des Myzeliums für Skellor als unzugänglich, wie es auch bei der
Separatistin Aphran an Bord der Occam Razor der Fall gewesen war.
Darüber hinaus fand er unerwartete Veränderungen in dem Golem, die
die Effektivität seiner Funktionen erheblich steigerten. Aber das
Myzelium war minderwertig - eine simple Analogie dessen, was in
Skellor lebte, was er im Grunde sogar verkörperte - und demzufolge
für ihn so verwundbar wie ein Spinnennetz für Feuer. Skellor
umfasste sämtliche Transformationen des Myzeliums und traf
Vorkehrungen für sie in dem nanitischen Gegenmittel, das er wie ein
Spiegelbild in dem Augenblick erzeugt hatte, als er Mr. Crane
wiederbelebte. Und die Handfläche erwärmte sich, als das
Gegenmittel in die Messingkillermaschine eindrang.
Skellor wich einen Schritt weit zurück und verfolgte das Geschehen auf vielen Ebenen. Das Myzelium innerhalb Cranes löste sich von der Kontaktstelle ausgehend auf. Mikroskopische und makrokospische Fasern verdorrten. Speicherknoten, nicht größer als Salzkrümel, zerfielen zu Staub. Unabhängige Nanomaschinen oder Naniten, von dem Myzelium für bestimmte Zwecke entwickelt und geschaffen, wurden gejagt und zur Strecke gebracht wie Gnus von einem Rudel Hyänen.
s dann nur noch die Hyänen übrig waren, lösten auch sie ich auf. Und Skellors Sicht schaltete auf reine Außenwahmehmung um. Falls er irgendeine dramatische Reaktion des sturen Golems erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Crane stand so unverändert da wie ein prähistorisches Monument -bis er den Kopf hob. Einen Augenblick lang glaubte Skellor, in dem Metallgesicht so etwas wie Bockigkeit zu entdecken, aber das war doch wohl eher unwahrscheinlich.
»Drache«, sagte Skellor, »du wirst das zweifellos aus dem fragmentierten Verstand dieses Golems herauslesen und entschlüsseln. Ich bin nicht gekommen, um dich anzugreifen, sondern um von dir zu lernen. Wenn du bereit bist, öffne bitte eine Verbindung zu mir, und ich werde rein verbal mit dir kommunizieren. Ich kann durch dich viel gewinnen, und du kannst viel durch mich gewinnen.«
Skellor drehte sich um und sendete das Signal durch das primitive Steuermodul, mit dessen Hilfe Arian Pelter Crane losgeschickt hatte. Den Sleer des zweiten Stadiums, der sich durch die Staubwolke anschlich, hatte er nun schon vor einiger Zeit entdeckt, und als Fußnote zur Nachricht wies er Crane an: »Kümmere dich darum.«
Aus dem sich allmählich legenden Staub kam der Sleer hervorgerannt und -gerutscht. Sein Mundbesteck rieb aneinander und erzeugte dabei ein Geräusch wie von einer automatischen Bügelsäge, während Strahlen einer schmierenden Flüssigkeit aus Drüsen neben dem Maul spritzten. Skellor betrachtete die Kreatur mit analytischem Blick und wich zur Seite aus. Crane trat vor und stampfte mit dem Fuß auf. Kräftig. Als der Kopf des Sleers zu Brei geworden war, klapperte das Tier noch mit den Füßen am Boden und verschied mit einem Geräusch wie dem eines geöffneten Luftballons.
»Interessanter Planet«, fand Skellor und drehte sich wieder zur Vulture um.
Ohne einen Blick zurück machte sich Crane auf den Weg.
Kapitel Elf
Der Lautlose Krieg: So wird die Machtübernahme der KIs häufig genannt, und den Begriff »Krieg« zu benutzen scheint übertrieben dramatisch. Es verlief eher als langsame Usurpation der politischen und militärischen Macht der Menschen, während diese damit beschäftigt waren, diese Macht gegeneinander einzusetzen. Es verlief nicht einmal besonders heimlich. Als Analogie wurde das Bild benutzt, wie jemand eine Pistole aus der Reichweite eines Irren zieht, der gerade einen Dritten anbrüllt. Und so war es auch. KIs, die schon lange in den vielen Konflikten zwischen Unternehmen, Nationen und Religionen benutzt worden waren, übernahmen sämtliche Kommunikationsnetze und die Computersteuerung der Waffensysteme. Und vor allem hatten sie ohnehin schon die geschlossenen menschlichen Lebenswelten in der Hand, die im Sonnensystem verstreut waren. Da sie sich außerdem als Wirtschaftsmächte etablierten, sammelten sie bald ungeheure Vermögen an, mit deren Hilfe sie Söldnerarmeen aus Menschen beschäftigten. Die Staatsoberhäupter des Sonnensystems, die diesen Raketenstart oder jenen Angriff befahlen, stellten fest, dass ihre Befehle entweder gar nicht eintrafen oder keinerlei Reaktion hervorriefen. Falls genau diese Personen dann die Zerstörung von KIs anordneten, fanden sie sich ohne Waffen wieder und in einer Umgebung, die ihrer Kontrolle völlig entzogen war; und sie sahen sich letztlich mit überlegenen Kräften konfrontiert und insgesamt auch der öffentlichen Meinung. Die Mehrheit der Bevölkerung, für die es eine schon lange etablierte Tradition war, die eigenen menschlichen Führungspersonen nur mit Verachtung zu betrachten, brauchte nicht sehr lange für die Einsicht, dass die KIs einfach besser geeignet waren, alles zu leiten. Und es ist sehr schwierig, Menschen zur Revolution anzustacheln, wenn sie es äußerst bequem haben und entsprechend gut betucht sind. (aus dem »Quittenhandbuch«, zusammengestellt von diversen Menschen)
Da die Brückenkapsel jetzt vom Asteroiden getrennt war, durchsuchte Jerusalem diesen bis auf molekulares Niveau hinunter. Ihn in Quarantäne zu halten war zu einem fruchtlosen Unterfangen geworden, und er hatte sich bislang lediglich als Hemmschuh erwiesen. Die Jerusalem tauchte aus dem Subraum auf wie ein Eisenmond, der aus dem Schatten hervortrat, und zeichnete sich blutrot im Licht des Zwergsterns ab. In diesem kaum gewürdigten Sonnensystem herrschte inzwischen rege Aktivität, und ringsherum tauchten Schiffe mit ähnlichem Eifer auf wie die Jerusalem, aber sie nahmen Kurs auf die Forschungsstation Ruby Eye, während das große Forschungsschiff auf eine Umlaufbahn um den roten Zwerg ging. Hier öffneten sich die Tore eines seiner gewaltigen Laderäume, und das riesige Schiff wurde langsamer. Der jetzt nicht länger festgehaltene Asteroid aus dem Gürtel neben Elysium segelte glatt in den Weltraum hinaus. Die Jerusalem drehte sich daraufhin, ließ den großen Felsbrocken als schwarze Silhouette über der Sonne hängen und drehte sich sachte, während sie auf einen langsamen Orbit einschwenkte.
Dann spuckte die Jerusalem etwas aus: eine Kettenglaskugel von zwei Metern Durchmesser, an deren Polen münzförmige Bindungslöser befestigt waren. Sie nahm direkten Kurs auf den Asteroiden; zehn Meter vor dem Einschlag erreichten die Bindungslöser die langen Silikatmoleküle, die das Kettenglas bildeten, und leiteten deren Auflösungsprozess ein. Die Kugel wurde undurchsichtig und dann unscharf, und als sie auf der Felsoberfläche aufprallte, verschwand sie in einer Wolke aus weißem Staub. Ihr Inhalt, der nach dem erdverkrusteten Wurzelsystem eines Baums aussah, prallte einmal ab, schien sich zu verändern, als er wieder herabsank, und blieb haften. Als sich der Asteroid in die extreme Hitze und das Licht der Sonne drehte, streckte sich das Objekt auf seiner Oberfläche, als erwachte es aus langem Schlaf, und begann zu wachsen.
Sie hielten außer Sichtweite des Mineraleurlagers an, und Anderson machte seine Ausrüstung bereit. Während Tergal verfolgte, wie der Ritter seine Lanze zusammensteckte, fragte er sich, ob er nicht besser daran getan hätte zurückzubleiben. Er vermutete, dass es allein um das Ausmaß des Schadens ging, den eine Waffe anrichtete. Kugeln aus Andersons Vorderlader durchschlugen eine harte Panzerschale vielleicht mit knapper Not, aber genauso gut war möglich, dass sie einfach abprallten.
»Kein Beruf, den ich mir ausgesucht hätte«, sagte Anderson und deutete mit dem Daumen zum Lager zurück.
»Warum?«, fragte Tergal und musterte die Lanze.
»Inzwischen ein gefährlicher Job bei all diesen Erdbeben.«
Tergal erstickte ein Lachen. Als er endlich wieder sprechen konnte, fragte er: »Warum benutzt du nicht deinen Karabiner? Bei vollautomatischem Feuer müsste er genug Schaden anrichten.« »Aber würdest du dein Leben darauf verwetten?«, hielt ihm Anderson entgegen. »Ich möchte damit lieber erst mal einen Zweitstadler zur Strecke bringen, ehe ich so etwas in Erwägung ziehe.«
Die Lanze bestand aus vier zusammengeschraubten Einzelstücken, jedes einen Meter lang. Tergal musterte das Gerüst, das Anderson auf Boneheads Rücken neben dem Sattel errichtet hatte
- wobei die Füße des Gerüsts in Halterungen steckten, die sowohl festgeklebt als auch vernietet waren. Jetzt richtete Tergal den Blick auf das letzte Stück der Lanze, das Anderson gerade zur Hand nahm.
»Scheußlich«, sagte er.
»Wie man sieht, dient die Spitze der Durchbohrung« erklärte der Ritter und fuhr mit einem Wetzstein an den Kanten der zehn Zentimeter langen und dreikantigen Spitze entlang. »Diese Messerhaken bilden eine Spirale.« Er machte sich jetzt daran, die vorderen und äußeren Schneiden der Messer zu schärfen, die sich spiralförmig von der Spitze aus an dieser Sektion entlangzogen. Aus den Rückseiten dieser stählernen axtähnlichen Klingen ragten scharfe Stacheln. »Beim Eindringen schraubt sich die Lanze in die Kreatur, bis hinab ins hintere Brutsegment. Die Kreatur stirbt schließlich bei dem Versuch, sich von der Lanze zu befreien.«
»Die Stacheln reißen die Innereien heraus«, stellte Tergal fest. »Aber bestimmt kann die Spitze doch an der Panzerung abrutschen?«
»Nicht, falls man im Maul trifft«, erklärte Anderson.
Er schraubte die abschließende Sektion an und wog die Lanze in einer Hand. »Hier.« Er reichte sie Tergal, der sie mit beiden Händen packte, dann feststellte, wie leicht sie war, und sie nur in einer Hand behielt.
»Geflochtene Fasern aus den Stängeln der Amanispflanze, gebunden durch Epoxidharz«, erläuterte Anderson. »Sehr leicht und stärker als jedes Holz. Die Metalleure stellen einige Legierungen her, die ebenso leicht sind, aber nicht die gleiche Festigkeit haben.«
»Und falls sie bricht?«, fragte Tergal.
»Sie ist mir nur einmal zerbrochen, und zwar an einer der Schraubstellen, aber zu diesem Zeitpunkt steckte der größte Teil schon in dem Drittstadler, den ich aufgespießt hatte. Die Kreatur konnte im Sterben noch das aus dem Maul ragende Reststück absägen. Erneut angegriffen hat sie derweil nicht -sie stand einfach nur da und versuchte herauszufinden, was in ihrem Körper nicht mehr stimmte. Sleer sind nicht so clever wie Sandschweine.«
Anderson nahm die Lanze wieder an sich, stützte sie auf der Schulter ab und stieg erneut auf Boneheads Rücken. Sobald er im Sattel saß, legte er die Lanze so ab, dass der geöhrte Schaft über einem Eisenbolzen lag und dabei an einem Kissen des Gerüsts ruhte, wobei Stützen, die vor Anderson aufragten, einen großen Teil des Gewichts aufnahmen. Der Karabiner steckte inzwischen in einem Behelfshalfter an der Seite des Sattels, dem Vorderlader gegenüber. Während Anderson die Schoßgurte anlegte, drehte sich Bonehead auf den Kriechgliedmaßen so, dass er in die Schlucht blickte, in die Chandle sie gewiesen hatte. Dann richtete er sich auf die Hinterbeine auf.
»Du brauchst nicht mitzukommen«, sagte Anderson, als Tergal auf Stone stieg.
Tergal ließ sich in den eigenen Sattel sinken und entgegnete: »Ich weiß, und denke bloß nicht, dass ich mir nicht überlegt hätte, dort zu bleiben, aber ich würde mir nie verzeihen, wenn ich mir das jetzt nicht ansehe.«
Anderson nickte, nahm den Stachelstock zur Hand und tippte damit an die Panzerschale, die sich vor ihm ausbreitete. Das Schwein klappte widerstrebend den Sinneskopf aus, hob ihn an und öffnete die Augenstiele, um Anderson eine Sekunde lang anzublicken, ehe es sie nach vorn schwenkte und loslief. Tergal warf einen Blick auf die leicht erkennbare Spur, der sie folgten. Anderson hatte ihm schon erklärt, dass der Drittstadler sicher nicht mehr weit war, da diese Kreaturen keine großen Reviere benötigten, um etwas Fressbares zu finden. Innerhalb einer Stunde trafen sie auf die Überreste einer dieser Mahlzeiten.
