Kapitel Acht
Der menschliche Verstand agiert innerhalb eines Gehirns, das als Fleischklumpen in Einheitsgröße daherkommt. KI-Verstandeseinheiten hingegen agieren in Trägersystemen, die so vielgestaltig und unterschiedlich ausfallen wie die darin enthaltenen Persönlichkeiten. Der mdlegende Golemverstand ist in einem »Gehirn« gespeichert, das ich als faustgroße Raute aus Kristallen darstellt, durchzogen von supraleitenden Nanofasern und MikroOptiken, Milliarden von Halbleiterlaminaten, Stromzuleitungen und Kühlschläuchen. Er entspricht im Großen und Ganzen dem menschlichen Verstand, verfügt jedoch über ein fotografisches Gedächtnis und arbeitet mit zehnfacher Geschwindigkeit, obwohl ihn anthropomorphe Emulationsprogramme einschränken. Nach dem alten IQ_-System erzielt ein Golem einen Wert von etwa 150. Solche Messverfahren sind heute jedoch weitgehend belanglos, da man Golems aufrüsten kann, und Verstärker und Netzverbindungen können sogar den erwähnten Fleischklumpen über seine entwicklungsgeschichtlichen Grenzen hinausführen. Außerdem ist es möglich, einen menschlichen Verstand in Silizium zu übertragen und damit zur KI zu machen, und falls die entsprechenden Gerüchte zutreffen, kann man ein KI-Bewusstsein in ein Menschengehirn überspielen. Und letztlich ist es auch schwierig, sich darüber klar zu werden, was man überhaupt misst. (Auszug aus einer Rede von Jobsworth Vervollständigung… die Symmetrie… ästhetisch gefällig).
Cormac schwenkte die Beine aus dem Bett und stand fluchend auf. »Jack, bringe uns aus dem Subraum und richte eine Communikationsverbindung über das Runciblenetz ein!«
Die KI stellte diesen Befehl nicht in Frage, und Cormac spürte
sofort den Ruck, die Verschiebung, als die Jack Ketek im Realraum auftauchte.
Eine Sekunde lang dachte Cormac, dass irgendwo auf dem Schiff eine
Schwachstelle in der Abschirmung vorlag, denn das, was er gerade
gespürt hatte, war beinahe schmerzhaft gewesen. Dann wurde ihm
klar, dass die Erklärung eine andere sein konnte: Wahrscheinlich
lag diese Empfindung allein in ihm begründet. Vielleicht wurde er
allmählich übertrieben empfindsam, wie jemand, der zu lange
allergenen Stoffen ausgesetzt gewesen war? Er verwarf diesen
Gedanken - vorerst.
»Okay, führe eine Netzsuche nach dem Spartagolem Cento durch.«
»Hat das einen Bezug zu unserem derzeitigen Einsatz?«, fragte Jacks Stimme bleischwer. »Symmetrie - erkennst du das nicht? Als sie davon sprach, glaubte ich, es wäre eine Metapher oder eine nur vage Formulierung, aber sie sprach damit im Grunde etwas Spezifisches an. Um Mr. Crane zu komplettieren, ihn symmetrisch und ästhetisch gefällig zu machen, braucht Skellor etwas, was Cento hat.«
»Skellor… bei seinen technischen Fähigkeiten? Er könnte mühelos einen Arm als Gegenstück zu dem herstellen, über den Crane schon verfügt.«
»Ja, das könnte er, aber unter all dieser hässlichen Dschainatechnik und seiner Kristallmatrix-KJ existiert ein Aspekt Skellors, den wir nicht vergessen dürfen.«
»Welchen Aspekt dürfen wir nicht vergessen?«
»Dass er ein vollständiger Mistkerl ist.«
»Frage: Schwäche?«
»Das war früher - konnte einfach nicht dem Bedürfnis widerstehen, sich zu brüsten. So, was tun Thorn und Gant derzeit, und wieso zum Teufel rede ich hier überhaupt mit einer deiner Sub-KIs?«
Nach langer Unterbrechung antwortete Jacks besser bekannte
Stimme: »Verzeihung - war anderweitig beschäftigt. Gant wartet vor
der Krankenstation. Was Thorn angeht, so ist er zusammengebrochen,
während Sie schliefen, und derzeit wird sein Myzelium operativ
entfernt.« Cormac zog sich an. »Warum hat man mir das nicht
gesagt?« »Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil damit nichts
Bedeutsames erreicht worden wäre. Ich vermute, dass Gant mit
anderen Sorgen beschäftigt war - wie seinen Freund wiederzubeleben
und auf die Krankenstation zu tragen.« Nicht nötig, gereizt zu reagieren,
entgegnete Cormac über die Netzverbindung, als er auf die
Kabinentür zuging. Während er dann unterwegs zum Schwebeschacht
war, nahm er auf unterer Ebene Zugriff auf Jack, um eine
Sichtverbindung zum Operationsraum zu erhalten.
Ah, man hatte mich schon über diese neue Fähigkeit von Ihnen informiert.
Cormac grunzte, als die KI seinen Zugriffsversuch mit fast so etwas wie physischer Gewalt abwehrte. Ich möchte doch nur wissen, was vorgeht!
Uber Interkom antwortete Jack: »Patran Thorn hat ein Bedürfnis nach Privatsphäre zum Ausdruck gebracht, was diese Angelegenheit betrifft, und er soll sie haben. Falls in irgendeiner Form Sicherheitsbelange betroffen wären oder der Eingriff irgendeine Auswirkung auf den derzeitigen Einsatz hätte, erhielten Sie vollen Zugriff.«
Als Cormac vor dem Schwebeschacht eintraf, zögerte er vor der Steuertafel. Ihn überraschte das Ausmaß seiner Besorgnis um Thorn und das drängende Bedürfnis, an dessen Seite zu sein. Aber er unterdrückte es. Tatsächlich war Thorn in den denkbar besten Händen - falls es Hände waren. Laut sagte er: »Okay, halte mich auf dem Laufenden, aber sage Gant, dass ich ihn auf der Brücke erwarte. Und führst du bereits die Netzsuche durch?«
»Das tue ich. Wahrscheinlich dauert es einige Minuten, ehe wir
die Antwort erhalten.« »Zeitlose Kommunikation?«
»Nur wenn Sie ohne Zeitaufwand wissen, was genau Sie sagen möchten.«
Cormac schnaubte und stellte den Schacht darauf ein, ihn zur Brücke zu tragen. Als er schließlich hervortrat, fand er sich unter einem nur leicht mit Sternen bestäubten Himmel wieder, während Gant hinter ihm heranstürmte.
»Was ist los?«, fragte Gant.
Cormac betrachtete ihn forschend. Der Verstand dieses Soldaten war menschlicher Natur, aber direkt in die Kristallmatrix eines Golemkörpers übertragen, und Cormac fragte sich, wie real die vom Gesicht ausgedrückte Sorge war. Aber andererseits konnte man den gleichen Zweifel jedem Gefühlsaus-druck im Gesicht auch eines echten, lebenden Menschen entgegenbringen. In allen Fällen zählte das, was man tat, nicht das, was im eigenen Kopf ablief.
»Wie geht es ihm?«, fragte er.
Gant schüttelte den Kopf. »Er lebt - aber er wird bald in Kälteschlaf versetzt.«
»Du wirst ihn zurückholen.«
Jetzt ohne jeden Ausdruck fragte Gant: »Warum sind wir aus dem Subraum aufgetaucht?« »Symmetrie«, antwortete Cormac kurz und bündig. »Skellor ist hinter Cranes fehlendem Arm her
- dem Arm, den Cento jetzt hat.«
»Arrogant… und dumm.«
»Er denkt vielleicht eher, dass er absolut tüchtig ist und die Dinge unter Kontrolle hat.« Cormac wandte sich ab und sah sich auf der Brücke um. Wie als Reaktion darauf erhob sich Jacks Automat aus dem Sessel, begleitet von diesem getriebemahlenden Geräusch, und seine Augen glitzerten. »Jack, ich würde gern wieder mit Aphran reden.«
Die KI antwortete nicht. Vielmehr sackte der Automat erneut im
Sessel zusammen, und die Augen gingen aus. Eine Linie lief neben
Cormac durch die Luft, und die junge Aphran trat aus der hohlen
Luft hervor.
»Weiß Skellor, dass du … noch existierst?«, fragte er sie unverblümt.
»Ich habe ihm von dem Licht erzählt - als es schon zu spät war.«
»Also weißer es?«
Aphran hing einfach dort in der Luft und reagierte nicht darauf.
Cormac schluckte seine Enttäuschung herunter. »Okay, lassen wir das. Wusste er, wie viel du von seinen Plänen weißt?«
»Er wusste nicht, wie nahe ich ihm war, und als er die Brückenkapsel aus der Occam Razor ausstieß, glaubte er mich zurückzulassen. Ich habe mich vor ihm versteckt, blieb ihm aber nahe. Nahe in der Dunkelheit.«
Cormac drehte sich zu Gant um, der zur Seite des Salons hinüberblickte, wo etwas Neues aufgetaucht war. Als Cormac diesem Blick folgte, stellte er fest, dass Jack seine Sammlung um einen elektrischen Stuhl ergänzt hatte. Er verzog das Gesicht. »Bemühen wir uns doch, die Ablenkungen zu ignorieren.«
»Verzeihung«, sagte Gant und wandte sich wieder ihm zu.
Cormac legte eine Pause ein und fuhr fort: »Mal angenommen, dass Skellor nicht von Aphran weiß. Als er mit der Vulture abflog, muss er gewusst haben: Wir würden die Brückenkapsel finden und somit herausfinden, dass er noch lebt. Seiner Meinung nach würden wir jedoch nichts von seinem Ziel oder seinen Absichten wissen, und unsere Chance, ihn zu finden, wäre minimal. Er wird denken, dass er sich keiner gefährlicheren Maßnahme entziehen muss als einer umfassenden Suche nach ihm über ein großes und ständig zunehmendes Raumgebiet hinweg.«
Gant sagte: »Wahrscheinlich denkt er, wir würden davon ausgehen,
dass er geflohen ist.« »Absolut. Also glaubt er wohl, reichlich
Zeit und viel Raum für seine Machenschaften zu haben -und deshalb
hat er auch das Gefühl, er könnte spielen. Nach seiner eigenen
Einschätzung ist er ein sehr mächtiges Wesen, das nach Lust und
Laune und ohne Risiko einer Entdeckung reisen kann,
sowohl innerhalb als auch außerhalb der Polis. Er wird nie damit rechnen, dass ihm jemand direkt auf den Fersen ist.«
»Und wir möchten nicht, dass er es erfährt, weil er dann vielleicht untertaucht.«
»Ich habe inzwischen Informationen über Cento erhalten«, meldete sich Jack plötzlich zu Wort. »Hören wir uns das mal an«, sagte Cormac und betrachtete Aphran, die jetzt so aussah, als hätte die kurze Befragung von vorhin sie bis auf die Knochen erschöpft.
»Der Golem wurde auf einen simplen Einsatz geschickt, mit dem Ziel, die Entdeckung eines alten Artefakts zu bestätigen, und seitdem besteht keine Verbindung mehr zu ihm - obgleich das nicht ungewöhnlich ist, da keinerlei Vorkehrung getroffen worden war, eine Kommunikationsverbindung aufrechtzuerhalten. Der Sektor-KI ist es zwischenzeitlich nicht gelungen, Kontakt zur Trägerschale aufzunehmen.«
»Trägerschale?«, fragte Gant.
Jack fuhr fort: »Ein Landungsboot wurde im Rumpf eines Subraumträgerschiffs zum Fundort des Artefakts entsandt. Beide sind Privateigentum einer Stiftung für Archäologie; beide sind über zweihundert Jahre alt und ohne KI-Steuerung. Das Landungsboot verfügt nicht nur über keine Subraumtrieb-werke, sondern auch über keinen Subraumsender.«
»Jack«, sagte Cormac, »vergiss Viridian und bring uns lieber dorthin. Ich denke, dort finden wir eine frischere Fährte.« Jetzt blickte er zu dem elektrischen Stuhl hinüber. »Außerdem solltest du mehr ausgehen, Jack.«
Die Magmarinnsale auf dem Rumpf des Vermessungsschiffs strahlten
ins Vakuum ab, während sie kühler wurden. Die Trägerschale, die
jetzt vor dem Boot wie eine riesige eiserne Schraubenmutter im
Weltraum hing - wobei das Loch im Zentrum für die Aufnahme des
Vermessungsschiffs geformt war statt für irgendeinen Riesenbolzen -
hatte sich schon abgekühlt. Cento dachte sich, dass er im Grunde
mit so was gerechnet hatte, und studierte analytisch das durch die
Flanke der Schale gestanzte Einschussloch und die strahlenförmig
rings um diesen Schaden verlaufenden Spritzer geschmolzenen
Metalls. Entweder war Skellors Schiff mit kinetischen Waffen
ausgerüstet, oder der Mann hatte sich irgendein kosmisches
Trümmerstück im System gegriffen und auf die Schale geschleudert.
Wie er es erreicht hatte war nicht wichtig. Allein das Ergebnis
zählte: Alle Systeme des Trägers waren ausgefallen, und es schien,
als würde er nie mehr Schiffe durch den Subraum transportieren.
Trotzdem lenkte Cento das kleine Schiff ins Andockloch. Drei der
zehn automatischen Halteklammern packten zu, und das Schiff wurde
an die Luftschleuse und die Tank- und Aufladeanlagen herangeführt;
weitergehende Aktivität blieb jedoch aus. Cento öffnete den
Sicherheitsgurt und stieß sich nach achtern ab. Wenigstens brauchte
er sich hier nicht mit Schwerkraft herumzuschlagen.
Die Luftschleuse des Bootes war mit jener der Trägerschale verkoppelt, aber die Einstiegsluke zur Schale öffnete sich nicht, obwohl sie eine eigenständige Stromversorgung hatte. Welches System auch immer sie steuerte, es war intelligent genug für die Erkenntnis, dass das Landungsboot keine Luft enthielt, jedoch nicht ausreichend intelligent für die Überlegung, dass der einzige Passagier anscheinend nicht zu atmen brauchte. Cento beherrschte das, was er an Frustration emulieren konnte, kehrte ins Cockpit zurück und schaltete den Computer wieder ein. Dieser informierte ihn per Monitor freundlicherweise darüber, dass an Bord keine Atmosphäre existierte, ihm jedoch mehrere Optionen zur Verfügung standen.
»Dumme Maschine«, formulierte er im Vakuum mit den Lippen und wies den Computer an, das Landungsboot von neuem mit Luft zu füllen. Dann kehrte er zur Luftschleuse zurück und wartete lange Minuten darauf, dass sich die Luke öffnete. Er fluchte lautstark, als sich die Luke nach wie vor zu öffnen weigerte, diesmal weil die Trägerschale selbst keine Atmosphäre enthielt, und
machte sich auf die Suche nach dem nötigen Werkzeug. Drei Stunden später konnte er die Luke endlich durchqueren.
Brände hatten das Innere der Schale verwüstet, waren vom explosiven Einschlag durch die ringförmigen Transitröhren getrieben worden. Cento legte drei Viertel der Ringbahn zurück und fand schließlich die Einschlagsstelle, wo er einen forschenden Blick in den Schacht warf, den der Fremdkörper durch die Trägerschale gestanzt hatte. Skellors Schuss war bewundernswert präzise gezielt gewesen. Was das auch immer für ein Objekt gewesen war, es hatte eines der drei ausbalancierten Subraumtriebwerke durchschlagen und auch den Hauptfusionsgenerator zerstört. In einer Hinsicht schätzte sich Cento glücklich: Wenigstens war der Generator einfach nur ausgefallen und nicht explodiert - denn in einem solchen Fall hätte hier überhaupt keine Trägerschale mehr existiert. Er stieß sich jetzt durch den Hohlraum ab und steuerte sich in die Transitröhre dahinter. Als er endlich die gesuchte Stelle erreichte - eine schlichte Schiebetür -, trieb er die flache Hand mit solcher Wucht durch die dünne Schicht aus Metall und Isolierung, dass er sie glatt durchschlug, ohne dass ihn die Reaktion rückwärts schleuderte. Innerhalb einer Minute hatte er ein ausreichend großes Loch in die Tür gerissen, um hindurchzusteigen.
