1. KAPITEL
Fünf Meilen außerhalb Platte City,
Nebraska,
Freitag, 24. Oktober
Nick Morrelli wünschte, die Frau unter ihm wäre weniger stark geschminkt. Natürlich war das absurd. Er lauschte ihrem leisen Stöhnen - eigentlich mehr einem Schnurren. Wie eine Katze schmiegte sie sich an ihn und rieb ihre weichen Schenkel an seinen. Sie war mehr als bereit für ihn, und trotzdem konnte er nur an den blauen, auf ihre Lider geschmierten Puder denken. Obwohl das Licht gelöscht war, sah er ihn wie fluoreszierende Leuchtfarbe vor seinem inneren Auge.
„O Baby, dein Körper ist so straff“ , gurrte sie ihm ins Ohr und ließ die langen Fingernägel seine Arme hinauf und über den Rücken gleiten.
Er rollte sich zur Seite, ehe sie entdecken konnte, dass durchaus nicht alles an ihm straff war. Was war bloß los mit ihm? Er musste sich konzentrieren, knabberte an ihrem Ohrläppchen, küsste ihr den Nacken und bewegte sich dorthin, wo er sein wollte. Instinktiv fand er ihre Brust und bedeckte sie mit feuchten Küssen. Angie stöhnte leise, als er mit der Zunge die Brustspitze berührte. Er liebte diese Reaktionen, das kurze, heftige Einatmen, das leise Stöhnen, und erwartete sie, ehe er an der Brustspitze sog. Angie bog erschauernd den Rücken durch. Er presste sie an sich und spürte den weichen bebenden Körper in seinen Armen. Gewöhnlich genügte das, ihn auf Touren zu bringen. Heute nicht.
Allmächtiger, verlor er seine Potenz? Unmöglich, für solche Probleme war er zu jung. Schließlich wurde er erst in vier Jahren vierzig.
An welchem Punkt seines Lebens hatte er überhaupt angefangen, sein Alter nach der Entfernung vom vierzigsten Geburtstag zu definieren?
„Darling, nicht aufhören!“
Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er aufgehört hatte. Ungeduldig bewegte sie die Hüften in einem sinnlichen Rhythmus langsam auf und ab. Ja, sie war eindeutig bereit, und er ebenso eindeutig nicht. Er wünschte, Frauen würden ihn beim Namen nennen und nicht Baby, Darling, Schatz, oder wie auch immer. Hatten Frauen etwa auch Angst, in so intimen Situationen den falschen Namen zu sagen?
Ihre Finger krallten sich in sein dichtes kurzes Haar. Sie riss daran, und der Schmerz überraschte ihn. Dann zog sie sein Gesicht wieder auf ihre Brüste herab. Im schwachen Licht erkannte er ein schiefes Dreieck gebräunter Haut. Was war bloß los mit ihm? Eine schöne Blondine wollte ihn. Warum erregte ihr atemloses Verlangen ihn nicht? Er musste sich konzentrieren und nicht so mechanisch und routiniert vorgehen. Er würde das mit Fingern und Zunge kompensieren. Schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren.
Lachend und knabbernd bewegte er sich ihren Körper hinab. Angie wand sich unter ihm, schmiegte sich an und holte keuchend Atem, ehe er mit den Zähnen ihren Spitzenslip packte. Küssend arbeitete er sich zur Innenseite ihrer Schenkel vor. Ein Geräusch ließ ihn stutzen, und er lauschte angestrengt unter der Bettdecke.
„Nein, bitte nicht aufhören!“ beschwerte sie sich und zog ihn wieder an sich.
Da war es wieder. Ein Klopfen. Jemand war an der Haustür.
„Ich bin gleich zurück.“ Nick schob sacht ihre Hände fort und stolperte aus dem Bett. Beim Auswickeln aus den Laken wäre er fast gefallen. Während er in die Jeans sprang, sah er die Uhr auf dem Nachttisch - 22.36 Uhr.
