis!« Sie hielt sich den Hals beim Schreien, jedes Wort schien sie anzustrengen. »Tut mir leid«, sagte sie mit einem Blick auf uns. »Wisst ihr, Hörgeräte sind heutzutage nicht aufzutreiben.«
»Warum sind wir im Haus dieser verrückten Frau?«, flüsterte mir Arden zu, als wir uns auf dem Sofa niederließen. Sie drückte auf ihren Arm, der von der Schulter bis zum Ellbogen aufgeschrammt war, die helle Innenseite war rußverschmiert.
»Diese verrückte Frau hat mir das Leben gerettet.« Ich hatte zwanzig Minuten lang in den Wald gerufen, bis Arden und Lark sich schließlich gezeigt hatten. Sie hatten gefürchtet, Fletcher würde ihnen eine Falle stellen. Unter Marjories Führung waren wir zu dem schindelgedeckten Haus im Wald gelaufen, in dem nur eine Laterne im Fenster brannte. Es war das Licht, das ich gesehen hatte, als ich vor Fletcher davonrannte.
Marjorie hantierte in der Küche herum und nahm einen Tellerstapel in die Hand.
»Es ist schön hier«, stellte Lark fest. Ihr Gesicht war noch immer feucht und ihr Kittel voll roter Schlammflecken. »Es gefällt mir.«
Das Sofa sah bequem aus und die hübschen Kissen rochen im Gegensatz zu den meisten Polstern nach der Epidemie nicht nach Schimmel. Feine Teetassen – keine davon angeschlagen – standen in einer Vitrine neben Porzellanfiguren, die Kinder zeigten, die miteinander tanzten und durch ein Teleskop spähten. Den langen Esstisch auf der anderen Seite des Küchentresens schmückte eine Silberschale mit roten, gelben und grünen Tomaten.
Ich dachte an das begehrteste Bilderbuch in der Schulbibliothek, das von einem kleinen Mädchen namens Nancy handelte, das Tutus besaß und Haarspangen und all die anderen Luxusgegenstände, die es in der Schule nicht gab. Als wir klein waren, hatten Pip, Ruby und ich uns zusammen ins Bett gekuschelt und uns vorgelesen, wie ihre Familie einen Ausflug zu einer Eisdiele machte, und blieben immer bei der Stelle hängen, in der sie ihre Eltern fein macht, ihrem Vater die Brille aufsetzt und ihrer Mutter die Nägel poliert. Am besten hatte mir immer ihr Haus gefallen, das gigantische Sofa, auf das sie sich alle fallen ließen, die Pflanzen auf den Tischen, die Kommode, die von Kleidern und Spielsachen überzuquellen schien. Es war ein richtiges Zuhause, mit gestrichenen Wänden und passenden Möbeln. So wie hier.
Auf dem Kamin aus Ziegelsteinen standen gerahmte Fotos. Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigte ein kleines Mädchen mit karierter Schürze. Ein anderes einen Jungen in einem weißen Anzug mit einer Blume im Knopfloch. Außerdem gab es ein Foto von einem jungen Paar in hochgeschnittenen Hosen, das sich im Arm hielt. Die Hand der blonden Frau, die nur wenig älter war als ich, lag auf dem Herzen des Mannes.
Sofort musste ich an Caleb denken, der irgendwo dort draußen war und an seine Version der Geschichte glaubte. Er hatte mich in Erinnerung, wie ich seine Hand abgeschüttelt hatte, wie unsicher ich auf seine Frage nach Leif geantwortet hatte. Er war ohne mich dort draußen.
»Wie ich sehe, haben wir Besuch.« Ein silberhaariger Mann kam die Treppe herunter, dabei zog er ein Bein mit großer Mühe nach. Er war sogar noch älter als Marjorie, sein Flanellhemd war locker in die Hose gestopft, die an den Knien weiß wirkte, weil der braune Stoff dünn und fadenscheinig war. Lark betrachtete ihn erschrocken und mir wurde klar, dass ich vor ein paar Wochen genauso reagiert hätte. Nachdem ich so viel Zeit mit Caleb verbracht hatte, hinter ihm auf dem Pferd geritten und mit ihm durch den Wald gelaufen war, hatte ich meine frühere Angst mittlerweile überwunden.
Marjorie kniete sich neben das Feuer und tat auf jeden Teller einige Löffel Beeren. »Ich habe die Mädchen im Wald gefunden. Irgendein Wilder wollte sie umbringen.« Sie starrte Otis einen Augenblick zu lange an. In ihren Worten lag irgendeine geheime Botschaft.