Der Raum dahinter enthielt Konsole, Holojektor, Kamera und optische Leitungen, die auf die Außenflanke der Schale führten. Nichts schien hier beschädigt, aber Cento hatte keine Vorstellung davon, in welchem Zustand der Außenemitter wohl war. Er senkte die Hand und riss sich die restlichen Fetzen des Wärmeanzugs vom Leib sowie anschließend die ähnlich beschädigte Synthohaut. Er tastete in den eigenen Eingeweiden herum, fand ein abgeschirmtes Stromkabel, folgte diesem in die Brust und zog es dort aus dem Stecker. Sehvermögen und Beweglichkeit ließen nach, aber nicht so, dass er das Kabel nicht mehr in den Universaladapter unterhalb der Konsole hätte stecken können. Sofort leuchteten die Displays der Anlage auf.
. Mit bedächtiger Präzision gab er die Tastsequenz für eine Systemdiagnose ein und fand bald heraus, dass der Subraumtransmitter in allerbestem Zustand war. Er tippte die gewünschte Nachricht und die alles entscheidenden Koordinaten ein. Jetzt war es an der Zeit zu senden - und zu schlafen. Er erteilte die Instruktion, so lange zu senden, bis eine Empfangsbestätigung eintraf. Dann fand er gerade noch die Zeit, fest den Handgriff neben der Konsole zu packen, ehe ihm das künstliche Bewusstsein schwand - da der Transmitter den Löwenanteil seiner körpereigenen Stromerzeugung verbrauchte.
Die Quarantänekapsel, in der Mika gesteckt hatte, war zusammen mit all der dazugehörigen Ausrüstung in einem der Fusionsöfen der Jerusalem vernichtet worden. Anschließend wurde die Umgebung bis auf molekulares Niveau erkundet und auf »Kontaminierungsstufe 5« eingeordnet. Mika wusste schon, dass nichts mehr als sauber klassifiziert werden konnte, was jemals mit Dschainatechnik in Berührung gekommen war. Sie saß jetzt an einem Arbeitsplatz, wo sie ersatzweise das Myzelium in der Brückenkapsel studierte, die von der KI auf kaum über dem absoluten Nullpunkt gehalten wurde.
»Man findet da etwas«, sagte sie, den Blick auf dem Monitor, »das man wohl als Pikotech bezeichnen könnte. Allerdings kann man viele Aspekte nur indirekt erschließen, da uns die Instrumente für eine direkte Erforschung fehlen.«
»Das ist keineswegs unmöglich - meine eigenen atomaren Prozessoren fallen unter diese Klassifizierung«, sagte die körperlose Stimme Jerusalems.
Mika nickte und ging zum partiellen VR-Eintrittsgerüst, das ihr zentrales Forschungsinstrument war. Sie drückte sich rücklings in das Gerüst, das sich um ihre Arme und Beine schloss, die Hände in Handschuhe steckte und ihr eine Kapuze übers Gesicht zog. Der Eintritt in die virtuelle Realität war nur partiell, weil er nicht alle ihre Sinne beanspruchte, sondern nur Sehen, Hören und die Tastfähigkeit der Hände. Einen vollständigen Eintritt gedachte sie nur dann ins Auge zu fassen, falls sie jemals Dschainatechnik riechen - oder mit ihr Sex haben wollte.
In der VR fand sie sich plötzlich in einem gewaltigen Raum unter einem flachen weißen Himmel wieder. Neben ihr schwebten die bunten Würfel, Tetraeder, Kugeln und anderen euklidischen Körper ihrer zahlreichen Steuerelemente. Sie streckte die Hand nach einem Heptaeder aus und zerbrach es in einen Regenbogen aus Pyramiden. Sie packte die blaue Pyramide und sagte: »Bild.«
Sofort breitete sich die nanoskopische Perspektive, die sie zuvor auf einem Monitor angeschaut hatte, vor ihr wie ein Gebirge aus. Indem sie das Icon in ihrer Hand und dann auch eine aus der Luft ausgewählte Kugel manipulierte, transplantierte sie ein einzelnes großes Molekül und erweiterte es vor ihr ins Riesenhafte, während sie die ursprüngliche Darstellung löschte. »Allein auf molekularer Ebene erfordert dieses Projekt Tage an Verarbeitungszeit, und danach weiß ich nur, was dieses Zeug aus sich selbst heraus bewirken kann, nicht wie es mit den Milliarden anderer Moleküle in Wechselwirkung tritt, die dieses Myzelium bilden.«
»Ja, es ist, als erforschte man eine DNA.«
Mika warf einen Blick auf den silbernen, augenlosen Kopf, mit dem sich Jerusalem am liebsten darstellte. Sie fuhr fort: »Es ist noch schlimmer. Bei DNA weiß man wenigstens, dass sich ihre Funktion auf die molekulare Ebene beschränkt - es geht nicht um noch Kleineres.«
Jerusalem legte eine Pause ein, ehe sie entgegnete: »Manche würden Ihrer Meinung bezüglich der DNA widersprechen, aber es ist eine akademische Frage. Es ist Ihnen gelungen, den Zweck einer Kette dieser Moleküle zu bestimmen und aus ihnen das Myzelium zu entwickeln, das Apis Coolant und Ihnen selbst das Leben rettete.«
»Neunundneunzig Prozent waren reine Spekulationen über den generellen Zweck der Struktur, und letztlich habe ich es ohnehin falsch gemacht.«
»Trotzdem… «
Mika blickte an dem riesigen Gebäude empor: Jedes Atom hier war groß genug, um es in die Hand zu nehmen. Sie drehte ein kleines virtuelles Einstellrad und damit das Riesenmolekül. Sie vermutete, dass sich manche Leute von der Komplexität der Aufgabe hätten abschrecken lassen, aber ungeachtet der eigenen Worte war sie einfach nur aufgeregt über dieses Projekt. Sie hatte schon mit weiteren Forschern an Bord der Jerusalem gesprochen und herausgefunden, dass es ihnen ganz ähnlich ging. Und Tausende von ihnen waren an Bord; jeder Einzelne studierte eine einzelne kleine Facette der Dschainatechnik, ein Stück des dreidimensionalen Puzzles, während Jerusalem selbst alles zusammenfügte.
Durch Auswahl einer roten Münze mit einem Ouroboros auf einer Seite startete Mika ein Programm, entwickelt von der KI, das eine virtuelle Analyse des Moleküls durchführte. Wie ein Netz fiel ein würfelförmiges Gitter aus leuchtenden Linien herab und umschloss das Molekül. Das Programm wählte nun einige Teilwürfel aus und löste die von ihnen umfassten atomaren Strukturen aus dem Hauptkorpus, drehte sie in der Luft und spuckte Formeln und ganze Bände von Daten aus wie Hieroglyphen, die an Insektenflügel erinnerten. Neben Mika stiegen Flachbildschirme aus dem Boden und stellten die Ergebnisse dar, wie sie jeweils eingingen. Durch Anwahl eines ganzen Bogens aus farbigen Münzen, die Ikonen des Lebenskovens zeigten, startete sie nun eigene Programme zur Analyse dieser Ergebnisse und wiederholte diesen Vorgang mehrfach. Durch Erprobung von Szenarien und eines gewaltigen Spektrums an Umweltparametern versuchte sie, die theoretischen Funktionen des Moleküls zu ergründen. Zuzeiten brachen ihre Theorien unter diesen virtuellen Tests zusammen, zu anderen Zeiten hielten sie ihnen stand.
Wie eine von sichtbaren Zauberformeln und heraufbeschworenen Edelsteinen umringte Magierin arbeitete sie nun schneller und verengte das Spektrum ihrer Fragen. Sie stellte fest, dass in einer oxidierenden Atmosphäre ein Teil der atomaren Struktur - auf ähnlichem Weg wie der Blutfarbstoff Hämoglobin - Sauerstoff anlagerte. Daraufhin diente die Struktur als Katalysator und formte das Molekül mit Hilfe des Sauerstoffs in jede feste Substanz um, mit der sie in Berührung kam. Stunden später fand Mika heraus, dass die Metallatome in dem Molekül manche Stoffe ionisierten und damit den Umformungsprozess vervollständigten. Einfach ausgedrückt: Eine sichtbare Menge dieser Verbindung würde wie eine starke, immer aktive Säure funktionieren. Aber selbst das war noch nicht alles, wie es schien. Mika wurde jetzt richtig aufgeregt, als sie sah, was das Zeug mit Kohlenstoff anstellte: Es formte ihn auf seinem zerstörerischen Weg zu zylindrischen Nanoröhren um. Das kannte Mika schon aus der Nanotechnik der Polis.
»Bohrkopf und Kabelleger«, stellte sie plötzlich fest. Jerusalem, die lautlos von ihrer Seite verschwunden war, tauchte wieder auf. »Das ist ein Teil davon, ja. D’nissan, Colver und James arbeiten jeder an anderen Teilen.« Mit diesen Worten tauchten drei weitere riesenhaft vergrößerte Moleküle ein gutes Stück über Mika auf und sahen dort aus wie plumpe Monde. »Das Molekül, das Sie erforschen, funktioniert zum Beispiel nicht im Vakuum. D’nissan hat eines entdeckt, das gänzlich mit nanoskopischer Ionisation arbeitet und dabei aus dem Hauptkorpus der Dschainastruktur elektrische Energie erhält; Colver hat metallische Nanoröhren entdeckt, die mechanisch bohren.« Während die KI redete, wurde jede geschilderte Funktion kurz in virtueller Darstellung beiderseits von Mika demonstriert. Jerusalem zeigte ihr damit, dass die Forschungsergebnisse ihrer Kollegen für sie verfügbar waren, falls sie sie benötigte.
»Was ist mit James?«, fragte Mika geistesabwesend; dann wurde ihr auf einmal klar, was sie gesagt hatte, und war begeistert darüber, wie natürlich ihr die Frage über die Lippen gegangen war.
»Susan James hat eine Molekularstruktur ähnlich Ihrer entdeckt, die aber ängströmbreite optische Leitungen innerhalb größerer Nanoröhren aus imprägniertem Kohlenstoff verlegt, der seinerseits als Supraleiter dient.«
»Verdammt!«, sagte Mika und starrte fasziniert auf die Darstellung besagten Moleküls im aktiven Zustand.
»Kann man wohl sagen«, bekräftigte Jerusalem. »Aber immerhin hat die Polis-Wissenschaft aufgrund dieser Forschungen in der zurückliegenden Stunde wahrscheinlich so große Fortschritte gemacht wie sonst in zehn Jahren.«
»Weißt du«, sagte Mika, die sich gerade darüber klar wurde, dass sie gerade mal zehn Prozent der Funktionen ihres Moleküls bestimmt hatte, »wir könnten noch viel mehr erfahren und das auch viel schneller, falls wir es in Aktion studierten.«
»Das wäre ein sehr gefährlicher Weg.«
»Ja, richtig, aber wir können die Technik von dem Medium isolieren, das sie für ihre Ausbreitung benötigt, und falls das scheitern sollte, hast du da draußen immer noch Schiffe mit Implosionsraketen … «
»Darüber wurde schon diskutiert«, sagte Jerusalem.
»Und ein Beschluss wurde gefasst«, stellte Mika fest.
»Ja.«
»Verdammt, welcher”?«
Jerusalem antwortete: »Dass wir schnell sterben, falls wir nicht schnell lernen.«
Gravofelder von vier g, das Maximum des im Schwebeschacht Herstellbaren, versuchten sie von der Leiter zu pflücken. Crane schloss die Hände mit genügend Kraft, um die Metallsprossen zu zerdrücken, während der Mantel an ihm herabhing und sich der Hut tief über die Stirn dehnte. Skellor hielt sich jeweils fest, wenn eine Welle über sie hinwegfuhr, und stieg weiter hinauf, sobald sie vorbei war; klebrige Fasern rissen von jeder Hand ab, wenn er sie von der Stelle löste,
an die er sich eben noch festgebunden hatte. Von unten drangen die Schreie jener herauf, die gedankenlos in den Schacht gestiegen waren, da sie keine Warnung über das Dracocorp-Netz erhalten hatten. Noch weiter unten sammelten sich die Überreste aufgeprallter Menschen.
Skellor und Crane erreichten die nächste Etage und betraten das Arboretum. Das Laub von Kastanien, hoch aufragenden Nesselulmen und Eichen verbarg die Wand gegenüber. Skellor und Crane standen auf einem Halbkreis aus Granitplatten, und Pfade aus dem gleichen Material liefen rechts und links an der diesseitigen Wand entlang. Zwischen diesem umlaufenden Pfad und den Bäumen lag ein zehn Meter breiter Grasstreifen, der zwischen rosa und blauen Krokussen von winzigen, käferförmigen Rasenmähern kurz gehalten wurde. Im Wald störte ein Interferenzfeld alle Sensorenergebnisse, aber Skellor fing genug Signale auf, um zu wissen, dass Nalens Leute Waffen in Stellung brachten. Er nickte Crane zu, schaltete die eigene Chamäleonware ein und folgte dem nach links führenden Weg. Crane nahm eine andere Richtung, überquerte mit raumgreifenden Schritten, deren jeder ganze Erdklumpen losriss, den Wiesenstreifen und wurde dabei vom weichen Boden kaum abgebremst. Mündungsblitze zwischen den Bäumen: eine Automatikkanone. Skellor strahlte jetzt ein eigenes Interferenzfeld aus, um jede Zielerfassung gegen Crane zu erschweren. Lavendelexplosionen liefen über den Erdboden auf Crane zu und setzten stur ihren Weg fort, als er abschwenkte. Hinter Skellor zerplatzte ein Stück der Wand zu geschmolzenem Plastistahl und weißglühendem Gas. Vor ihm jetzt ein Glashaus; der Nexus - Nalen - zog sich dahinter zurück. Schüsse wurden manuell über die Wand hinter ihm gezogen, als Skellor auf eine Scheibe aus Kettenglas zurannte und ein Decoder-Molekül aus den Händen schleuderte. Das Glas zerfiel zu Staub; er lief hindurch, während Geschrei und Schüsse von Handfeuerwaffen zwischen den Bäumen hervordrangen.
- Rückblick 9 -
Aiston öffnete vorsichtig die Schachtel auf seinem Schreibtisch und schüttete einen funkelnden Haufen matt geschliffener Saphire aus, die er dann mit zitternder Hand auf der Eichenplatte ausbreitete. Mit Bedacht blickte er nicht zu Chaldor hinüber; nicht, dass viel Erkennbares von ihr übrig geblieben wäre: vielleicht die Klauenhand, die im Vorhang hing, das Stück nackter Oberschenkel, das als größtes Einzelstück von ihr übrig war, oder der Haufen blutiger Kleiderfetzen.
»Ich weiß, dass du mich verstehst. Ich weiß, dass hinter diesem Plastikgesicht ein Gehirn arbeitet, das wahrscheinlich höher entwickelt ist als die Hirne Angelinas und Arians zusammengenommen.«
Die Saphire hatten eindeutig sein Interesse geweckt, das Interesse dieses Dings, das nacheinander die Komsendungen sämtlicher Personen auf der Insel ausgeschaltet hatte. Aiston starrte auf die riesige, zerlumpte, blutbespritzte Vogelscheuche, während diese den Kopf wie ein Vogel auf die Seite legte.
»Du musst ein freier Golem sein, den Arian aus welchem Grund auch immer anmieten konnte. Dieser Blödsinn von einem >gebrochenen< Golem ist ein Schauermärchen für Kinder - die Art Geschichte, die Arian gern in Umlauf bringt, um seinen Leuten Angst einzujagen. Auf mich hat es jedoch nicht diese Wirkung, denn du hast aufgehört, woraus ich folgern kann, dass hier mehr vorliegt als ein simpler Tötungsbefehl.«
Der Golem kam einen Schritt weit ins Zimmer und blickte sich um, offensichtlich neugierig auf die Skulpturen aus Otterknochen, die importierten Antiquitäten, das allgemeine Dekor. Dann wandte er sich wieder Aiston und seinen Saphiren zu. Aiston spürte, wie ihm Schweiß über den Rücken lief.