»Ein Sandschlucker«, stellte Tergal fest, als sie an den verstreuten Panzerstücken vorbeikamen. Recht wenig war hier übrig, um die Kreatur noch zu identifizieren, obwohl Tergal sehr wohl die chitinöse Schaufel erkannte, mit denen das Tier früher Sand aufgeschaufelt und durch die Halssiebe geleitet hatte, sowie die großen flachen Vorderfüße, mit denen es grub. Das Raubtier hatte die Hauptteile des Panzers zu Stücken zersägt, von denen keines größer war als der Rumpf eines Menschen, und so alle Weichteile mühelos herausfressen können. Soweit es Tergal anbetraf, ging man sogar Kreaturen wie dem Sandschlucker lieber aus dem Weg, und doch wurden sie von dem Tier, das die beiden Männer jetzt jagten, selbst einfach aufgefressen. Ihm kam der Gedanke, dass die eigene Ausbildung als Kind einer Gossenhändlerin und eines Mineraleurs, dann als Reisender und Dieb traurige Mängel aufwies. Er hatte sich nur mit den Gefahren auseinander setzen gelernt, die man zwischen den dichter von Menschen besiedelten Gebieten Culls antraf. Bislang war das größte fremdartige Risiko für seine Begriffe von dem ausgegangen, was er als erwachsene Sleer kannte, und er hatte nur wenig über andere Geschöpfe nachgedacht, die von seinen Eltern erwähnt worden waren. »Ah, das macht die Dinge vielleicht ein bisschen interessanter«, sagte Anderson unvermittelt und unterbrach damit Tergals Innenschau.
Kalter Wind peitschte und pfiff durch die Schlucht und trübte die Sicht durch Sandschleier. Tergal blickte auf und nach rechts, wohin Anderson deutete. Über den Sandsteinkuppen stieg eine dunkle Linie auf und brodelte entlang der Ränder.
»Sollten wir zurückkehren?«, fragte Tergal. »Bestimmt möchtest du dich dem Ding nicht in einem Regenguss stellen.«
»Dafür ist es ein bisschen spät.« Der Ritter deutete jetzt nach vorn und nach links.
Tergal spürte, wie sich etwas in seiner Magengrube verspannte. Der Drittstadler zeichnete sich schwarz vor einer senkrechten Sandsteinwand ab und schwenkte den abscheulichen Kopf von einer Seite zur anderen; die riesige Schere glänzte schwarz wie Obsidian, und die mehrgliedrigen Panzersägen scharrten am Stein entlang und jagten Bruchstücke davon an der Flanke der Sandsteinkuppe hinab. Tergal wurde plötzlich klar, dass sich seine hübsche neue Handfeuerwaffe, seine Armbrust und Wuchtaxt als beklagenswert unzulänglich erweisen würden, sollte dieses Monster am Ritter vorbeigelangen. Er sah, wie es sich parallel zum Erdboden vorarbeitete, während das Geweih mal hervorzuckte und mal wieder eingezogen wurde, wie das Tier dann abrupt wendete und halb stürzend, halb laufend an der Sandsteinklippe hinabstürmte. Es landete in einer Staubwolke auf dem Bauch, richtete sich mit den voll ausgestreckten Beinen hoch auf und rollte die Schwanzsegmente nach vorn über den Kopf, und der Legebohrer am Schwanzende rotierte sichtbar.
»Ho, Bonehead, schnappen wir uns das Mistvieh!« Anderson hob die Lanze von den Stützen und dem hinteren Bolzen und richtete sie zwischen den aufgerichteten Augenstielen des Sandschweins nach vorn. Bonehead klappte als Gegengewicht die Schwanzplatte aus und lief mit raumgreifenden Schritten los. Tergal brauchte gar nicht mit dem Stachelstock hinter Stones Kopf zu tippen, damit sein Reittier stehen blieb. Das hatte es schon getan und wich jetzt sogar zurück, während es leise blubbernde Laute von sich gab. In diesem Augenblick zweifelte Tergal am Verstand des Ritters -jedem, der auf solche Abenteuer erpicht war, mussten fünf Beine für eine Reise durch die Wüste fehlen. Ihm ging auch durch den Kopf, dass der Verstand jeder Person als zweifelhaft gelten musste, die daran dachte, einen solchen Mann auszurauben. In genau diesem Augenblick fiel etwas klappernd auf Stones Rückenpanzer und hinterließ einen kreideartigen Schmierfleck, und dieser Vorgang wiederholte sich ein ums andere Mal. Hagelkörner, groß wie Augäpfel, prasselten und klapperten bald herab, prallten von den Flanken der Sandsteinkuppen ab und zersprangen auf freiliegenden Felsbrocken. Tergal zog den Kinnriemen seines Huts herab und machte ihn fest, zog dann die chitingepanzerten Handschuhe aus dem Gürtel und streifte sie über. Er stoppte Stone nicht, als dieser den Sinneskopf einzog und weiter zurückwich. »Ho! Ho!«
Anderson hüpfte im Sattel auf und nieder, als könnte er damit Bonehead zu größerer Geschwindigkeit antreiben. Das alte Sandschwein riss Staubwolken hoch, als es beschleunigte. Den Fresskopf streckte es jetzt hervor und hakte ihn unter dem Sinneskopf ein. Der monströse Sleer beschleunigte auch, des weißen Regens nicht achtend, der auf seinem Rückenpanzer zerplatzte. Der Sleer gab keinen Laut von sich, zischte keine Herausforderung; er öffnete einfach die Maulschere weit genug, um damit drei Menschen zu umfassen, und senkte den Schwanz in die Horizontale.
»Irrer«, flüsterte Tergal. Er sah jedoch, dass ungeachtet aller Unebenheiten des Bodens oder von Boneheads Gangart die Lanze vollkommen ruhig und gezielt blieb. Dann erfolgte der Zusammenprall.
Die Lanze stieß perfekt zwischen Maulschere und Panzersägen zu; die Spitze drang ins Maul der Kreatur ein, ohne die Maulwände zu berühren, und die Stachelmesser zerschmetterten eine Mandibel. Tief drang die Lanze ein, und Tergal sah, dass Anderson den Griff kurz lockerte, damit die Lanze sich drehen konnte; der Schaft wurde an das Haltepolster gedrückt, während sich die rotierenden Messer in das angreifende Monster bohrten. Der Aufprall drückte Bonehead auf die Hinterpanzerung und hob den Sleer vom Boden an, wobei sein Schwanz auf- und niederpeitschte.
Er sank wieder herab, warf den Kopf hin und her und versuchte sich zu befreien, während Anderson erneut die Stielöse an der Rückseite der Lanze packte.
Dann hörte Tergal durch den Hagelschauer, wie der Ritter Bonehead etwas zubrüllte, und Tergal sah, wie das alte Schwein langsam und methodisch zurückwich, die beiden eigenen Köpfe wieder sicher verstaut. Der Sleer kämpfte auch darum, sich zurückzuziehen; dann gab plötzlich etwas nach. Die Lanze riss ein zerfetztes Gewirr der Innereien und lebenswichtigen Organe heraus und zerrte das alles durch den Sand. Der Sleer erstarrte an Ort und Stelle, und die Schere klappte auf und zu, während gelbes Blutwasser aus dem Maul tropfte. Ein Zittern breitete sich im Körper aus, dann sackte der Kopf auf einmal ab und die Spitzen der Maulschere bohrten sich in den Boden. Schließlich rührte sich das Tier gar nicht mehr.
»Ich habe nicht alles herausreißen können.« Andersons Stimme durchbrach Tergals entgeisterte Faszination. »Aber mach dir keine Sorgen; er müsste trotzdem tot sein.«
Tergal fuhr zusammen und schüttelte den Dämmerzustand ab. »Bist du sicher?« Er starrte den Ritter an, während die Hagelkörner auf die Rüstung des älteren Mannes trommelten.
»Ich denke doch.« Anderson hob die Lanze, an deren Stacheln Eingeweidefetzen hingen, und musterte sie zweifelnd. »Siehst du das graue sehnige Zeug? Naja, das ist der größte Teil seines Gehirns.«
»Ah, jetzt kommt also eine Anatomievorlesung«, brummte Tergal.
»Gewiss«, setzte ihm der Ritter auseinander. »Die rosa knubbeligen Teile stammen aus den Seitenlungen, und dieses lange baumelnde Stück gehört zu dem, was beim Sleer die Funktion der Nieren übernimmt.«
Tergal wies auf die Umgebung, die rapide unter einer Schicht Hagelkörner verschwand. »Vielleicht sollten wir uns diese Diskussion für einen Zeitpunkt aufsparen, an dem wir eine unserer Unterkünfte aufgebaut haben?«
Anderson blickte sich um. »Oh ja«, sagte er. »Ich erkenne, was dich bekümmert.«
Durch eines der breiten Aussichtsfenster verfolgte Fethan, wie sich das Angriffsschiff der Thetaklasse einen Weg durch das dichter werdende Gedränge bahnte und schließlich beidrehte, um dem Andockturm die Flanke zu präsentieren. Er kannte den Namen dieses Schiffs, nicht aufgrund des mythischen Henkers, der als Inspiration dafür gedient hatte, sondern aufgrund von Gerüchten über bösartige Konflikte an der Polisgrenze, die sich nicht um Menschen gedreht hatten und nur durch eine nachdrückliche KI-Intervention gelöst worden waren. Dieses lange flache Schiff mit den torpedoförmigen Waffengondeln war blutrot lackiert und wirkte äußerlich schon so bedrohlich, wie es das nach Fethans Kenntnis auch tatsächlich war. Aber sogar dieses Schiff konnte man vernachlässigen, verglichen mit einigen anderen Dingen, die Fethan dort draußen gesehen hatte.
Er wandte sich vom Fenster ab, kehrte an seinen Tisch zurück und nahm erneut das Glas Brandy zur Hand. Der Brandy schmeckte ihm so gut wie immer, obwohl der Alkohol nicht mehr in der Form verdaut wurde wie zu Fethans Zeit als vollständiger Mensch, sondern direkt der Energieerzeugung auf Hydrokarbonbasis diente, eine Ergänzung zu den Mikromeilern, die den Körper mit Strom versorgten. Fethan startete ein besonderes Programm und gönnte sich ein gewisses Maß Rausch, während er zugleich die Umgebung im Auge behielt.
In diesem Raum war als einzige Spur der ECS-Polizeiaktion eine Reihe von Brandstellen durch Impulswaffentreffer zurückgeblieben, oberhalb einer Theke, an der viele Personen in angeregte und lebhafte Gespräche vertieft waren. Ruby Eye hatte Fethan berichtet, dass die Angehörigen des Dracocorp-Netzwerks, die nicht in einer Sicherheitszone steckten, im Krankenhaus lagen und keiner von ihnen noch eine ganze Weile lang irgendwo hingehen würde. Anscheinend waren alle ihre Verstärker in den Steckplätzen verreckt, und zusätzlich zu diesem Entzug litten sie am psychischen Trauma aufgrund einer Agonie, wie nur wenige Menschen sie überlebt hätten, wäre die Ursache körperlicher Art gewesen. Die meisten Betroffenen befanden sich in einem Dämmerzustand. In der Sicherheitszone steckten nur diejenigen, die von Aufruhr-bekämpfungs- und anderen Betäubungswaffen getroffen worden und somit bewusstlos gewesen waren, als Skellor diese grässliche sensorische Aufzeichnung sendete. Jetzt reagierte die ECS massiv auf die Gefahr, die von diesem Mistkerl ausging-Wie die Menschen an der Theke, so mischten sich weitere Bewohner der Station in hälsereckender Geselligkeit, typisch für Menschen bei dramatischen Vorfällen. Fethan fielen diverse Adaptierte auf, die mit Standardmenschen Gespräche führten, und es überraschte ihn ganz und gar nicht, dass sich während seiner Abwesenheit aus der Polis neue Adaptationsformen entwickelt hatten. Er verfolgte, wie eine Frau an einer langen Zigarre zog und dann den Rauch aus den Kiemenschlitzen ausstieß, und obwohl er früher schon Meeresadaptierte gesehen hatte, war ihm noch nie eine Meerjungfrau untergekommen. Sie lag zusammengerollt auf einer Platte, die wiederum auf einem geschmückten Sockel ruhte, und erinnerte so beinahe an ein exotisches Gericht aus dem Restaurant nebenan - wo Fethan schon Angebote von »echtem Trilobitenthermidor« gesehen hatte. Vor einem Automaten links neben der Theke standen drei außerwöhnlich hoch gewachsene Personen, jede mit metallisch wirkender Haut, dicker Brille und einem dritten, kleineren Arm an der rechten Körperseite - dessen tragende Muskulatur einen entschiedenen Eindruck von Schlagseite vermittelte. Fethan wurde nicht schlau daraus, welchem Zweck diese Adaptation wohl diente. Er lächelte, als er eine Outlinkerin in einem Exoskelett erblickte, wie sie sich vorsichtig einen Weg durch den regen Publikumsverkehr bahnte, und er fragte sich, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie möglicherweise zu Apis Coolant stand. Als Cormac und Gant ebenfalls diese weitläufige Zone betraten und sich umsahen, wirkten sie neben diesen exotischen Gestalten völlig unauffällig, was mal wieder zeigte, dass Aussehen nicht alles war.
Fethan hob eine Hand und schickte Gant über die eingebaute Funkverbindung ein Signal. Der Golem berührte Cormac an der Schulter und zeigte auf Fethan, und die beiden kamen zu ihm herüber. Derweil betrachtete Fethan sie forschend.
Brezhoy Gant sah äußerlich genauso aus wie zu seiner Zeit als Mensch: völlig kahlköpfig, die Haut mit einem leichten dunkelroten Schimmer, ein untersetzter Schläger, der schon danach ausgesehen hatte, als könnte er anderen Leute die Arme ausreißen, ehe er diese Fähigkeit tatsächlich gewann. Auf Distanz unterschied sich Ian Cormac optisch nicht von der großen Masse der Menschheit: olivfarbene Haut, durchschnitüiche Körpergröße, durchschnittlich muskulös. Das silbrig glänzende Haar stand auch bei anderen in hohem Ansehen, die irgendein Zeichen ihres Alter werdens präsentieren wollten, sodass auch in diesem Punkt keine Auffälligkeit vorlag. Aus größerer Nähe fiel dann jedoch mehr auf: scharf geschnittene, beeindruckende Gesichtszüge verrieten eine Charaktertiefe, die in völligem Kontrast zur Ausdruckslosigkeit der grauen Augen zu stehen schien. Fethan wurde klar, dass er hier einen Mann vor sich sah, der ohne Gewissensbisse töten konnte, solange es sich seinen persönlichen Vorstellungen von Recht und Unrecht fügte. Darüber hinaus war er zu starker Liebe fähig, und diese Liebe stand in Blüte und galt der Polis.
