29. KAPITEL
Dienstag, 28. Oktober
Der Tag war nicht gut gelaufen, und Nick machte die zwei Stunden Schlaf in seinem Bürosessel dafür verantwortlich. Maggie war um drei Uhr früh in ihr Hotel gegangen, um sich auszuruhen, zu duschen und sich umzuziehen. Anstatt die fünf Meilen zu seinem Haus auf dem Land zu fahren, war er an seinem Schreibtisch eingeschlafen. Den ganzen Tag hatten Nacken und Rücken ihn erinnert, dass er nur noch vier Jahre von seinem vierzigsten Geburtstag entfernt war.
Sein Körper war zweifellos nicht mehr das, was er einmal gewesen war, doch die Besorgnis, seine Potenz zu verlieren, hatte sich dank Agentin O‘Dell wieder gelegt. Das Berühren ihrer Lippen gestern Abend, der Ausdruck in ihren Augen, das elektrisierende Prickeln ... na ja, er war dankbar gewesen, dass die Gefängnisdusche nur kaltes Wasser lieferte. Schließlich hatte sogar er Prinzipien, was verheiratete Frauen anging. Leider drängte ihn sein Körper, sie zu brechen.
Da sein Vorrat an frischer Kleidung im Büro in den letzten Tagen aufgebraucht worden war, hatte er auf die braune Uniform zurückgegriffen, ohnehin die angemessene Bekleidung für die morgendliche Pressekonferenz. Nicht dass es ihm etwas genützt hätte. Die Presseleute hatten sich rasch in einen Lynchmob verwandelt, zumal nach Christines morgendlicher Schlagzeile: BÜRO DES SHERIFFS IGNORIERT SPUREN IM FALL ALVEREZ.
Er war davon ausgegangen, dass Eddie sich schon nach dem ersten Anruf überzeugt hatte, wo diese Mrs. Krichek lebte. Warum zum Kuckuck hatte er nicht gemerkt, dass die alte Dame einen ungehinderten Blick auf den Parkplatz hatte, wo Danny entführt worden war? Er hätte Eddie am liebsten erwürgt oder ihn den Medien als Sündenbock präsentiert. Stattdessen hatte er ihm nur unter vier Augen eine Standpauke gehalten und ihm einen Verweis erteilt.
Im Moment brauchte er jeden Mann. Er musste Ruhe bewahren, auch wenn das angesichts der heiklen Fragen auf der Pressekonferenz schwierig gewesen war. Aber Maggie O‘Dell hatte mit ihrer gelassenen Autorität die Lage gerettet. Sie hatte die Medien aufgefordert, bei der Suche nach dem mysteriösen blauen Lieferwagen zu helfen. Sie hatte sie in die Jagd nach dem Täter einbezogen, anstatt sie nach Fehlern in der Abteilung des Sheriffs jagen zu lassen. Er begann sich zu fragen, was er ohne sie anstellen würde, und hoffte, das nicht so bald herausfinden zu müssen.
Er bog in Christines Straße ein, als die Sonne gerade durch eine Wolkenlücke brach und dann langsam hinter einer Baumreihe versank. Es war kälter geworden, und der beißende Wind verriet, dass die Temperaturen weiter sanken.
Maggie hatte auf der gesamten Fahrt still neben ihm gesessen, die Nase in der Alverez-Akte, Tatortfotos und ihre eigenen Polaroid-Aufnahmen auf ihrem Schoß verteilt. Sie war besessen davon, ihr Profil zu erstellen, als könnte das Matthew Tanner retten. Nachdem sie am Nachmittag jedoch widersprüchliche Spuren verfolgt und zweifelhafte Zeugenaussagen überprüft hatten, fürchtete Nick, es war zu spät. Seit Matthews Verschwinden arbeiteten hundertfünfundsiebzig Deputys, Polizeibeamte und unabhängige Ermittler an dem Fall. Und nicht die kleinste Spur brachte sie einem Erfolg näher. Es sah tatsächlich so aus, als hätte jemand neben Matthew gehalten, und der Junge sei bereitwillig eingestiegen, genau wie Sophie Krichek es bei Danny beschrieben hatte.