»Die da?« Er deutete auf die vor ihm verstreut liegenden Edelsteine. »Die sind gar nichts. Pelter denkt, dass er hier alle Zügel in der Hand hält, aber seine Organisation ist nur in dreien der
wichtigsten Städte verbreitet. Um diesen Planeten zu lenken, muss man die Papyrusernte und die Meere kontrollieren. Ich habe so viele Erntemanager in der Tasche, dass ich sie nicht mehr zählen kann, und ich kontrolliere den kompletten Schmuggel mit Otterknochen. Pelters Jahresumsatz erreicht nicht mal zehn Prozent der Zinsen, die mein Umsatz abwirft.«
Alston beugte sich vor. Da zeigte sich etwas in diesem Plastikgesicht … er drang zu ihm durch! Er wusste es einfach: Man konnte mit allem, was einen Verstand hatte, immer ein Geschäft abschließen.
»Denk doch nach! Wenn du für mich arbeitest, kannst du alles haben. Ich gebe dir Pelters komplette Organisation. Steig bei mir ein, und du kriegst alles, alles, was du möchtest.«
Aiston spürte, wie ihm der Mund auf einmal trocken wurde. Was sollte man einem Golem-Androiden konkret anbieten?
»Jede Aufrüstung, die du haben möchtest. Du könntest die beste Software ladenjeden Speicherkristall einbauen, dir eine Cybercorp-Synthohaut besorgen.«
Der Golem hob eine blutige Hand und fasste sich ans Gesicht.
»Das stimmt, die beste!« Aiston schob die Juwelen auf den Golem zu. »Nimm das als Anzahlung. Geh los und bringe mir Arians Kopf und den seiner verdammten Schwester!« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Dann legen wir richtig los. Du kannst weitere freie Golems hereinholen und die Kontrakte derer aufkaufen, die noch Vertragsdienste leisten. Zusammen schnappen wir uns diesen ganzen Planeten. Und alle deine Feinde… « Aiston schnipste mit den Fingern.
Der Golem kam näher, bis er direkt vor Aiston stand und turmhoch über dem Schreibtisch aufragte. Er nahm einen der Saphire zur Hand und hielt ihn sich vor die Augen.
»Das sind die besten -jeder einhunderttausend New-Carth-Shilling wert.«
Die andere Hand zuckte so schnell vor, dass Aiston gar nicht reagieren konnte. Der Golem packte ihn an der Jacke, zog ihn zu sich heran, öffnete mit blutigen Fingern Aistons Mund und stopfte den Saphir hinein, ehe er einen weiteren zur Hand nahm. Bei vier Millionen Shilling starb Aiston schließlich. Zu keinem Zeitpunkt schrie oder brüllte er - dazu war er einfach zu voll.
- Rückblick endet -
Tabrouth küsste den Löwenzahn, den er an einer Kette um den Hals trug, und spürte die wachsende Angst im Netzwerk. Sie alle wussten, was auf dem B-Deck passiert war und was derzeit im Arboretum geschah. Der Androide war so verdammt schnell, dass er keinesfalls nur eine primitive Metallhaut war -es konnte nur ein Golem militärischen Zuschnitts sein, was wiederum bedeutete, dass die ECS hinter Nalen her sein musste. Eigentlich hätte die APW-Automatikkanone das Ding vernichten müssen, aber gerade als die Zielerfassung ansprach, gab das entsprechende System auf und sie schössen daneben. Und jetzt starben sie.
Tabrouth hatte Angst, registrierte aber auch erleichtert, dass Nalens Kontrolle gar nicht so sattelfest wirkte. Ja, zu Anfang war es toll gewesen, das Stationssyndikat zu übernehmen und Teil eines so überlegenen Verstärkernetzes zu werden. In der Folgezeit erwiesen sich Nalens Befehle aber als immer drückender, bis auch noch die letzte seiner Launen zu einem Befehl wurde und es nicht mehr möglich war, sich einem davon zu widersetzen. Und man musste noch diese andere Sache bedenken: Nalen war ein Verbrecherkönig unterer Kategorie gewesen, der Tech und Informationen stahl und sie unter der Nase von Ruby Eye verhökerte, obwohl sie das praktisch ignorierte. Inzwischen stellte er Waffen her und transportierte sie mit Hilfe der Sonnenvermesser zu schwarzen Schiffen, die von außerhalb der Polis auf der anderen Seite des Sterns eintrafen. Das war etwas, was die Stations-KI nicht lange ignorieren konnte. Jeder, der dabei erwischt wurde, musste automatisch mit der Todesstrafe rechnen, und deshalb war das auch nichts, woran sich Tabrouth beteiligen wollte. Nalens Machtstellung ließ ihm jedoch keine andere Wahl - wobei Nalen inzwischen gar nicht mehr wie ein Mensch aussah.
Bewegung rechts von ihm. Tabrouth wirbelte herum und legte das Impulsgewehr an - nicht, dass es ihm gegen einen Angriff des Golems viel genützt hätte. Aber da schoben sich nur Paulson und Shroder durch das Dorngestrüpp und die Rosinenbüsche, die unter einer Reihe von Nesselulmen wuchsen. Tabrouth hielt inne und wartete auf sie. Wie er feststellte, waren sie beide blutbespritzt.
»Was ist passiert?«, wollte er wissen.
»Er hat das Scheißautomatikgeschütz in zwei Hälften zerrissen und dann mit Alain und Solnik das Gleiche gemacht«, antwortete der Hermaphrodit Shroder.
»Wir sind entwischt, als andere mit der zweiten Kanone das Feuer auf ihn eröffneten. Er hat sich dann darauf gestürzt«, erklärte Paulson. Der Mann sah krank aus - und sehr müde. »Alles geht zum Teufel! Nalen verliert«, setzte er hinzu.
»So scheint es«, sagte Tabrouth. »Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt für uns, wie der Teufel von hier zu verschwinden.«
Tabrouth wartete darauf, dass die anderen in irgendeiner Form reagierten, aber sie starrten nur an ihm vorbei, die Gesichter weiß vor Entsetzen. Tabrouth hatte nichts gehört, aber andererseits überraschte ihn das nicht.
»Er steht direkt hinter mir, nicht wahr?«, fragte er.
Paulson und Shroder zeigten das gleiche langsame Nicken, als wären ihre Köpfe durch unsichtbare Stangen verbunden. Tabrouth seufzte und drehte sich um.
Der Golem ragte vor ihm auf, der Mantel ordentlich zugeknöpft, unbeschädigt und frei von irgendwelchen unerfreulichen Flecken. Das ergab keinen Sinn, nachdem viele Leute ihn mit Impulswaffen getroffen hatten; obgleich der unüberwindliche Körper durchaus unbeschädigt geblieben sein mochte, hätte wenigstens die Kleidung zerfetzt und verbrannt sein müssen. Und wo waren das Blut und die übrigen Flüssigkeiten und Gewebe geblieben? Man konnte einem menschlichen Wesen nicht das antun, was dieser Golem getan hatte, ohne sich fürchterlich voll zu sauen. Aber andererseits, überlegte Tabrouth, welche Bedeutung hatten solche Widersprüche schon? Die Augen des Golems glänzten wie Obsidian in dem Messinggesicht; seine gewaltigen Hände konnten einen Menschen wie Seidenpapier zerfetzen. Und jetzt würde Tabrouth sterben.
»Du bist wirklich ein großer, hässlicher, mörderischer Bastard, wie?«, fragte Tabrouth und entschied, dass jedes Flehen sinnlos gewesen wäre. Er legte das Impulsgewehr an und zielte auf die Brust des Golems. Während er das tat, eröffneten Paulson und Shroder mit den eigenen Waffen, beides ebenfalls Impulsgewehre, das Feuer. Bläuliche Blitze und metallischer Rauch flammten überall an der Vorderseite des Golems auf und breiteten sich explosiv aus. Scheinbar völlig ungerührt trat der Golem vor, streckte die Hand aus und packte den Lauf von Tabrouths Waffe mit der großen Hand, sodass die Schüsse jetzt direkt in seine Handfläche gingen. Tabrouth starrte ungläubig auf das Sonnengleißen, das sich an dieser Hand spiegelte, während er die Feuertaste durchgängig gedrückt hielt. Das Gewehr erhitzte sich schnell; geschmolzenes Metall spritzte seitlich daraus hervor, als die Spulen durchschmorten. Tabrouth ließ los und stolperte rückwärts, hatte sich die Hände verbrannt. Nachbilder trübten ihm die Sicht, und nur unterschwellig nahm er wahr, dass die Waffe auf einer Spiralbahn davonflog. Auch das Feuer der anderen erstarb. Er vermutete, dass Paulson und Shroder geflüchtet waren, und machte ihnen nicht den geringsten Vorwurf.
Dieselbe große Hand schloss sich jetzt um seinen Hals -wobei das messingfarbene Metall nicht mal warm war - und stemmte ihn in die Luft. Erwürgte. Dann brach und riss etwas, und nach Luft schnappend landete Tabrouth wieder auf den Beinen, ehe er rückwärts kippte. Er tastete nach dem Hals, fest überzeugt, dass der Golem ihn zermalmt hatte und sich die mörderischen Schmerzen erst noch einstellen würden, stellte aber lediglich fest, dass der Löwenzahn, sein Talisman, verschwunden war. Mit seiner getrübten Sicht sah er, wie der große Golem hinter den anderen hermarschierte. Als Tabrouth schließlich wieder zu Atem gekommen war, rannte er, so schnell er
konnte, zum nächsten Ausgang. Er blickte nur ein einziges Mal zurück, als ihn der Feuerstoß einer ECS-Aufruhrbekämpfungswaffe von den Beinen riss, und nicht einmal in diesem Augenblick sah er, wie ihm Paulson und Shroder dicht auf den Fersen folgten, jeweils erleichtert um einen Ring mit einer eingearbeiteten Prä-Runcible-Münze und ein Fläschchen billiges Parfüm.
Kapitel Neun
Die Art von KI, wie man sie an Bord kleinerer Vermessungsschiffe mit menschlichem Partner findet, ist in einem Kristall ähnlich dem eines Golems gespeichert, aber eine Kapazität, wie ein Golem sie für Emulationen benutzt, wird dabei für Subraumberechnungen abgestellt, und Zusatzkapazität für eine größere Bandbreite an Sinnen ist vorhanden. IQ 185 (was immer das heißt). Die grundlegende Angriffsschiffs-KI kann auf menschlichem Niveau arbeiten oder für diese langweilige Aufgabe Sub-KIs erschaffen und entsprechend einteilen. Neben Subraumberechnungen kann sie komplexe Reparatur- und Umformungsprogramme für bordinterne Zwecke fahren und über eine Vielzahl von Sub-KIs arbeiten, die in so ziemlich allem installiert sind, von Schiffsgolems bis zu Nanobots. Sie kann komplexe und machtvolle Waffenprogramme fahren und in Sekundenbruchteilen taktische Entscheidungen treffen. Ihr IQ würde bei etwa 300 liegen. Kommen wir nun auf KIs vom Typ Runcible-Rechner undplanetarer Gouverneur zu sprechen. Die meisten dieser Intelligenzen laufen in Kristallen, jedoch mit einer ungeheuer viel größeren Kapazität, als man sie bei Angriffsschiffen vorfindet. Sie können Sub-KIs auf vollem KI-Golem-Niveau betreiben, die Wirtschaft eines Planeten ausbalancieren, für den Betrieb eines Runcibles Millionen Subraumberechnungen durchführen… Man kann diese Liste beliebig fortsetzen. Derartige KIs sind allwissend und allmächtig, und jeder Versuch, ihren IQ zu messen, wäre lachhaft. Und doch verkörpern selbst sie noch nicht die Spitze. Manche KIs funktionieren anders und laufen auf Basis atomarer Prozessoren und Quantenkalkulationen … Dabei handelt es sich oft um KIs der Sektorklasse von beinahe mythischem Status - wie der ehrfurchtgebietende Geronamid und diese umherstreunende KI Einstein Jerusalem sowie natürlich Earth Central persönlich. Wir hätten uns solche Götter nie ausmalen können …(Auszug aus einer Rede von Jobsworth)
Nachdem er im schwächer werdenden Licht sorgfältig die Bedienungsanleitungen noch einmal gelesen hatte, löste Anderson die Verschlussklammer, stellte den Hebel auf Einzelschüsse und spannte den Karabiner. Dann zielte er auf die Sulerbanepflanze unter der nächstgelegenen Sandsteinkuppe, gab einen Schuss ab und war nach inzwischen fünf Schüssen immer noch erstaunt darüber, wie wenig Rauch die Waffe erzeugte. Der Lärm war jedoch kräftig genug, wenn auch geringer als der seiner Muskete. Nachdenklich musterte er die Stelle auf dem Erdboden links von der Pflanze, wo die Kugel eingeschlagen war. Hinter sich hörte er Bonehead seufzen, als sich das Sandschwein auf die Bauchplatten senkte. Tergal legte seine Waffe an, schoss zweimal und riss damit eines der harten, harzigen Blätter der Pflanze ab.
»Ich denke, ich kriege langsam heraus, wie man damit schießt«, sagte der junge Mann selbstgefällig.
Anderson setzte den Helm ab, legte ihn neben sich, drehte sich um und starrte konzentriert auf seine Muskete in ihrem Halfter auf Boneheads Rücken.
»Ich überkompensiere. Ich sollte mich lieber an die Bedienungsanleitung halten und das Visier benutzen«, sagte er und rechnete mit einer sarkastischen Bemerkung Tergals, denn genau das hatte ihm der junge Mann schon zweimal empfohlen. Als kein Kommentar erfolgte, blickte Anderson hinüber und stellte fest, dass Tergal ihn erstaunt musterte. Anderson schnitt eine Grimasse und rieb sich den völlig kahlen Schädel.
»Ist ausgefallen, als ich noch ein Junge war, und nie nachgewachsen«, erklärte er. »Meine Mutter sagte, es läge daran, dass ich zu viel nachdenke.«
»Oh, klar«, sagte Tergal verlegen.
Anderson legte den Karabiner an und schoss erneut, verfehlte die Pflanze aber aufs Neue.
»Ich dachte, du wolltest das Visier benutzen?« Wieder diese Selbstgefälligkeit.
»Das habe ich.«
Der Sleer landete mit dumpfem Schlag neben der Pflanze, ein Loch perfekt zwischen seinen ausfahrbaren Geweihen. Er wand sich auf dem Boden, wobei die einzelnen Körpersegmente unabhängig voneinander rotierten, und teilte sich dann. Die hintere Sektion erhob sich auf vier Beine und versuchte, sich schleunigst in Sicherheit zu bringen. Anderson jagte eine Kugel in die wund aussehende Trennungsstelle, und das Tier brach zusammen. Er drehte sich zu Tergal um und gestattete sich ein verschmitztes Lächeln. »Jetzt können wir auch etwas auf dem Feuer braten, das du mit all diesen abgeschossenen Blättern machen wirst.«
Tergal starrte ihn an, aber Anderson konnte erkennen, dass der junge die Botschaft verstanden hatte. Tergal machte hmpf, steckte die Waffe ins Halfter und ging zu der Sulerbanepflanze und dem toten Sleer hinüber. Dort machte er sich daran, dicke trockene Blätter zu sammeln, und hielt dabei wachsam Ausschau nach weiteren Kreaturen auf der Sandsteinkuppe. Inzwischen kehrte Anderson zu Bonehead zurück, kletterte auf dessen Rückenschild und band seine Taschen hinter dem Sattel los. Als Tergal mit einem Stoß Blätter zurückkam, trieb Anderson schon Pfosten in den Sand - und kennzeichnete damit den Umkreis des Lagers. Während der junge Mann die Blätter rings um einen Wachszünder aufhäufte und diesen mit rauchenden Schwefelhölzern anzündete, spulte Anderson Draht ab und band ihn um die Pfosten.
»Das wird nicht reichen«, meinte Tergal und deutete auf den kleinen Haufen Blätter neben dem Feuer.
»Hier findest du abgeworfene Panzerstücke - sie brennen gut und langsam«, entgegnete Anderson. Inzwischen war für ihn erkennbar, dass Tergal, obgleich schon eine Zeit lang auf Reisen, noch nie in einer solchen Wildnis kampiert hatte. Der Ritter sah sich an, wie Tergal das eigene Gepäck von Stone herabholte, neben dem Lagerfeuer ablegte und sich auf die Suche nach weiterem Brennstoff machte. Als der junge Mann schließlich mit alten Sleerschilden und noch mehr von den dicken harzigen Blättern zurückkehrte, hatte Anderson aus den beiden Drähten einen Zaun von einem Meter Höhe errichtet, wenn auch mit einer Lücke, durch die Tergal jetzt wieder eintreten konnte; und Anderson war gerade dabei, mit Hilfe des schweren Stahlmessers den Kopf vom Vorderteil des toten Sleers abzustemmen.