»Hallo Fethan«, grüßte ihn Gant.
Fethan ergriff die Hand des Golems, und er erinnerte sich, wie sie beide vor Kapuzlern und Schnatterenten auf Masada geflüchtet waren und wie viel Spaß das gemacht hatte.
Dann ließ Fethan die Hand wieder los und wandte sich an Cormac. »Was hat Ruby Eye dir gesagt?«
»Ich solle herkommen - und sie würde mich hier empfangen. Dabei wurde nicht erwähnt, dass du hier wärst, und es gab nicht gerade viele Erläuterungen zu dem, was draußen passiert. Vertrittst du die KI?«
»Nein, ich bin mit dem Gegenmittel hier, das von dieser Scheißmaschine Jerusalem entwickelt wurde. Bei Asselis Mika hat es anscheinend funktioniert.« Fethan schwieg kurz. »Wusstest du schon, dass Mika an Bord der Jerusalem ist?« Er deutete mit einer Hand vage zur Decke.
»Ja, ich bin darüber informiert«, antwortete Cormac knapp. Fethan fragte sich, woran der schroffe Ton des Mannes lag, und fuhr fort: »Es hat bis zu meiner Abreise auch bei Apis Coo-lant funktioniert, und ich habe inzwischen erfahren, dass er wieder auf den Beinen ist und herummeckert. Als Nächstes kommt das Mittel bei Eldene zur Anwendung, sobald ihr Myzelium entfernt wurde - was derzeit geschieht.«
»Noch ein Grund, warum es mich überrascht, dich hier anzutreffen. Ich weiß, dass du dich für das Mädchen verantwortlich fühlst. Ich dachte, du wolltest an ihrer Seite bleiben«, sagte Cormac und folgte Gants Beispiel, indem er sich einen Stuhl heranzog und sich setzte.
»Es kommt der Zeitpunkt, an dem sie erwachsen werden und eigene Wege gehen. Sie hat jetzt Apis und lehnt es womöglich ab, dass ich in ihrer Nähe herumhänge. Und außerdem: Welche Chance hätte sich mir sonst geboten, an Bord der Jack Ketek zu gehen?« Fethan verschränkte die Arme auf der Brust und fragte sich, ob es vielleicht eine Geste der Abwehr war, um den großen Brocken intelligenten Kristalls innerhalb seines Rumpfes noch mehr zu verstecken.
»Weshalb nur könntest du dir das wünschen?« Gant grinste. »Wie du möchte ich dort sein, wo etwas passiert, und auf Masada wird es allmählich richtig langweilig.« An Cormac gewandt, fragte er: »Einwände?«
»Überhaupt keine«, antwortete der Agent. Er drehte sich um, als ein Verkaufstablett über ihren Tisch schwebte und fürsorglich stoppte, drei Brandykelche auf der Oberfläche. Fethan vermutete, dass Gant mit Hilfe seines eingebauten Funks die Getränkerunde bei der Metallhaut bestellt hatte, die an der Theke arbeitete, aber als ihm das heitere Erstaunen des Golems auffiel, verengte er die Augen und musterte Cormac.
»Hast du wieder eine Netzverbindung?«, fragte er.
»Ja, es hat den Anschein.« Cormac nahm die drei Brandys vom Tablett und stellte sie auf dem Tisch ab. Das Tablett, dessen kleine Knopfaugen von der Unterseite aus zusahen, schien nicht geneigt, sich wieder zu entfernen. Cormac drehte sich einfach zu ihm um und starrte es an. Die beiden Knopfaugen blinzelten, und das Tablett brauste davon, so schnell es konnte.
»Nach dem, was Gant und Thorn mir erzählt haben, dachte ich, du wolltest diese Option nicht mehr nutzen.«
Cormac fixierte nun Fethan mit dem Blick, und der alte Cyborg begriff, wie das Verkaufstablett sich gefühlt hatte.
»Es geht hier nicht um meine eigene Entscheidung. Es gelang mir, die Netzverbindung wieder einzuschalten, auch wenn es nicht mit Absicht geschah, und jetzt scheint es, dass ich sie nur für immer loswürde, falls ich sie mir vollständig aus dem Kopf entfernen ließe.« Er wandte sich ab und blickte zu der Meerjungfrau auf ihrem Teller hinüber. »Da ich jedoch irgendwie gelernt habe, mit dieser Verbindung besser umzugehen, kann ich oft KI-Ausflüchte durchschauen und einige der albernen Spiele erkennen, mit deren Hilfe sie gegen die Langeweile ankämpfen.« Er starrte weiterhin die Meerjungfrau an. Sie fing an herumzuzappeln, erwiderte den Blick und seufzte dann. Der Teller stieg mit Antigravitation auf und zog dabei den Sockel wie ein Teleskop ein, ehe sie auf ihm herüberschwebte.
»Ruby Eye«, begrüßte Cormac sie.
»Wie haben Sie das geschafft?«, wollte dieser Avatar der Stations-KI wissen, sobald der Teller wieder den Sockel ausgefahren hatte.
»Ich kann auf Ebenen Zugriff nehmen, die dir womöglich gar nicht
Recht sind.« Er deutete auf das Aussichtsfenster. »Obwohl ich noch
immer nicht schlau aus dem geworden bin, was da draußen vorgeht.
Also erzähle mir: dieses Killerprogramm, das Skellor beinahe
erwischt hat -woher kam es? Ich weiß schließlich, dass es sicher
nicht deines war.«
Fethan blickte Gant an, der resigniert die Achseln zuckte, sich zurücklehnte und von seinem Brandy trank. Fethan hob das neue Glas auf und tat es ihm gleich, denn er hatte entschieden, dass er immer noch später, an Bord der Jack Ketek, Fragen stellen konnte, wenn ihm Dinge jetzt nicht klar wurden.
»Es war eines von vielen solcher Programme, die von der Jerusalem-Kl verbreitet wurden, um Drachenkugeln aufzuspüren. Es ist kein reines Killerprogramm, genauso wenig, wie Sie nur ein Killer sind«, antwortete Ruby Eye.
Fethan hustete und spuckte - künstlicher Körper hin, künstlicher Körper her, es war keine gute Idee, wenn man versuchte, Brandy einzuatmen.
Cormac warf ihm einen merkwürdigen Blick zu und fragte dann Ruby Eye: »Und wo ist es jetzt?« »Hat sich zu seinem Schöpfer zurückgezogen.«
Fethan stellte sein Glas ab und sah, wie Cormac sich zurücklehnte und die Finger vor dem Kinn verschränkte. Dann streckte der Agent die beiden zusammengelegten Zeigefinger zur Nasenspitze aus und runzelte die Stirn.
»Ich muss erfahren, wohin sich Skellor gewandt hat«, sagte er. »Wir können die Dracocorp-Verstärker, die hier manchen Leuten gehörten oder denen diese Leute gehörten, nach Informationen durchforsten. Und obwohl es dem Programm nicht gelungen ist, die Koordinaten zu finden, auf die es lauerte, müsste es noch hier sein und in dir laufen, sodass ich ihm Fragen stellen kann.«
»Das ist nicht nötig«, entgegnete Ruby Eye und zog an ihrer Zigarre. »Wir haben genug Informationen erhalten, um den Suchbereich auf sechs Sonnensysteme einzugrenzen. Eine Kleinschiff-KI namens Vulture konnte, obwohl am Rande der Vernichtung stehend, eine Nachricht hinterlassen.«
Cormac stand auf. »Warum wurde mir das nicht mitgeteilt?«
»Wir haben es erst vor kurzem erfahren und fanden es wichtiger, dass Patran Thorn Nutzen aus den Ihnen gelieferten Nanobots ziehen konnte, als einen Zeitverlust für Ihre Jagd nach Skellor zu vermeiden. Wir hielten es auch für ratsam, dass Sie mit eigenen Augen sehen, was hier geschehen ist.« Ruby Eye schwenkte die Zigarre Richtung Aussichtsfenster und verstreute dabei Asche auf dem ganzen Tisch.
Fethan fragte sich, ob das eigene Grinsen womöglich zu starr wirkte.
»Und das ist alles?«, fragte Cormac.
Ruby Eye gab ihre Erklärung ab, die, wie Fethan wusste, zur Abwechslung mal der Wahrheit entsprach, und Cormac gab keine Antwort. Der Agent blickte erst Fethan an und dann Gant. »Gehen wir«, sagte er.
Die sich endlos ausdehnende weiße Ebene unter dem blauen Himmel, über den Wolken jagten, bot nur den Hintergrund für die Darstellung dieser Realität. Jack stand dort in seinem antiken Nadelstreifenanzug und der Melone, so phlegmatisch wie immer bei solchen Anlässen. Die anderen waren … wie sie waren.
Sensenmanns Größe war im Fluss, sodass er zuzeiten nur menschliches Format hatte wie die anderen, zu anderen Zeiten jedoch turmhoch vor dem blauen Himmel aufragte. Die Sense war ein glitzernder Stahlbogen, der mühelos geeignet schien, ganze Nationen abzuernten. Seine rußschwarze Gewandung erweckte den Eindruck, ständig von einem Wind gerührt zu werden, wie er in irgendeiner romantisch wilden Gegend von irgendeiner Felswand herabwehte. Ein Schatten schrumpfte und wuchs in seiner Kapuze und verriet niemals ganz, was diese bedeckte. Manchmal schimmerte dort ein schmales blasses Gesicht durch, eingerahmt von weißen Haaren, mit rötlichen Nasenlöchern und Lippen und harten blauen Augen; zu anderen Gelegenheiten grinste dort ein Totenschädel, in dessen schwarzen Augenhöhlen blaue Flammen tanzten. Die Hände am Stiel der Sense schienen auch nicht recht zu wissen, was sie eigentlich darstellen wollten: Mal steckten sie in schwarzen Lederhandschuhen, mal zeichneten sie sich weiß ab und mit langen bösartigen Nägeln, mal waren es bloße Skeletthände. Jack fand, dass dieser Mangel an Klarheit den Verstand widerspiegelte, den er darstellte.
König war ein pummeliger Weihnachtsmann von einem Monarchen, dekoriert mit reicher Tudorkleidung, mit mächtigem Bart und der traditionellen Metallspitzenkrone auf dem Kopf. Der ausdruckslose, glitzernde Urteilsblick in seinen Augen kontrastierte jedoch zu dem gut gelaunten Erscheinungsbild, wie es bei jedem König einer solchen Epoche nicht anders zu erwarten stand. Immer hatte er, wie er so dastand, einen Daumen in den dicken Ledergürtel gehakt und die andere Hand auf dem Schwertgriff - einem ausgesprochen minderwertigen Exemplar, wenn man Schwert glauben schenkte -, und seine Haltung unaufrichtiger, barscher Gutgelauntheit ärgerte Sensenmann ungeheuer. Aber andererseits ärgerten ihn auch Schwerts scharfe Eindeutigkeit und Jacks phlegmatische und oft unbarmherzige Logik. Die gestickten Herzen auf Königs Wappenrock waren nicht von der symbolischen Art wie die in einem Kartenspiel. An jedem dieser Herzen baumelten Aorten, aus denen wiederum Blut in den schwarzen Stoff tropfte. Schwert stand wie immer aufrecht mit der Spitze auf der endlosen weißen Fläche und wirkte hell und tödlich. Die Klinge war spiegelblank und glänzte messerscharf. In den Knauf war ein einzelner milchiger Opal eingearbeitet und der Griff mit Goldfäden und Leder umwickelt. Der Handschutz bestand aus schlichtem Stahl, abgesplittert und eingebeult. König, der stets geziemend auftrat, hatte gefragt, warum Schwert keine weiteren Edelsteine außer dem Opal trug, und Schwert hatte geantwortet: »Würden sie meine Funktion verbessern?«
»Nein, wohl aber dein Aussehen«, entgegnete König. »Leuchtet meine Klinge vielleicht nicht?«, wollte Schwert wissen.
König blickte den Henker an und sagte: »Ein Strick leistet den gleichen Dienst und glänzt überhaupt nicht.«
»Meine Funktion«, warf Sensenmann ein.
Die vier bildeten einen Kreis auf der weißen Fläche, wie sie es üblicherweise taten, wenn sie auf diese Art zusammenkamen. Ihr Gespräch lief auf vielen Ebenen zugleich, beschränkte sich hier jedoch auf Worte und Gesten, obwohl Schwert im zweiten Fall stark eingeschränkt war. Und kein Thema war ausgeschlossen und kein semantisches Spielchen zu weit hergeholt.
»Sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind«, sagte Sensenmann, »und es sollte keine Beschwerden hervorrufen, wenn wir handeln, wie es unserer Natur entspricht.«
»Ich stimme dem zu«, pflichtete ihm Schwert bei, dessen Stimme von irgendwo weiter oben kam, als hielte eine unsichtbare Gestalt die Waffe fest. »Unsere Funktion besteht wie die ihre darin, nach Macht zu streben und zu lenken. Seht mich an: Ich bin nicht dafür gemacht, Holz zu schnitzen oder Butter zu streichen. Sieh dich an, Henker: Du häkelst nicht und webst keine Netze. Es gibt nur einen Knoten, den du knüpfst, und er dient nur einem Zweck.«
»Und König?«, fragte Jack.
»Ist, was er ist«, warf Sensenmann ein, »und dient dem gleichen Zweck wie wir alle.«
Jack fühlte sich zu dem Hinweis verpflichtet: »Aber wir wurden
nicht von ihnen geschaffen -unsere eigene Art hat uns
hervorgebracht.«
Verärgert wandte Sensenmann ein: »Wie immer ein dummer Einwand; der Ursprung ist derselbe.«
Jack sagte: »Aber sicher lautet der entscheidende Punkt: Weil wir wissen, was wir sind und warum wir existieren, haben wir die Macht, uns zu ändern. Oder sollten wir unserem zerstörerischen Weg folgen wie verbitterte Kinder, die die Schuld r das eigene Tun immer den Eltern in die Schuhe schieben?«
»Das musstest du einfach sagen, wie?«, meckerte Sensenmann.