Er kannte jedes Knarren der Treppe und ging aus alter Gewohnheit im Dunkeln auf Zehenspitzen hinunter, obwohl seine Eltern seit über fünf Jahren nicht mehr in dem alten Farmhaus lebten.
Das Pochen war jetzt lauter und drängender.
„Warten Sie eine Minute!“ rief er ungeduldig und doch erleichtert über die Störung.
Als Nick die Tür öffnete, erkannte er den Sohn von Hank Ashford, erinnerte sich jedoch nicht an seinen Namen. Der Junge war sechzehn oder siebzehn, Linebacker seines FootbaUteams und gebaut, als könnte er zwei bis drei gegnerische Spieler gleichzeitig wegdrücken. Doch wie der Junge heute Abend auf seiner Veranda stand, wirkte er jämmerlich, die Hände tief in den Taschen vergraben, der Blick wild, das Gesicht blass. Er fröstelte trotz der Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Sheriff Morrelli, Sie müssen kommen ... zur Old Church Road ... bitte, Sie müssen ...“
„Wurde jemand verletzt?“ Die frische Nachtluft stach wie tausend Nadeln auf seiner Haut. Ein gutes Gefühl.
„Nein, es ist nicht... er ist nicht verletzt ... o Gott, Sheriff, es ist so schrecklich!“ Der Junge blickte zu seinem Wagen. Nick bemerkte das Mädchen auf dem Vordersitz. Trotz der Blendung durch die Scheinwerfer sah er, dass es weinte.
„Was ist los?“ wollte er wissen, wonach der Junge sprachlos die Arme vor der Brust verschränkte und das Gewicht einige Male von einem Bein auf das andere verlagerte.
Was für ein blödes Spiel hatten sie diesmal ausgeheckt? Letzte Woche hatte sich eine Gruppe Jungs mit einigen von Jake Turners Geländewagen ein Wettrennen geliefert. Der Verlierer war in einen Graben voller Regenwasser gestürzt. Er hatte von Glück sagen können, dass er mit gebrochenen Rippen und der milden Strafe, zwei Footballspiele aussetzen zu müssen, davongekommen war.
„Was zum Teufel ist diesmal passiert?“ brüllte Nick den zitternden Jungen an.
„Wir haben ... unten an der Old Church Road ... im hohen Gras. O Gott, wir haben ... wir haben einen Körper gefunden.“
„Einen Körper?“ Nick war nicht sicher, ob er ihm glauben durfte. „Du meinst, einen toten Körper?“ War der Junge betrunken? Oder vollgedröhnt?
Der Junge nickte, Tränen in den Augen. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Sweatshirts über das Gesicht, blickte von Nick zu seiner Freundin und wieder zu Nick.
„Warte ‘ne Minute.“
Nick ging ins Haus zurück und ließ die Fliegendrahttür zuschlagen. Wahrscheinlich hatten die sich das eingebildet. Oder es war ein vorgezogener Halloween-Streich. Die waren auf einer Party gewesen und jetzt wahrscheinlich beide voll. Er zog seine Stiefel an, ohne Socken, nahm das Hemd vom Sofa, wo er es vorhin hingeworfen hatte, und ärgerte sich, dass ihm beim Zuknöpfen die Finger zitterten.
„Nick, was ist los?“
Die Stimme vom oberen Treppenabsatz überraschte ihn. Er hatte Angie völlig vergessen. Gerade aus dem Bett gestiegen, umspielte das lange blonde Haar ihre Schultern. Das blaue Augenmake-up war aus dieser Entfernung kaum zu sehen. Sie trug eins seiner T-Shirts. Vor dem schwachen Licht aus dem Flur wirkte es durchsichtig. Als er jetzt zu ihr aufsah, konnte er nicht mehr nachvollziehen, warum er erleichtert gewesen war, von ihr wegzukommen.