Tergal zog die Drähte über die Lücke und blickte zum Himmel hinauf, der jetzt dunkelgrün war, durchbrochen vom Rot interstellarer Gaswolken. Die Sterne mussten erst noch hervortreten, und der erste Eindruck war der einer aus Blutstein gemeißelten Decke. Dann bückte sich Tergal und wollte den Stromgenerator einschalten, der neben einem der Pfosten stand.
»Noch nicht«, sagte Anderson, der den Sleerkopf endlich abgetrennt hatte und wegschleifte - und dabei ein Gewirr von Innereien hervorzog. Dann scharrte er mit dem Messer in der Leibeshöhle herum, schnitt, packte zu und zog, und heraus kam die durchsichtige Bauchinnenplatte, an der weitere gallertartige Organe hingen. »Die Batterien sind ziemlich herunter - da ist nur der Strom eines halben Tages drin.« Sie hatten das Gasthaus am Mittag verlassen, und erst zu diesem Zeitpunkt hatte er die Solarzelle auf Boneheads Rückenschild ausgebreitet und die Batterien angeschlossen.
»Reicht das für die Nacht?«, erkundigte sich Tergal.
»Fast. Außerdem kommen die Mistviecher meist nicht zurück, sobald ein paar von ihnen ihre Schläge vom Zaun erhalten haben.«
Anderson stand auf, trug die Gedärme und den Kopf des Sleers zum
Zaun und warf beides für Bonehead und Stone hinüber. Ohne sich die
Mühe zu machen und den Fresskopf unter dem Sinneskopf einzuhaken,
klappte das alte Sandschwein ihn einfach hervor, reckte ihn auf dem
zweiten Scharniernacken, schlang die Gedärme herunter und
schleuderte den Sleerkopf zu Stone hinüber, der ihn wie eine
gekochte Delikatesse mampfte. Beide fraßen anscheinend ohne großen
Appetit, aber andererseits war dieses Fleisch auch zu frisch für
ihren Geschmack.
Als das Lagerfeuer ordentlich brannte, baute Anderson den Eisenspieß auf und briet Segmente des Sleers aus der fleischigeren Hintersektion. Die Sterne kamen zum Vorschein, und in den tiefen Schatten der Sandsteinkuppen tauchten die Verwandten des Abendschmauses der beiden Reisenden auf, um sich dem allnächtlichen Spiel des Mordes im Dunklen zu widmen. Bonehead und Stone klappten ihre Köpfe ein und ließen sich auf dem Sand nieder: zwei lange, tropfenförmige Kuppeln, die immer noch die Sättel trugen. Die Ogygian schwebte über dem Horizont und glitzerte durch reflektiertes Sonnenlicht, und in der Ferne warfen die Lichter von Golgoth einen orangenen Schimmer in den staubigen Himmel.
»Andere Planeten haben Monde«, überlegte Tergal. »Ich frage mich, wie das ist.«
Anderson warf den Panzer des gerade verspeisten Fleischstücks ins Feuer und sagte: »Die Nächte sind heller, aber sonst hat es wenig Auswirkungen, es sei denn, auf dem Planeten gäbe es Meere.« »Ich frage mich auch, wie das wäre.«
»Wahrscheinlich nass.«
Auf der anderen Seite des Zauns wurde immer deutlicher Bewegung spürbar, als dort chitingepanzerte Gestalten von Schatten zu Schatten huschten. Anderson stand auf, ging zum Generator und schaltete ihn ein. Die beiden Männer breiteten gerade ihr Bettzeug aus, als ein Sleer des zweiten Stadiums herankam, um diese verlockende Ansammlung von Wärmequellen aus der Nähe zu betrachten. Die Geweihstangen fuhren wie lange dünne schwarze Hände aus dem Albtraumschädel aus, berührten einen Draht und zuckten zurück. Die Kreatur hielt einen Augenblick lang ihre Position, während die Füße auf der Erde klapperten und die Panzersägen aneinander scharrten; dann zog sie sich zischend zurück. »Übernimmst du die erste Wache?«, schlug Anderson vor.
Tergal hielt nach wie vor die Waffe, die er gezogen hatte, fest in der Hand und nickte schließlich. Anderson schüttelte seine Decken aus, um sicherzustellen, dass sich darin keine ungebetenen Gäste eingenistet hatten, streckte sich aus und legte den Kopf auf eines seiner Gepäckstücke. Aus halb geschlossenen Augen verfolgte er, wie Tergal eine stark rauchende Kerze anzündete, und sofort breitete sich der Geruch von Abwehrmitteln aus - und verhinderte, dass kleinere Planetenbewohner unter dem Draht hindurchkrochen. Der junge Mann senkte dann den Kopf und lauschte auf die Geräusche harter Gliedmaßen, die über Sandflächen scharrten. Anderson schloss die Augen ganz und überließ sich dem Schlaf. Tergal würde in dieser Nacht niemanden ausrauben - zu sehr beanspruchten ihn andere Dinge.
Auf den ersten Blick schien der Planet nur leicht von schwarzer Kruste bedeckt, wobei ständig Risse und vulkanische Löcher auftauchten und wieder verschwanden. Die Hand in einer projizierten virtuellen Steuerung, verdoppelte Cormac die Vergrößerung und sah jetzt Gasfontänen, Asche und Magma in die giftige Atmosphäre hinaufschießen. Es war die Hölle -komplett mit allem an Schwefel und Feuer, was man sich nur wünschen konnte -, aber bis vor einem Monat hatte es hier an Teufeln gefehlt. Dann waren zwei eingetroffen. »Zeig mir die Trägerschale«, sagte er.
Ein Quadrat tauchte auf und umschloss einen Punkt, und die
Vergrößerung fuhr hoch und zeigte die beschädigte Schale, wie sie
über dem Inferno schwebte.
Jacks Automat stand, langsam tickend, neben Cormacs Sessel, als wollte er die von der KI ausgeliehene virtuelle Steuerung im Auge behalten, und psalmodierte: »Cento fordert uns dringend auf, ihn zurückzulassen und sofort die Koordinaten anzusteuern, die er uns genannt hat. Das hat etwas für sich. Wir können durch diesen Rettungseinsatz nichts bewerkstelligen, was nicht auch die übrigen Schiffe tun könnten, die hierher unterwegs sind.«
»Versuch mal, wie ein Mensch zu denken«, empfahl ihm Gant, der in einem der Klubsessel lümmelte.
»Warum sollte ich mich so stark einschränken? Cento hat uns alles berichtet, und logischerweise besteht kein Grund für eine weitere Verzögerung«, hielt ihm die Schiffs-KI entgegen.
»Aber Cento ist immerhin Cento«, warf Cormac ein und überließ es Gant, die Erklärung zusammenzustückeln, die in Worte zu fassen ihm selbst zu mühsam war. Er wusste einfach, dass es richtig war, Cento dabeizuhaben.
»Ja, er hat uns alles berichtet«, sagte Gant. »Und daher wissen wir, dass Skellor Cento für völlig vernichtet hält. Das ist ein Vorteil für uns, da Centos Auftauchen in manchen Situationen Skellors Reaktion um eine halbe Sekunde verzögern könnte, was möglicherweise den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmacht.«
»Das Gleiche gilt für Aphran«, ergänzte Cormac.
»Wir könnten uns einen größeren Vorteil verschaffen, falls wir nicht Stunden dafür vergeuden, einen Golem-Androiden zu bergen, der ohnehin geborgen werden wird«, stellte Jack fest. Cormac gab nach und erläuterte nun selbst: »Es geht um Waffen, Jack. Durch dich verfügen wir über alles Nötige an Bomben und Raketen, aber das reicht vielleicht nicht.«
»Sie rationalisieren«, behauptete Jack.
»Ich versuche etwas zu rationalisieren, was ich instinktiv spüre - und mein Vertrauen in solche Gefühle ist der Grund, warum ich überlebt habe und so erfolgreich wurde, wie ich bin.« »Zugegeben«, sagte Jack.
Die Sonne glich einem blauen, brodelnden Eisriesen kurz nach dem Auftauen, als die Jack Ketek in dieses öde Sonnensystem einflog. Dann geriet sie außer Sicht, als das Schiff den Planeten in seinem Schatten anflog, um nicht überhitzt zu werden. Die Trägerschale war nach Skellors Treffer mit einer Art von kinetischem Geschoss aus ihrem geostationären Orbit getrudelt und umliefjetzt den Planeten, wie Cento erklärte. Im Verlauf der nächsten Stunde kam die Jack Kelch immer näher, und Cormac sah, dass Teile der Trägerschale immer noch rot glühten. Sie schwenkten neben ihr ein, als die Umlaufbahn die Schale gerade wieder ins aktinische Sonnenlicht führte, und durch die zugeschalteten Filter verfolgte Cormac, wie Greifer an geflochtenen Monofaserkabeln aus beiden Gondeln des Angriffsschiffs abgefeuert wurden. Die Keramal-klauen schlossen sich, angetrieben von hydraulischen Systemen, um den angekohlten Schiffsrumpf. Dann ertönte ein Brummen, als sich die Triebwerke der Kelch gegen die Last stemmten und die Trägerschale zurück in den Planetenschatten zogen.
»Ich habe Cento über unsere Position informiert, und er ist gerade zu der Stelle unterwegs, wo ich die Luftschleuse anbringen werde«, erklärte ihnen Jack.
Cormac verfolgte, wie der Andocktunnel zur Schale hinüberfuhr. Ihm fiel auf, dass der Zielpunkt ein Stück blanker Schiffsrumpf war, und folgerte daraus, dass er es hier mit einer Injektorschleuse zu tun hatte - die Soldaten, Sonden, Kriegsdrohnen oder sogar Giftgas auf ein feindliches Schiff bringen konnte. Er sah, wie der Kontakt hergestellt wurde und Feuer an der Umrandung entlangfuhr, als sich die Injektorschleuse in den Rumpf grub.
»Komm mit«, sagte er zu Gant.
Als sie in den Schwebeschacht stiegen und sich dieser verlagerte, um sie zu ihrem Bestimmungsort zu bringen, konnte Cormac nicht umhin, sich zu fragen, ob dies der einzige Schacht an Bord der Jack Ketchwur. Bislang hatte er noch keinen anderen entdeckt. Er und Gant betraten einen kurzen Flur, dekoriert mit Metallstatuen im altgriechischen Stil und einem Korbteppich. Durch diesen Flur erreichten sie die Kammer, die vor einer Luftschleuse lag -ebenfalls von Statuen gesäumt, aber mit kahlem Metallfußboden. Wenig später zeigten die Displays auf den äußeren Sensorentafeln an, dass der Schleusenzyklus angelaufen war. Innerhalb einer Minute öffnete sich die Innenluke mit dumpfem Fauchen. Und das, was von Cento übrig war, stützte sich mit einer Hand ab und blickte zu ihnen hinauf.
»Haste Arger gehabt?«, erkundigte sich Gant.
Die vier, die den Flur bewachten, hatten es sich hinter einer APW-Kanone gemütlich gemacht. Skellor brauchte sie nicht mal zu sondieren, um festzustellen, dass sie ständig mit ihren Kameraden in Verbindung standen - die entsetzten Gesichter verrieten ihm das schon. Als er an der Kanone vorbeiging -und über eine Frau hinwegstieg, die am Boden hockte und gerade einen großen Energiebehälter an der Waffe montierte -, bemerkte er, dass der Typ, der an der Wand stand, ihn direkt ansah, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. Dann wandte sich der Mann jedoch von neuem der Nahzündergranate zu, die er gerade einstellte. Skellor ging weiter, froh darüber, dass er diese vier nicht umbringen musste, denn damit hätte er Nalen alarmiert, der nach wie vor auf der Flucht zum Runcible war.
Sobald er an den Leuten vorbei war, beschleunigte Skellor auf ein Tempo, mit dem nur Mr. Crane oder ein Polisgolem hätte gleichziehen können. Er wollte Nalen so schnell wie möglich abfangen - um zu vermeiden, dass dieser in den Verteidigungsbereich des Runcibles vordrang; schließlich wollte sich Skellor einer Konfrontation diesen Ausmaßes noch nicht stellen. Ihm ging die Frage durch den Kopf, wie die KI wohl auf den Tumult hinter ihm reagierte. Sicherlich würde sie in irgendeiner Form reagieren.
Ein Schwebeschacht, abgeschaltet, also die Leiter hinauf, mit nur kurzen Berührungen der Sprossen in der Schwerelosigkeit, Kurswechsel durch einen Handschlag gegen das Ausstiegsportal, sodass sich Metall verbog, dann durch noch einen Flur in ein Arboretum ähnlich dem weiter unten. Voraus ein Schimmer in seinem virtuellen Blickfeld, im Zentrum eines instabilen Lichtgewebes. In der wirklichen Welt sah er einen fetten, praktisch kugelrunden Mann so energisch dahinlaufen wie die beiden Wachleute an seiner Seite. Eine Bildverdoppelung: Ja, der Mann war fett, aber nicht wirklich von Schuppen bedeckt - sie waren nur eine Illusion. Aus größerer Nähe spürte Skellor allmählich die Verbindung, die von diesem Mann und dieser Station ausging und sich in den Weltraum erstreckte. Er knallte Nalen in den Rücken, schlang ihm einen Arm um den fettigen Hals und zerrte ihn durch den Korridor. Er schlug die flache Hand auf Nalens Verstärker, der anscheinend völlig mit dem Kopf verschmolzen war, und übermittelte das Virus entlang der eindringenden Dschainafasern. Nalen brüllte los.
Skellor blickte zurück und sah, dass die beiden Wachleute mit gezogenen Waffen verwirrt um sich blickten, denn für ihr Sehvermögen war ihr Schützling einfach verschwunden. Beide von ihnen zuckten, als das Virus von Nalen auf ihre Verstärker übersprang. Einer stolperte rückwärts an die Wand und rutschte daran herab, während ihm Blut aus dem Ohr sprudelte. Der andere brüllte schrill, umklammerte den eigenen Verstärker und konnte ihn aus dem Schädel reißen wie reptilhaften Schorf. Weiterhin kreischend rannte er auf den sabotierten Schwebeschacht zu.
Egal - Skellor hatte jetzt alles in der Hand.
Crane hatte viele von ihnen umgebracht, und viele weitere waren auf der Flucht. Skellor blickte durch deren Augen und erblickte ECS-Uniformen. Nalens Leute gingen überall unter dem Feuer von Aufruhrbekämpfungswaffen zu Boden. Golems warfen andere nieder und sicherten sie mühelos durch Fuß- und Handschellen. Skellor hatte nicht erwartet, dass die ECS so schnell reagieren würde. Sofort wurde ihm klar, dass die KI über das Dracocorp-Netzwerk Bescheid gewusst und sich darauf vorbereitet hatte, dagegen vorzugehen. Ihm blieb nur sehr wenig Zeit. Nalens Bewusstsein war ein stammelndes Etwas, das sich mühelos der Lenkung durch Skellor fügte, denn der Verstärker hatte es aufgeweicht, damit es Befehle über die Subraumverbindung akzeptierte. Skellor schlüpfte in dieses Bewusstsein hinein wie in die Kleidung einer anderen Person. Er spürte dem Zweig des Netzwerks nach, der außerhalb der Station erzeugt wurde, entdeckte überrascht einen Subraumsender auf einer Umlaufbahn um den roten Zwerg und fand das so prosaisch. Das Virus bahnte ihm den Weg, und bald ertappte er sich dabei, wie er sich mental durch eine fremdartige Software tastete, die ihm irgendwie bekannt erschien, die dieser fremdartigen Seite seiner selbst bekannt war. Er war dort; es waren seine Koordinaten. Dann rammte der Funklaserimpuls in den Sender; Virenprogramme breiteten sich von dort aus und griffen nach dieser letzten entscheidenden Information, bekamen sie aber nicht zu fassen.