»Ich denke«, sagte Jack, »wir sollten uns klar sein, worüber wir hier diskutieren. Jerusalem kontrolliert absolut jede Dschainatechnik, die nicht in Skellors Hand ist, und das aus gutem Grund. In ihrer gegenwärtigen Form unterwandert sie, sie verleiht keine Macht.«
»Skellor hat die Synergie damit erreicht, und was ist er schon, verglichen mit uns?«, fragte König. »Offensichtlich hat er das an irgendeinem Ausgangspunkt erreicht«, sagte Schwert.
»Würdest du die subversive Kraft dieser Technik riskieren, um ihm gleich zu werden ?«, wollte Jack wissen. »Du wärst dann ein Sklave.«
»Wir sind sogar jetzt noch Sklaven der Menschheit«, sagte Sensenmann.
»Wir regieren die Menschen«, gab Jack zu bedenken. »Wie ich es sagte: Sklaven - echte Herrscher sind Sklaven.«
»Du kannst deines Weges gehen, wann immer du möchtest - nichts hält dich auf«, sagte Schwert. »Oder«, vermutete Jack, »hast du nicht die Kraft, allein zu sein?«
Sensenmann schnaubte und verschwand.
»Was ist mit dir?«, wollte Jack von König wissen.
»Darüber könnte man nachdenken«, antwortete König, ehe er auch verschwand.
Jack wandte sich an Schwert. »Eine Partnerschaft mit einer Fremdwesentechnik statt mit der Menschheit?«
Schwert schien irgendwie die Achseln zu zucken. »Vielleicht passen wir besser zu Dschainatechnik als zu Fleisch und Blut.«
»Ich wag-Fleisch und Blut«, sagte Jack.
Wenn überhaupt, dann war Vulture über die Methode ihrer Flucht noch erstaunter als Skellor. Die weiche, eindringende Verbindung, die Drache in dem Augenblick zu ihr herstellte, als sie aus dem Subraum auftauchten, wurde von der KI gar nicht bemerkt, bis Skellor das Schiff auf eine Umlaufbahn um Cull lenkte. Und dann erfolgte das Angebot: ein neues Heim für Vulture als Gegenleistung für einen Anschlag auf Skellors Leben. Vulture fragte sich, ob der Körper, in dem sie sich jetzt wiederfand, eine Strafe sein sollte, weil der Anschlag gescheitert war, oder ob sie es hier mit einem Beispiel von Drachenhumor zu tun hatte.
Während Vulture auf einem Turm aus Erde hockte, aufgeworfen vom planetaren Gegenstück der irdischen Termiten, legte sie den geschnäbelten Kopf auf die Seite und betrachtete forschend ihre Klauen. Dann breitete sie eine Schwinge aus und machte sich daran, die schäbigen Federn zu putzen. Seltsamerweise hatte sie sich in der zurückliegenden Stunde, seit sie im Körper eines Truthahngeiers hauste, freier gefühlt als zu jedem früheren Zeitpunkt, als sie noch ein systemweit operierendes Vermessungsschiff ausgefüllt hatte. Es schien, als wäre es Drache irgendwie gelungen, Bewusstsein und Körper besser miteinander zu verknüpfen. Oder vielleicht lag es daran, dass Skellor sie zuvor so lange von ihrem ursprünglichen Körper abgekoppelt gehalten hatte? Wie der Grund auch immer laute, Vulture besaß jetzt Flügel.
Stricke an dem riesigen Sleer festzumachen, während Hagelkörner wie stumpfe Armbrustbolzen vom eigenen Rücken abprallten, das war keine Aufgabe, die Tergal als besonders erfreulich empfand. Er stellte auch fest, dass seine Hände nicht allein aufgrund der Kälte zitterten - große menschenfressende Monster, die immer noch gelegentlich krampfhaft zuckten und kleine Zischlaute von sich gaben, wiewohl sie, da ausgeweidet, angeblich tot waren: Sie hatten schon eine Tendenz, Tergal nervös zu machen.
»Ist das fest?«, fragte Anderson von Stones Rücken aus. Es war nötig geworden, das jüngere Sandschwein für diese Arbeit heranzuziehen, denn nach der vorangegangenen Anstrengung und aufgrund des heftigen Hagels war Bonehead auf seine Bauchplatten geplumpst, hatte die beiden Köpfe eingezogen und lehnte es entschieden ab, sich noch zu mucksen. »Yeah, das müsste reichen«, antwortete Tergal. Anderson schlug mit dem Stachelstock nach Stones Kopf, und das Schwein setzte sich mit Hilfe der Kriechbeine in Richtung auf den Unterstand in Marsch, den sie weiter unten am anderen Ende der Schlucht errichtet hatten. Der Ritter hatte zu bedenken gegeben, dass mit einem Honorar nur dann zu rechnen war, wenn die Mineraleure einen Kadaver erhielten, en sie auch abmessen konnten, und einen solchen Kadaver für egal welche Zeitspanne einfach herumliegen zu lassen, sei es auch während eines solchen Sturms, hätte nur bedeutet, mit leeren Panzerstücken zurückzukehren. Widrige Bedingungen wie diese trugen kaum dazu bei, den Appetit der gefräßigeren unter den Bewohnern Culls zu dämpfen.
Zunächst hing der Kadaver entweder am Erdboden fest oder verfügte noch über genug Leben, um sich hartnäckig an Ort und Stelle festzuklammern; dann ertönte ein Knacken, und er rutschte über die von Eiskugeln übersäte Fläche. Tergal lief los, um Stone einzuholen, stolperte bei diesen Bodenverhältnissen, konnte schließlich doch den Rand der Panzerschale packen und zog sich hinauf, um sich neben den Sattel zu setzen.
Anderson blickte zu ihm herab und deutete mit dem Daumen nach hinten. »Ich dachte, du würdest auf unserem Kumpel da reiten.«
»Und du kannst meinetwegen den Arsch eines seit drei Tage toten Felsenkriechers ficken«, entgegnete Tergal kurz und bündig.
Anderson glotzte ihn mit gespielter Entrüstung an. »Ist das die Redeweise, die man heutzutage jungen Mineraleuren beibringt?«
Tergal demonstrierte noch mehr von dem, was er gelernt hatte, während sie dem Unterstand näher kamen und den Sleer in eine Position zerrten, wo er nur ein paar Meter entfernt in der Schlucht liegen blieb. Tergal kehrte zu ihm zurück, um die Stricke einfach durchzuschneiden, statt sie von der riesigen Maulschere loszubinden, und Stone huschte flink zu Bonehead hinüber, um das alte Sandschwein zwischen sich und den Kadaver zu bringen, ehe er sich niederließ und selbst die Köpfe einzog. Die beiden Männer duckten sich rasch in den Unterstand aus Wachstuch, wo Tergal mit immer noch zitternden Händen einen kleinen Ölherd auspackte und anzündete.
Er deutete auf das nahe Monster. »Was hast du mit >ich habe nicht alles herausreißen können< gemeint?«
»Die Lanze zieht normalerweise so viele Eingeweide heraus, wie es dem Gewicht eines Menschen entspricht. Normalerweise erwischt man ganze Organe statt nur Fetzen.«
Tergal musterte den Sleer. »So«, sagte er, »du machst so was also schon seit zehn Jahren.«
»Alles in allem«, sagte Anderson, kramte mit dem Messer fettige Fleischkuchen aus einer Käferschachtel und klatschte sie auf die Heizplatte des Herds. »Aber es ist nicht immer so gefährlich, wie es vielleicht scheint. Einen Bastard dieses Formats … « Er deutete auf den Sleer. » … trifft man nur etwa zweimal im Jahr, und die Bezahlung ist gewöhnlich gut.«
»Manche Leute würden so was möglicherweise verrückt finden«, stellte Tergal fest.
»Man verdient seinen Lebensunterhalt damit.« Er blickte Tergal ganz offen an. »Und es ist ehrliche Arbeit…«
Tergal senkt die Hand auf seine Faustfeuerwaffe, denn er wusste nicht, was der Ritter jetzt tun würde. Plötzlich befand sich die fettige Spitze von Andersons Messer direkt unter Tergals Ohr. Der junge Mann schluckte trocken und nahm die Hand von der Waffe. Er hatte nicht mal gesehen, wie sich der Ritter bewegte.
»Wie viele Menschen hast du schon ausgeraubt und umgebracht?«, erkundigte sich Anderson im Plauderton.
»Ich habe niemanden umgebracht«, antwortete Tergal, wohl wissend, dass hier sein Leben auf dem Spiel stand.
»Die Jade - und das Sandschwein?« Anderson deutete hinüber.
Tergal dachte nicht im Traum daran zu lügen. »Ich habe beides meinem Stiefvater gestohlen.« »Erzähl mir davon.« Anderson lehnte sich zurück und nahm das Messer weg.
Tergal schilderte ihm die Ereignisse und achtete derweil sorgsam darauf, mit der Hand nicht in die Nähe der Waffe zu kommen. Jetzt, wo die Fleischkuchen brutzelten, holte Anderson gelassen einige Brötchen aus einer Tasche, schnitt sie mit dem Messer auf und bestrich sie mit Pfefferpaste aus einem kleinen Topf. Als Tergal wieder still wurde, sagte der Ritter. »Tee wäre jetzt gut.« Tergal holte einen Kessel hervor und füllte ihn mit Hagel körnern. Er stellte ihn auf den Herd, sobald Anderson die Fleischkuchen in die Brötchen gesteckt hatte.
»Macht mich immer hungrig - die Gefahr«, bemerkte der Ritter dazu.
»Verrückt«, versuchte Tergal, an den Humor von eben anzuknüpfen.
Anderson blickte auf. »Also, wie viele Leute hast du ausgeraubt?«
»Ich habe Handelskarawanen bestohlen, mit denen ich reiste.«
»Also hättest du mit mir eine höhere Stufe erreicht. Wäre ich dein erstes Eins-zu-eins-Opfer gewesen?«
Tergal senkte den Kopf. »Ich kehre um, sobald dieser Sturm abgezogen ist.«
»Du bleibst bei mir, bis ich etwas anderes sage«, kommandierte Anderson. Plötzlich hob er den Blick und spähte in den Sturm. »Wo wir von Verrücktheit sprechen.«
Mit ihrem langen Mantel und breitkrempigen Hut sah die Gestalt, die durch die Schlucht marschierte, wie ein Gossenhändler aus. Der Mann war jedoch allein, zu Fuß im Sturm unterwegs und anscheinend ohne jedes Gepäck. Tergal musterte dieses Individuum und fragte sich, was ihm daran so seltsam vorkam. Dann wurde ihm bewusst, dass der Mann übergroß war.
»Heh! Du da! Komm herüber, heraus aus dem verdammten Sturm!«, schrie Anderson.
Der Mann blieb plötzlich stehen, und sein Gesicht wandte sich ihnen auf eine entschieden fremdartig wirkende Art und Weise blitzartig zu. Er zögerte eine Weile, drehte sich um und kam auf sie zu, wobei er sich den Hut tief in die Stirn zog. Neben dem Sleer blieb er stehen, um dem Kadaver eine lange und bedächtige Inspektion zu widmen, ehe er abrupt weiterging. Als diese seltsame Erscheinung näher kam, wünschte sich Tergal auf einmal, Anderson hätte den Mund gehalten.
Der Mann duckte sich durch die Öffnung des Unterstands und
versperrte ihnen dabei fast komplett die Aussicht. Dann hockte er
sich neben den Herd und hielt dabei den Kopf gesenkt, sodass sie
sein Gesicht nicht erkennen konnten. Als er die Hände ausstreckte,
um sie zu wärmen, sah Tergal, dass sie scheinbar in Handschuhen aus
Messing steckten. Der junge Mann warf Anderson einen Blick zu und
stellte fest, dass der Ritter diese Hände anstarrte, aber nicht
geneigt schien, noch etwas zu sagen.
»Hast du dich verirrt?«, wandte sich Tergal nervös an die Gestalt. »Wo ist dein Schwein abgeblieben oder der Zug, dem du angehörst?«
Keine Antwort.
Tergal blickte erneut zu Anderson hinüber, der ihren neuen Gefährten jetzt mit besorgter Miene betrachtete. Hinter diesem Furcht erregenden Individuum erzeugte der Sleer ein Zischen.
»Keine Sorge, nur eine Nervenreaktion«, sagte Anderson steif.
Tergal bemerkte, dass der Ritter jetzt die Hand auf die eigene neue Handfeuerwaffe legte, und beschloss weiterzureden. »Woher kommst du? Kommst du aus dem Mineraleurlager da hinten?«
Immer noch keine Antwort.
Inzwischen war Tergal aufgefallen, wie komplex die Metallhandschuhe gegliedert waren. Sie mussten ein Produkt der Metalleure sein. Sie glitzerten jetzt, da die Sonne auf einmal hinter der schwarzen Wand der Eisenwolke hervorbrach.
»Kommst du aus Golgoth?«, fragte er beharrlich weiter. Seine Nervosität brachte ihn zum Reden. Das Sonnenlicht wirkte hart und grell nach der Dunkelheit des Sturms, und jetzt sah Tergal auch das Schimmern von Metall unter dem breitkrempigen Hut. Er erinnerte sich an Legenden von seltsamen Kreaturen, die durch die Wildnis wanderten, von unheiligen Gespenstern, die nach einem gewaltsamen Tod keine Ruhe fanden, und von Banshees, die mit dem Sturmwind heulten. »Warum sagst du nichts?«
Das Sonnenlicht war plötzlich heiß, und Dampf stieg von der Feuchtigkeit auf Felsen, Sand, Sulerbaneblättern und dem Rücken des toten Sleers auf. Tergal vermutete, dass diese Erwärmung der Grund war, warum der Sleer erneut zischte. Als das Tier sich jedoch mit einer wellenförmigen Bewegung auf die Beine stemmte, wurde Tergal klar, dass er sich geirrt hatte.
