13. Kapitel

Er sagte nichts, als sie am nächsten Morgen aufstanden, hastig ein aus Konzentraten bestehendes Frühstück hinunterschlangen und wieder in den düsteren Himmel aufstiegen. Die Sonne war eben aufgegangen; ihr diffuses Licht erhellte die Wolken und die Baumwipfel. Sie mussten diese Herde bald finden, das wusste er, weil die Ladung des Skimmers langsam zur Neige ging und damit auch die Möglichkeiten, die sie hatten. Er wusste nicht, wieviel Zeit Mutter Mastiff noch übrig hatte, ehe das sie ereilte, was ihr die Furcht bereitete, die er in ihr entdeckt hatte.

Vielleicht hatte das fehlende Tageslicht sie behindert, oder sie hatten die Stelle einfach übersehen, jedenfalls fanden sie diesmal die Herde in wenigen Minuten. Unter dem schwebenden Skimmer sahen sie eine Vielzahl kleiner obsidianfarbener Hügel. Schwarzes Haar flog in der Morgenbrise, dick und meterlang. Und wenn einer der Hügel sich im Schlaf bewegte, war jedesmal ein rotes Blitzen zu sehen, wie Rubine in einem Kohlenhaufen, wenn sich kurz ein Auge öffnete und wieder schloss.

Flinx zählte mehr als fünfzig ausgewachsene Tiere, zwischen denen etwa die gleiche Zahl an Heranwachsenden und Jungen verstreut war. Alle lagen auf dem feuchten Boden ausgestreckt, von der kleinen Baumgruppe, die sie sich als Lagerstätte ausgewählt hatten, etwas vor dem Regen geschützt.

Das waren also die sagenumwobenen Demichin Devilopen! - furchteinflößend und drohend, selbst jetzt, wo sie gesättigt im Schlaf dahindämmerten. Flinx Blick erfasste einen riesigen Bullen, der zwischen zwei hochragenden Hartholzbäumen vor sich hin schnarchte. Er schätzte seine Länge auf zehn Meter und seine Höhe auf knapp sechs. Ein erwachsener Mann hätte unter dem Tier durchgehen können und dabei kaum die unteren Spitzen des zottigen Haars berührt.

Der mit kräftigen Muskeln bepackte Hals verschwand zwischen einem Paar wuchtiger Buckelschultern und endete in einem alptraumhaften Schädel, aus dem ein paar gewaltige Hörner hervorragten. Einige Devilopen hatten nur zwei Hörner, andere bis zu neun. Die Hörner waren gebogen und verdreht, wenn auch die meisten nach vorne wiesen, aber keine zwei Tiere hatten genau dasselbe Gehörn. Die Augen waren von Knochenplatten geschützt, die von den Hörnern ausgingen.

Die Vorderbeine waren länger als die hinteren - für so massiv gebaute Säugetiere ungewöhnlich. Diese extreme Vordermuskulatur erlaubte es einer Devilope selbst einen ausgewachsenen Baum umzustoßen. Das erklärte die Spur der Verwüstung, die ihre Fressperioden zeichneten. Gewöhnlich pflegte eine Herde einen ganzen Waldabschnitt kahlzufressen und dabei die immergrünen Bäume umzuwerfen, um an die zarteren Äste und Nadeln weiter oben heranzukommen, wobei sie selbst die Rinde der Hauptstämme abrissen und auffraßen.

Die Devilopen regten sich im Schlaf, wobei sich ihre baumgroßen Beine schwerfällig bewegten.

»So werden die jetzt tagelang weiterschlafen«, erklärte Lauren, während sie langsam über der Herde kreisten. »Bis sie wieder hungrig werden, oder bis sie etwas unruhig macht. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, Wachen aufzustellen. Kein Raubtier mit einem Funken Verstand würde sich an eine Herde schlafender Devilopen heranmachen. Die Gefahr, dass sie aufwachen, ist zu groß.«

Flinx starrte das schwarze Gebirge aus Devilopen an. »Was machen wir mit ihnen?« Ganz zu schweigen davon, wie wir es machen, dachte er.

»Man kann sie weder zähmen noch treiben«, erklärte Lauren, »aber manchmal kann man sie ziehen. Wir müssen nur eine junge brünstige Kuh finden. Die Jahreszeit stimmt.«

Ihre Finger tanzten über die Kontrollen, und der Skimmer sank herab.

»Da sollen wir hinein?« Flinx deutete erschreckt auf die Herde.

»Da müssen wir hinein«, sagte sie. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. - Angst?«

Das kann man wohl sagen, dachte er, sagte aber nichts, während er atemlos zusah, wie der Skimmer zwischen die Baumwipfel tauchte. Lauren manövrierte vorsichtig und versuchte, möglichst wenig Zweige abzubrechen und möglichst wenig Lärm zu verursachen. »Was brauchen wir denn, wenn wir eine brünstige Kuh finden?«

»Moschusöl und Blut«, erklärte Lauren, während der Skimmer sanft aufsetzte.

Aus der Nähe war die Herde doppelt so eindrucksvoll: eine wogende Masse aus zottigem schwarzen Haar mit einzelnen mächtigen Hörnern dazwischen - das Ganze sah eher wie eine Landschaft aus der Hölle aus als wie eine Ansammlung gesättigter, schlaftrunkener Pflanzenfresser. Als Lauren den Motor abschaltete und die Kabinentür öffnete, schlugen Flinx ein durchdringender Geruch und die Atemgeräusche der Herde entgegen, ein dumpfes Röcheln und Schnauben. Der Atem der Erde, dachte er.

Lauren hielt ihren Bolzenkarabiner schussbereit, als sie sich zu Fuß auf die Herde zu bewegten. Flinx folgte ihr und versuchte sich einzureden, dass die schwarzen Klippen, die über ihnen aufragten, Basalt und nicht Fleisch waren.

»Da.« Sie deutete zwischen zwei träge atmenden Fleischbergen auf ein mittelgroßes Tier. Dann zielte sie sorgfältig und setzte drei Bolzen hinter den mächtigen Schädel. Die Kuh bewegte sich im Schlaf, hustete und dann entspannte sich der Schädel, der sich gerade gehoben hatte und sank wieder auf den Boden zurück. Flinx und Lauren hielten den Atem an, aber die kurze Episode hatte die unmittelbare Umgebung ihres Ziels nicht geweckt.