Wenn das stimmte, kannten die Jungen den Täter und vertrauten ihm. Nick hätte lieber geglaubt, die Jungs hätten sich in Luft aufgelöst, als sich einzugestehen, dass sie vielleicht von jemand aus der Stadt, jemand, den er kannte, getötet und verstümmelt worden waren.
Zerstreut bog er in die Zufahrt und trat so heftig auf die Bremse, dass die Fotos zu Boden fielen.
„Entschuldigung.“ Er schob den Schalthebel in Parkstellung, dabei glitt seine Hand an Maggies Schenkel entlang. Rasch zog er die Hand zurück und langte hinunter, um die Fotos aufzusammeln. Ihre Arme überkreuzten sich, und sie berührten sich mit den Köpfen. Er gab ihr die eingesammelten Fotos, und sie dankte ihm, ohne ihn anzusehen. Schon den ganzen Tag schlichen sie umeinander herum. Er war nicht sicher, ob aus Angst, einander zu nahe zu kommen, oder weil sie vermeiden wollten, über ihre Entdeckung im Fall Jeffreys zu reden.
Als sie Christines Haustür erreichten und ausstiegen, klingelte Maggies Handy.
„Agentin O‘Dell.“
Christine forderte sie mit einer Geste auf hereinzukommen. „Ich war mir fast sicher, dass du absagen würdest“ , flüsterte sie Nick zu und führte ihn ins Wohnzimmer, während sie Maggie im Eingangsflur ihr Gespräch führen ließ.
„Wegen des Artikels?“
Sie wirkte überrascht, als hätte sie an den Artikel nicht einmal gedacht. „Nein, weil du überlastet bist. Du bist doch nicht sauer wegen des Artikels, oder?“
„Die Krichek ist leicht verrückt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt was gesehen hat.“
„Sie ist überzeugend, Nicky. Die alte Dame ist kein bisschen verrückt. Du solltest nach einem alten blauen Lieferwagen suchen lassen.“
Nick beobachtete Maggie, die hin und her ging, und wünschte, ihre Unterhaltung mithören zu können. Plötzlich erfüllte sich sein Wunsch, als ihre ärgerliche Stimme in den Wohnraum schallte.
„Fahr zur Hölle, Greg!“ Sie klappte das Telefon zu und steckte es in die Tasche. Es begann wieder zu läuten.
Christine sah Nick fragend an. „Wer ist Greg?“ flüsterte sie.
„Ihr Mann.“
„Ich wusste nicht, dass sie verheiratet ist.“
„Warum sollte sie es nicht sein?“ gab er kurz angebunden zurück und bedauerte seine Überreaktion, als er seine Schwester lächeln sah.
„Kein Wunder, dass du dich von deiner besten Seite zeigst.“
„Was zum Teufel soll das denn heißen?“
„Für den Fall, dass du es nicht bemerkt haben solltest, sie ist hinreißend, kleiner Bruder.“
„Sie ist FBI-Agentin! Das ist rein beruflich, Christine.“
„Seit wann hält dich das ab? Erinnerst du dich noch an die niedliche kleine Staatsanwältin aus dem Büro der Bundesanwaltschaft? Sollte das nicht auch rein beruflich sein?“
„Sie war nicht verheiratet.“ Zumindest lebte sie in Scheidung, wenn er sich recht entsann.
Maggie kam mit kummervoller Miene herein. „Tut mir Leid“ , sagte sie und lehnte sich an den Türrahmen. „In letzter Zeit hat mein Mann die ärgerliche Neigung, mich auf die Palme zu bringen.“
„Deshalb habe ich meinen abserviert“ , erwiderte Christine lächelnd. „Nicky, hol Maggie ein Glas Wein. Ich muss mich um das Dinner kümmern.“ Im Vorbeigehen gab sie Maggie einen Klaps auf die Schulter.
Wein und Gläser standen vor ihm auf dem Kaffeetisch. Er schenkte Maggie ein Glas ein und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie ging umher, wie um Christines Dekorationskünste zu würdigen, war jedoch zerstreut. Am Fenster blieb sie stehen und sah in den Garten hinaus. Nick kam mit zwei gefüllten Gläsern zu ihr und erschreckte sie.
„Alles okay?“ Er reichte ihr den Wein und hoffte auf einen Blick in ihre Augen.