Skellor ließ Nalen fallen und stolperte rückwärts. Alles wurde ihm auf einmal entsetzlich klar. In seiner Arroganz war er davon ausgegangen, dass die Polis diesen Weg nicht probieren würde, da sie zu beschäftigt war, Drache auf dem Weg über Dracocorp aufzuspüren. Wie dumm er doch gewesen war!
Crane, zurück zum Schiff— schnell!
Er spürte die sofortige Reaktion des Golems, unmittelbar bevor die Virensonde einen Biotechverstärker auf der anderen Seite der Station durchdrang und sich einen Weg bahnte, und etwas abgründig Bösartiges breitete sich fauchend in dem Netzwerk aus, das Skellor jetzt kontrollierte. So etwas war er früher schon begegnet: eine Jäger-Killer-KI, die sich bereitgehalten hatte, das Netzwerk im Augenblick seiner Reife zu packen. Als Skellor selbst das Netz übernahm, waren es wohl nur wenige Monate bis zu diesem Zeitpunkt gewesen. Also war die ECS schon seit langem über Nalen und seine Leute im Bilde, hatte ihnen aber genügend Raum gegeben, um eine der Drachenkugeln anpeilen zu können. Jetzt stolperte Skellor von dem fetten Mann zurück, der eingefallen auf dem Fußboden lag, und empfand echte Angst.
Weis bist du?, lautete die Quintessenz der Frage, die ihm das Programm stellte, als es sich innerhalb des Netzwerks in seine Richtung orientierte. Skellor rannte zum Schwebeschacht und sprang hinein.
Lokalisiert.
Der Schwebeschacht sprang an und versuchte ihn umzubringen, rammte sofort einen Wert von vier g rein. Er streckte die Hände aus und packte den Fußboden des nächsttieferen Stockwerks, und die Wucht, mit der seine Arme aufschlugen, beulte die Bodenplatten ein, und die Verbindung, aus der Skellors Knochen inzwischen bestanden, bog sich durch und splitterte. In dem unterschwelligen Aufblitzen von Agonie verlor seine Abwehr den Zusammenhang, und ein Virenspeer versuchte, seinen Verstand zu durchbohren. Er packte ihn und wich aus, lenkte den Aufprall auf einen anderen Verstand um. Die Schwerkraft im Schwebeschacht kehrte sich auf einmal um und knallte ihn an den oberen Rand des Ausstiegsportals.
Nalens aufgespießter Verstand stieß im Sterben ein verklingendes
Schweinsquieksen aus. Skellor band die eigenen Hände mit
Dschainafasern an die Decke, zog sich so aus dem Schwebeschacht
heraus und sprang auf den Boden. Schon im Aufprall rannte er los,
so schnell er nur konnte, und er spürte, wie die Anziehungskraft
der Bodenplatten unter ihm in Fluss geriet, als das Programm seine
übermenschliche Schnelligkeit kompensierte. Da sprang eine Platte
unter ihm auf null g, während die nächste auf vier g hochschnellte.
Er landete auf einem Knie und einem Fuß, wobei die Kniescheibe den
größten Teil des Aufpralls einsteckte und zersplitterte, aber es
trat keine Reaktion des menschlichen Nervensystems ein, das er von
der Gehirnaktivität abgekoppelt hatte. Die Schlacht wogte
allerdings in beide Richtungen: Skellor verband sich wieder über
die Sonde mit dem Dracocorp-Netzwerk und leitete alle Schmerzen
seines Körpers dorthin ab, während er zerbrach und neu aufgebaut
wurde. Mit einem gewaltigen Zischen zog sich etwas zurück, und
sämtliche Gravoplatten im Flur schalteten von neuem auf ein
g.
Du empfindest Schmerzen, nicht wahr?, fragte er den gestaltlosen Albträum.
Er war jetzt im Arboretum und lief den Weg zurück, den er gekommen war - wobei er ECS Truppen und Golems mit Hilfe seiner nach wie vor funktionsfähigen Ware gleichermaßen auswich.
Wie wäre es damit ?
Nach wie vor mit dem Angreifer verbunden, griff er zu all den Punkten im Netzwerk hinaus, die noch bei Bewusstsein waren. Er rammte etwas in ihre Verstärker-Steuerprogramme, was er an Bord der Occam Razor aufgezeichnet hatte, während er die Separatistin Aphran folterte. Die heisere Stimme der Agonie hallte in der ganzen Station wider, als Menschen, die Biotechverstärker trugen, nacheinander umfielen, überzeugt davon, jemand würde ihnen mit rotglühenden Skalpellen die Haut abziehen. Einen Augenblick lang glaubte Skellor, das Feedback ins Angriffsprogramm würde dieses umbringen, stellte dann jedoch fest, dass sich das Programm veränderte, sich mit den schreienden Menschen verknüpfte und ihnen half. So selbstlos waren Polis-KIs, so freundlich zu den armen Kreaturen mit ihren weichen Körpern, dass sowohl Skellor als auch Crane sich jetzt wie reife Früchte lösen konnten.
Skellor, wir haben es stets Menschen überlassen, sich mit Bedrohungen auseinander zu setzen, die von anderen Menschen ausgehen, erklärte ihm Ruby Eye, aber in deinem Fall machen wir vielleicht eine Ausnahme. Verschwinde von hier -eine Schlacht zwischen uns würde alles Leben auf dieser Station vernichten, und darin erkenne ich keinen Sinn, solange wir dich immer noch an einem ferneren Ort umbringen können.
Crane wartete an Bord der Vulture auf ihn. Der Golem saß auf einem Stuhl und vertrieb sich die Zeit mit neuen Spielsachen. Skellor ignorierte ihn und brachte über die Dschainastrukturen, die er innerhalb des Schiffs gezüchtet hatte, sofort alle Systeme online.
Runcible-KI, falls du irgendwelche Waffen auf mich abfeuerst, wende ich mein Schiff und ramme damit deine Station, wobei ich den Subraumsprung einleite, ehe die Triebwerke dafür bereit sind. Ich denke, nicht mal du würdest das überleben.
Verschwinde, Kreatur.
Auf den Flammen der Fusionstriebwerke beschleunigte er die Vulturevon der Station hinab zum roten Zwerg und startete die neu installierte Chamäleonware des Schiffes. Er wusste, dass es in seiner derzeitigen Lage nicht reichte, sich nur zu verstecken, da die KI den Liegeplatz der Vulture kannte und den umgebenden Raum mit tödlichen Geschossen und Entladungen der Energiewaffen pflastern konnte. Aber von der Station kam nichts: keine Raketen, keine Laserstrahlen, nicht mal eine höhnische Bemerkung zum Abschied, als das kleine Schiff in den Subraum fiel. Und irgendwie war das noch Furcht erregender.
Egal wie stark ein Schiff abgeschirmt war, die Fahrgäste spürten den Wechsel vom Subraum in den Realraum - oder umgekehrt - immer. Warum das so war, wusste niemand, obwohl Mika überzeugt war, dass manche es mit dem Glauben in Verbindung brachten, Menschen bestünden aus mehr als stofflicher Substanz - eine Idee, die sie anstößig fand. Als sie in dem Quartier, das ihr Jerusalem jüngst zugewiesen hatte, aus dem Bett stieg, blickte sie zu einem Monitor hinauf, der ständig auf Außenansicht eingestellt war, und sah dort sternenhellen Weltraum anstelle eines Planetensystems. Die Jerusalem war nicht mehr im Subraum.
»Jerusalem, was ist los?«, fragte sie.
Eine Pause trat ein, ehe die KI antwortete: »Und so beginnt es.«
»Verzeihung?« »Wir fahren nicht nach Masada. Wir nehmen jetzt Kurs auf einen Sektor des Weltalls, wo man die Quelle von so vielem entdeckt hat, was wir studieren.«
»Skellor wurde gefunden?«
»Nicht ganz, aber vielleicht können wir ihn dort einschließen.«
Abrupt spürte Mika erneut den Übergang, und als sie aufblickte, sah sie auf dem Monitor die ausdruckslose graue Wiedergabe des Subraums. Normalerweise verbrachten menschliche Fahrgäste und Besatzungsmitglieder die Zeit, in der ein Schiff abgetaucht war, im Kälteschlaf, aber an Bord der Jerusalembestand dringender Bedarf daran, alles über dieses Ding zu lernen, das möglicherweise die Polis umbrachte. Da Mika schon vier Stunden lang geschlafen hatte, eine für sie reichliche Menge, duschte sie jetzt, zog sich an und ging gleich auf den Hauptkorridor hinaus, um Kurs auf den Speisesaal zu nehmen. Obwohl Apparaturen in ihrer Unterkunft alles bereitstellen konnten, was sie zur Ernährung benötigte, nahm sie ihre Mahlzeiten stets anderswo ein. Im Speisesaal tauschten gleich-gesinnte Menschen Ideen aus und leisteten eine Menge der planerischen und kreativeren Arbeit. Als Mika den großen Raum mit den Tischen und Stühlen betrat, sah sie, dass Susan James, D’nissan und Prator Colver alle am gleichen Tisch saßen, und nachdem sie an einem der Speiseautomaten ihre Auswahl getroffen hatte, nahm sie ihr Tablett und gesellte sich zu ihnen.
Der Mann, Colver, stammte wie Mika auch aus dem Lebenskoven: eine stämmige Person mit hellbraunen Haaren, die zu unvermittelten Ausbrüchen von Enthusiasmus neigte und schon vor langer Zeit gelernt hatte, Fragen zu stellen. »Hast du es schon gehört?«, fragte er, als sie sich setzte. »Wir nehmen Kurs auf Ruby Eye.«
Mika blickte zu Susan James hinüber und zog eine Braue hoch.
»Das ist eine Forschungsstation im Orbit um einen roten Zwerg. Ist seit fünfzig Jahren dort-langfristige Forschungen«, erklärte diese.
Susan war Mensch vom Standardformat, die äußere Erscheinung beinahe eine weibliche Ausgabe von Ian Cormac, obwohl gewiss weniger tödlich. Mika wandte sich D’nissan zu, den kälteangepassten Schlangenadaptierten von Ganymed. Das Visier hatte er in den Halsring seines Wärmeanzugs abgesenkt, und er trank durch einen Strohhalm etwas, was nach einem kühlen Himbeergetränk aussah - und normalerweise zu heiß für ihn gewesen wäre. Seine Erklärungen fielen gewöhnlich kurz und treffend aus, weshalb er auch als Chefforscherjerusalems auftrat, wenn die Situation es rechtfertigte; in diesem Augenblick hatte er jedoch nichts zu sagen.
»Um Skellor zu erwischen«, stellte Mika fest.
»Es wäre fantastisch, die Quelle der Dschainatechnik in die Finger zu bekommen, die wir schon die ganze Zeit erforschen«, fand Colver. »Ich bin überzeugt, dass es Lenkmechanismen gibt, die wir noch gar nicht zu sehen bekommen haben.«
Jetzt stellte D’nissan kühl fest: »Das ist, als würde man Gifte studieren und sich dann wünschen, eine Schlange in die Finger zu kriegen.«
Mika fand das ein bisschen lächerlich, stammten die Worte doch von einem Mann mit Fangzähnen und einer Haut aus rautenförmigen Schuppen.
Er sah sie offen an. »Natürlich haben wir noch nicht alles gesehen, denn was wir haben ist nur eine … Schnittblume. Falls es Wurzeln schlagen und wachsen dürfte, dann wüssten wir vielleicht mehr.«
»Yeah, aber Skellor … er ist ein direktes Interface mit einer Kristallmatrix-KJ eingegangen«, sagte Colver ganz nebenbei.
»Ich würde gern mal Dschainatechnik in Aktion sehen«, sagte Mika.
»Hast du es noch nicht gehört?«, fragte Colver und unterbrach D’nissan, der gerade das Wort hatte ergreifen wollen. »Wir werden das zu sehen bekommen!«
Mika starrte D’nissan an.
»Der Asteroid«, erklärte dieser. »Er müsste ohnehin durch Implosionsgeschosse vernichtet werden. Warum ihn also nicht erst dafür benutzen, einige unserer Exemplare wachsen zu lassen?« »In rotem Sonnenlicht«, folgerte Mika. »Präzise«, bekräftigte D’nissan.
Mika wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Es war das, was sie sich gewünscht hatte, aber sie wusste auch, dass sie hier mit etwas herumspielten, was viel gefährlicher als Feuer war.
In dem unsichtbaren Gitternetz verschob Crane eine blaue Eichel in eine Position neben dem Löwenzahn und anschließend den Münzring neben das Kristallstück. Der Gummihund behielt seinen Platz hinter dem Laserfeuerzeug. So entstand das fragmentierte Bild desselben Gitternetzes, nur besetzt von den Schalen von Pfennigaustern, wobei die Zwischenräume von sterbenden Perlmuscheln erkundet wurden. Blut, schwarz im silbernen Mondlicht, tropfte von Cranes Fingern auf den Strand voller zermalmter Muscheln.
-Rückblick 10-
»Sind sie ihm alle in die Quere gekommen?«, fragte Angelina, während sie die über den Sand verstreuten Leichen betrachtete.
»Anscheinend ja«, antwortete Arian. Drei seiner Leute gingen voraus und fächerten aus, während sie in die Kreosotbüsche vordrangen. Derweil teilten sich die übrigen acht in zwei Vierergruppen auf, um in gegensätzlichen Richtungen dem Strand zu folgen.
»Hier sind noch zwei«, sagte einer der Männer und schob einen Busch mit dem Lauf des Impulsgewehrs zur Seite. Angelina trat an die Seite ihres Bruders, während dieser die Schweinerei betrachtete. Das Durcheinander aus Blut, Knochen und zerfetztem Fleisch war nur als menschlichen Ursprungs identifizierbar, weil auch Kleidungsstücke hineingemischt waren. »Zwei?«, fragte sie.
»Naja, ich zähle zwei Köpfe«, antwortete der Mann.
Angelina gefiel das alles überhaupt nicht. Jetzt, wo Aiston tot war, hätten sie einfach sein Unternehmen an sich reißen, vielleicht seine Leute eine Zeit lang besser bezahlen können, bis sie alles unter Kontrolle hatten. Allerdings war keinerlei Reaktion erfolgt, als sich die Pelters und ihre Leute vorhin der Insel näherten. Die Scanner an Bord hatten nur wenige Wärmesignaturen empfangen, und diese wenigen verblassten außerdem rasch. Allmählich verstärkte sich der Eindruck, dass hier keinerlei Unternehmen mehr existierte.
In silbrigem Mondlicht setzten sie ihren Weg fort, und sie waren gerade mal fünfzig Meter tief ins Inselinnere vorgedrungen, als sie die nächste Leiche fanden. Dieser Mann steckte aufgespießt am abgebrochenen Ast eines Baumes, sodass seine Füße zwei Meter über dem Boden hingen, wo sein Blut eine Pfütze bildete.
»Wo genau steckt er?«, fragte Angelina. »Wir möchten doch nicht, dass er im Hinblick auf uns einen Fehler macht.«
»Am Strand auf der anderen Seite der Insel. Er bewegt sich nicht, und ich empfange von ihm lediglich >Einsatzziel erreiche und ein paar merkwürdige Bilder. Er rührt sich einfach nicht.« »Vielleicht sollten wir lieber umkehren und ihn hier zurücklassen?«
Arian senkte die Hand, die auf seinem Platinverstärker gelegen hatte, und starrte sie an. »Ich denke, es liegt möglicherweise an der zweiten Verbindung von meinem Verstärker zu seinem Steuermodul. Wir benötigen eine direkte optische Verbindung, damit uns die volle Bandbreite zur Verfügung steht, und ein paar Programme militärischen Zuschnitts. Jemand wie Sylac könnte das hinkriegen.«
Angelina hörte die Zweifel aus seinem Ton heraus. Sie selbst verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich oder ihren Bruder unter Sylacs Messern zu sehen, da eine von ihm durchgeführte Operation vielleicht nicht zum angestrebten Resultat führte. Der Chirurg hielt sich nur an eigene
Gesetze und betrachtete den menschlichen Körper als Versuchsgelände oder gar einen Spielplatz. Und sie wollte nicht, dass einer von ihnen noch enger mit dem zerstückelten, verrückten Gehirn des Golems verbunden wurde, egal wie sehr seine Steuerung dadurch verbessert wurde. Und die Vorstellung, eine solche Macht einem ihrer bezahlten Handlanger zu übertragen, war schierer Irrsinn. Angelina gewann ohnehin allmählich den Eindruck, dass Mr. Crane so etwas wie ein Impulsgewehr vom Schwarzmarkt war, zum Beispiel von einem der weniger angesehenen Händler auf Huma - vielleicht funktionierte es, aber genauso gut explodierte es einem womöglich mitten ins Gesicht. Als sie den Haufen entdeckte, sah sie ihre Befürchtun1 gen bestätigt. »Warum zum Teufel hat er das getan?«, fragte Arian.