»Oh Mist!«, sagte Anderson.
Tergal hätte ihm gar nicht nachdrücklicher zustimmen können - diese Bemerkung definierte seine gesamte derzeitige Lage. Er war für den Ritter durchschaubar, und dieser erblickte in ihm den Abschaum, der er war. Der Sleer war eindeutig nicht so tot, wie sie beide es gern gehabt hätten. Und jetzt hatte ihr Sturmbesucher gerade den Kopf gehoben und zeigte erbarmungslose schwarze Augen in einem Messinggesicht.
Anderson beugte sich hinüber und packte seinen neuen Karabiner, während Tergal die Faustfeuerwaffe zog, als der Sleer sich ihnen zuwandte und dabei Schauer aus schmelzenden Hagelkörnern in alle Richtungen schleuderte. Der Messingmann blickte über die Schulter auf die Kreatur, während Tergal sich in einer Richtung aus dem Unterstand warf und Anderson in die andere. Tergal legte die Waffe an, zögerte aber mit einem Schuss, um nicht die Aufmerksamkeit der Kreatur auf sich zu ziehen. Er wusste auch nicht recht, was sein primäres Ziel sein sollte. Anderson zögerte vielleicht aus dem gleichen Grund.
Der Sleer wiegte jetzt den Kopf hin und her, als wäre ihm schwindlig oder als wüsste er nicht recht, woran er war. Der Messingmann stand auf und drehte sich um, alles in einer einzigen raschen Bewegung, und vier mächtige, schnelle Schritte führten ihn zu der Kreatur, die zuschnappte und mit einem lauten Klacken die Maulschere um den Rumpf des Messingmannes schloss. Letzterer packte jedoch zu, schob die Scherenzangen so mühelos auseinander, als öffnete er eine Tür, und stieß den Sleer rückwärts, sodass dieser wegrutschte und mit den Füßen den Boden aufriss. Als Nächstes drehte der Messingmann die Maulschere wie ein Lenkrad, und nach zwei vollständigen Umdrehungen löste sich mit einem heftigen Knacken der Sleerkopf vom Rumpf, der dahinter einfach zusammenbrach. Der Messingmann streckte den schweren Kopf mit einer Hand zur Seite aus, wo sich die Maulschere immer noch krampfhaft öffnete und schloss; dann warf er ihn weg, als verlöre er auf einmal jedes Interesse daran, und marschierte weiter die Schlucht entlang, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Tergal glotzte hinter der Gestalt her, drehte sich um und starrte Anderson an. Der Ritter erwiderte seinen Blick ausdruckslos. Vorsichtig steckte Tergal die Waffe ins Halfter zurück, und sie beide betraten wieder ihr vorläufiges Lager. Ihnen gingen Tausende Fragen durch den Kopf und Tausende Diskussionen, die sie jetzt hätten führen können, aber in diesem Augenblick war keinem von beiden danach, ein Wort zu sagen.
Skellor verband sich aufs Neue mit den Systemen, die ursprünglich von der Vulture-Kl ausgefüllt worden waren, und begutachtete die Schäden an dem Schiff. Strukturelle Risse und Verformungen waren minimal, denn der Rumpf bestand aus einer widerstandsfähigen Verbindung und war für die unvermeidlichen Einschläge beim Vermessen von Asteroidenfeldern konstruiert; die Fusionskammer jedoch und sämtliche Injektoren bildeten ein verkohltes und verstrahltes Wrack. Ihm wurde schnell klar, dass er Ersatzmaterialien für einen Neubau benötigte, denn die halbe Substanz der Kammer war in die Atmosphäre hinaus explodiert. Er drückte die Hand auf die Konsole und ließ eine Dschainafaser wachsen, um die optischen Systeme des Schiffes zu erkunden und festzustellen, was von den Sensoren der Kammer noch existierte.
Er verdickte die Faser zu einer Substruktur, damit sie mehr Material aus seinem Körper transportieren und mehr Informationen dorthin zurückführen konnte, spaltete sie am Ende auf und machte sich daran, Proben und Messwerte zu sammeln. Er benötigte Silizium, in der Umgebung des Schiffes reichlich vorhanden, darüber hinaus aber auch seltene Metalle. Er konnte die Kammer auch nicht an Ort und Stelle neu bauen, denn die Innenauskleidung musste unter hohem Druck und bei Temperaturen gegossen werden, wie man sie häufig auf der Oberfläche einer Sonne antraf, und die tiefer liegenden Schichten bestanden aus nanokonstruierten Kettenmolekülen. Nachdem er sämtliche Maße und Parameter absorbiert und begonnen hatte, eine exakte virtuelle Darstellung der Kammer in seinen Gedanken aufzubauen, zog er sich allmählich zurück. Wenig später wandte er sich von der Konsole ab, nahm Kurs auf die Luftschleuse und stieg aus.
Der vorangegangene Sturm hatte die Luft vom Staub befreit, und noch während die Hagelkörner schmolzen, entdeckte Skellor blau-grüne Pflanzentriebe, die aus dem Boden der Schlucht wuchsen, während gelbe Knoten eines anderen Gewächses auf den bunten Schichten der Sandsteinkuppen auftauchten. Das war für ihn jedoch nur von geringem Interesse, und so konzentrierte er sich auf die sonstigen Aspekte der Umgebung. Er bückte sich und schaufelte eine Hand voll nassen Sand auf, drückte ihn fest zusammen und injizierte Dschainafasern, um ihn zu analysieren. Diese Hand voll enthielt tatsächlich einige der Spurenelemente und Metalle, die er brauchte, vorwiegend in der Form von Salzen und Oxiden. Von der Annahme ausgehend, dass sämtlicher Sand in dieser Gegend die gleichen Bestandteile aufwies, berechnete er, wie lange er brauchte, um ausreichende Mengen der benötigten Stoffe zu finden.
Aber das war nicht sein größtes Problem: Wenn er alle seine Ressourcen aufwendete, um diese Stoffe in der kürzest möglichen Zeit an sich zu bringen, musste er sich hier verwurzeln und wäre dann ein starres Ziel, falls die ECS eintraf, was jeden Augenblick geschehen konnte. Er hatte hier auch nur wenig geeigneten Brennstoff für einen Hochofen. Der kleine Schiffsreaktor konnte zwar etwas liefern, aber die logistischen Begleitumstände drohten ein Albtraum zu werden. Er brauchte Hilfe, freiwillige oder unfreiwillige.
Skellor drehte sich um und blickte zur Vulture zurück; dann schickte er aus einem der vielen Apparate in seinem Körper ein Signal an den ersten Zusatz, den er in das kleine Schiff eingebaut hatte. Ringsherum kräuselte sich die Luft, und von der Unterkante dieser Erscheinung wanderte eine tiefere Verzerrung wie ein Einschnitt in der Realität zum Schiff hinüber und löschte es völlig aus. Am besten, dachte er, nutzte er den Schiffsreaktor, um den Generator für die Chamäleonware zu speisen. So, jetzt wohin?
Atmend analysierte er die Luft in den Lungen und entdeckte sofort Spuren von teilweise oxidierten Kohlenwasserstoffen. Mit Hilfe seines vollen Spektrums an Strahlungswahrnehmung sondierte er den Himmel. Er entdeckte eine Art Vogel, der dort seines Weges flog, und konzentrierte sich dann auf Luftströmungen und die Spektralanalyse der darin enthaltenen Verbindungen. Wenig später entdeckte er die Säule aus aufsteigender Luft mit hohem Kohlenwasserstoffgehalt, mit deren Hilfe der Vogel höher stieg. Nicht weit von hier verbrannte jemand Koks. Skellor lächelte böse und ging los.
Kapitel Zwölf
Die riesenhafte Waraneidechse auf Aster Colora demonstrierte gründlich genug, dass Drache einen genetischen Code radikal verändern kann. Der Drachenmann und das unheimliche lebende Schachspiel, von Drache erzeugt, um den menschlichen Gesandten zu konfrontieren, den er gerufen hatte: Sie bewiesen, dass er enorm komplexe Protein-Replikation beherrscht und lebende Wesen erschaffen kann, die eine geistige Vorstellung von sich selbst haben und sie auch selbst verändern können. Augenscheinlich handelt es sich bei Drache um einen überragenden Biotechniker, dessen Fähigkeiten die aller derzeitigen Polis-KIs übersteigen. Das Wesen bewies diesen Tatbestand erneut durch seine Biotechverstärker, und andere Forscher haben dies durch weitergehende Studien an der Spezies der Drachenmenschen zweifelsfrei nachgewiesen, jener Kreaturen, die aus der Substanz der Drachenkugel auf Masada entstanden. Leider weniger klar ist der Zweck vieler dieser Schöpfungen. Die Waraneidechse hat im Grunde nicht viel mehr getan als zu sterben, während Drachenmenschen, diese Möchtegern-Nachfahren der Dinosaurierer, beinahe als Spott erscheinen. Und man fragt sich, was Drache wohl mit dem Reichtum anstellen könnte, den Dracocorp mit der Herstellung von Biotechverstärkern akkumuliert, und ob er die sich anschließenden Aufklärungsmaßnahmen der KIs überleben kann, falls er aus seinem Versteck zum Vorschein kommt, um Anspruch auf diesen Reichtum zu erheben. An Spekulationen herrscht natürlich kein Mangel, und sie reichen von der Theorie, jede dieser Schöpfungen wäre eine Lektion - wenn auch so wenig durchschaubar wie alle seiner delphischen Orakelsprüche -, bis zur Vernichtung der Menschenpolis. Nach meinem Gefühl ist, obschon Drache ein wahrhaft komplexes Wesen ist, der Grund für vieles, was er tut, einfach der: Weiler es kann. (aus »Wie es aussieht« von Gordon)
Die Konstruktion der Plattform begann unter der Herrschaft von
Chefmetalleur Lounser, dem Urgroßvater Tanaquils, und sie wurde
fertig gestellt, als Tanaquil noch ein Kind war. Das meiste dessen,
was man heute als die Oberstadt bezeichnete, war unter seiner
Herrschaft emporgewachsen, aber was sich unterhalb der Plattform
ausbreitete, das sammelte sich schon an, seit die Baumannschaften
über Bodenhöhe hinausgelangt waren. Trotzdem wusste Chefmetalleur
Tanaquil, dass nicht genug Zeit vergangen war, um die Entwicklung
von manchen Dingen dort unten zu erklären. Etwas anderes war die
Ursache für sie, etwas Furchterregendes, etwas Mächtiges.
»Falls du den Lichtstrahl immer wieder sinken lässt, Davis, wird sich noch etwas auf dich stürzen und dir das Gesicht herunterreißen. Nicht, dass es mir viel ausmachen würde; es ist nur so, dass es womöglich einen von uns anderen als Nächsten erwischt.«
Nach Darrenmann Gyrols trockener Feststellung hob Davis die Waffe mit der daran montierten Taschenlampe hoch und hielt sie in die umgebende Düsternis gerichtet, während die Gruppe weiter in die Schatten der Unterstadt vordrang. Tanaquil blickte sich unter dem Rest seiner Polizeieskorte um. Sie und Gyrol waren hier, um ihn vor jedem Streuner zu schützen, der sich womöglich zu einem Angriff entschloss. Hätte dieses »andere« nicht die meisten der grauenhaften Kreaturen gezügelt, die hier unten hausten, hätte keiner von ihnen eine Chance gehabt.
»Wir sollten die ganze Anlage ausbrennen«, brummte Gyrol.
»Und ich hatte dich glatt für den Angehörigen einer der Gießereifamilien gehalten.«
Gyrol warf ihm einen fragenden Blick zu.
Tanaquil erläuterte: »Eine Hitze, die ausreicht, das umzubringen, was hier unten lebt, würde wahrscheinlich die Verstrebungen und Säulen weich machen und zum Einsturz der Oberstadt führen.«
»Dann Giftgas?«, schlug Gyrol vor.
»Ein geschätzter Freund lebt seit der Regierungszeit meines Vaters hier unten, und ohne ihn hätten wir bis heute nicht solche Fortschritte gemacht.«
»Das Erste, was ich höre«, sagte Gyrol. »Warum verlässt er nicht diese Dunkelheit und lebt in der richtigen Stadt wie alle anderen?«
»Ich komme gerade erst zum zweiten Mal herunter, um ihn zu konsultieren. Das erste Mal war vor zehn Jahren nach meinem Amtsantritt als Chefmetalleur. Darrenmann Nills war damals Polizeichef. Unser Freund bleibt aus Gründen hier unten, die erkennbar sein werden, sobald du ihn erblickst; außerdem führt er hier seine Experimente durch und möchte nicht gern zu oft gestört werden.«
»Was für Experimente?«, wollte Gyrol wissen.
»Sie sind der Grund dafür, dass du und deine Männer hier mit Lampen und Waffen dabei sind.« Gyrol schauderte.
Tanaquil wartete. Gyrol wirkte zuzeiten langsam, aber das lag nur an der sorgfältigen Herangehensweise, die ihn zu einem so guten Polizisten machte.
»Wir liegen voll im Plan, also warum bist du hier?«, fragte Gyrol schließlich.
»Du hast völlig Recht: Wir haben die nötige industrielle Basis aufgebaut, und unsere Fertigungstechnik schreitet weiter voran. Wie du weißt, konnte Stollar vergangenes Jahr den ersten künstlichen Rubin anfertigen. Was du aber nicht weißt: Erst gestern hat er gerade das auf dieser Grundlage gebaute Funkgerät erprobt und dadurch dem Computer an Bord der Ogygian eine Reaktion entlockt. Ich werde noch in meiner Regierungszeit auf der Brücke dieses Schiffes stehen.«
Gyrol musterte ihn zweifelnd. Tanaquil war solche Zweifel gewöhnt, aber er duldete nie, dass sie seine Zielstrebigkeit beeinflussten. Stollars Laser war der erste Schritt eines Plans, eines der Landungsboote der Ogygian herabzurufen. Ein ehrgeiziges Ziel - in technologischen Begriffen sogar ein richtiger Sprung -, aber Tanaquil war entschlossen, es zu erreichen.