Lauren schritt furchtlos zwischen den zwei Fleischbergen durch, die so etwas wie eine lebende Schlucht bildeten, und nahm dann neben der betäubten Kuh ihren Rucksack ab. Ehe sie den Skimmer verlassen hatte, hatte sie sich einige Gegenstände aus den Vorräten eingepackt, die sie jetzt systematisch vor sich auf dem Boden auslegte, ehe sie ans Werk ging. Flinx sah interessiert zu, wie ein Messer und ihm unbekannte Werkzeuge ihre Arbeit verrichteten.

Ein Behälter füllte sich schnell mit Blut, ein zweiter mit einer grünen kristallinen Flüssigkeit. Laurens Gesicht wirkte verkniffen, und als das Aroma der grünen Flüssigkeit an Flinx Nase drang, wusste er auch, warum. Der Duft war überwältigender als irgend etwas, was seine Nase bisher wahrgenommen hatte. Zum Glück war es kein ekelerregender, nur ein überwältigender Geruch.

Hinter ihm ertönte plötzlich ein lautes, scharfes Grunzen. Er drehte sich um und starrte voller Schreck und Faszination in ein großes purpurrotes Auge. Eine geradezu absurd winzige schwarze Pupille schwamm in der Mitte der blutroten Scheibe. Dann sank das Augenlid wie ein Vorhang darüber. Flinx blieb wie erstarrt stehen.

»Schnell!« rief er hastig nach hinten. »Ich glaube, der da wacht auf.«

»Wir sind hier noch nicht fertig«, antwortete Lauren gelassen, verschloss die zweite Flasche und machte sich mit einem Schwachstromlaser ans Werk. »Ich muss zuerst die Wunden wieder verschließen.«

»Überlassen Sie das doch der Natur«, drängte er sie, ohne den Blick von dem Auge zu wenden, das ihn angeschaut hatte. Ein leichtes Zucken ging durch das Augenlid, und er fürchtete, dass es beim nächsten öffnen seine Umgebung voll wahrnehmen würde.

»Dazu kennen Sie mich doch zu gut«, erklärte sie fest. Flinx wartete, obwohl jede Faser seines Wesens schrie, sie solle sich beeilen. Schließlich sagte sie: »Das wäre geschafft. Wir können gehen.«

Sie eilten durch die Schluchten aus schwarzem Haar zurück. Flinx entspannte sich erst, als sie wieder in ihrem Skimmer Platz genommen hatten. Dann hatte er einige Mühe, Pip zu beruhigen; der hatte die Sorge seines Herrn gespürt und zuckte nervös.

Trotz des dichten Verschlusses war der Geruch aus der grünen Flasche noch immer überwältigend. Aus dem Blutbehälter war kein Geruch wahrzunehmen.

»Das Grüne ist das Öl«, erklärte sie. »Die geschlechtsreifen Weibchen sondern es während der Brunft ab.«

»Ich kann mir schon vorstellen, was Sie damit vorhaben«, meinte Flinx. »Aber warum das Blut?«

»Wenn man es draußen im Freien vergießen würde, dann würde das konzentrierte Öl ausreichen, um die Bullen der Herde zu interessieren. Aber wir müssen mehr erreichen als sie bloß interessieren. Wir müssen sie ein wenig wild machen. Und das schaffen wir nur, wenn wir sie davon überzeugen, dass eine hitzige Kuh in Gefahr ist. Darauf werden dann auch die anderen Tiere der Herde reagieren.« Sie machte sich mit den Chemikalien, die sie sich mitgebracht hatte, ans Werk.

»Sie sollten einmal miterleben, wenn die Bullen wach sind und kämpfen«, sagte sie zu ihm, während sie damit beschäftigt war, in einem verschlossenen Behälter Öl, Blut und verschiedene Katalysatoren zu mischen. Flinx beobachtete unterdessen beunruhigt die Herde. »Da erzittert der ganze Wald. Selbst die höchsten Bäume geraten ins Wanken. Wenn zwei dieser großen Bullen mit den Köpfen und ihren Hörnern gegeneinander prallen, dann hört man das kilometerweit.«

Fünf Minuten später hielt sie eine große Flasche hoch. »So, damit sollte es gehen. Pheromone und Blut und ein paar andere Nasenkitzler. Wenn sie das nicht anzieht, schaffen wir es mit gar nichts.«

»Die werden den Alarm auslösen, wenn sie den Schallzaun durchqueren«, erinnerte er sie.

»Ja, aber bis dahin werden die solche Berserker sein, dass nichts sie aufhalten kann. Dann ist es gleichgültig, was sie auslösen.« Sie lächelte boshaft, dann blickte sie ihn ernst an und sagte: »Meine einzige Sorge ist, dass wir Ihre Mutter finden müssen, ehe die sich über die Gebäude hermachen.«

»Ja, hoffentlich«, sagte Flinx.

»Das Durcheinander sollte ausreichen, um alles abzulenken«, fuhr sie fort. »Wenn sie nicht völlig unmenschlich sind, werden die Bewohner des Lagers an nichts anderes denken als daran, wie sie ihre eigene Haut retten.

Was die Rettung Ihrer Mutter betrifft, so können wir, glaube ich, annehmen, dass sie sich weder in dem Hangar noch in der Kraftwerksstation in dem Turm befindet. Bleiben also nur die beiden langen Bauten im Westen. Wenn wir da hineinkommen und sie herausholen, ehe ihre Bewacher begreifen, was vorgeht, dann sollten wir auch wegkommen, ehe einer bemerkt, was eigentlich passiert ist.