Indem sie die Köpfe zählten, gelangten sie zu dem Ergebnis, dass dieser Haufen ineinander verkeilter Leichen aus vielleicht acht Personen bestand - es fiel schwer, ganz sicher zu sein. Als Angelina näher heranging, um z<u sehen, ob sie ein Gesicht wiedererkannte, spürte sie, wie ihr Fuß einsank, und zog sich hastig zurück. Ihr Stiefel löste sich mit einem schwappenden Geräusch, und sie stellte fest, dass das ganze Blut den Boden in einen Morast verwandelt hatte. Sie hatte selbst schon Menschen umgebracht, sie hatte Menschen eines grauenhaften Todes sterben sehen, und sie war hart und ungerührt geblieben. Aber bei diesem Anblick hier drehte sich ihr der Magen um. Einer ihrer Männer ging zur Seite, lehnte sich an einen Felsbrocken und erbrach sich kurz, ehe er sich wieder zu ihnen umdrehte.
»Jetzt zu seinem Haus hinauf?«, fragte er, nachdem er sich Erbrochenes von den Lippen gewischt hatte.
»Ja … zu seinem Haus«, bestätigte Arian. Plötzlich hob er die Hand und betätigte den Funkknopf am Kragen. »Falen, Balsh - geht nicht zur anderen Seite der Insel. Kehrt einfach zum Boot zurück.« Er legte den Kopf schräg, während er ihrer Antwort lauschte, und sagte dann: »Ihr braucht euch darum nicht zu kümmern - ich denke nicht, dass hier noch jemand am Leben ist.« Im Mondlicht zeichneten sich die Leichen an der Hügelflanke wie makabre Statuen ab: verkrümmte Hände, in Gesten des Flehens erstarrt; abgebrochene weiße Knochen, die gen Himmel wiesen; ein augenloser Kopf auf einem Stein, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet. Noch mehr solcher Anblicke boten sich in Aistons Festungshaus, aber was Angelina vor allem auffiel, war das Fehlen jeglicher Brandspuren von Impulswaffen an den Wänden. Das Gemetzel hier war kurz und vollständig gewesen. Sie war auch darüber erstaunt, wie intakt Aiston selbst wirkte, der an seinem Schreibtisch saß und etwas Glänzendes im Mund stecken hatte.
»Niemand sonst darf ihn in die Hand bekommen«, sagte Arian, während er die Leiche anstarrte. Angelina wurde sich darüber klar, dass ihr Bruder von dem Golem sprach.
»Wir verstecken ihn einfach irgendwo, wo es sicher ist; halten ihn dort einfach … in Bereitschaft.«
Also kam Arian allmählich zu Sinnen.
»Wir brauchen ihn ja nicht für jeden Einsatz.«
Angelina hielt den Mund und zeigte ein ausdrucksloses Gesicht.
»Mit den meisten Problemen werden wir allein fertig.« »Wo bringen wir ihn unter?«, fragte Angelina. »Wo man solche Dinge immer aufbewahren sollte«, erklärte ihr Arian. »In einem Keller.« »Ja, natürlich.«
Angelina hätte lieber einen Vulkankrater benutzt.
- Rückblick endet -
Kapitel Zehn
Die evolutionären Kräfte, wie sie Darwin vor langer Zeit erläutert hat und wie sie später nur weiter ausformuliert wurden, sind universell und eine Voraussetzung für das Leben. Als weitere Voraussetzungen galten Materie und Energie, aber inzwischen hegt man Zweifel über die erstgenannte. Alles Leben gehorcht also Regeln, wie sie von anderen schon bis zum Erbrechen diskutiert wurden. Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass man in jedem Ökosystem Tauben und Falken antrifft. Und manche der Falken sind monströs. Ein Blick in die Naturgeschichte unseres eigenen Planeten zeigt, dass wir uns im Verlauf einer besonders friedlichen Zeit entwickelt haben und die meisten Monster der Vergangenheit angehörten. Wir haben die Dinosaurier um sechzig Millionen Jahre verpasst. Knappe Geschichte - sie waren schlimm genug. Allerdings hätte sogar der Tyrannosaurus Rex mit einigen außerirdischen Kreaturen seine Probleme gehabt, auf die wir seitdem gestoßen sind: zum Beispiel die Fauna Masadas mit ihren Kapuzlern, Heroynes, Welsaranen und den wirklich unheimlichen Schnatterenten. Wie wäre es Dinosauriern dort ergangen ? Wie mit dem Thraken - einer Intelligenz von Grad drei, aber immer noch mit einer Körperrüstung bewehrt wie ein Kampfpanzer ? Wie steht es mit den entsetzlichen Egeln jenes fernen Außer-Polis-Planeten Spatterjay ? Was sonst findet man da draußen - was müssen wir erst noch entdecken ? (aus »Wie es aussieht« von Gordon)
Der Darrofengeruch und dann das Geräusch einer Dampfpumpe verrieten Anderson, was vor ihm lag, noch ehe er das Lager der Mineraleure sehen konnte, und als er und Tergal eine Sandsteinkuppe umrundeten - wo Abwässer sich einen ölig aussehenden Kanal gebahnt hatten, neben dem verkümmerte Sulerbanen wuchsen -, erblickten sie die Industrieanlage.
»Man kann sehen, weshalb sie hier sind«, sagte Tergal. Anderson warf ihm einen fragenden Blick zu, und Tergal deutete an der Sandsteinkuppe hinauf. »Weißer und blauer Sand in getrennten Schichten.«
Anderson blickte hinauf zu der Stelle, wo Schichten aus rosa und orangenem Sand den weißen vom blauen schieden.
Tergal erklärte: »Man findet die beiden Schichten dicht beieinander, und normalerweise haben sie miteinander reagiert. Dann verwandeln sich die Spurenelemente in Salze, und der Regen wäscht sie aus. Der Sand bleibt wertlos zurück.«
Anderson nickte, wollte den jungen Mann nicht mit dem Hinweis enttäuschen, dass er das alles schon gewusst hatte.
Neben dem Kanal lag ein Sandschwein in der Sonne; es war so alt wie Bonehead und vor einen riesigen Karren voller Koks gespannt. Daneben parkte ein großes Motorfahrzeug mit Raupenantrieb und zwei Anhängern - einem offenen Anhänger und einem Container. Hinter dem Abwasserfluss hatten die Mineraleure ein Gerüst an der Flanke der Sandsteinkuppe errichtet, damit sie die Sandschichten erreichen konnten, die sie dann in getrennten Eimern an einer dampfgetriebenen Transportkette herabließen. Ein Stück hinter der Sandsteinkuppe standen Darröfen und Häuser aus befestigtem Sand, aber Anderson erkannte trotzdem, dass das Lager auf befristete Zeit angelegt war - die Mineraleure blieben nur so lange, bis die Schichten ausgebeutet waren, obwohl das Monate oder Jahre dauern konnte. Zwischen den Häusern hatten sie einen Holzrahmen aufgebaut, an dem Sleerpanzer trockneten -zweifellos als zusätzlicher Brennstoff gedacht. Die Arbeiter gruben an der Sandsteinkuppe den Sand aus oder karrten ihn am Boden zu den Darröfen, wo andere ihn auf Keramikplatten ausbreiteten, um ihn zu Blechen zu verschmelzen. Niemandem fielen die beiden Reiter auf, bis endlich ein kleines Mäd-hen sie entdeckte und schreiend ins Lager rannte.
»Was täten wir nur ohne sie?«, fragte Anderson und betrachtete dabei die dreiteilige Solarzelle, die aufgeklappt auf Boneeads Rücken lag - sodass die drei Teilzellen die Batterien des Generators aufluden, den die beiden Männer in der zurücksenden Nacht benutzt hatten. »Mineraleure?«, fragte Tergal.
»Nein, Solarzellen. Zwar kennt man noch andere Methoden, um Strom zu erzeugen, aber keine, die so leicht und bequem wären wie diese.« Er deutete auf einen Stapel Kisten eben einem der Sandsteinhäuser.
Neben diesem Stapel war eine große schwarzhaarige Frau damit beschäftigt, Scheiben aus undurchsichtig-weißem und durchsichtig-blauem Glas zu schneiden und anschließend abzuschleifen. Neben ihr montierte ein kleiner Affe von Mann leine geflochtene Kupferdrähte daran, strich etwas auf jeweils eine Glassorte und klebte dann Scheiben beider Sorten mit Hilfe eines glänzenden Films zusammen, den er aus einem Eimer neben sich schöpfte. Anschließend packte er jede vollständige fotovoltaische Zelle ein und verstaute sie sorgfältig. Die Frau war es, zu der das Mädchen jetzt rannte. Die Frau stellte ihre Arbeit ein und kam näher, um Anderson und Ter-al am Rand des Lagers zu empfangen.
»Eine späte Reaktion, und ich hatte kaum damit gerechnet, dass sie uns einen Rondurischen Ritter schicken«, sagte sie d musterte Anderson von Kopf bis Fuß. »Ich denke, du verwechselst mich mit jemandem«, entgegnete Anderson und öffnete den Sicherheitsgurt des Sattels, als ich Bonehead auf die Kriechgliedmaßen absenkte. »Du bist ein Waffenträger?«
»Das bin ich«, bekräftigte Anderson und stieg auf den Sand hinab.
Die Frau nickte. »Wir haben vor fünf Tagen in Golgoth um einen Waffenträger gebeten, und er hat sich noch nicht blicken lassen.« Sie blickte sich verärgert um, musterte Tergal einen Augenblick lang und konzentrierte sich wieder auf Anderson. »Nimmst du Aufträge an?«
Anderson zuckte die Achseln. »Wann immer möglich -schließlich muss man sich von etwas ernähren.«
»Dann habe ich einen Auftrag, für den ich in Pfennigen zahlen kann oder auch neuen Fozellen, falls dir das lieber ist. Unser Mann aus Golgoth kann dann meinetwegen einen Sleer am Arsch lecken.«
Tergal schnaubte, unterdrückte dann aber das eigene Lachen. Die Frau musterte ihn abschätzend. »Dein Lehrling?«, fragte sie Anderson.
»Gewissermaßen«, antwortete der Ritter. »Erzähl mir von diesem Auftrag.«
Erneut blickte sich die Frau um. »Er kommt nachts, und wir haben uns so lange nichts daraus gemacht, wie er in unserem Lager auf Nahrungssuche nur ein paar Sachen umgeworfen hat. Aber er wird kühner. Vor sechs Nächten griff er eines unserer Schweine an und hat ihm ein Loch in den Panzer geschlagen.« Sie deutete zum Schweinepferch auf der anderen Seite des Lagers, wo weitere der riesigen Kreaturen im Sonnenlicht ruhten wie eine Sammlung Lavakuppeln. Eines der Tiere, vielleicht jünger und neugieriger als seine Artgenossen, hatte den Sinneskopf unter der Panzerschale hervor geklappt und hochgereckt, die Augenstiele weit auseinander, um sich die Vorgänge anzusehen. »Dann hat er vor fünf Nächten versucht, sich einen Weg in eines unserer Häuser zu bahnen.«
»Zeig mir das«, sagte Anderson.
Die Frau gab ihm mit einem Wink zu verstehen, er möge ihr folgen, und ging tiefer ins Lager. Tergal stieg auch aus dem Sattel und führte sein Schwein, indem er den Stachelstock unter der Panzerschürze einhakte. Anderson bedachte Bonehead mit einem bedeutungsvollen Blick, bis sich das Tier ausgiebig seufzend auf die Kriechgliedmaßen emporstemmte und ihm folgte. Anderson sah sich unterwegs um und stellte fest, dass das Lager schon längere Zeit bestehen musste oder dies noch tun sollte, denn der Abwasserkanal wurde von einer aufrechten Handpumpe gespeist. Demzufolge hatten die Mineraleure ein Loch ausgebohrt, und das war etwas, was man nicht für ein kurzfristiges Unternehmen tat. Bald näherten sich weitere Arbeiter, um mal zu sehen, was hier vorging. Der affenhafte Mann ging neben Tergal her und unterhielt sich angeregt mit ihm, aber Anderson konnte nicht hören, worum es in dem Gespräch ging. Als sie das Sandsteinhaus erreicht hatten, war bereits eine ansehnliche Menschenmenge versammelt. Anderson betrachtete die Vertiefungen im weichen Mauerwerk, die bestätigten, was er schon vermutet hatte. Lächelnd sah er Tergal an, ehe er sich wieder der Frau zuwandte.
»Weißt du, was die erzeugt hat?«, fragte er.
»Wir hatten zunächst gehofft, es wäre ein Zweitstadler gewesen, aber angesichts des Angriffs auf ein Sandschwein und jetzt dessen hier … « Sie zuckte die Achseln.
»Drittstadler«, erklärte er und deutete auf die tiefen Löcher im befestigten Sand. »Da hat er sich mit den Beißzangen festgehalten, während er die Wand mit den Panzersägen bearbeitete. Irgendwas muss ihn dann abgelenkt haben, andernfalls hätte er sich einen Weg hineingebahnt.« »Drittstadler!«, schnaubte jemand. »Er versucht nur, den Preis hochzutreiben, Chandle.« Anderson wandte sich ab und traf Anstalten, zu Bonehead zurückzukehren.
»Warte!«, rief die Frau namens Chandle. »Und du, Dornick, hältst gefälligst die Klappe!« Anderson drehte sich um. »Dreißig Fozellen - sie werden mir beim Tauschhandel nützlich sein, wenn ich auf die Ebenen Weiterreise.«
»Verdammte Erpressung!«
Anderson ging jetzt auf den Mann namens Dornick los: ein
untersetztes, bärtiges Individuum mit kupierten Mundfühlern und
Daumenspornen unter der Hand, die Leute dieser Art unausweichlich
in ein technisches Gewerbe führten. »Möchtest du ihn lieber selbst
jagen?«
»Zu diesem Preis - wahrscheinlich.«
»Dornick!«, warnte ihn Chandle.
»Das ist die Produktion vieler Tage. Tage und nochmals Tage!«
Anderson fiel auf, dass Chandle ungeachtet ihrer Warnungen nicht geneigt schien, sich einzumischen, sondern lieber auf seine Antwort wartete. Ihm fiel darüber hinaus auf, dass einige der Leute hier Metalleurwaffen trugen, was sie möglicherweise mit übertriebener Zuversicht erfüllte. Im Grunde brauchte er diesen Auftrag nicht, denn obgleich er vielleicht ein paar Fozellen bei Nomaden auf den Ebenen hätte eintauschen können, war er nicht wirklich darauf angewiesen. Und was Geld anbetraf - er hatte reichlich davon zusammengespart. Aber sein Pflichtgefühl setzte sich durch. Er warf einen Blick auf das kleine Mädchen, das neben Chandle stand. Ein Drittstadler konnte es in Sekunden zu leicht verdaulichen Portionen schneiden.
»Tage, sagst du.« Er drehte sich um und ging zur Hauswand zurück. »Dornick, wie ich sehe, hast du einen Messdraht am Gürtel. Darf ich ihn mir borgen ? « Anderson streckte die Hand aus.
Der Mann wirkte rebellisch, aber auf einen warnenden Blick Chandles hin übergab er den Draht. Anderson spulte diesen über seinem Kopf ab und maß dann die Höhe der Beschädigungen an der Wand.
»Die Kreatur hatte es nicht nötig zu klettern, also wette ich, dass sie an dieser Behausung gekaut hat, während die Vordergliedmaßen auf dem Boden ruhten. Wenn man solche Spuren findet, kann man eine einfache Rechenformel anwenden.« Er spulte den Draht wieder auf. »Die Körperlänge eines Drittstadlers beträgt nominell das Zweieinhalbfache der Höhe seines Mauls über dem Boden. Diese Spuren hier liegen in mehr als zwei Metern Höhe.« Anderson fiel auf, dass manche Gesichter eine kränkliche Färbung angenommen hatten. Dornick formte die Zahlen mit den Lippen. »Fünf Meter«, erklärte ihm Anderson. »Ein Drittstadler dieser Länge wiegt fünfmal so viel wie ein großer Mann. Und er kann übrigens doppelt so schnell laufen.« »Das sagst du«, brummte Dornick.