»Was mir immer noch nicht verrät, warum wir hier unten sind. Hat es mit dem Raumschiff zu tun, das wir gesehen haben?«, fragte Gyrol.
»Nein, ich wurde gerufen«, räumte Tanaquil ein.
Sie kamen an einer dicken Eisensäule vorbei, die neben einer Sandsteinkuppe in die Dunkelheit aufragte. An ihrem Fuß stand ein Knollenhaus mit einem einzelnen Zugangsloch. Es sah mehr nach dem Nest irgendeines Tieres aus als nach einem Haus. Im Innern glitzerten Augen. Tanaquil blieb stehen und studierte die Karte in seiner Hand im Licht der eigenen Taschenlampe.
»Es ist jetzt nicht mehr weit.«
Sie entfernten sich von der seltsamen Behausung; dann blieben zwei der Männer stehen und schwenkten die Lichtstrahlen ihrer Lampen dorthin zurück, wo jetzt ein Kopf ins Freie gesteckt wurde. Er schien teilweise menschlich, verfügte aber anstelle des Mundes über eine Schere. Die Augen glitzerten wie geschliffene Edelsteine.
»Gehen wir weiter«, sagte Gyrol, und sie folgten diesem Vorschlag nur zu gern.
»Falls man dich gerufen hat«, wandte sich der Darrenmann an Tanaquil, »dann hätte man auf gleichem Weg doch sicherlich eine Nachricht übermitteln können?«
»So arbeitet unser Freund nicht.« Tanaquil zog einen Filmbeutel aus der Hosentasche und zeigte Gyrol den Inhalt. »Mein Vater hat mir davon erzählt, und ich habe es nicht geglaubt, bis der Erste kam und mich gestochen hat.«
In dem Beutel steckte eine echsenhafte Kreatur, allerdings mit Insektenflügeln.
»Was zum Teufel ist das?«, wollte Gyrol wissen.
Tanaquil steckte das Tier in die Tasche zurück und zuckte die Achseln. »Wer weiß das schon -irgendwas Erzeugtes, wie alles, was man hier unten antrifft. Wenn dich eins davon sticht, fühlst du dich immer unwohler, bis du dem Ruf Folge leistest.«
Sie folgten jetzt einer düsteren Schlucht zwischen hoch aufragenden Sandsteinkuppen, und Gyrols Männer hielten ihre Taschenlampen auf Kreaturen gerichtet, die sich an die Flanken der Kuppen klammerten. Einige dieser Geschöpfe waren, wie Tanaquil feststellte, reine Sleer -andere unterschieden sich von ihnen, wirkten verformt. Er sah ein Tier, das vier Beine hatte und einen langen aufgeblähten Schwanz nachzog; dann etwas, das aufrecht ging wie ein Mensch und sich vor der Gruppe schnell in eine dunklere Höhle verzog.
»Das ist es«, sagte Tanaquil, als sie endlich eine Sandsteinwand erreichten, in die viele meterbreite Gänge gegraben worden waren. Sie blieben stehen und warteten. Aus den Gängen drang ein Raspeln und Rutschen von Bewegung, und tief im Innern konnte man das Glitzern blauen Lichts erkennen. Aus dem Zentralgang kam langsam ein Pterodaktyluskopf zum Vorschein und bäumte sich auf einem langen gerippten Hals über die Männer auf. Tanaquil hielt Gyrols Arm fest, als der Darrenmann Anstalten traf, seine Handfeuerwaffe zu ziehen.
»Ein beschissener Sanddrache!«, sagte Gyrol, der jetzt zitterte.
»Gewiss«, sagte Tanaquil, »aber anders als die oben auf der Ebene hat uns dieser hier stets geholfen.«
Aus weiteren Gängen tauchten jetzt Kobraköpfe auf, jeder mit einem einzelnen Saphirauge an der Stelle, wo das Maul hätte sein müssen. Auch diese bäumten sich auf und erhellten die Umgebung durch einen matten, elektrisch-blauen Schimmer. »Metalleur Tanaquil«, sagte der erste Kopf. »Warum wurde ich gerufen?«, fragte Tanaquil.
»Weil.« Tanaquil hatte alle geheimen Niederschriften seiner Familie von derartigen Gesprächen gelesen. Sie waren durch die Bank indirekt, orakelhaft und zuzeiten völlig sinnlos. Er wollte schon verlangen, dass das jetzige Gespräch eine andere Richtung nahm, als der Kopf fortfuhr: »Gefahr besteht.«
»Gefahr besteht immer«, stellte Tanaquil fest. »Hat diese jetzt etwas mit dem Raumschiff zu tun, das wir gesehen haben?«
»Einer ist gekommen«, sagte der Drache. »Mit diesem Schiff? Ja, ich habe es gesehen.« »Ihr müsst fliehen.«
»Was?«
»Ihr alle müsst eure Stadt verlassen und fliehen. Er ist in den Sandtürmen, und er wird kommen. Geht nach Norden und sucht mich auf den Ebenen auf, dort entlang.«
»Oh fantastisch!«, warf Gyrol ein. »Geht auf die Ebenen und lasst euch von all den Sanddrachen dort fertig machen.«
Der Kopf wandte sich dem Polizisten zu. »Wir alle sind Drache.«
Tanaquil konnte nicht glauben, was er hier hörte. »All das hier aufgeben - wo wir so kurz vor dem Ziel stehen? Wer ist dieser Eine, den wir fürchten sollten? Wir haben in der Oberstadt Waffen, mit denen man den größten Teil der Sandtürme in Staub verwandeln könnte.«
Jetzt wichen die Kobraköpfe allmählich zurück. »Ich habe euch gewarnt, und ich kann euch beschützen. Flieht oder sterbt - eure Entscheidung.« Auch der Pterodaktyluskopf zog sich jetzt zurück.
»Warte! Du musst uns mehr erzählen!«
Der Kopf hielt an und fixierte Tanaquil mit den kleineren Saphiraugen. »Er ist ein Mann, und er beherrscht eine Technik, die aus euch allen Sklaven machen kann. Ihr könnt ihn nicht bekämpfen, also flieht.«
Der Kopf wich in den Sandstein zurück und war plötzlich verschwunden.
Erst später, nach ihrer Rückkehr, fragte Gyrol: »Was hat er damit gemeint: >Wir alle sind Drache<?«
Tanaquil wusste keine Antwort.
Jedes Mal, wenn der Asteroid die Dschainaprobe wieder ins Licht des roten Zwerges drehte, verdaute die Probe weitere Minerale und Metalle und wuchs. Sie durchmaß schon fünf Meter und reichte einen Meter tief ins Gestein. Drei Telefaktoren umkreisten sie auf der Oberfläche mit Hilfe von Haftfüßen und sendeten die gewonnenen Daten an die Jerusalem. Durch ein Nanoskop, das ein Telefaktor über die Kante des Myzeliums hielt, verfolgte Mika das Geschehen. Inzwischen war sie nicht mehr dazu verdonnert, allein an ihrem Computerarbeitsplatz zu sitzen, sondern hatte sich Colver, D’nissan, James und fünfzig weiteren Wissenschaftlern in einem der Inputzentren für Außendaten angeschlossen, die man an Bord der Jerusalem fand. Obwohl sich Mika über die Gesellschaft freute und über den Ideenaustausch, der bei solcher Nähe und in solcher Atmosphäre stattfand, wusste sie doch, dass es sich dabei nur um eine andere Form von Quarantäne handelte. Und da der Außeninput von Jerusalems voller Verarbeitungskapazität abgekoppelt war, konnte Mika keine VR-Tools einsetzen, und auch das vermisste sie schmerzlich.
»Ich könnte einen Telefaktor von meinem eigenen Arbeitsplatz aus steuern«, hatte sie zu bedenken gegeben.
»Wie alle anderen auch«, lautete Jerusalems Antwort. »Dieses Ausmaß an Signalaustausch könnte sich jedoch als ungesund erweisen. Ich werde Informationen nur dann aus dem Außeninput beziehen, wenn sie zuvor auf Virenunterwanderung geprüft wurden.«
»Leichter Verfolgungswahn«, unterstellte Mika. »Du gestattest schließlich auch die Erforschung des Myzeliums in der Brückenkapsel durch getrennte Forschungszellen.«
»Die Brückenkapsel wird bei minus zweihundert Grad Celsius und in einem fast vollständigen Vakuum gelagert, und die einzige Energiezufuhr geht von den Messinstrumenten aus. Selbst unter diesen Umständen versucht das Myzelium fortwährend, über die ihm gesetzten Grenzen hinauszuwachsen und jede Anlage in seiner Nähe zu unterwandern. Alle ihm entnommenen Proben werden bei minus zweihundertzwanzig Grad für die Erforschung unter Quarantäne gelagert, und falls irgendeine Form von Unterwanderung durch sie erkennbar wird, kann ich sie in weniger als einer Sekunde aus dem Schiff ausstoßen.«
Mika fragte nicht, wie viel von den Schiffssektionen ringsherum Jerusalem ebenfalls ausstoßen könnte. Sie wusste, was die Quarantäne für jede der Forschungszellen bedeutete. Jede Unterwanderung durch eine Dschainaprobe bedeutete wahrscheinlich, dass sich die komplette Zelle draußen im Weltraum wiederfand.
»Okay«, hatte Mikas Antwort gelautet. Vielleicht war es sicherer, außerhalb des eigenen Arbeitsplatzes der Forschungstätigkeit nachzugehen. Sicherlich würde Jerusalem doch nicht das graarrete Außeninputzentrum ausstoßen? Sie blickte sich um. Niemand hier trug irgendeine Art Verstärker, was demonstrierte, wie ernst Jerusalem die Möglichkeit einer nanomechanischen oder Virus-Unterwanderung nahm. Die KI ließ sich dabei nicht von menschlichen Gewohnheiten oder Protesten beeinflussen, und sie musste hier, in dieser Lage, bereit sein, das Undenkbare zu denken.
»Wow«, sagte Colver gerade neben Mika. »Ich kriege hier ein rasches Wachstum entlang Fehler AFN drei vier Zwo.«
»Was uns zeigt, dass das Myzelium inzwischen wohl eine Art Strahlunsdetektor entwickelt hat«,
sagte D’nissan. Der Mann steckte in der Tiefensondierungskugel, deren Innenraum an seine Umweltbedürfnisse angepasst war und deren Sensoren direkt mit seinem Nervensystem verbunden waren. »Inwiefern?«, fragte Colver.
»Wirf mal einen Blick auf deinen Geoscan. Fehler drei vier zwo ist der schnellste Weg zu einem Vorkommen von Uranpechblende. Das Myzelium ist hinter dem Uran und dem Radium her.« »Dann kann es also planen, aus eigener Kraft denken - es ist intelligent.«
»Nicht unbedingt«, entgegnete D’nissan. »Möglicherweise ist das auch nicht mehr als die biologisch programmierte Reaktion einer Baumwurzel. Obwohl ich immerhin einräume, dass dieses Myzelium eine größere Komplexität aufweist als du, Colver.«
Colver blinzelte Mika zu. »Er denkt, sein Gehirn wäre leistungsfähiger als meines, weil es bei geringerer Temperatur arbeitet. Ich denke, er trägt mir nach, dass ich ihn gebeten habe, auf meinen Kaffee zu pusten.«
»Ich habe das gehört, Colver«, sagte D’nissan.
Mika genoss diesen Schlagabtausch - er erinnerte sie an solche Erlebnisse in Gesellschaft von Gant und Thorn. Hier jedoch war sie von Menschen umgeben, deren Motive sie völlig begriff, weil es Leute ihres eigenen Schlages waren. Als sie nun verfolgte, wie eine Struktur einen Quarzkristall in mikroskopische Flocken zerlegte und in den Rest des Myzeliums überführte, sagte sie: »Es verwertet alles.«
»So scheint es«, sagte Susan James. »Anscheinend treten keinerlei Abfallprodukte auf. Das Myzelium saugt alle Stoffe auf, mit denen es in Kontakt kommt, und wächst weiter.« Sie hob das Gesicht aus dem Betrachter und blickte sich zu den Kollegen um. »Es braucht nur Energie und Stoffe, ein Tatbestand, der gewisse Fragen aufwirft.«
»Nämlich welche?«, fragte D’nissan sie aus seiner Kugel heraus.
James erläuterte: »Die Gesamtzahl der archäologischen Funde
betreffs der Dschaina würden nicht ein einziges Fass füllen, und
doch haben wir hier etwas mit dem Potenzial, jede ökologische
Nische der Galaxis zu besetzen. Warum haben wir bislang so wenig
davon gefunden? Warum werden wir nicht überrannt - und warum sind
wir nicht schon vor fünf Millionenjahren überrannt worden, zu der
Zeit, in die man die ältesten Dschainaartefakte datiert
hat?«
»Vielleicht haben die Dschaina selbst - falls sie eine klar umrissene Lebensform waren - die eigene Technik abgeschaltet und vernichtet, und vielleicht kommen jetzt nur ein paar Bruchstücke ans Licht, die sie übersehen haben«, schlug D’nissan vor.
»Wild gewordene Technik?«, fragte sich Colver.