Denken Sie daran, wir werden die einzigen sein, die auf das vorbereitet sind, was dann passieren wird. Eine ganze Menge wird davon abhängen, wie diese Leute reagieren. Dumm sind die ganz offensichtlich nicht, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jemand so anpassungsfähig ist, um ruhig auf das zu reagieren, was ihnen bevorsteht. Außerdem habe ich keine bessere Idee.«

Flinx schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Aber ein Problem sehe ich. Wenn wir diese Herde davon überzeugen, dass sie einer verletzten brünstigen Devilope zu Hilfe eilen, werden wir auf dem Boden bleiben müssen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die dieser Witterung in der Luft folgen.«

»Ganz richtig, wir müssen auch darauf achten, dass wir möglichst glaubwürdig wirken. Das bedeutet, dass wir dicht an der Oberfläche bleiben müssen. Wenn wir in Baumwipfelhöhe fliegen, würde das nicht nur die Herde verwirren, sondern die Luftströmung würde auch die Witterung zu schnell nach oben tragen und sie verteilen.«

»Was passiert«, wollte Flinx wissen, »wenn diese Idee funktioniert und die Herde uns tatsächlich zu dem Camp folgt, wir aber gegen einen Baum stoßen oder abschmieren oder so etwas?«

Lauren zuckte die Achseln. »Können Sie klettern?«

»In Drallar gibt's nicht viele Bäume«, erklärte er, »aber ich habe ein paar Kletterpartien an Außenfassaden von Häusern hinter mir.«

»Falls der Skimmer abschmiert, werden Sie den Unterschied gar nicht merken«, versicherte sie ihm. »Das Motiv wird schon ausreichen, um einen guten Kletterer aus Ihnen zu machen. Wenn irgend etwas passiert, dann rennen Sie auf den größten Baum los, den Sie finden können!« Sie zögerte, sah ihn von der Seite an. »Wollen Sie ein wenig warten und darüber nachdenken?«

»Mit Reden vergeuden wir nur unsere Zeit«, erwiderte er. Er wusste, dass das Schicksal, das die Entführer für Mutter Mastiff geplant hatten, mit jeder Minute näher an sie heranrückte. »Ich bin jederzeit bereit.«

»Ich nicht«, sagte sie, »aber für das werde ich das wohl nie sein. Also können wir ebensogut anfangen.« Sie setzte sich in ihrem Pilotensessel zurecht und drückte einen Knopf. Der hintere Teil des Kabinendachs klappte nach oben.

»Steigen Sie nach hinten. Wenn ich Ihnen Bescheid sage, schrauben Sie die Flasche auf und gießen vielleicht ein Zehntel des Inhalts aus. Dann halten Sie sie nach hinten hinaus und schütten jedesmal, wenn ich es sage, etwa ein Zehntel aus. Ist das klar?«

»Ja, das ist klar«, versicherte er ihr mit mehr Zuversicht, als er tatsächlich empfand. »Sie lenken dieses Ding jetzt und sorgen dafür, dass wir nicht mit irgendwelchen Bäumen aneinandergeraten. «

»Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen.« Sie lächelte ihm noch einmal zu, ehe sie sich ihren Armaturen zuwandte.

Der Skimmer stieg auf, beschrieb einen Bogen und flog langsam wieder auf die schlaftrunkene Herde zu. Als sie etwa zehn Meter von dem ersten Tier entfernt waren, drehte Lauren die Maschine um hundertachtzig Grad und blieb in der Luft stehen. Sie studierte die Anzeige auf dem Bildschirm, die den Wald vor ihnen wiedergab.

Von der Herde war jetzt heftiges Grunzen und gelegentlich ein blökendes Geräusch zu hören, während Flinx die immer noch dicht verschlossene Flasche über das Heck des Skimmers hob. Er sah sich um, bis er ein Stück Stoff gefunden hatte; das band er sich über Mund und Nase.

»Daran hätte ich denken sollen«, murmelte sie mit einem Blick auf ihn. »Tut mir leid.«

»Wollen Sie auch eines?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin hier vorne, und der Wind trägt den Geruch weg von mir. Ich komme schon klar. Sind Sie soweit?« Ihre Hände umspannten das Steuer.

»Fertig«, sagte er. »Du auch, Pip?«

Die Flugschlange sagte nichts, zischte nicht einmal. Aber Flinx spürte, wie der Schlangenkörper sich erwartungsvoll um seinen linken Arm und seine Schulter spannte.

»Machen Sie auf und gießen Sie!« wies sie ihn an.

Flinx zog den Stopfen aus der Flasche, während Lauren den Skimmer langsam in Bewegung setzte. Trotz der improvisierten Maske und einer Brise war der Geruch geradezu betäubend. Tränen traten ihm in die Augen, und seine Atemwege rebellierten. Trotzdem schaffte er es irgendwie, die ihm übertragene Aufgabe zu erfüllen und ein Zehntel der Flüssigkeit abzulassen.

Jetzt ertönte aus ein paar mächtigen Kehlen ein heftiges, bösartiges Brüllen. Während der Skimmer zwischen himmelhohen Hartholzbäumen hindurchzog, die aufragten wie die Säulen einer Kathedrale, konnte Flinx sehen, wie einer der Bullen sich auf die Vorderbeine erhob. Er schien den Wald zu beherrschen, obwohl die Bäume sich über ihm auftürmten. Die blitzenden roten Augen waren jetzt ganz geöffnet, und die winzigen schwarzen Pupillen sahen wie Löcher in dem flammenden Rot aus.

Die Devilope kam vollends auf die Beine, schüttelte den Kopf hin und her, vor und zurück und brüllte. Dann trat das Tier einen Schritt vor, und dann noch einen. Hinter ihm erwachte jetzt der Rest der Herde, und das ursprünglich unsichere Blöken ging in ein Schnauben und Brüllen der Wut und der Begierde über. Ein zweiter Bulle erhob sich hinter dem ersten, dann ein dritter. Wenn das so weiterging, dachte Flinx, würden sie noch Tage brauchen, um das Camp zu erreichen.

Aber während er sich noch darüber beunruhigte, begann das Tempo der erwachenden Herde zuzunehmen. Solch massige Lebewesen brauchten Zeit, um in Bewegung zu kommen. Doch wenn sie das einmal waren, fraßen sie Entfernungen förmlich auf. Kurz darauf ertappte Flinx sich bei dem Wunsch, der Skimmer könnte schneller werden und noch schneller.