„Waren Sie jemals verheiratet, Nick?“ Sie nahm ihm das Glas ab, ohne ihn anzusehen, plötzlich an den Schatten interessiert, die Christines Garten verdunkelten.
„Nein, ich habe mir Mühe gegeben, es zu vermeiden.“
Schweigend standen sie nebeneinander. Als sie das Glas hob und einen Schluck trank, berührte sie mit dem Ellbogen seinen Arm. Nick hielt still und genoss den sachten Kontakt. Er wartete ab und hoffte zu hören, dass ihre Ehe zerbrach. Sofort hatte er Schuldgefühle. Wie um seine Gedanken zu rechtfertigen, sagte er: „Mir ist aufgefallen, dass Sie keinen Ehering tragen.“
Sie hob die Hand, als müsse sie sich vergewissern, und steckte sie in die Tasche. „Der liegt auf dem Grund des Charles River.“
„Wie bitte?“ Ohne Blickkontakt konnte er nicht entscheiden, ob sie scherzte.
„Vor etwa einem Jahr zogen wir einen Treiber aus dem Wasser.“
„Einen was?“
„Eine Leiche, die schon eine Weile im Wasser treibt. Das Wasser war sehr kalt. Mein Ring muss abgerutscht sein.“
Sie schaute weiter geradeaus, und er folgte ihrer Blickrichtung. Da es dunkler wurde, sah er ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie dachte immer noch an das Gespräch mit ihrem Mann. Er fragte sich, wie er war, der Mann, der irgendwann das Herz von Maggie O‘Dell erobert hatte. Er fragte sich, ob Greg vielleicht ein intellektueller Snob war. Jede Wette, der sah sich nicht mal Football an, geschweige denn die Packers.
„Sie haben ihn nicht ersetzt?“
„Nein. Vielleicht hatte ich mir unbewusst längst eingestanden, dass er lange bevor er auf dem Grund des Flusses landete, als Symbol wertlos geworden war.“
„Onkel Nick“ , wurden sie von Timmy unterbrochen, der quer durch den Raum lief und sich Nick in die Arme warf, ehe der sich ganz umdrehen konnte. Sofort spürte er die Folgen seines Sesselschlafs. Sein Rücken schrie, er solle den Jungen absetzen, doch er wirbelte ihn herum, dass die kleinen Beine den überall herumstehenden Schnickschnack herunterzufegen drohten.
„Jungs!“ tadelte Christine von der Tür her. Und an Maggie gewandt: „Es ist, als hätte man zwei Kinder im Haus.“
Er setzte Timmy ab, biss die Zähne zusammen und lächelte trotz der Schmerzen im Rücken, als er sich aufrichtete. Herrgott, wie er diese Erinnerungen ans Älterwerden hasste.
„Maggie, das ist mein Sohn Timmy. Timmy, das ist Spezialagentin Maggie O‘Dell.“
„Dann sind Sie FBI-Agent genau wie Agent Mulder und Agentin Scully aus Akte X7“
„Außer dass ich keine Aliens fange. Allerdings sind die Typen, die ich jage, auch ganz schön beängstigend.“
Nick war stets erstaunt, welch lockernde Wirkung Kinder auf Frauen hatten. Er wünschte, den Trick zu beherrschen. Maggie strich sich lächelnd eine Strähne hinter das Ohr, ihre Augen strahlten, und die Miene war gelöst.
„Ich habe ein paar Poster von Akte X in meinem Zimmer. Möchten Sie sie sehen?“
„Timmy, wir wollen gleich essen.“
„Haben wir noch Zeit?“ fragte Maggie Christine.
Timmy wartete, dass seine Mom „sicher“ sagte. Dann nahm er Maggie bei der Hand und führte sie den Flur hinunter.
Nick schwieg, bis sie außer Hörweite waren. „Schön zu sehen, dass er von seinem Meister lernt. Obwohl ich nie auf die Idee gekommen wäre zu fragen: ,Darf ich Ihnen meine Akte-X-Poster zeigen‘ ?“
Christine verdrehte die Augen und warf ein Küchentuch nach ihm. „Komm, hilf mir, und bring mir auch ein Glas Wein.“