38. Kapitel
10.00 Uhr
Platte River State Park
Melanie glaubte nicht, dass Andrew Kane in der Verfassung war, zu fahren. Seine Augen wirkten seltsam glasig, selbst nachdem er die Brille aufgesetzt hatte. Und die Baseballkappe verdeckte seine Wunde kaum. Jared bestand jedoch darauf, und sie wollte ihn nicht noch provozieren, indem sie ihm widersprach. Sie war froh und erleichtert, dass Jared den Mann nicht einfach erschossen und im Wald verscharrt hatte. Das Wichtigste war jetzt, eine sichere Zuflucht zu finden.
»Wir werden ein bisschen im Zickzack fahren, Andrew«, erklärte Jared von seinem Lieblingsplatz auf der Rückbank aus. Er hatte Melanie angewiesen, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, da die Cops ja nicht nach einem gut aussehenden Paar in einem roten Luxusauto suchten. Er hatte Charlies Karte auf den Knien ausgebreitet, um die gelb markierte Route, die er vorhin in der Hütte ausgearbeitet hatte, genau verfolgen zu können.
»Zuerst fahren wir nach Südosten. Und mach das verdammte Radio an!«
Melanie schaltete das Radio ein. Die Nachrichten hatten schon angefangen.
»… erfuhr, dass die jungen Männer mit seinem Pickup ohne sein Wissen unterwegs gewesen waren. Die Behörden gehen nun davon aus, dass die Bankräuber in einem zweiten Fluchtauto unterwegs sind, das sie zuvor in der Nähe abgestellt hatten. Nach einem anonymen Hinweis wurde dieser Wagen, ebenfalls ein gestohlener Saturn, diesmal in Weiß, südlich von Rock Port, Missouri, auf dem Interstate gesehen und war vermutlich Richtung Kansas City unterwegs. Das Kennzeichen des Wagens lautet: Nebraska NKY-403. Wir weisen dringend darauf hin, dass die Verdächtigen bewaffnet und äußerst gefährlich sind. Weitere Informationen hier/u in einer halben Stunde. Das war Stanley Bell vom Nachrichtensender KKAR.«
Dann meldete sich der Moderator. »Es ist 10 Uhr 6. Wie finden Sie das? Wir können mit Lenkwaffen ein Ziel m Hunderten Kilometern Entfernung treffen. Wir sehen Bilder vom Mars. Aber wir finden keinen verdammten Saturn auf unseren eigenen Straßen. Und überhaupt, warum sind diese beiden Typen bloß dauernd in einem Saturn unterwegs?«
»Mach leiser«, sagte Jared. Dann holte er das Handy aus Andrews Aktentasche, gab eine Nummer ein und wartete.
»He, ich bins. Ist doch egal.« Jared klang gelassen und ruhig, obwohl sein Gesprächspartner anscheinend so außer sich war, dass Melanie seine Stimme hören konnte. »Sie sind es gewesen, der denen diesen Scheißtipp gegeben hat. Sie sind diese anonyme Quelle, von der sie das mit dem weißen Saturn haben, stimmts? Sie wollen mich reinlegen, Sie verdammter Scheißkerl! Stimmt doch, oder?«
Melanie war verdattert. Wer wusste denn noch von dieser Sache? Wem zum Geier hatte Jared von dem zweiten Fluchtwagen erzählt, den er auf dem Parkplatz in der Nähe der Bank abgestellt hatte? Sie hatte erst davon erfahren, als ihnen die Cops schon auf den Fersen waren. Vielleicht jemand, den er im Gefängnis kennen gelernt hatte? Sie schob einen Daumennagel zwischen ihre Zähne, um nicht dauernd auf die Unterlippe zu beißen.
»Ich habe da noch diese Sache zu erledigen«, sagte Jared dem anderen. »Das müssen Sie jetzt für mich machen.«
Weiteres Gezeter, doch dann sagte Jared einfach: »Tun Sie es!« und klappte das Gerät zu.
»Scheißkerl«, sagte er. »Heutzutage kann man wirklich keinem mehr trauen.«
Melanie sah, wie er sich gegen die Wagentür sinken ließ.
Einen Moment lang erinnerte er sie wieder an den Zwölfjährigen, der aus dem Zugfenster auf vorbeiziehende Weiden und Maisfelder blickte, der sich einsam und verraten fühlte, der auf der Suche nach etwas Besserem und nie zufrieden war. Sie waren beide um ihre Kindheit betrogen worden und hatten viel zu schnell erwachsen werden müssen.
Oft fragte sie sich, ob nicht alles anders geworden wäre, wenn ihre Mutter sich mehr um ihre Kinder gekümmert hätte, anstatt diese ganzen bunten Pillen einzuwerfen und mit Wodka hinunterzuspülen. Sie hatte nicht mal mitgekriegt, geschweige denn verhindert, dass ihr Stecher – dieser Arsch von Melanies Vater – ihre Kinder windelweich schlug. Sollte eine Mutter ihre Kinder nicht schützen, war das nicht ein Naturinstinkt oder so etwas? Sie jedenfalls empfand diesen Beschützerinstinkt Charlie gegenüber. Trotzdem konnte sie die Schuld nicht allein ihrer Mutter geben. Auch Jared tat das nicht. Vielleicht hatte das etwas mit diesen Blutsbanden zu tun, und damit, was Jared immer sagte, dass eine Familie eben zusammenhalten muss. Jared hatte jedenfalls zu ihr gehalten, dafür stand sie jetzt in seiner Schuld.
Der kurvige Highway war im Moment wenig befahren. Der Regen hatte die Luft abgekühlt und einen frisch geschrubbten blauen Himmel hinterlassen. Die Schwüle war einer frischen und klaren Luft gewichen. Melanie dachte daran, wie oft sie mit Charlie davon gesprochen hatte, raus aufs Land zu fahren.
Allerdings hatte sie sich ihre Ausflüge etwas anders vorgestellt.
»Nehmen Sie die Abfahrt nach Nebraska City.« Jared beugte sich plötzlich vor, um wieder die Rolle des Co-Piloten zu übernehmen. »Wir müssen zu einem Bankautomaten.« Er hielt eine Bankkarte hoch, die er aus Andrews Brieftasche genommen hatte. »Sie werden eine kleine Bargeldabhebung vornehmen.«