Die Herde trampelte jetzt auf das hin- und herzuckende Fahrzeug zu. Lauren musste den kleineren Bäumen ausweichen, die die Herde in ihrer Wut, die Herkunft jenes würzigen, elektrisierenden Dufts ausfindig zu machen, ignorierte. Sie drehte sich um, rief ihm etwas zu, aber er konnte sie nicht mehr hören.

Die Bäume fegten vorbei, als es Lauren irgendwie gelang, ihre Geschwindigkeit zu steigern, ohne gegen irgend etwas zu stoßen. Hinter ihnen wurde der Donner immer lauter, während der Lärm von Hunderten von Hufen, die die Erde zerstampften, sich mit dem Bersten und Krachen abbrechender Bäume und dem Ächzen größerer Stämme mischte, gegen die die mächtigen Körper drängten.

Rote Augen und Hörner waren alles, was Flinx sehen konnte, während er ein weiteres Zehntel der Tollheit erzeugenden Flüssigkeit aus der Flasche goss, und damit den Donner noch näher an den zerbrechlichen Skimmer und seine noch zerbrechlichere Ladung heranlockte.

 

In dem kleinen Operationssaal gab es nichts, was nicht gründlich desinfiziert worden wäre. Mutter Mastiff hatte keine Kraft mehr übrig, um sich zu wehren, als sie sie sanft aber fest auf dem körperwarm beheizten Tisch festschnallten. Ihre Flüche waren in wimmerndes Flehen übergegangen, mehr ein Reflex als sonst etwas, da sie inzwischen erkannt hatte, dass nichts diese Wahnsinnigen von ihrer Absicht abhalten würde. Am Ende verlor sie sogar den Willen weiter zu betteln und begnügte sich damit, diese Menschen, die sie so quälten, mit zusammengepressten Lippen anzufunkeln. Helle Lichter flammten auf, blendeten sie. Die hochgewachsene dunkelhäutige Frau stand rechts neben dem Tisch und überprüfte ein handtellergroßes Gebilde aus Kunststoff. Mutter Mastiff erkannte die Druckspritze und wandte den Blick davon.

Wie ihre Gefährten, trug Haithness einen hellen Chirurgenmantel und eine Maske, die nur ihre Augen freiließ. Nyassalee legte die Schere bereit, mit der der Schädel für die Operation kahlgeschoren werden sollte. Brora, der die eigentliche Implantation durchführen würde, stand daneben und überprüfte die Anzeigen auf dem Bildschirm, der unmittelbar hinter Mutter Mastiff hing. Gelegentlich warf er einen Blick auf ein kleines Tischchen mit chirurgischen Instrumenten und einigen mit Raureif überzogenen durchsichtigen Behältern. In den Behältern befanden sich die mikroelektronischen Implantate, die er in den Schädel von Mutter Mastiff einsetzen würde.

Über dem Operationstisch hing ein kugelförmiges Metallgebilde von der Decke, das wie eine Qualle aus Stahl blitzte. Von der Unterseite des Gebildes gingen zahlreiche drahtige Arme und Tentakel aus. Sie würden Energie liefern, durch Schläuche Flüssigkeiten absaugen und irgendwelchen Organen, die während der Operation den Dienst aufzugeben drohten, Hilfsdienste leisten. Da waren mikrodünne Arme, die als Ersatz für Cerebralkapillaren dienen würden, Tentakel, mit denen man Knochen verschmelzen oder aushöhlen konnte, und Geräte, die als Lungenbypass funktionieren und dem Blut unmittelbar Sauerstoff zuführen würden.

»Ich bin fertig und kann anfangen.« Brora lächelte Nyassalee flüchtig zu, worauf diese nickte. Er sah seine andere Kollegin an. »Haithness?« Sie antwortete ihm mit den Augen, während sie die Injektionsspritze vorbereitete.

»Dann wollen wir noch einmal alle Instrumente überprüfen«, murmelte er und wandte sich der etwas erhöhten Plattform mit den mikrochirurgischen Instrumenten zu. Über ihm summte die stählerne Qualle erwartungsfroh.

»Was ist denn das?« Er hielt inne, runzelte die Stirn. »Da, schauen sie!« Die beiden Frauen lehnten sich zu ihm hinüber. Die Instrumente, die winzigen Behälter mit ihrem gefrorenen Inhalt, ja die Plattform selbst schienen zu vibrieren.

»Eine Störung in der Energieversorgung?« meinte Nyassalee. Sie blickte nach oben und sah, dass die zentrale Versorgungskugel leicht schwankte.

»Ich weiß nicht. Wenn es etwas Ernsthaftes wäre, hätte man uns inzwischen sicherlich informiert«, murmelte Brora. Das Vibrieren nahm zu. Eine der Sonden fiel vom Tisch und zerbarst auf dem Plastikboden. »Das wird ja immer schlimmer.« Ein schwaches Dröhnen hallte von irgendwo draußen herein. Brora dachte, dass es seinen Ursprung irgendwo im Westen haben musste.

»Ein Unwetter?« fragte Nyassalee und runzelte die Stirn. Brora schüttelte den Kopf. »Donner würde den Tisch nicht erzittern lassen, und die Leute vom Wetterdienst haben nichts dergleichen gemeldet. Und ein Beben kann es auch nicht sein, denn diese Gegend ist seismisch absolut stabil.«

Der Donner, der in ihren Ohren immer lauter wurde, kam auch nicht aus dem fernen Himmel, sondern aus der beunruhigten Erde selbst. Plötzlich erwachte das Alarmsystem rings um das Camp zum Leben. Die drei Chirurgen starrten einander verwirrt an. Jetzt erzitterten nicht nur Tische und Instrumente, sondern das ganze Gebäude.