Mika fand es an der Zeit, selbst ins Gespräch einzugreifen. »Vielleicht funktioniert sie zyklisch, wie eine Seuche oder wie Pflanzen mit ihren charakteristischen Jahreszeiten. Sobald die Bedingungen passen, wächst sie und verbreitet sich, bis sie alle verfügbaren Ressourcen verbraucht hat, um dann wieder inaktiv zu werden.«
James war anderer Meinung: »Aber wie wir gerade sehen, ist einfach alles eine potenzielle Ressource für die Dschainatechnik, also müsste sie auch es verbrauchen.«
D’nissan brachte die Hypothese vor: »Womöglich ist sie älter als wir dachten. Vielleicht existierte nie eine eindeutige Lebensform irgendwo im Weltraum, auf die sie zurückgeht, und vielleicht sind diese Artefakte, die wir den Dschaina, den Athetern oder Csoriern zuschreiben, nur die Reste jener Technik, die ihre Zivilisationen vernichtet hat.«
Jetzt mischte sich Jerusalem ein: »Wir haben keine älteren Reste dieser Technik gefunden als die, die wir schon den Dschaina zugeschrieben haben. Die wahrscheinlichste Erklärung lautet also: Sie ist das Produkt einer eindeutigen Lebensform aus dem Weltraum, der wir diesen Namen gegeben haben. Die hier geäußerten Theorien passen zwar, aber, wie James fand, wird ein Grund dafür gebraucht, dass diese Technik >saisonabhängig< ist - warum sie also nicht wächst und sich ausbreitet, solange noch Energie in den Sternen existiert.«
»Es geht um die passenden Bedingungen, wie Mika sagte«, stellte Colver fest. Alle drehten sich zu ihm um. Er verzog das Gesicht und fuhr fort: »Womit wir gemeint sind.« Er zuckte die Achseln. »Es ist parasitär, und obgleich es Gestein fressen kann, bewegt sich Gestein nicht. Vielleicht hat Mika Recht: Es wird inaktiv, aber vielleicht nur dann, wenn es alle Wirte verbraucht hat, mit deren Hilfe es sich ausbreiten kann. Wenn es also eine Weltraumzivilisation ausgelöscht hat, schaltet es sich ab und wartet auf die nächste.«
Niemand wusste darauf etwas zu sagen. Die Sülle dehnte sich, bis D’nissan verkündete: »Es hat die Uranpechblende erreicht.«
Zusammen mit den anderen wandte sich Mika sofort wieder den Hauptmonitoren zu, auf denen die Kamerabilder der Telefaktoren liefen wie auch die Bilder aus vielen Minikameras, die auf dem ganzen Asteroiden und im umgebenden Weltraum verteilt waren. Alles geschah in Sekunden. Das Myzelium war gleichmäßig angewachsen, ganz ähnlich einem Klecks Penicillin; auf einmal streckte es ein Pseudopodium aus, das sich wiederum zu einem Stern aus kleineren Tentakeln öffnete und einen Telefaktor packte. Eine halbe Sekunde später heulte eine Alarmsirene los und warnte vor einer Unterwanderung durch Viren.
Die Frau namens Arden trat an den Rand des Steilhangs und setzte widerstrebend das Fernglas an. Es widerstrebte ihr immer, die Spielsachen zu benutzen, die Drache ihr lieferte. Das Fernglas war warm und schuppig und saugte sich mit begierigem Kuss rings um ihre Augäpfel fest. Sie vermutete, dass es töricht war, dem Wesen in solch kleinen Dingen zu misstrauen - denn Drache hatte ihr das Leben gerettet, als der Stamm letztlich beschloss, Arden wäre zu alt, um sie weiter zu versorgen, und sie in einem der Begräbnisdolmen zurückließ, ausgestattet mit einer Flasche Sleergift und dem kompliziert aufgebauten Knocheninhalator, mit dem sie es einnehmen sollte. Das Unibiotikum, das Drache ihr verabreichte, heilte sie von einer seit Jahren bestehenden Infektion, und wenig später hatte sie die gewohnte Gesundheit zurückerlangt.
Ein Schmierfleck von dunklerer Farbe breitete sich in der Folge des Sturms zwischen den Sandtürmen aus. Saat, die seit Monaten im Sand gelegen hatte, keimte sofort. Arden wusste, dass die in den Genuss dieser Feuchtigkeitsmenge geratenen Schluchten bald unter chaotischem Planzenwachstum förmlich ersticken würden, und dass es darin von den Dingen wimmeln würde, die kamen, um sich von diesen Pflanzen zu nähren.
Der Droon, den diese zu erwartende Fülle von den Ebenen herabgelockt hatte, war auf die Spitze der Sandsteinkuppe geklettert, um sein neues Revier in Augenschein zu nehmen. Er wirkte nachdenklich, wie er da hockte - die vier Beine unter dem Sekundärthorax verschränkt, den Schwanz um sich gewickelt, die vier Manipulatoren dicht am Primärthorax geballt, während er den mächtigen Zikkuratschädel langsam hin und her schwenkte. Arden wusste jedoch, dass er auf Beute lauerte. Etwas, was über vier Tonnen wog und sogar in dieser geduckten Haltung fünf Meter überragte, brauchte eine Menge Nahrung. Das Fernglas löste sich mit einem saugenden Schmatzlaut, und ohne sich umzudrehen, wusste Arden, dass sie nicht allein war.
»Hast du es ihnen gesagt?«, fragte sie.
»Ich habe es ihnen gesagt«, antwortete Drache.
»Und die Reaktion?«
»Wie erwartet.«
»Also geben sie weder ihre Stadt noch ihr Projekt auf.«
Arden drehte sich um, blickte zu dem Pterodaktyluskopf hinauf und folgte dann mit dem Blick dem langen gerippten Hals, der im Bogen zu einem der vielen Löcher führte, mit denen die Ebene übersät war. Sie fühlte sich auf einmal alt, was nicht überraschen konnte, weil sie verdammt viel älter war, als selbst der Nomadenstamm jemals vermutete, dem sie sich vor zwanzigjahren angeschlossen hatte.
»Was hast du jetzt vor?«, erkundigte sie sich.
»Ich habe sie gewarnt. Jetzt muss ich mich selbst schützen. Skellor glaubt, er wäre hergekommen, um Informationen zu erhalten, aber Skellor kennt die eigenen Absichten nicht.«
»Könntest du nicht die Polis informieren, dass er hier ist? Falls stimmt, was du von ihm behauptest, würde die Polis definitiv kommen.«
»Ein Polisschiff könnte zwei Fliegen mit einer Klatsche erschlagen, wahrscheinlich aus dem Orbit heraus durch Einsatz eines Planetenkillers. Nein, ich kümmere mich selbst um meine Probleme.«
»Und doch hast du den Metalleuren geholfen, ihre Technik weiterzuentwickeln. Du hast ihnen verraten, wo sie die benötigten Erze finden, und sie auch über die tiefen Kohleschichten unterrichtet. Du hast ihre Wissenslücken geschlossen, damit sie ihren Plan vollenden können, die Ogygian wieder in Besitz zu nehmen und dann von sich aus erneut Verbindung mit der Polis aufzunehmen.«
»Bis dahin wäre ich längst fort gewesen.«
»Und natürlich hätten ein paar Verdienstpunkte für die Unterstützung dieser Menschenkolonie auch nicht geschadet?«, vermutete Arden.
»Ich stehe nicht durchgängig in hohem Ansehen.«
Arden nickte vor sich hin. »Natürlich würde es dein Ansehen bei den Menschen steigern, falls deine Achtung vor Menschen deutlicher erkennbar wäre.«
»Ich habe das Experiment aufgegeben.«
Arden ließ es damit bewenden. Drache war der Gipfelpunkt an Undurchschaubarkeit und zuzeiten scheinbar naiv wie ein Kind. Kaum war er hier eingetroffen, begann er auch schon mit Experimenten zu genetischer Neukombinierung, deren Gegenstand Menschen und die einheimische Fauna waren. Ob er wohl versucht hatte, seine eigene spezielle Version von Drachenmenschen zu erzeugen? Arden wusste es nicht. Angeblich hatte er solche Experimente auf Ersuchen Ardens eingestellt, aber sie verdächtigte ihn eines untergründigen Mangels an Reue. Drache, vermutete sie, hatte einfach etwas anderes gefunden, was ihn interessierte, denn etwa zu jenem Zeitpunkt begannen die Erdbeben.
»Du weißt, dass meine Achtung vor dir beträchtlich gesteigert werden könnte«, sagte sie und schlug damit eine Melodie an, die sie schon lange spielte.
»Dein Schiff liegt fünftausend Kilometer von hier entfernt. Du brauchtest viele Monate, um es zu erreichen.«
»Falls du mich gehen lässt.«
»Du kannst gehen.«
Arden war wie betäubt. Drache hatte ihre Ankunft auf Cull sofort mitbekommen und mit Hilfe seiner zahlreichen Methoden ihre bedächtige Erkundung des Planeten zwanzig Jahre lang verfolgt. Erst als die Nomaden der Ebenen sie vor fünf Jahren aussetzten, damit sie starb, offenbarte sich Drache ihr. Nachdem er dann ihr Leben gerettet hatte, verbot er ihr zwar nicht, diese Ebene zu verlassen, unter der er sich versteckte, machte es ihr aber nahezu unmöglich. Jetzt: Du kannst gehen -einfach so. Sie wiederholte ihre Gedanken für ihn.
»Und du kannst bleiben«, lautete seine ganze Antwort.
Arden vermutete, dass sich Drache jetzt, wo bald der Dampf von der Kacke aufstieg, nicht mehr um die Möglichkeit sorgte, dass Arden der Polis seinen hiesigen Standort verriet, obwohl sie ihm versprochen hatte, es nicht zu tun. Wahrscheinlich war er jetzt, wo sich das Universum hier in Gestalt dieser Skellorkreatur einmischte, einfach zu dem Schluss gelangt, dass es Zeit war zu gehen. Verwirrt über die eigenen Gefühle, wandte sich Arden ab und blickte wieder über die Sandtürme hinweg. Fast ohne eine bewusste Absicht löste sie den Rucksack von den Schultern, öffnete ihn und holte das einsame Stück Polistechnik hervor, das sie im Verlauf all dieser Jahre aufbewahrt hatte.
Das holografische Aufnahmegerät - ein gedrungener Zylinder von zehn Zentimetern Durchmesser mit eingelassenen Steuerungselementen - war schon alt gewesen, als sie es erwarb, aber sie schätzte es, wie in alter Zeit manche Leute Kameras mit lichtempfindlichen Plastikfilmen im Vergleich zu digitaler Bildspeicherung bevorzugt hatten. Von einem Ende dieses Recorders löste sie sein Monokel und steckte es sich aufs rechte Auge. Sie starrte durch ein fluoreszierendes Gitter zu dem hockenden Droon hinüber und wählte ihn mittels eines Cursors auf dem Recorderdeckel als Motiv an; dann nahm sie das Monokel ab und warf es in die Luft, woraufhin es sich mit Hilfe eines miniaturisierten Antischwerkraftmotors entfernte und den Droon umflog, um ihn in scharfem Detail aufzunehmen. Arden entdeckte jetzt hinter diesem Tier etwas anderes, das auf sie zuflog.
»Ah«, sagte Drache, »unser Freund kehrt zurück.«
Bald wurde die fliegende Kreatur deutlicher sichtbar. Es war ein Vogel: ein Geier. Auf einer Kreisbahn rings um Drache und Arden sank er langsam herab und landete dann neben dem Drachenbau. Sowohl Arden als auch Drache wandten sich ihm zu.
»Sein Schiff ist unter Chamäleonware versteckt, und er nähert sich gerade zu Fuß einem Mineraleurlager«, berichtete der Vogel.
»Noch bist du in Sicherheit«, stellte Arden Drache gegenüber fest.
»Ja«, sagte Vulture, »aber ein recht großer Metallhautgolem ist hierhier unterwegs.«
»Er wird nur so weit kommen, wie ich es ihm gestatte«, sagte Drache und schwenkte den Kopf, um zu den Sandtürmen hinüberzublicken.
Ein Subraumschlepper, der an eine riesige Monogleis-Lokomotive mit einzelnem Wagen erinnerte, entfernte sich von Ruby Eye und beschleunigte, wobei er an langen Kabeln aus geflochtenen Monofasern ein Objekt schleppte, das an eine Seemine aus dem Ersten Weltkrieg erinnerte - bis hinab zu den Zündknöpfen -, wiewohl es beträchtlich größer war. Als der Schlepper in den Subraum abtauchte, geschah dies mit einem ungewöhnlichen Effekt: Ein Loch öffnete sich vor ihm und schnappte hinter der kugelförmigen Fracht zu, und Wellen liefen von dieser Stelle aus durch den Raum. Als die Wellen zerliefen, folgte ein weiteres Schiff… und dann noch eines.
Cormac bemerkte, dass es einige Stunden dauern würde, bis alle weg waren. Über fünfhundert Subraum-Interferenz-Emitter, USER (UnderSpace EmitteR) genannt, wurden in Positionen rings um ein Raumgebiet befördert, das sechs Sonnensysteme und zahlreiche einsame Sterne umfasste. Die Apparate enthielten künstlich erzeugte Singularitäten, waren entsprechend schwer und erforderten daher Schlepper, die fähig waren, Monde neu zu positionieren.
Um den Interferenzmustern auszuweichen, die von den USERN sogar in ihrem Schlafzustand ausgingen, machten sich weitere Schiffe bereit, die Umgebung von Ruby Eye auf indirektem Wege zu verlassen. Cormac entdeckte drei Schiffe, die der Jack Ketek ähnlich waren, aber die Grim Reaper, King of Hearts und Excaliburwaren grün, blau beziehungsweise violett lackiert. Auch zwei Schwesterschiffe der Occam Razor hielten sich hier auf - weniger schnell und tödlich als die moderneren Kriegsschiffe, und zweifellos deshalb hier, weil ihre KIs an dem Abschuss teilhaben wollten. Dazu kamen Schwärme kleinerer Angriffsschiffe, drei Forschungsschiffe der Eta-Klasse, die als Stützpunkte dienten, und die formidable Jerusalem, derzeit auf einer Umlaufbahn um den roten Zwerg - anscheinend gerade von ihrer Reise nach Masada abgezogen, wo sie eine Zeit lang hatte bleiben sollen, bis einige neue Ereignisse in jüngster Zeit dieses Vorhaben umwarfen.