»Was habt ihr hier draußen gemacht?« Otis zog einen Stuhl vom Esstisch heran, wobei die Stuhlbeine über den Holzboden kratzten, und setzte sich zu uns.
Larks Augen füllten sich mit Tränen. »Dieser Mann, Fletcher, hat uns eingefangen. Er wollte uns irgendwohin bringen, wo wir verkauft werden sollten.« Als sie das sagte, schob sie die dicken schwarzen Haare hinter die Ohren, ihre Finger zitterten leicht.
»Wir kommen aus den Schulen«, fügte Arden hinzu. »Wir sind geflohen.«
Marjorie reichte mir einen Teller mit dampfenden Beeren und ich sog den kräftigen Geruch ein. Auf den Rand des Porzellantellers waren winzige rote Rosen gemalt. Es war ein willkommener Kontrast zu den Metallschalen, aus denen wir in der Schule gegessen hatten, und den selbst geschnitzten Holznäpfen, die uns Caleb im Höhlencamp gegeben hatte. »Wie lange seid ihr schon unterwegs?«, wollte Marjorie wissen.
»Seit vier Tagen«, antwortete Lark.
Marjorie deutete auf Arden und mich.
Ich schluckte die Beeren herunter. »Ich bin nicht sicher … ein paar Wochen.«
»Ja«, sagte Marjorie. »Es ist nicht einfach, ein Gefühl für die Zeit zu behalten, wenn man ganz allein hier draußen lebt.« Während sie sprach, wanderte ihr Blick wieder zu Otis. »Und wo wollt ihr hin?«
Arden warf mir einen Seitenblick zu und schwieg. Ich deutete mit der Schulter ein schwaches Schulterzucken an. Es war gefährlich, irgendjemandem hier draußen in der Wildnis zu trauen, aber Marjorie hatte mir gerade das Leben gerettet. »Wir wollten immer der 80 folgen, bis wir zu einem Ort namens Califia kommen«, sagte Arden und stocherte mit der Gabel in ihrem Essen herum,
»Kluge Mädchen«, sagte Otis. Als er sich auf dem Stuhl vorbeugte, rutschten seine Hosenbeine über die Knöchel und man sah, dass sein rechtes Bein aus Holz war. Ich starrte auf die leichte Maserung, den grob geschnitzten Winkel, der den Knöchel bildete und als langer Keil in seinen Schuh hineinreichte. Es sah aus, als wäre das Bein aus einem abgebrochenen Ast gefertigt worden. »Und wie wollt ihr es dorthin schaffen?«
»Wir sind von der Straße abgekommen«, erwiderte ich. »Ich habe keine Ahnung.«
Lark schaufelte halb verhungert die Beeren in den Mund.
Marjorie tauschte einen weiteren Blick mit Otis. Dann stand sie auf und ging langsam zur Laterne im Fenster. Sie nahm sie hoch und blies das Licht aus. »Aber ich.«
Ich sah auf die Regale hinter ihr, auf denen ein schwarzes Funkgerät aus Metall stand, daneben lag ein Sprechgerät.
»Der Pfad«, sagte ich laut und zu niemandem speziell.
Otis deutete zu Boden. »Richtig, du stehst genau darauf.«
»Was heißt das?«, fragte Arden. Sie stellte den Teller auf ihren Schoß, die Gabel klirrte gegen das Porzellan. Als wir in Pauls Zimmer gewesen waren, hatte ich ihr vom Pfad erzählt, aber in ihrem Fieberwahn hatte sie den Namen offenbar vergessen.
Marjorie stellte sich vor uns und verschränkte ihre faltigen Hände. »Das ist ein sicheres Haus, eine der Zwischenstationen zwischen mehreren Höhlencamps und Califia. Wir helfen Waisen, dem Regime des Königs zu entkommen.«
Lark starrte auf die Kerze in der Laterne, deren schwarzer Docht qualmte. »Aber was ist mit den Soldaten? Wissen die nicht, dass Sie hier sind?« Sie schlang die dünnen Arme um den Oberkörper und umarmte sich selbst.