Die Warnsirenen quäkten kläglich. Ein reißendes, fetzendes Geräusch war nun zu vernehmen, als etwas sich durch das andere Ende des Konferenzsaals ergoss, knapp an dem Operationssaal vorbei. Es war nur sekundenlang sichtbar, füllte aber in der kurzen Zeitspanne den ganzen Saal. Dann bewegte es sich weiter, zog hinter sich falsche Holzbalken und Plastikgestein her, ließ den Himmel und den Nebel herein und hinterließ einen tiefen Abdruck im Betonfundament unter dem vertäfelten Boden. Haithness konnte deutlich sehen, was das für eine Vertiefung war, als langsam Stücke der Deckenverkleidung herunterfielen: ein Abdruck eines unvorstellbaren gewaltigen Fußes.

Nyassalee riss sich die Chirurgenmaske herunter und rannte auf die nächste Tür zu. Brora und Haithness folgten ihr. Als sie wegrannten, fand Mutter Mastiff, die völlig apathisch dagelegen hatte, plötzlich ihre Stimme wieder und begann um Hilfe zu schreien.

Staub und Isoliermaterial fielen von der Decke, während rings um sie alles erzitterte. Die vielarmige Chirurgenkugel über dem Operationstisch schwang jetzt gefährlich vor und zurück und drohte sich bei jeder weiteren Vibration aus ihrer Verankerung zu lösen.

Mutter Mastiff vergeudete keine Energie in dem vergeblichen Versuch, die Riemen abzureißen, mit denen sie festgeschnallt war. Sie kannte ihre Grenzen. Statt dessen konzentrierte sie ihre verbleibende Kraft ganz darauf, so laut zu brüllen, wie ihre alten Lungen das erlaubten.

Als sie die geschützte Grenze des Camps überschritten hatten, hatte Lauren beschleunigt und war mit gefährlich hohem Tempo unmittelbar an dem Zentralturm vorbeigerast. Jemand war so geistesgegenwärtig gewesen, auf den Alarm zu reagieren, indem er nach einer Waffe griff. Aber der Schuss aus dem hastig abgefeuerten Energiekarabiner verfehlte des Heck des bereits wieder rasch fliehenden Skimmers.

Gleichzeitig hatte der Schütze gesehen, wie hinten aus dem Fahrzeug der Eindringlinge etwas herausflog. Er war zusammengezuckt, und als dann keine Explosion gefolgt war, hatte er sich aus dem Fenster im zweiten Stock gebeugt, um neugierig das zerbrochene Glas und die grüne Flüssigkeit anzustarren, die außen an der Fassade heruntertropfte. Er hatte aber nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte, weil seine Aufmerksamkeit - und auch die seiner Gefährten im Inneren des Turms - jetzt ganz von der schwarzen Flutwelle in Anspruch genommen wurde, die aus dem Wald herandonnerte.

Die frustrierte, wütende Herde konzentrierte sich voll und ganz auf die Stelle, von der jener elektrisierende Duft am stärksten ausging. Bald war der Zentralturm mit den Kommunikations- und Verteidigungsinstrumenten für das Camp in einen Haufen aus Plastikfetzen und Metallresten verwandelt.

Unterdessen zog Lauren den Skimmer in einem weiten Bogen herum und setzte ihn zwischen den beiden langgestreckten Gebäuden an der Westseite des Camps ab. Das Personal des Camps war vielzusehr damit beschäftigt, vor den mächtigen Hörnern und Hufen in den Wald zu fliehen, um sich Gedanken über die Anwesenheit des fremden Fahrzeugs zu machen.

Sie hatten eine Chance fünfzig zu fünfzig, beim ersten Versuch, das richtige Gebäude zu erwischen. Zum Glück trafen sie die richtige Wahl - oder, dachte Flinx, war das nicht Glück, sondern doch sein sonst so entschlossen jede Hilfe verweigerndes Talent?

Das Dach über dem Operationssaal begann Risse zu zeigen, als sie endlich den Operationstisch erreicht hatten. »Flinx, wie hast du ...?« rief Mutter Mastiff.

»Wie er gewusst hat, wie er Sie finden soll?« beendete Lauren den Satz für sie und machte sich daran, mit flinken Fingern die Riemen zu entfernen, die die alte Frau festhielten.

»Nein«, korrigierte sie Mutter Mastiff. »Ich wollte ihn fragen, wie er es geschafft hat, ohne Geld bis hierher zu kommen. Ich wusste nicht, dass man auf Moth irgendwohin ohne Geld kommt.«

»Ein wenig hatte ich, Mutter.« Flinx lächelte ihr zu. Sie war anscheinend unverletzt, einfach von den Strapazen der letzten hektischen Tage erschöpft. »Und dann weißt du ja, dass ich auch noch andere Fähigkeiten besitze.«

»Ah.« Sie nickte ernst.

»Nein, nicht das«, korrigierte er sie. »Du hast vergessen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, sich Dinge zu beschaffen, ohne gleich dafür zu bezahlen.«

Darüber musste sie lachen. Bei dem krächzenden Geräusch wurde ihm warm ums Herz. Einen Augenblick lang übertönte es die Schreie und das Echo der Zerstörer, die die Luft draußen erfüllten. Die Erde bebte unter seinen Füßen. Plastikbrocken prasselten von der Decke.

»Ja, ja, du hast dich immer gut darauf verstanden, dir das zu verschaffen, was du haben wolltest. Habe ich dir nicht oft gesagt, dass du das nicht sollst? Aber ich glaube, jetzt ist nicht die Zeit, dich zu tadeln.« Sie blickte zu Lauren auf, der die Haltegurte einige Schwierigkeiten bereiteten.

»Und wer«, fragte sie und schob dabei die Brauen in die Höhe, »ist wohl das?«

»Eine Freundin«, beruhigte sie Flinx. »Lauren, ich möchte Ihnen Mutter Mastiff vorstellen.«

»Sehr erfreut, Oma.« Lauren biss die Zähne zusammen und quälte sich weiter mit den Gurten ab. »Diese verfluchten Magnetschnallen!« Sie sah zu Flinx hinüber. »Vielleicht sollten wir sie losschneiden.«

»Das schaffen Sie schon.« Flinx drehte sich um und trabte zur Eingangstür, wobei er sich gerade noch rechtzeitig duckte, um einer Anzahl Dachplatten auszuweichen, die neben ihm zu Boden krachten.