Anderson gab ihm den Draht zurück. »Ich bringe dir den Kadaver, und sollte er weniger als fünf Meter lang sein, verzichte ich auf mein Honorar.«
»Wir sind im Geschäft, Rondurischer Ritter«, sagte Chandle und trat vor, ehe Dornick noch etwas sagen konnte.
Die ECS-Ärzte hatten eine Trennwand aus Kettenglas errichtet, um zu verhindern, dass sich eine Infektion über die Luft ausbreitete, und eine solche Infektion wäre auch für Fethan mit seinem schockgefrosteten Biogittergehirn und seinem Körper aus Plastik und Metall gefährlich gewesen. Nicht, dass es irgendwelche Anzeichen davon gegeben hätte, die sterbenden Überreste des Dschainamyzeliums in dem Outlinker könnten sich durch die Luft ausbreiten, aber niemand ging hier irgendein Risiko ein.
»Kommt das Mädchen als Nächstes an die Reihe?«, fragte er und kratzte sich den gelbbraunen Bart.
Der Chefchirurg Gorlen bedachte ihn mit einem komischen Blick. Fethan waren solche Blicke schon bei vielen dieser Leute aus dem Hospitalzweig der ECS aufgefallen. Sie drückten sowohl ihre Verblüffung aus, noch einen Cyborg wie ihn anzutreffen - denn die Artgenossen, die den Vorgang überlebt hatten, waren längst in haltbarere Golemkörper umgestiegen -, als auch das überwältigende Bedürfnis, ihn auseinander zu nehmen und mal zu sehen, wie er tickte.
»Das Mädchen wird schon operiert«, antwortete Gorlen. »Einer der Knoten drückte auf ihr Herz, und es bestand die Gefahr eines Herzstillstands.«
»Wird sie überleben?« Fethan drehte sich zu dem Mann um.
Gorlen deutete mit dem Kopf auf Apis Coolant, der in einem Bett in der Quarantänekammer lag und fast völlig unter Überwachungsgeräten verschwand. »Ihre Chance ist so gut wie seine. Die von der Jerusalem geschickten Nanobots zerlegen auch noch den letzten Rest des Myzeliums, und sofern ich nicht irgendwas übersehen habe, wird er in etwa einem Tag entlassen werden können.« Der Chirurg hob jetzt einen Aluminiumkasten mit Trageriemen von einem Tisch nebenan auf.
»Das ist also das Viech, nicht wahr?«, fragte Fethan.
»Das ist es - konstruiert von Jerusalem persönlich.«
Der Mann händigte ihm den Kasten aus, und nachdem Fethan sich das Ouroborosmotiv -Jerusalems Kennzeichen -auf dem Deckel angeschaut hatte, hängte er sich den Kasten an dem Riemen über die Schulter. Dann wandte er sich ab und blickte durch das Fenster zu seiner Rechten nach draußen.
Hinter einer Zone, in der Polismaschinen die Erde zu schwarzem Schlamm zerwühlt hatten, geädert mit dem Grün ausgegrabener Fadenwürmer, breitete sich trockenes Flötengras aus, so weit er blicken konnte. Vor dem Hintergrund des auberginefarbenen Himmels sah er ein weiteres großes Trägerschiff Kurs aufs Gebirge nehmen, umgeben von einem Schwärm Robotsonden. Die meisten Calloraptorenkadaver hatte man inzwischen geborgen, ebenso das Landungsboot, das Skellor auf den Planeten hinabgeschickt hatte; all das war jetzt in der ausgebrannten Zylinderwelt Glaube der früheren Theokratie verstaut - was Fethan irgendwie ironisch vorkam. Das riesige Forschungsschiff Jerusalem hatte diese Fracht abholen sollen, nur tat es das vorläufig doch nicht. Jerusalem hatte entschieden, dass man sie anderswo brauchte. Vielleicht war das für das Volk von Masada eine gute Nachricht, denn schon die per Runcible übermittelten Botschaften dieser KI hatten die Flint-Runcible-KI vor Panik schier rasend gemacht. Ein Verstand wie Jerusalem war nötig gewesen, die Nanobots zu konstruieren; nichts Geringeres wäre dazu fähig gewesen.
»Ich schätze, es war zu schön, um wahr zu sein«, sagte Fethan, der jetzt eine Gruppe von Masadanern aus dem Flötengras herankommen sah. Sie alle trugen klobige Atemgeräte.
Gorlen trat an seine Seite und fragte: »Was?«
»Das Myzelium - das den Menschen ermöglichte, da draußen zu leben, das ihre Körper neu aufbaute, sie am Leben hielt… « »Wir wissen, dass es jetzt möglich ist. Diese Technik wird zahlreiche Segnungen nach sich ziehen.« Fethan grunzte und wandte sich zum Gehen. »Bringen Sie ihnen das?«, fragte Gorlen. »So lautet mein Auftrag.« »Viel Glück.« »Hoffen wir es.«
Unterwegs zu dem Tunnel, der zum Shuttle-Landeplatz führte, wandte sich Fethan unvermittelt ab und ging zur Luftschleuse. Er wollte ein letztes Mal die seltsame Musik des Flötengrases hören. Er stieg aus der Schleuse und blickte sich um. Der Planet war viele Jahre lang sein Zuhause gewesen, während er hier für die ECS arbeitete und Unruhe gegen die herrschende Theokratie schürte, und jetzt spürte er allmählich den Abschiedsschmerz. Während er dem im Matsch ausgelegten Kompositpfad folgte, fragte er sich, wie stets, inwieweit dieses Gefühl real war. Sein schockgefrostetes Gehirn war im Gehalt ebenso unveränderlich wie im Aufbau; und das, was er war, bestand ebenso aus Kristallspeichern und Emulationen wie in jedem Golem. War es töricht von ihm, sich so hartnäckig an die kleinen Reste Menschsein zu klammern, die ihm verblieben waren? Er wandte sich ab und ging zum wartenden Shuttle hinüber. Sobald er an Bord war, begrüßte er mit knappen Worten den menschlichen Aufseher, der sein Pilot war, schnallte sich an, stellte den körpereigenen Wecker ein und schaltete sich ab … schlief ein.
Scheinbar ohne Übergang erwachte er und sah den Minimond Flint vor sich.
Na, warum bin ich denn geweckt worden ?, fragte er über den weit offen stehenden Kanal seines eingebauten Funks.
Eine Mitteilung ist per Runciblenetz eingegangen, informierte ihn die Flint-KI.
Dann her damit, sagte er.
Prasselnde Störgeräusche ertönten, als hastete etwas Kleines einem anrückenden Moloch aus dem Weg. Etwas mehr wird benötigt.
Fethan stockte, als er die ungeheuren Dimensionen des Verstandes spürte, der am anderen Ende der Verbindung schwebte. Ihn schauderte, und ihm sank das Herz in die Hose - alles nur emuliert, aber er begriff trotzdem, was der Flint-Runcible-KI solche Angst machte.
Jerusalem ?
Offenkundig.
Auf dieses Wort hin senkte Fethan den Blick zu dem Kasten auf seinem Schoß und blickte anschließend den Piloten an, der ihn seinerseits betrachtete. Der Wurm Ouroboros drehte sich-verschluckte endlos immer weiter den eigenen Schwanz-; dann spürte Fethan eine Reihe von Klicks, als sich Schlösser öffneten.
Was möchtest du ?
Es ist ratsam, das eigene Blatt bedeckt zu halten; noch besser ist es, wenn man gar nicht alle Karten offen auf dem Tisch liegen hat.
Hör auf herumzulabern und komm endlich zur Sache!
»Alles okay mit Ihnen?«, erkundigte sich der Pilot. Fethan
tippte sich mit einem Finger an die Schläfe. »Führe nur ein
Schwätzchen mit einem unserer Siliziumfreunde.« »Oh … klar doch…
Sie sind… « »Yeah, ich bin ein Cyborg.«
Der Mann wandte sich wieder der Steuerung zu.
Die Forschungsstation Ruby Eye erhielt kürzlich Besuch von Freund Skellor und seinem Messingkiller; dort hat er sich durch Unterwanderung eines Cybercorp-Netzwerks in den Besitz bestimmter Koordinaten gebracht.
Das wird also Cormacs nächste Station sein - um mal zu sehen, ob er die Fährte aufnehmen kann. Korrekt.
Und auf Ruby Eye gibt es ein Runcible. Korrekt.
Naja, du möchtest doch, dass die Nanobots für den Soldaten Thorn auf die Jack Ketch gebracht werden, also wozu jetzt diese Ausflüchte ?
Öffnen Sie den Kasten.
Fethan seufzte und klappte den Deckel auf. Im Innenraum entdeckte er eine Art Trägheitszylinder, wie man sie als Behälter für solch aktive Techniken benutzte. Aber der Zylinder beanspruchte nur den halben Platz. In einer Prallschutzverpackung daneben steckte eine kleine Raute aus Speicherkristallen, an der schmaleren Kante von einem Verstärkeranker und Verbindungspunkten gesäumt.
Jerusalem fuhr fort: Bei unserem letzten Gespräch informierte mich Jack darüber, wie Cormac Menschen und Waffen sammelt, Zufallselemente, Einzelteile für einen bevorstehenden Kampf gegen Skellor. Er weiß dabei nicht, wie er sie einsetzen wird. Alles hängt von den Umständen ab. Er erzeugt eine veränderliche Gegenkraft zu Skellor. Cormacs Stärke dabei ist die Reaktionsfreudigkeit, weniger die massive Struktur der Vorbereitung.
Gähn…
Sehr schön. Die Speicherkristallmatrix passt in deine Bauchhöhle - wo du auf Masada elektronische Stimmenzahler mitgeführt hast. Du wirst den Kristall dort einführen, woraufhin sich programmierte Nanofaserverbindungen bilden.
Ich brauche nicht mehr Speicherplatz.
Wie du sehr wohl weißt, ist er nicht für dich gedacht. Der Ladevorgang beginnt, sobald du auf Ruby Eye aus dem Skai-don-Warp trittst.
Weißt du, ich habe das Recht, es zu verweigern. Ich ziehe es vor, Cormac ein bekanntes Gesicht zu zeigen und ihm keinen Anlass für Argwohn zu geben.
Was für ein Spiel spielst du da ?
Ich liefere Cormac einen weiteren Stein für sein … Spiel. Einen, von dem er nichts weiß und den er auch Skellor nicht verraten kann. Den einen Stein, der Skellor womöglich umbringt, falls alles andere versagt.
Fethan senkte die Hand und fuhr mit einem Finger am Haftverschluss des Hemds entlang. Intern gab er Anweisung, einige Verbindungen zu kappen. Der Pilot drehte sich im richtigen Augenblick um und sah, wie Fethan seinen Magen öffnete, als würde er sich selbst einen Kaiserschnitt verpassen, und einen nassen roten Hohlraum freilegte.
»Keine Sorge. Es tut nicht weh.«
Der Pilot wandte sich wieder nach vorn und sagte nichts. Fethan zog den Kristall aus der Polsterung, drückte ihn in die Bauchhöhle bis an die Keramalwirbelsäule und schob ihn nach oben bis direkt unterhalb des Brustkorbs - der den größten Teil seines essenziellen Wesens barg. Sofort spürte er, wie die Verstärkeranker und die übrigen Verbindungen Zugriffen, und zog die Hand zurück. Kleine Flimmereffekte wie beim Heraufziehen eines Migräneanfalls zuckten durch sein Blickfeld. Er roch etwas, was zugleich vertraut und geheimnisvoll wirkte. Ein Geräusch wurde vernehmbar wie von einer fernen, brüllenden Menge… oder Gemurmel in der Nähe.
Was trage ich denn in mir?, erkundigte er sich.
Einen Teil von mir, der viel Erfahrung mit der Durchsuchung virtueller Netzwerke hat und im Umgang mit Problemen, die dabei auftreten. Viele KIs verfügen über Kopien davon. Ruby Eye gehört dazu.
Als Fethan einige Stunden später aus dem Runcible auf Ruby Eye hervortrat und spürte, wie sich die Emporladeverbindung einschaltete, sagte er laut: »Ich bin viele.« Und dann in Gedanken. Ich bin auch eine beschissene Sprengfalle!
Wenig später wütete eine Kopie des Killerprogramms, das Ruby Eye gegen Skellor eingesetzt hatte, in ihm gegen die Zügel an.
-Rückblick 11-
Mit Hilfe von grobkörnigem Sand und Meerwasser säuberte sich Balsh die Hände von geronnenem Blut. Dann warf er die Tasche ins flache Salzwasser, holte nacheinander jeden der geschliffenen Saphire hervor, wusch ihn und packte ihn in einen weniger schmutzigen Behälter. »Hast du alle herausholen können?«, fragte Arian.
Balsh blickte auf. »Vier Komma fünf Millionen. Die letzten sind ihm in die Lungen geraten, und das war die Todesursache.«
Arian nickte, drehte sich um und betrachtete seine Leute, die im Gänsemarsch und beladen mit Beute von Aistons Wohnhaus herabmarschierten. Er raffte hier so viel zusammen, wie nur ging, ließ aber zugleich auch viel zurück. Weitere Männer, die ihre Ladung im Frachtraum des Bootes verstaut hatten, kehrten zum Haus zurück und schleiften dabei Leichen mit. Die Toten, die dem Ufer am nächsten gelegen hatten, wurden ins Meer geworfen, und die Aktivität der Perlmuscheln stieg demzufolge.
»Hat schon einige Zeit für den Todeskampf gebraucht«, ergänzte Balsh. »Er hat die Eingeweide leer geschissen und bei dem Kampf die meisten Fingernägel verloren. Der Golem hat einen Großteil von Aistons Zähnen eingeschlagen, während er ihn mit den Saphiren fütterte.«
Arian fragte sich, was den Golem veranlasst hatte, den Mann auf diese Weise umzubringen. Die Anweisung hatte schlicht gelautet: >Töte Aiston und jeden, der dich daran zu hindern versuchte Kein Ton war darüber gefallen, den Mann mit seinem eigenen Geld voll zu stopfen, keiner darüber, die Toten zu verworrenen Skulpturen aufzuschichten und nicht darüber, systematisch jeden einzelnen Menschen auf dieser Insel umzubringen. Als Arian das Steuermodul per Verstärker anwählte, erhielt er weiterhin die Meldung >Einsatzziel erreicht<, eine Gitterreferenz mit dem Standort des Golems und ein paar chaotische Bilder von Formen, die sich in leerem Raum bewegten. Es ergab keinen Sinn.
»Angel…« Pelter ging auf seine Schwester zu, die gerade mit den Plünderern zurückkehrte. «… ist noch etwas da, was sich lohnen würde mitzunehmen?«
»Jede Menge«, antwortete Angelina. »Vielleicht wäre es aber besser, von hier zu verschwinden, ehe irgendein Polissatellit einen genaueren Blick auf die Insel wirft.«
Arian nickte. »Stimmt. Sind die Ladungen an Ort und Stelle?«
»Bereit zur Zündung.« Angelina übermittelte den Zündcode aus ihrem Verstärker an den Arians. »Dann brauchen wir nur noch Mr. Crane einzusammeln«, sagte er.
Angelina starrte ihn an, als hielte sie ihn für völlig verrückt. Seine Leute, die gerade ihre Lasten zum Boot trugen, blieben stehen, um sich die Antwort anzuhören.
»Lassen wir ihn doch einfach dort, wo er gerade ist«, schlug Angelina vor.
Arian schüttelte den Kopf. »Einen umgedrehten und aufgebesserten
Golem Fünfundzwanzig? Hier zusammen mit den Leichen von weiß Gott
wie vielen seiner Opfer zurücklassen? Und glaub mir: Sie würden die
Leichen finden!« Er drehte sich zu den Männern um, die zuhörten.
