68. Kapitel
13.56 Uhr
Melanie hielt ganz am Ende des Parkplatzes, wie Jared es ihr gesagt hatte. Sie stellte den Motor ab, doch Jared machte keinerlei Anstalten auszusteigen. Stattdessen drehte er sich auf seinem Sitz hin und her und spähte in alle Richtungen und dann durch das Rückfenster nach oben, als erwarte er jeden Augenblick einen Luftangriff. Dann rutschte er auf seinem Sitz so tief nach unten, dass sie im Rückspiegel nur noch seinen Haarschopf sehen konnte.
»Hast du nicht gesagt, du wolltest etwas abholen?« fragte Melanie.
»Warte eine Minute. Hier stimmt was nicht.« Er tippte Charlie auf die Schulter. »Gib mir die Waffe aus dem Handschuhfach.«
Melanie kam Charlie zuvor. Sie öffnete die Klappe, langte in das Fach und zog den Revolver mit einem leisen Seufzen heraus. Er lag ihr seltsam vertraut in der Hand, war allerdings nicht so schwer, wie sie es in Erinnerung hatte.
»Was läuft hier ab, Jared?«
»Gib mir die Waffe«, knurrte er, blieb jedoch in seiner geduckten Haltung.
»Nicht, bis du mir sagst, was hier läuft.« Sie legte den Revolver auf ihren Schoß. »Was willst du hier abholen?«
»Geld. Max hat es telegrafisch angewiesen.«
»Max Kramer?« Sie erinnerte sich an die Telefonate, die Jared mit seinem Anwalt geführt hatte. War es dabei wirklich nur um juristische Fragen gegangen? »Woher weißt du, dass du ihm trauen kannst?«
»Er hat mich aus dem Knast geholt, oder?«
»Ich dachte, du wärst freigekommen, weil du unschuldig bist?«
»Ja klar, das meine ich ja.« Jared spähte weiter durch die Fenster nach draußen. »Mach dir wegen Kramer keine Sorgen, Mel. Ich habe für eine gute Rückversicherung gesorgt.«
»Was meinst du damit?«
»Gib mir die verdammte Waffe, Melanie! Du weißt, dass ich nur sichergehen will, dass dir und mir nichts passiert.«
»Und was ist mit Charlie?«
Melanie blickte zu ihrem Sohn, der wie Jared nun ebenfalls tief in seinen Sitz gerutscht war. Ständig musste er seinem Onkel alles nachmachen, ohne dabei nachzudenken.
»Natürlich auch Charlie nicht. Aber er hat ziemlichen Mist gebaut. Es ist seine Schuld, dass wir in diesem Schlamassel stecken. Stimmt's etwa nicht, Charlie?«
Sie bemerkte, wie Charlie in sich zusammensackte und versuchte, sich noch kleiner zu machen. Und plötzlich hatte sie das Bild eines anderen Jungen vor Augen. Eines Jungen, der sich nicht vor Worten duckte, sondern vor blindwütigen Schlägen. Charlie erinnerte sie an Jared, als der noch ein Junge war – und Jared erinnerte sie an ihren Vater. Warum war ihr das nicht früher klar geworden? Sein aufbrausendes Temperament, seine Wutausbrüche er war genau wie ihr Vater.
»Du kannst das alles wieder ausbügeln, Charlie«, sagte Jared jetzt mit hypnotisierend sanfter Stimme. »Geh in den Truckstop und frag einfach nach einem Umschlag mit deinem Namen drauf. Machst du das, Kumpel?«
Charlie nickte und langte nach dem Türgriff, aber Melanie hielt ihn zurück.
»Nein, Charlie, du bleibst hier.«
»Halt dich da verdammt noch mal raus, Mel!« Der sanfte Ton in seiner Stimme war verflogen.
Jared spähte umher, als litte er an Verfolgungswahn.
Rechnete er etwa damit, dass hier Scharfschützen auf sie lauerten? Wollte er Charlie raus in den Kugelhagel schicken?
Sie ließ ihren Blick zu Andrew Kane wandern, der das offenbar als Aufforderung verstand, seine Meinung zu sagen.
»Sie müssen sich jetzt entscheiden«, sagte er so ruhig er konnte. »Dies ist der Moment der Entscheidung.«
»Halten Sie Ihre Scheißklappe!« Jared boxte den Autor auf die verletzte Schulter, duckte sich aber sofort wieder in seinen Sitz und fixierte Charlies Hinterkopf. »Nun mach schon, Charlie! Und beeil dich, verdammt noch mal! Wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden!«
»Du bleibst hier, Charlie!« bellte Melanie. Ihre Stimme überschlug sich fast. Und in dem Augenblick wusste sie, was sie zu tun hatte. Genau wie damals. Sie hob die Waffe und richtete sie über die Sitzlehne hinweg auf Jared. Der schien auflachen zu wollen, doch dann sah er ihre Augen.
»Ich habe mich für Charlie entschieden«, sagte sie. Und dann drückte sie ab.