»He, wo zum Teufel gehen Sie hin?« schrie Lauren ihm nach.

»Ich will etwas wissen. Ich weiß immer noch nicht, was das Ganze hier soll. Und verdammt will ich sein, wenn ich hier weggehe, ohne wenigstens zu versuchen, das rauszukriegen!«

»Um dich geht es, Junge!« schrie Mutter Mastiff ihm nach. »Die wollen mich dazu benutzen, dich zu beeinflussen!« Aber er war bereits außer Hörweite.

Mutter Mastiff ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken und starrte besorgt zu der berstenden Decke hoch. »Dieser Junge«, murmelte sie, »der hat mir schon mehr Ärger gemacht als er wert ist.«

Endlich löste sich der letzte Gurt klickend, und Lauren atmete erleichtert auf. Das Ächzen und Krächzen der Decke war ihr ebenso bewusst wie Mutter Mastiff, genauso auch die Masse der Chirurgenkugel, die wie ein Pendel über dem Operationstisch hin- und herschwang.

»Ich bezweifle, dass Sie das wirklich so meinen, gute Frau«, sagte sie, »und Sie sollten aufhören, einen Jungen in ihm zu sehen.« Die zwei Frauen tauschten einen Blick, wobei alte Augen Fragen stellten und junge überzeugend Antwort gaben.

Voll Zuversicht, dass Lauren Mutter Mastiff allein befreien konnte, ließ Flinx nun seinem Zorn, der sich seit Tagen in ihm angestaut hatte, freien Lauf. Und die plötzlich freigesetzte Emotion war so machtvoll, dass Pip erschreckt von der Schulter seines Herrn glitt und ihm besorgt im Flug folgte. Der kleine dreieckige Kopf zuckte hin und her und versuchte wahrzunehmen, was es war, das Flinx Hass ausgelöst hatte.

Die Wut, die in ihm kochte, drohte seiner Kontrolle zu entgleiten. »Damit kommen die nicht durch«, sagte er sich immer wieder. »Die dürfen das einfach nicht!« Er wusste nicht, was er tun würde, wenn er den ihm unbekannten Entführern gegenübertreten würde, er wusste nur, irgend etwas würde er tun! Vor einem Monat hätte er nie daran gedacht, sich mit einem so gefährlichen Feind anzulegen, aber die letzten Wochen hatten viel dazu beigetragen, sein Selbstvertrauen zu stärken.

Die Wut der Herde begann jetzt nachzulassen, wenn auch die Devilopen immer noch nach diesem verwirrenden Etwas suchten, das ihnen solche Unruhe bereitet hatte. Kühe mit ihren Jungen lösten sich als erste aus der Phalanx und zogen sich in den Wald zurück. Schließlich streiften nur noch ein paar Bullen durch das Camp und ließen ihre Enttäuschung und ihre Wut an allem aus, was größer als ein Felsbrocken war. Gelegentlich kam Flinx an den Überresten jener vorbei, denen es nicht rechtzeitig gelungen war, vor den tobenden Devilopen das Heil in der Flucht zu suchen. Meistens war nicht viel mehr als ein roter Schmierer auf dem Boden übrig geblieben.

Er ging auf den Hangar zu, den er und Lauren von ihrem Beobachtungspunkt von dem Hügel aus gesehen hatten. Er war der logische letzte Zufluchtsort. Er brauchte nicht lange, um das Bauwerk zu erreichen. Während er zielbewusst auf den Hangar zustrebte, kam es ihm kein einziges Mal in den Sinn, wieso eigentlich keine der schnaubenden, stampfenden Devilopen auf ihn losging und ihn in den Boden trampelte.

Die große Eingangstür zu dem Hangar war zur Seite geschoben worden. Flinx sah Bewegungen und hörte leise Befehle. Ohne zu zögern ging er hinein und sah, wie ein großer Transportskimmer mit Kisten beladen wurde. Die Lademannschaft arbeitete fieberhaft unter dem Kommando einer kleinen, etwas älteren Frau mit orientalischen Gesichtszügen. Flinx stand unter dem Eingang und starrte zu ihr hinüber. Jetzt, wo er jemanden entdeckt hatte, der offenbar Autorität besaß, wusste er nicht, was er als nächstes tun sollte. Wut und Chaos hatten ihn hierhergeführt; für vernünftige Vorbereitung war in seinen Gedanken kein Platz gewesen.

Eine hochgewachsene schwarze Frau, die im vorderen Teil des Skimmers stand, unterbrach den Strom von Befehlen, der von ihren Lippen kam, lange genug, um zur Tür hinüberzusehen. Ihre Augen bohrten sich in die seinen. Statt Hass, den er eigentlich von sich erwartet hatte, entdeckte Flinx in sich plötzlich den Gedanken, dass diese Frau in ihrer Jugend ganz bestimmt einmal sehr schön gewesen sein musste, aber kalt. Beide Frauen strahlten eine eisige Kälte aus. Ihr Haar war fast völlig ergraut, und grau waren auch ihre Augen.

»Haithness.« Ein Mann eilte herbei. »Wir haben jetzt keine Zeit zum Träumen. Wir ...«

Sie deutete mit zitterndem Finger, und Brora folgte ihrem Blick und sah plötzlich eine schlanke, jugendliche Gestalt unter der Tür. »Dieser Junge«, flüsterte Brora. »Ist er das?«

»Ja, aber sehen Sie genau hin. Über ihm. Im Licht.«

Der Blick des bullig gebauten Mannes hob sich, und plötzlich veränderte sich sein Ausdruck, der bisher nur beiläufiges Interesse gezeigt hatte. Der Mund blieb ihm offen stehen. »O mein Gott«, rief er aus, »ein alaspinianischer Minidrach!«

»Sehen Sie«, murmelte Haithness, während ihr Blick wieder auf Flinx heruntersank und ihn musterte, wie sie sonst einen Gegenstand im Labor mustern würde. »Das erklärt eine ganze Menge.« Rings um sie war immer noch der Lärm der Bullen zu hören, die das Lager in Grund und Boden stampften.