»Sie sind immer misstrauisch«, erklärte ihr Otis. »Immer wieder kommen sie mit ihren Jeeps vorbei, stellen uns Fragen oder durchsuchen das Haus. Doch solange sie uns nicht etwas Verbotenes nachweisen können, haben sie keine großen Möglichkeiten. Wir haben eine Erlaubnis, außerhalb der Stadt aus Sand zu leben.«
»Erlaubnis?«, fragte ich. Ich hatte schon früher von Streunern gehört, natürlich, aber das waren Lumpensammler, ziellose Wanderer. Für mich waren sie gleichbedeutend mit denen, die man in alten Büchern als »obdachlos« bezeichnete. Ich verband kein Bild von Menschen damit, die in Häusern lebten – und ein Zuhause wie dieses hier hatten.
Otis zupfte ein Hosenbein nach unten und bedeckte das Holzbein. »Es ist ein langer Weg und nur wenige entscheiden sich ohne guten Grund, ihn durchzustehen. Aber wir sind alt und in der Stadt aus Sand haben sie keine Verwendung für uns. Meistens lassen sie uns in Frieden.«
Lark knabberte an ihrem Finger. Das Feuer hatte ihre Wangen erwärmt und die Schönheit ihres runden weichen Gesichts zum Vorschein gebracht. »Was würden die Soldaten tun, wenn sie wüssten, dass Sie uns helfen?«
»Sie würden uns umbringen«, lautete Marjories trockene Antwort. Sie sah auf die brennenden Holzscheite. Sie knisterten, ihre verkohlten Überreste bewegten sich im Feuer. »Der König duldet keine Opposition. Sehr viele sind spurlos aus der Stadt verschwunden. Ein Bürger, der für den Pfad arbeitete, ein Mann namens Wallace, hat aus Versehen einem Spitzel von unserer Organisation erzählt. Innerhalb einer Woche war er verschwunden. Nach den Worten seiner Frau haben sie ihn einfach aus dem Bett geholt und Gott allein weiß, wohin sie ihn verschleppt haben.«
Meine Zunge kringelte sich wie eine vertrocknete Schlange in meinem Mund. Ich hatte so oft von dieser Stadt geträumt, den sauberen schiefergrauen Straßen, den künstlich angelegten Stränden, wo Frauen mit ihren Büchern unter Schirmen saßen. Warum hatte ich diesen Lügen so lange Glauben geschenkt?
»Ihr bleibt ein paar Tage bei uns«, erklärte Otis. »Dann bringen wir euch zu einem anderen sicheren Haus. Man erkennt sie an der Laterne im Fenster – ist sie angezündet, können sie euch aufnehmen.«
Lark knabberte weiter an ihren Fingern und riss die Haut ab, bis es blutete. »Aber wenn sie uns kriegen, bringen sie uns um – das haben Sie selbst gesagt.«
Marjorie schob eine Strähne ihres dicken weißen Haars in ihren Zopf. Die Schatten tanzten im Schein des Feuers, ihr Gesichtsausdruck war unverändert. »Vor fast zweihundert Jahren führte Harriet Tubman Sklaven in die Freiheit. Und wenn sie ihr erzählten, dass sie sich nicht trauten, wenn sie erklärten, sie hätten zu viel Angst, dann richtete sie eine Pistole auf sie und sagte –«, Marjorie tat, als hielte sie eine Waffe, »– wagt den Schritt oder der Tod ist euch gewiss.«
Otis legte seine Hand auf Marjories und drückte die unsichtbare Waffe nach unten. Anschließend drehte er sich mit zusammengekniffenen Augen zu uns. Rings um seine Augen bildeten sich Fältchen. »Sie will damit nur sagen, dass Angst keine Option mehr ist, denn genau darauf baut das Regime des Königs: auf die Annahme, dass wir alle zu viel Angst haben, anders zu leben.«
Ich erinnerte mich an das Gefühl, als ich an der Mauer gestanden hatte. So viel ich auch wusste, so viel ich auch in dem grauenvollen Gebäude auf der anderen Seite des Sees herausgefunden hatte, irgendetwas hatte mich zurückgehalten. Ich hörte einen Chor von Schülerinnen, der über Hunde und Banden in der Wildnis flüsterte. Ich hörte das gleichförmige Trommeln der knotigen Finger von Schulleiterin Burns auf dem Tisch, wenn sie mich drängte, meine Vitamine zu schlucken. Die Lehrerinnen verstärkten die Melodie mit ihren Tiraden über Männer, die Frauen durch ein schlichtes Lächeln manipulieren konnten. Meine Vergangenheit hatte sich auf einmal zu einem vielstimmigen verführerischen Lied versammelt, das mir einredete, nicht zu gehen.