„Ich muss etwas überprüfen.“
„Wurde jemand verletzt?“
Das klang eher neugierig als besorgt. Lechzte sie nach ein bisschen Klatsch, damit sie die Gäste, die ihren Morgenkaffee in Wandas Diner tranken, unterhalten konnte?
„Ich weiß es nicht.“
„Hat jemand den kleinen Alverez gefunden?“
Allmächtiger, daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Der Junge wurde seit Sonntag vermisst. Er war verschwunden, einfach so, ehe er seine Runde als Zeitungsausträger begonnen hatte.
„Nein, ich glaube nicht“ , erwiderte Nick. Sogar das FBI glaubte, dass der Junge von seinem Vater mitgenommen worden war, den sie immer noch suchten. Es war ein schlichter Fall von Sorgerechtsstreit. Und das hier war ein schlichter Fall von übermütigen, Streiche spielenden Teenagern.
„Es dauert vielleicht eine Weile, aber du kannst gerne bleiben.“
Er schnappte sich die Schlüssel seines Jeeps und fand den jungen Ashford auf den Verandastufen sitzend, die Hände vors Gesicht geschlagen.
„Gehen wir.“ Sacht zog Nick ihn hoch. „Ihr zwei solltet bei mir einsteigen.“
Nick wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, Unterwäsche anzuziehen. Jedes Mal, wenn er die Kupplung trat und den Gang einlegte, kratzte ihn die Jeans. Um alles noch schlimmer zu machen, war die Old Church Road vom Regen der Vorwoche mit tiefen Pfützen übersät. Kiesel sprangen gegen die Karosserie, während er in Schlangenlinien die tiefen Löcher umfuhr.
„Was genau habt ihr zwei hier draußen zu suchen?“ Sobald er die Frage gestellt hatte, erkannte er das Offensichtliche. Er musste nicht mehr siebzehn sein, um sich an die Vorzüge einer alten verlassenen Schotterpiste zu erinnern. „Schon okay“ , fügte er hinzu, ehe einer von beiden antworten konnte. „Sagt mir einfach nur, wohin ich fahren muss.“
„Noch etwa eine Meile, gleich hinter der Brücke. Da verläuft ein Weideweg am Fluss entlang.“
„Sicher, okay.“
Ihm fiel auf, dass der junge Ashford nicht mehr stammelte. Vielleicht wurde er allmählich nüchtern. Das Mädchen hingegen, das zwischen ihm und dem Jungen saß, sprach kein Wort.
Nick verlangsamte das Tempo, als der Jeep über die Holzplankenbrücke rumpelte. Er entdeckte den Weideweg, ehe Ashford ihn darauf hinwies. Sie holperten und schlitterten über die Lehmpiste, die aus tiefen, mit schlammigem Wasser gefüllten Furchen bestand.
„Bis ganz runter zu den Bäumen?“ Nick warf Ashford einen Seitenblick zu, der nur nickte und geradeaus sah. Als sie sich dem Schutzgürtel aus Bäumen näherten, verbarg das Mädchen das Gesicht am Sweatshirt des Jungen.
Nick hielt an, stellte den Motor aus und ließ die Scheinwerfer brennen. Er langte über die beiden hinweg und holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach.
„Die Tür klemmt“ , informierte er Ashford und sah die beiden Blicke tauschen. Offenbar wollten sie den Jeep nicht verlassen.
„Du hast nicht gesagt, dass wir ihn uns noch einmal ansehen müssen“ , flüsterte das Mädchen Ashford zu und klammerte sich an seinen Arm.