Brora hatte jetzt seine Fassung wiedergefunden. »Vielleicht, vielleicht, aber möglicherweise weiß es der Junge gar nicht, dass ... «

Flinx gab sich Mühe zu verstehen, was die beiden redeten, aber der Lärm hinter ihm war dafür zu laut. »Woher kommen Sie?« schrie er zu dem Skimmer hinüber. Seine neu gewonnene Reife fiel schnell von ihm ab; plötzlich war er wieder nur ein wütender Halbwüchsiger. »Warum haben Sie meine Mutter entführt? Ich mag das nicht, wissen Sie. Ich mag niemanden von Ihnen! Ich will wissen, warum Sie das getan haben!«

»Vorsichtig«, rief Nyassalee zu den beiden hinauf. »Denken sie an das Profil des Subjekts.« Sie hoffte, dass die beiden oben das hören würden.

»Er ist nicht gefährlich, das sage ich Ihnen«, beharrte Haithness. »Das zeigt doch seine Harmlosigkeit. Wenn er sich unter voller Kontrolle hätte, würde er uns jetzt nicht nur kindische Fragen an den Kopf werfen.«

»Aber dieses Katalysatorgeschöpf.« Brora deutete auf die Flugschlange, die über Flinx in der Luft schwebte.

»Wir wissen doch nicht, ob er wirklich etwas katalysiert«, erinnerte ihn Haithness. »Weil wir bis jetzt auch die Fähigkeiten des Jungen noch nicht kennen. Das sind nur Potentiale. Vielleicht tut der Minidrach noch gar nichts für ihn, weil er noch nichts hat, an dem er arbeiten kann, höchstens seine verdammte Hartnäckigkeit und ein übernatürliches Talent für das Verfolgen schwacher Spuren.« Sie fuhr fort, das Subjekt zu mustern, das jetzt fast in Reichweite für sie war. »Ich würde viel dafür geben, wenn ich erfahren könnte, wie er in den Besitz eines Minidrachs gekommen ist.« Brora ertappte sich dabei, wie er sich über die Lippen leckte. »Mit der Mutter haben wir es nicht geschafft. Vielleicht sollten wir versuchen, das Subjekt direkt zu übernehmen, trotz alledem, was wir mit dem Mädchen erlebt haben.«

»Nein«, wandte sie ein. »Wir haben nicht die Vollmachten, ein solches Risiko einzugehen. Wir müssen zuerst Cruachan konsultieren. Die Entscheidung liegt bei ihm. Wichtig ist, dass wir jetzt mit intakten Aufzeichnungen und auch selbst intakt hier herauskommen.«

»Da kann ich nicht zustimmen.« Brora fuhr fort, den Jungen zu studieren. Seine Ruhe faszinierte ihn. Das Subjekt schien überhaupt nicht auf den stampfenden Tod zu achten, der das Camp verwüstete. »Unser erster Plan ist gescheitert. Jetzt ist die Zeit zu improvisieren. Wir sollten die Gelegenheit ergreifen.«

»Selbst wenn es die letzte Gelegenheit ist, die wir haben?«

Jetzt schrie Flinx zu ihnen hinüber. »Wovon reden Sie? Warum antworten Sie mir nicht?«

Haithness drehte sich um und schien gerade eine Antwort geben zu wollen, als ein ungeheures Ächzen durch den Hangar lief und ihn erzittern ließ. Plötzlich wölbte sich die Ostwand nach innen. Erschreckte Schreie ertönten, und die Verlademannschaft warf ihre Lasten weg und stob in allen Richtungen auseinander, ohne auf Nyassalees Befehle zu achten.

Doch sie stoben nicht schnell genug auseinander.

Wände und Dach krachten herunter und begruben Menschen, Kisten und den großen Lastskimmer unter sich. Drei Devilopenbullen brachen durch die zerstörte Wand, während Flinx mit einem Satz nach draußen sprang. Metall, Plastik und Fleisch wurden unter ihren mächtigen Hufen zu einer blutigen Masse zermalmt. Plastikstücke flogen an Flinx vorbei, und eines riss ihm die Schulter auf.

Mit blitzenden roten Augen drehte sich einer der Bullen herum und senkte drohend den mächtigen Schädel auf die einzelne Gestalt, die auf dem Boden lag.

Zufall, Glück oder auch etwas mehr: Was auch immer Flinx bis jetzt vor der Aufmerksamkeit der Herde beschützt hatte, war plötzlich verschwunden. Der Bulle, der über ihm aufragte, war vor Wut halb wahnsinnig. Sein Blick verriet seine Absicht: er wollte Flinx in einen weiteren roten Schmierer auf der Erde verwandeln.

Etwas, das so winzig war, dass man es kaum bemerkte, stieß plötzlich auf den mächtigen Schädel herab und spuckte in eines der tellergroßen roten Augen. Der Devilopenbulle blinzelte einmal, zweimal, um die schmerzhafte Reizung loszuwerden.

Und das reichte aus, um das Gift in seinen Blutstrom zu übertragen. Das Monstrum riss das Maul auf, stieß ein erschreckendes Brüllen aus und zog sich von Flinx zurück. Es fing an, heftig den Kopf zu schütteln, ohne auf die zwei anderen Bullen zu achten, die fortfuhren, die Überreste des Hangars zu zertrampeln.

Flinx rappelte sich hoch und rannte davon, verließ die Szene der Vernichtung, strebte dem Gebäude zu, in dem er Lauren und Mutter Mastiff zurückgelassen hatte. Pip schloss sich ihm an, glitt über dem Kopf seines Herrn, anstatt den vertrauten Platz auf seiner Schulter einzunehmen.

Hinter ihnen wurde das Brüllen der Devilope dumpf und irgendwie schwerfällig. Dann war ein Krachen zu vernehmen, als die Hinterbeine ihr offenbar den Dienst versagten. So saß der Bulle ein paar Augenblicke da, bis auch die mächtigen Vorderbeine wegrutschten. Ganz langsam, wie ein kalbender Eisberg, glitt der Bulle zur Seite. Das Auge, das Pips Giftstrahl getroffen hatte, war verschwunden, und an seiner Stelle war nur noch ein schwarzes, rauchendes Loch zu sehen.