»Wir können uns eine solche Aufmerksamkeit nicht leisten. Denkt
ihr, derzeit würden schon zu viele Agenten und Aufseher der Polis
auf Cheyne III herumwimmeln? Falls sie das hier entdeckten, würden
wir auf Schritt und Tritt mit einem von ihnen zusammenstoßen. Sie
würden jeden Fetzen DNA auf dieser Insel aufspüren und allen
Beteiligten das Gehirn ausquetschen, ob unschuldig oder nicht.
Möchtet ihr das wirklich?«
Allgemein wurde Ablehnung gebrummt.
Arian fuhr fort: »Also sammeln wir Mr. Crane ein und nehmen ihn mit nach Hause.«
Als die letzten seiner Männer zurückgekehrt waren, sendete Arian den Zündcode und verfolgte das stärker werdende Glühen im Mittelpunkt der Insel und an anderen Stellen, wie die langsam brennenden Thermoxitladungen gezündet worden waren. Aistons Haus stand in Flammen, und auch die grotesken Leichenskulpturen brannten, aber trotzdem würden zahlreiche Spuren des Massakers zurückbleiben. Arian wollte auch nur tarnen, wie genau Aiston und seine Leute umgebracht worden waren. Als sie später mit dem Boot die gegenüberliegende Küste der Insel erreichten, rülpsten die Flammen schon zehn Meter hoch in die Luft. Mr. Crane leistete dem Rückruf lammfromm Folge - ein Dämon unter einem Zauberbann -und stand reglos da, während Balsh ihn mit Hilfe eines Schlauchs vom Boot aus abspritzte. Dann stieg Crane in den Laderaum hinab.
»Ich hoffe, du hast keine Hintergedanken«, sagte Angelina.
»Oh nein«, sagte Arian. »Wir verstauen ihn sicher.« Angelina streckte eine Hand aus und packte ihn an der Schulter. »Arian, das war keine Niederlage. Wir formieren uns einfach neu und machen weiter. Da ist schließlich noch dieser neue Waffenlieferant, der sagt, er könne uns mit ernsthafter Hardware versorgen - die Art, bei der man nur noch einen Abzug drücken muss.«
Arian drehte sich zu ihr um. »Der silberhaarige Kerl - den du gern ficken würdest?«
»Genau der«, bestätigte Angelina. »Wir brauchen keine Polis-Killermaschinen.«
Vielleicht bestrebt, nicht an das eben erlebte Grauen zu denken, sagte Arian: »Ja, er scheint genau die Art Person, die wir brauchen. Vielleicht ändert sich mit seiner Hilfe etwas, verbessert sich die Lage.«
Das geschah auch - aber für wen, das hing vom Standort des Betrachters ab.
Einen Tag später führten sie Crane eine Treppe hinab, die unter einer Statue von Arians Vater versteckt lag. In dem feuchtkalten Zimmer am Fuß der Treppe wurde die entschiedene Anweisung »setz dich« in Fünf-Sekunden-Zyklen etabliert. Crane setzte sich auf den einsamen Stuhl und sah nicht, wo Arian das Steuermodul verstaute - weder konnte er den Befehl, sich hinzusetzen, innerhalb von fünf Sekunden umgehen, noch hatte er es überhaupt vor. Arian und seine Schwester zogen sich rückwärts durch die Tür zurück, gefolgt von den beiden Männern mit Minigranatenwerfern. Die Tür wurde abgeschlossen, verriegelt und anschließend abgedichtet und getarnt… Mr. Crane stellte seine Augen auf Infrarot um und saß in der schimmeligen Dunkelheit, die Tür fest im Blick.
- Rückblick verblasst… -
Dunkelheit, erfüllt von einem Lichtgitter, vierdimensional in Realität und Erinnerung, zweidimensional in der Darstellung. Die Icons verschieben sich in zufälligen, aber immer bestimmteren Mustern; manche wahren eine Zeit lang ihre Positionen, um dann weiterzuziehen, wenn Kombinationen anderer Stücke ihren Standort unhaltbar machen. Eine blaue Eichel rotiert im Nichts, während ein kleiner Gummihund amüsiert zusieht. Blut und Tod über eine endlose virtuelle Fläche hinweg. Crane, die Messinghände frei von Blut, verschiebt ein Stück, findet eine Verbindung; dann löst sich eine unendliche Zahl von Möglichkeiten auf, und Verstandesklarheit rückt einen Schritt näher.
- Rückblick endet -
In einem Teil der Zeit, die jeder andere im Kälteschlaf verbracht hätte, verstärkte und verfeinerte Skellor die Strukturen in seinem Körper, spürte Fehler auf und löschte sie, sortierte und organisierte die im Kristallteil seines Verstandes gespeicherten Informationen und verwarf alles, was er als irrelevant einstufte. Immer häufiger stieß er jedoch auf Anomalien, die sich in seiner Dschainasubstruktur bildeten. Diese tat irgendetwas, veränderte sich auf eine verstohlene Art und Weise, zweigte Ressourcen ab, um Knoten innerhalb ihres Rahmens zu erzeugen. Skellor gestattete einem davon, sich eine Zeit lang zu entwickeln, und stieß dabei auf mehrfache Schichten aus Komplexität, intern verknüpft, die allmählich so etwas wie physische Unabhängigkeit entwickelte, beinahe wie ein Tumor. Er sondierte und prüfte und studierte, aber das Objekt widersetzte sich der Analyse. Letztlich musste er es in sich verbrennen. Und als er es vernichtete, spürte er ein rebellisches Murmeln aus dem Rest der Substruktur.
»Du wirst Antworten für mich haben, Drache«, sagte er dem Grau des Subraums.
Hinter sich hörte er leises Klicken und Klappern, wenn Mr. Crane seine Spielsachen neu anordnete. Skellor stieß Rauch aus dem Mund aus und ignorierte diese Geräusche, während er den Schaden aus dem Brandvorgang behob. Aus dem Handgelenk ließ er einen Tentakel wachsen, der sich durch die Luft schlängelte, nach der Konsole vor ihm tastete und einen Universalenergieanschluss fand. Mit der anderen Hand holte Skellor eine Packung Nahrungskonzentrat aus dem Behälter, der mit offenem Deckel neben ihm stand, und machte sich daran, den ganzen Vorrat zu verspeisen, ohne ihn vorher auszuwickeln.
»Du weißt über diesen Dschaina Bescheid, und ich frage mich, ob er der Grund für dich war, eine Rückkehr zu deinen Herren zu verweigern«, sagte er, als er das Konzentrat verspeist hatte.
Nach Abschluss der Reparaturen und all des aktualisierenden Sortierens, Organisierens und Löschens ließ er sich in einen schlafähnlichen Zustand sinken und schloss die Augen, um in Erinnerungen zu schwelgen. Mr. Crane wetzte eine blaue Eichel ab und grub mit seinem Stück Thermokristallkohlenstoff Furchen in das Metalldeck. Die Zeit verging. Das tut sie nun mal. Schließlich flackerten Lampen auf dem Steuerpult, und eine gelbe Lampe ging richtig an und leuchtete auch weiter. Skellor öffnete die Augen und nickte einmal, und die Vulture stieg aus dem Subraum in das aktinische Licht einer nahen Sonne auf, setzte eine Wolke Miniaturdetektoren und Subraumtransceiver aus und schwenkte automatisch auf einen Bogenkurs, der sie zu programmierten Koordinaten bringen würde. Skellor empfand eine gewisse Zufriedenheit über diesen Ablauf, und diese Zufriedenheit steigerte sich noch, als seine Instrumente ähnliche Geräte fanden, die ihre gewaltigen Datenmengen an den Planeten sandten, dem sich die Vulture näherte. Alle Zufriedenheit schwand jedoch dahin, als er sich nach innen wandte und einen weiteren dieser Knoten vorfand, der in ihm wuchs. Er brüllte, der Mund erfüllt von Flammen. Er atmete Rauch aus, und rotglühende Flecken tauchten im zähen Material seiner Brust auf. Und während er den Knoten ausbrannte, stieg sein madenähnliches Schiff am Nachthimmel herab und zog einen Kondensstreifen wie eine Durchstreichung über die fernen Wirbel aus interstellarem Staub und entstehenden Sonnen.
»Du wirst die verdammten Antworten kennen«, erklärte er der Aussicht, die sich ihm eröffnete. Die Vulture bremste ab, während sie ihre Bahn über Bergketten, Wüsten und staubige Hochebenen zog. Teleskopartige Facettenaugen wurden kurz auf den Vorbeiflug des Raumschiffs aufmerksam, taten dieses Objekt als nicht essbar und somit bedeutungslos ab und wandten sich wieder der lebenslangen Aufgabe zu, zu fressen oder möglichst nicht gefressen zu werden. Andere Augen - blaue Saphire in den Mäulern von Pseudopodien mit Kobraköpfen - erblickten das Gleiche, gelangten jedoch zu einer abweichenden Einschätzung, und die langen Schlangenhälse zogen sich in den Erdboden zurück.
Das Schiff flog über eine Stadt voller Lichter hinweg und wurde dort von Galileischen Metalleuren beobachtet, die seit langer Zeit nach so etwas Ausschau hielten, und große Aufregung breitete sich nun in der Stadt aus. Das Schiff glitt über die Sandtürme hinweg, und in seiner virtuellen Sicht erblickte Skellor nun sein Ziel: einen gewaltigen bunten Fleck - den Nexus der vielen Informationsströme. Es dauerte eine Mikrosekunde, bis ihm auffiel, dass einer dieser Ströme von der Vulture selbst ausging.
»Was zum Teufel…?«, fragte er, und seine Worte kamen unendlich langsamer als die Sonde, die er in die Systeme der Vulture schickte.
Na, ich kann nicht behaupten, dass es Spaß gemacht hätte, aber ich verdufte jetzt.
Skellor versuchte irgendeine Verbindung zwischen dieser Nachricht und dem zu finden, was immer hier in den Systemen des kleinen Schiffes herumschlich.
Ich habe dich umgebracht.
Falsch, du Trottel. Glückliche Landung.
Die Vulture-El musste ein Abkommen mit Drache getroffen haben, denn Drache hatte einen Breitbandkanal hergestellt, über den sich die KI selbst übertrug. Skellor schickte Killerprogramme hinterher, aber sie fanden nur leere Speicher; die KI wich einfach auf andere Standorte in der ungeheuren Siliziumweite aus, während sie ihre Flucht fortsetzte wie Wasser, das durch einen Abfluss rann. Skellor zog sich zurück - die KI hätte sich nicht gemeldet, hätte sie nicht sicher gewusst, dass sie ihm entkommen konnte.
Glückliche Landung ?
Gerade als ihm diese Abschiedsbemerkung in ihrer Tragweite voll bewusst wurde, fuhren die seitlichen Schubtriebwerke der Vulture auf volle Kraft hoch; dann versuchte sich der Fusionsantrieb zu zünden, während die Hälfte seiner Injektoren abgeschaltet blieb, und jagte eine Seitenwand aus der Triebwerkskammer. Feuer schnitt ein Loch durch das Heck des Schiffes und durchtrennte wesentliche Leitungen zu den hinteren Gravomotoren. Und in Spiralen trudelte die Vulture zu den Sandtürmen hinab.
In weniger als einer Sekunde bekam Skellor die Steuerung der Vulture wieder in den Griff, schaltete die seitlichen Schubtriebwerke ab und die Feuerlöscher in der Hecksektion ein. Die halbe Antischwerkrafterzeugung war jedoch futsch und das Schiff nicht mehr zu lenken. Skellor stellte einige schnelle Berechnungen an und übertrug ein Programm in die Schubtriebwerke. Sie zündeten in scheinbar willkürlicher Folge, aber nach langen Sekunden zeigte sich die Wirkung. Das Schiff trudelte nicht mehr, und schließlich stoppte es auch die Korkenzieherbewegung und folgte wieder einer geradlinigen Flugbahn, gerade noch rechtzeitig, um eine Sandsteinkuppe nur seitlich zu streifen und in einer Explosion aus Sand und Feuer davon abzuscheren. Direkt voraus wartete
jetzt nichts anderes mehr als ein Frontalaufprall in
Sandstein.
Zwanzig Grad rechts bot sich die einzige brauchbare Alternative: eine Schlucht, einen halben Kilometer lang. Weitere Berechnungen; Zündungen der Schubtriebwerke drehten die Vulture auf den Rücken, und die sekundäre Explosion des Fusionstriebwerks pustete die zweite Hälfte des Triebwerksgehäuses weg. Die Vulture bohrte sich durch die Flanke einer Sandsteinkuppe, die hinter ihr zusammenstürzte, und flog auf dem Rücken in die Schlucht ein. Skellor versuchte das Schiff mit Hilfe der Seiten- und Bugraketen und dem, was er noch an Gravoplanierung hinbekam, zu drehen und abzubremsen. Im letzten Augenblick drehte sich das Schiff. Es prallte mit der Flanke auf, riss eine Welle aus Staub und Sand hoch und grub eine Furche von einem Viertelkilometer Länge. Mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Stundenkilometern hämmerte es mit der Unterseite voran in die Sandsteinkuppe am Ausgang der Schlucht, aber statt von einem Sandsteinrutsch begraben zu werden, blieb es liegen, während die gesamte Kuppe wie ein gefällter Baum vom Schiff wegkippte.
Die Luftschleuse ging auf und ließ den stechenden Geruch von salzigem Staub herein; Skellor stieg aus und blieb auf der Flanke der Vulture stehen. Er blickte sich um und spuckte Asche auf das heiße Metall, auf dem er stand. Hinter ihm stemmte sich Crane ins Freie und wartete auf Anweisungen. Der Staub und die Hitze des Aufpralls weckten ringsherum jede Menge Aufmerksamkeit. Ein zwei Meter langer Sleer des zweiten Stadiums hatte aus der Nähe alles gesehen und registrierte einfach nur Beute! Skellor sah das Tier nicht. Er konzentrierte sich auf die virtuelle optische Darstellung der Richtstrahl-Funkverbindungen, die zu Draches Standort verliefen und von dort ausgingen, und sah sie alle ausgehen wie Scheinwerfer, die von feindlichem Beschuss getroffen wurden. Mit Hilfe seiner eingebauten Transmitter versuchte er eine Funk-Verbindung zu dem fremdartigen Wesen herzustellen. Sie wurde jedoch sofort blockiert.
»So, du möchtest also nicht mit mir reden«, brummte Skellor, schritt über den gebogenen Schiffsrumpf und sprang die letzten paar Meter auf den Erdboden hinab. Er drehte sich um und sah, dass Crane ihm folgte, und er dachte sich dabei, dass solche Worte sehr wohl Ausdruck von Draufgängertum sein konnten. Er war auf einem primitiven Planeten abgestürzt, das Schiff zerstört, und derjenige, den er hier hatte treffen wollen, zeigte sich nicht zu einem Gespräch geneigt. Und Skellor hatte gerade eben erfahren, dass er die ganze Zeit lang einen Spion mitgeführt hatte. Die Hoffnung, dass Vulture keine Informationen an die Polis und ihren Wachhund, die ECS, hatte übermitteln können, erschien ihm optimistisch. Statt also auf Drachenjagd zu gehen, musste Skellor, wie ihm klar wurde, Reparaturen durchführen und sich selbst eine Fluchtchance eröffnen. Er musterte Crane von Kopf bis Fuß.
»Ich denke, ich werde einen Botschafter entsenden müssen, obwohl Diplomatie nicht ganz deine Stärke ist.«
Als sich Mr. Crane Staub vom Mantel strich, verfolgte Skellor, wie sich die paar Rippen dort reparierten. Und während der Golem sich den Hut zurechtrückte, erinnerte sich Skellor an Aufzeichnungen von der Occam Razor, denen zufolge Drache die Dschainatechnik als den Feind bezeichnet hatte und kaum, dass er von ihrer Anwesenheit an Bord jenes Schiffes erfuhr, rasch von dort hatte verschwinden wollen.
»Vielleicht erblickt Drache in dir keine solche Gefahr wie in mir, falls du nur eine Maschine bist.« Er trat vor und streckte die Handfläche nach Cranes Brust aus. Crane blinzelte lediglich mit den schwarzen Augen und legte dann den Kopf schief, um auf die Hand hinabzublicken. Skellor verband sich mit dem Myzelium, das er in dem Golem installiert hatte, und betrachtete sehr scharf, was es unterhalb dieser Messinghaut bewirkt hatte. Und natürlich erwiesen sich einige Sektionen