»Ihr seid bestimmt müde«, sagte Marjorie schließlich. »Kommt, ich zeige euch euer Zimmer.« Während Otis die leeren Teller zusammenstellte, stand sie auf und führte uns die schmale Holztreppe hinunter. Unter dem Haus befand sich ein Keller, in dem Stühle und Kisten aufgestapelt waren, weiterhin gab es eine ramponierte graue Maschine mit Tasten und ein paar wasserfleckige Zeitungen.
Ich hob die Zeitung auf, die auf dem Stapel zuoberst lag – The New York Times. Das Titelbild zeigte eine Frau, die die Hand über eine Barrikade streckte, ihr Mund war aufgerissen, als stieße sie einen Klageschrei aus. Im Herzen der Krise, Barrikaden trennen Familie, lautete die Überschrift. Die Lehrerin hatte uns von dieser Stadt erzählt, die Epidemie befiel ganze Wohnblocks und man befestigte Vorhängeschlösser an den Türen, damit niemand mehr herauskam.
»Hier?«, fragte Arden und deutete auf eine mitgenommene Couch in der Ecke.
Aber Marjorie ging auf die andere Seite des Raums und öffnete die Türen eines Wandschranks. Sie nahm Konservendose für Konservendose vom Regal, schließlich entfernte sie das mittlere Brett. »Genauer gesagt«, meinte sie und wischte dabei Spinnweben zur Seite, »hier.«
Sie zündete eine Laterne an und leuchtete damit in ein verstecktes Zimmer. An den Wänden standen zwei Etagenbetten und in der Ecke befand sich ein Metallbecken. Die Wände bestanden aus ungestrichenem Lehm, auf dem Erdboden lag eine dünne graue Matte. Es erinnerte mich an die in die Erde geschlagenen Zimmer im Höhlencamp der Jungen. »Es ist sicherer, falls die Truppen in der Nacht überraschend auftauchen. Wenn ihr um die Ecke geht, gibt es nach ungefähr hundert Metern eine Falltür, die in den Garten führt. Dort liegen auch Handtücher, ein paar Sachen zum Wechseln und auch einige Schuhe«, sagte sie mit einem Blick auf unsere nackten, schmutzigen Füße.
Arden kletterte durch den Vorratsraum und warf sich auf eines der unteren Betten. »Eigentlich ist es ziemlich geräumig«, meinte sie, als Lark ihr folgte.
Lark wechselte ihren zerrissenen Kittel gegen ein sauberes Nachthemd, bevor sie sich auf die Matratze fallen ließ und die dünne Steppdecke über sich zog. Sie schmiegte den Kopf auf das platt gelegene Kissen und schien zum ersten Mal ruhig, ihr Gesichtsausdruck entspannte sich, als sie einschlief.
Mein Bauch war mit Beeren gefüllt und mein Herz schlug wieder gleichmäßig. Wir waren noch immer auf der Flucht, immer noch in Gefahr, doch ich fühlte nicht mehr diese nackte Angst in mir. Ich sah in Marjories freundliches, faltendurchfurchtes Gesicht.
»Geh rein.« Sie deutete noch einmal auf den Wandschrank, ihre Kleider rochen nach Rauch, der Geruch hatte etwas tröstlich Vertrautes. »Hier passiert euch nichts – das verspreche ich dir.«
Ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich fiel ihr um den Hals und überließ mich der Wärme ihres Körpers. Bis auf die kurze Berührung, wenn sie uns die Hand auf den Rücken legten, um uns zum Essen zu schicken, oder wenn sie uns einen kurzen Klaps verpassten, weil wir während des Unterrichts aus dem Fenster starrten, hatten die Lehrerinnen uns nie angefasst. In jenem ersten Jahr hatte ich Lehrerin Agnes einmal angebettelt, mir die Haare zu kämmen. Ich hatte gekreischt, getreten und mit meinen kleinen Armen um mich geschlagen und meine Bürste auf das Porzellanwaschbecken geknallt. Lehrerin Agnes stand über eine Stunde mit den Händen in den Taschen daneben und rührte sich erst, als ich den Knoten selbst entwirrt hatte.
Langsam hoben sich Marjories Arme und sie drückte mich ebenfalls. Meine Hände pressten sich auf die harten Knochen auf ihrem Rücken. Ich spürte, wie winzig sie unter dem weiten Leinenhemd war. »Danke«, sagte ich und wiederholte es immer wieder, die Worte kamen mit jedem Mal leiser heraus. »Danke, danke, danke.«