Heftig atmend eilte Flinx in den Bau zurück, der den Operationssaal enthielt, und hätte fast die fliehende Lauren mit Mutter Mastiff umgerannt. Er umarmte seine Mutter kurz und legte sich dann ihren linken Arm über die Schultern, um sie zu stützen.

Lauren stützte die alte Frau an der anderen Seite und warf Flinx einen neugierigen Blick zu. »Haben Sie gefunden, was Sie suchten?«

»Ich denke schon«, erklärte er. »Sennar und Soba sind gerächt. Das haben die Devilopen übernommen.«

Lauren nickte, als sie aus den Überresten der Halle ins Freie traten. Das Zittern der Erde hatte inzwischen etwas nachgelassen.

»Die Herde ist dabei, sich zu zerstreuen. Sie werden sich im Wald wieder sammeln, sich fragen, was über sie gekommen ist und sich wahrscheinlich wieder schlafen legen. Sobald das geschieht, wird sich dieses Camp mit denen füllen, denen die Flucht gelungen ist. Wir müssen uns um unser Fahrzeug kümmern, und zwar schnell. Denken Sie daran, dass unsere Ladung fast aufgebraucht ist. Sie und ich könnten ja zu Fuß gehen, aber ...«

»Wenn ihr das schafft, schaffe ich es auch«, beharrte Mutter Mastiff. Ihr Zustand strafte ihre Worte Lügen - wenn Flinx und Lauren sie nicht gestützt hätten, hätte sie kaum stehen, geschweige denn gehen können.

»Schon gut, Mutter«, beruhigte sie Flinx. »Wir finden schon etwas.«

Sie bestiegen ihren Skimmer. Lauren schob den Schlüssel ins Zündschloss, den sie zur Sicherheit mitgenommen hatte, um etwaige Flüchtlinge daran zu hindern, mit ihrer Maschine zu entkommen. Und dann schwebten sie um den zerstörten Bau herum in die Mitte des Camps.

Ihre Sorge vor Überlebenden war unbegründet. Die paar Männer und Frauen, die ihnen aus dem Wege gingen, waren von der Katastrophe zu benommen, um sie auch nur mit Worten zu bedrohen. Die Mehrzahl von ihnen war mit Verwaltungs- oder Wartungsaufgaben betraut gewesen und hatte keine Ahnung, welche Bedeutung Flinx oder Mutter Mastiff für ihre Auftraggeber gehabt hatten.

Die Devilopen waren verschwunden. Die Kraftstation war kaum beschädigt, wahrscheinlich, weil sie etwas abseits vom Rest des Camps lag, vielleicht auch, weil es sich um eine automatische Anlage ohne menschliches Bedienungspersonal handelte und der Herde daher kein lebendes Ziel geboten hatte. Das Personal des Camps schien keine Einwände dagegen zu haben, dass sie die Ladung ihres Skimmers an der Station auffrischten, wenn auch Lauren ihren Bolzenkarabiner schussbereit hielt, bis die Anzeige am Armaturenbrett erkennen ließ, dass sie wieder über vollen Energievorrat verfügten.

»Ich glaube, wegen Verfolgung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, erklärte sie. »Es sieht nicht so aus, als ob da jemand übrig wäre, der uns verfolgen kann. Wenn die Anführer von diesem Verein hier in dem Hangar waren und niedergetrampelt wurden, dann brauchen wir uns über nichts mehr Sorgen zu machen, Flinx.«

»Ich habe aber keine Antworten bekommen«, murmelte er enttäuscht. Und dann etwas lauter: »Verschwinden wir hier!«

»Ja«, pflichtete Mütter Mastiff schnell bei und sah Lauren bittend an. »Ich bin eine Frau aus der Stadt. Das Landleben bekommt mir nicht.« Sie grinste ihr unwiderstehliches Grinsen, und Flinx wusste, dass alles gut sein würde.

Lauren lächelte und schob den Fahrthebel vor. Der Skimmer bewegte sich, stieg über die Baumwipfel. Sie schwebten über einigen desorientierten, ausgepumpten Devilopen dahin und jagten nach Süden, so schnell die Maschine des Skimmers sie treiben konnte.

»Ich habe nicht erfahren, was das alles zu bedeuten hatte«, murmelte Flinx von seinem Platz hinten in der Kabine. »Weißt du, warum die dich entführt haben? Was wollten die von dir?«

Ihre erste Regung war, ihm das zu erzählen, was die Meliorares ihr in der letzten Nacht verraten hatten - war das wirklich erst letzte Nacht gewesen? Dann ließ etwas sie zögern. Natürliche Vorsicht, Sorge um ihn. Ein Leben der Erfahrung, das einen lehrte, nicht gleich mit dem herauszuplatzen, was einem in den Sinn kommt, ganz gleich, wie wahr es auch sein mochte. Es gab Dinge, die sie lernen musste, Dinge, die er lernen musste. Für das, was sie gehört hatte, war immer noch Zeit.

»Nun, mein Junge, du hast gesagt, das sei eine lange Geschichte, wie du meine Spur gefunden hast, Junge. Meine Geschichte ist auch lang. Und was das betrifft, was die mit mir vorhatten, nun, für dich reicht zu wissen, dass es um ein ganz altes Gaunerstück geht, an dem ich einmal teilgenommen habe, und um Rache, die nie stirbt. Das kannst du verstehen.«

»Ja, ja, das kann ich.« Er wusste, dass Mutter Mastiff eine sehr abwechslungsreiche Jugend genossen hatte. »Du kannst mir das alles ja erzählen, wenn wir wieder zuhause sind.«

»Ja«, sagte sie, damit zufrieden, dass er ihre Erklärung allem Anschein nach akzeptiert hatte. »Sobald wir wieder sicher und zu Hause sind.« Sie sah zum Pilotensessel hinüber und bemerkte, dass Lauren sie mit einem rätselhaften Blick musterte.

Mutter Mastiff legte den Finger an die Lippen: Lauren nickte. Sie hatte nicht ganz verstanden, war aber sensibel genug, um sich den Wünschen der älteren Frau zu fügen.