Nick stieg aus und schlug die Wagentür zu. Das Echo durchschnitt die Stille der Nacht. Meilen im Umkreis gab es nichts, keinen Verkehr, keine Farmbeleuchtung. Sogar die nachtaktiven Tiere schienen zu schlafen. Er stand am Jeep und wartete. Der Junge sah ihn zwar an, stieg aber nicht aus. Anstatt auf seiner Begleitung zu beharren, ließ Nick den Lichtstrahl der Taschenlampe über ein Gebiet am Flussufer wandern. Das Licht fiel durch dichtes Gras auf dunkles Wasser. Ashford folgte dem Lichtkegel mit dem Blick, zögerte, sah Nick an und nickte.
Hohes Gras wischte um Nicks Knie und verdeckte den Schlamm, der an seinen Stiefeln zerrte. Herrgott, war das dunkel hier. Sogar der blassgelbe Mond verbarg sich hinter einem Schleier aus Wolken. Er fuhr herum und schwenkte den Lichtstrahl von Baum zu Baum. War da eine Bewegung? Dort, im Gebüsch? Er hätte schwören mögen, dass sich dort ein Schatten vor dem Licht duckte. Oder war das nur Einbildung?
Nick strengte sich an, hinter die dicken Äste zu sehen. Er hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Wahrscheinlich der Wind. Er lauschte wieder und merkte, dass es windstill war. Unwillkürlich fröstelnd, wünschte er, eine Jacke mitgenommen zu haben. Das war doch verrückt. Er ließ sich doch nicht von einem Teenagerstreich ins Bockshorn jagen. Je eher er der Sache auf den Grund ging, desto früher war er wieder im warmen Bett.
Das platschende Geräusch bei jedem Schritt wurde lauter, je näher er dem Fluss kam. Es war anstrengend zu gehen, wenn man den Fuß jedes Mal aus dem Schlamm ziehen und vorsichtig wieder aufsetzen musste, um nicht auszurutschen. Seine neuen Stiefel waren ruiniert. Er konnte schon spüren, wie die Füße nass wurden. Keine Socken, keine Unterwäsche, keine Jacke.
„Verdammt“ , murmelte er vor sich hin, „ich hoffe für euch, dass an der Sache was dran ist.“ Er würde fuchsteufelswild werden, falls er auf eine Gruppe Teenager stieß, die Verstecken mit ihm spielten.
Der Lichtstrahl erfasste etwas Glitzerndes im Schlamm, nahe am Wasser. Den Blick auf den Punkt gerichtet, beschleunigte Nick seine Schritte. Er war fast dort und hatte das hohe Gras beinah hinter sich gelassen, als er plötzlich stolperte, das Gleichgewicht verlor und hart zu Boden stürzte, wobei er mit den Ellbogen den Aufprall abfing. Die Taschenlampe flog ihm aus der Hand und landete im Wasser.
Er ignorierte den stechenden Schmerz, der seinen Arm hinauf schoss. Der saugende Schlamm zerrte an ihm, als er sich mit den Händen abstützend auf die Knie aufrichtete. Ein widerlicher Gestank stach ihm in die Nase. Das war mehr als der übliche Verwesungsgeruch vom Fluss. Das silbrige Objekt lag fast in Reichweite, und er erkannte jetzt, dass es ein Anhänger in Kreuzform war. Die Kette war gerissen und lag abseits im Schlamm.
Nick sah zurück, um festzustellen, worüber er gestolpert war. Er war gegen etwas Festes gestoßen, vermutlich einen umgestürzten Baumstamm. Doch kaum einen Meter entfernt lag, in Schlamm und Blätter eingebettet, ein kleiner weißer Körper.
Nick rappelte sich auf, die Knie weich, der Magen in Aufruhr. Der Geruch wurde intensiver, erfüllte die Luft und quälte seine Nase. Langsam näherte er sich dem Körper, wie um den Jungen nicht aufzuwecken, der trotz der aufgerissenen, in den Himmel starrenden Augen aussah, als schliefe er. Dann entdeckte er die durchschnittene Kehle und den verstümmelten Brustkorb mit der aufgerissenen, zurückgeklappten Haut. In dem Moment stülpte sich sein Magen um, und die Knie gaben nach.