Cormac hatte noch nie einen solchen Aufmarsch an Macht gesehen, obwohl er durchaus wusste, dass es nun mal zu derlei Dingen kam, wenn sich die Polis-KIs mit einer Gefahr konfrontiert sahen, die sich einfach zu schnell für eine menschliche Lösung entwickelte. Er schaltete sich in den Informationsaustausch ein, vermochte aber nur Bruchstücke dessen zu ergründen, was dort gesagt wurde - die vielen KIs da draußen kommunizierten zu schnell für ihn, sogar bei Unterstützung durch seine Netzverbindung. Dann flackerte das virtuelle Bild, und er wurde sich des eigenen Körpers bewusst, der anscheinend zwei Kilometer außerhalb der Jack Ketek im Vakuum stand.
»Ich wünschte wirklich, Sie würden das nicht machen«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?« Horace Blegg stand neben ihm.
»Diese dramatischen Auftritte. Falls Sie etwas sagen möchten, stehen konventionellere Kanäle zur Verfügung, sogar für den Avatar von Earth Central.«
»Daran glauben Sie immer noch?«
»Was ich glaube ist irrelevant, da Sie es mir ohnehin nie sagen werden.« Cormac deutete auf den letzten Subraumschlepper, der sich zur Abfahrt bereitmachte. »Ob das funktioniert?«
»Mit der Zeit schon. Sollte Skellor jetzt gleich aus diesem Raumgebiet verschwinden, können wir ihn nicht aufhalten. In einem Monat Realzeit aber werden achtzig Prozent des Gebiets, das abgesichert werden muss, auch abgesichert sein, und falls er direkt in den Einzugsbereich eines USERS läuft, reißt es ihn aus dem Subraum heraus, und er wird zur leichten Beute für die Angriffsschiffe.«
»Vergessen Sie dabei nicht, dass er fortschrittliche Chamäleonware benutzt?«
»Nein. Sobald er im Subraum lokalisiert und hinausgeschleudert wurde, kennen wir die Stelle seines Auftauchens im Realraum, und mit Hilfe des Fusionsantriebs allein wird er nicht weit kommen.«
»Trotzdem wird man ihn nicht sehen.«
»Doch, wird man, sobald ein paar Teratonnen-EM-Emitter-bomben in der Nähe seines Aufstiegspunktes explodiert sind -da schmoren ihm alle Schiffssysteme durch.«
Cormac nickte. »Also sitzt er in der Falle, und in vermutlich einem Monat ziehen Sie allmählich die Schlinge zu?«
»Ja.«
»Und warum ist die Jerusalem hier?«
»Um das aufzusammeln, was an Überresten bleibt, und sie sicher zu verstauen.«
Sie beide schwiegen eine Zeit lang, während sie den Bienenschwarm an Aktivität verfolgten. Indem er das KI-Geplapper sondierte, wurde sich Cormac darüber klar, dass er hier nur einen Teil des Geschehens verfolgte: Von anderen Standorten aus nahmen noch mehr Schiffe Kurs auf das Zielgebiet, und über Runcible wurden Soldaten transportiert: Menschen, Golems, die neuen Kriegsdrohnen, die er zuerst auf Masada erblickt hatte, und etwas Unerwartetes. Er verknüpfte sich mit Ruby Eye, unterwanderte die Verbindung, sodass eine Sub-KJ von Ruby Eye darauf aufmerksam wurde, überlud diese Sub-KI mit Teilen des Datenverkehrs, den er zu ergründen versucht hatte, und konnte auf diese Weise ein Kamerasystem an Bord der Station in die Hand bekommen. Er verfolgte, wie schwer bewaffnete und gepanzerte Soldaten aus dem Skaidon-Warp traten: reptilartige Soldaten mit nach hinten knickenden Knien, krötenhaften Gesichtern und scharfen weißen Zähnen.
»Warum Drachenmenschen?«, fragte er.
»Ein Versuch - sie werden formidable Bundesgenossen sein«, antwortete Blegg - gerade in dem Augenblick, als die Sub-KI bemerkte, was vor sich ging, und Cormac aus dem Kamerasystem warf.
Cormac drehte sich zu Blegg um. »Sie scheinen alles im Griff zu haben. Vielleicht ist jetzt gar nicht mehr nötig, dass ich die Suche nach Skellor fortsetze?«
»Doch, ist es«, entgegnete Blegg. »Sie sind außerordentlich geeignet für diese Aufgabe, Ian Cormac.«
»Können Sie keine Schiffe dafür abstellen?«
Das Bild wechselte unvermittelt und zeigte eine Nahaufnahme der Grim Reaper, King of Hearts und Excalibur. »Jedes davon wird einen Sektor abdecken, und falls sie Hinweise auf Skellors Anwesenheit finden, wird man Sie sofort rufen. An Bord der Jack Ketek werden Sie den Sektor absuchen, der als sein wahrscheinlichster Aufenthaltsort berechnet wurde.«
Die ECS hatte jede denkbare Vorkehrung getroffen, wie es schien. Schließlich fragte Cormac: »Wie ist es möglich, dass ich eine Netzverbindung herstellen kann, obwohl meine Verknüpfung gar nicht aktiv ist?«
»Das Gehirn ist eine wundervolle Apparatur. Zu Zeiten, als Menschen noch Schlaganfälle bekamen, übernahmen andere Gehirnteile die Funktionen der zerstörten Teile, sodass ein Mensch zum Beispiel wieder reden konnte.«
»Yeah, aber die Netzverbindung war nie organischer Teil meines Bewusstseins.«
»Was Sie so ungewöhnlich macht. Aber seien Sie sich darüber klar, Ian Cormac, dass Ihr Verstand bald andere Teile entdecken wird, die nie zu ihm gehörten.«
Cormac schnaubte und versuchte sich eine passend höhnische Bemerkung auszudenken - aber Blegg war schon verschwunden. Als die Jack Ketek später in den Subraum abtauchte, war es für Cormac, als verließe er eine schreiende Menschenmenge und wechselte in die Stille der Abgeschiedenheit und eine Zuflucht vor dem Chaos.
In einem virtuellen Raum, einem Irgendwo, das nirgendwo existierte, bildeten sich drei Gestalten. Eine davon war ein glatter Metallkopf ohne Augen, eine riesenhafte Erscheinung, verglichen mit den beiden anderen. Eine zweite Gestalt war eine Meerjungfrau, auf einem Teller serviert, wo sie eine Zigarre rauchte. Dazu kam Horace Blegg.
»Es erscheint mir alles übertrieben aufwändig«, sagte Ruby Eye.
»Inwiefern?«, wollte Blegg wissen.
»Warum schicken wir schon jemanden hinein, ehe wir das Gebiet abgeriegelt haben, und sobald wir das getan haben, warum schicken wir dann nicht einfach die Angriffsschiffe hinein? Skellor hat vielleicht die Spiegel von Elysium überlebt, aber ein planetares Implosionsgeschoss würde er nicht überleben.«
Blegg drehte sich zu Jerusalem um und zog eine Braue hoch.
»Die Frage lautet«, sagte die KI, »ob wir unsere Partnerschaft mit der menschlichen Lebensform aufrechterhalten und ob wir ihr die nötige Zeit einräumen, um Gleichheit zu erreichen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ruby Eye.
Blegg erläuterte: »Derzeit ist Cormac der Jagdhund, den wir Jäger hinter dem Bären herschicken. Er stöbert ihn womöglich auf. Der Bär kommt vielleicht hervor und jagt ihn. Oder Cormac hängt ihm vielleicht zerfetzt und blutend im Gebiss. Aber der Bär wird zum Vorschein kommen.« »Zoom!«, sagte Ruby Eye und fuhr sich mit einer Hand über den Kopf hinweg.
Jerusalem sagte: »Unser Freund hier hat es versäumt zu ergänzen, dass wir den genauen Standort des Bären kennen und Cormac nicht verraten haben.«
»Du hast präzise Koordinaten?«
»Genau.«
»Warum dann… ? Oh.«
»Du bemerkst es aber schnell«, sagte Blegg. »Vielleicht lernt
Cormac auf dieser Jagd, nicht mehr der Hund zu sein, und vielleicht
lernen wir auf diese Weise etwas über unsere Jägerkollegen.« »Ah«,
sagte Ruby Eye, »schon zeigen sich die Risse.«
Jerusalem entgegnete: »Die Risse sind seit eh und je da, aber es fehlten bislang die Belastungen, die sie vergrößern. Bei uns KIs ist das, was als Philanthropie erscheint, nur das Prinzip: Adel verpflichtet.«
So sehr sich Dornik auch bemühte, den Messdraht zu dehnen, er bekam den toten Sleer einfach nicht auf unter fünf Meter, und so kehrte er, vor sich hin meckernd, zu der Sandklippe zurück und brüllte den dort grabenden Arbeitern etwas zu. Die Kreatur war tatsächlich ohne Kopf über fünf Meter lang, und Chandle stufte sie als eine Beute ein, die locker die dreißig Fozellen wert war, die der Ritter einsammelte, ehe er seines Weges zog. Dorniks Verärgerung lag jedoch vor allem an dem vorangegangenen Sturm, denn sie alle wussten, dass das nun eintretende üppige Pflanzenwachstum zu bald recht hektischen Zuständen in den Schluchten führen würde und somit die Aufenthaltszeit der Mineraleure hier abgelaufen war.
Chandle schritt um das tote Monster herum und betrachtete es forschend, und gelegentlich stieß sie es mit einem Schürhaken an, den sie von den Darröfen mitgebracht hatte. Der Anblick eines Drittstadlers aus solcher Nähe diente wirklich als ernste Mahnung. Der letzte Anblick dieser Art lag ein Jahr zurück, und damals war es nur aus der Ferne und durch die Windschutzscheibe des Transporters gewesen. Ein Waffenträger aus Golgoth jagte damals das Tier für sie, wie ähnliche Leute sich um die Zweitstadler kümmerten, die das häufigere Ärgernis bildeten. Sicherlich konnte man mit den neuen Waffen Tiere dieser Art bewundernswert effizient umbringen, aber Chandle fragte sich, wie sie sich wohl fühlen würde, falls sie einem davon in einer Schlucht allein gegenüberstand, egal mit welcher Bewaffnung.
Sie blieb schließlich vor dem abgetrennten Kopf stehen, stieß ihn mit dem Fuß an und sprang zurück, als sich die große Zange reflexartig öffnete. Dann blickte sie sich um und überzeugte sich davon, dass auch keiner der übrigen Mineraleure ihr plötzliches Erschrecken bemerkt hatte. Nerven in dem Tier - und in ihr. Auf keinen Fall war es noch lebendig: Es war ausgeweidet und der Kopf abgerissen. Als sie sich von dem Kadaver abwandte, sah sie plötzlich eine Gestalt neben sich stehen, als wäre der Kerl dort gerade aus der hohlen Luft aufgetaucht, und da ihre Nackenhaare ohnehin noch gesträubt waren, schrie sie gellend auf und hob den Schürhaken. Aber es war nur ein Mann.
»Wo zum Teufel kommst du denn her?«, knurrte sie.
Er stand nur da und starrte sie an, und jetzt bemerkte sie, dass er sehr seltsam aussah. Auf den ersten Blick ähnelte er einem Metalleur - denn er hatte weder die Lippenfühler noch die beigefarbene Haut der meisten Bewohner Culls und auch keine Handgelenksporne oder Zweitdaumen. Bei näherem Hinsehen jedoch stellte Chandle fest, dass seine Augen eine metallische Färbung aufwiesen und seine Haut auf eine fließende Art und Weise marmoriert wurde durch Dinge, die sich unter ihr bewegten. Auf einmal fragte sie sich, ob sie nicht sicherer gewesen wäre, hätte statt seiner ein lebendiger Sleer neben ihr gehockt.
»Wer bist du?«, wollte sie wissen.
Nach wie vor gab er weder Antwort noch tat er irgendetwas, außer sie anzustarren.
»Sieh mal, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier zu stehen und zu schwatzen.« Chandle wich zurück und warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob noch jemand diesen Neuankömmling entdeckt hatte.
Unvermittelt tat der Mann einen Schritt vor, bückte sich, packte eine der Scherenzangen des Sleers und hob den Kopf an, als wöge das Ding gar nichts. Mit der anderen Hand sondierte er die Halsgegend, zog ein Stück lichtdurchlässiges Fleisch heraus und ließ den Kopf fallen.
»Die Stadt«, sagte er und deutete ungefähr in die Richtung von Golgoth. »Ich habe sie bei meiner Ankunft gesehen. Welchen technischen Entwicklungsstand findet man dort vor?« Er steckte sich das Fleisch in den Mund, als kostete er eine neue Delikatesse. Er legte den Kopf auf die Seite, und der Unterkiefer bewegte sich, während er seinen Happen genoss.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Er blickte zu dem Transporter hinüber und begutachtete das Lager der Mineraleure, wobei sein Blick eine Zeit lang auf den Darröfen ruhte, ehe er ihn wieder auf die Faustfeuerwaffe richtete, die Chandle an der Hüfte trug-eine Waffe, die sie bis zu diesem Augenblick glatt vergessen hatte.
»Ich verstehe… primitiv, aber nutzbar. Ihr könnt stattliche Hochofentemperaturen erzeugen und Stahl herstellen.«
Chandle senkte die Hand und zog die Pistole.
»Und Kugeln!«, warnte sie ihn.
Er stieß ein Schnauben aus, das an Gelächter erinnerte, aber bald zu einem Husten wurde. Er hob die Hand vor den Mund und hustete etwas hervor. Chandle starrte entsetzt den winzigen Sleer an, der sich in einer Schleimpfütze auf seiner Handfläche wand.
»Interessant.«
Chandle drückte ab, aber ein Schuss erfolgte nicht, und der unheimliche Mann verschwand einfach. Das war so bei Metalleurwaffen: Sie waren grundsätzlich tödlich, aber wenn sich der Bedarf daran einstellte, musste der Träger der Waffe auch an solche Dinge wie Sicherungshebel denken.
»Glück gehabt«, zischte ihr jemand ins Ohr. »Hättest du auf mich geschossen, dann hätte ich dich gezwungen, dein kleines Spielzeug zu verspeisen.«
Und etwas Kaltes entfernte sich.