10

Die Fahrt nach Liverpool verlief ebenso wie die anderen Reisen. Monk konnte das Rattern der Eisenräder über die Dehnungsfugen der Schienen hören, selbst als er, obwohl er energisch dagegen ankämpfte, in den Schlaf glitt. Er hatte Angst, was die Träume bringen würden, Angst vor dem Entsetzen und dem Kummer, dem stechenden, grausamen Wissen um Schuld, obwohl er immer noch nicht wusste, weswegen.

Er starrte aus dem Fenster auf die vorbeigleitende Landschaft. Die gepflügten Felder waren an den Stellen, wo das Getreide noch nicht gekeimt hatte, dunkel und dort, wo das Frühgetreide schon wuchs, grün, als wäre eine Gaze über die Erde geworfen worden. Die Kirsch-, Pflaumen- und Birnbäume waren voller Blüten, aber all das beeindruckte ihn kaum. Er stieg, ungeduldig dem Ziel entgegenfiebernd, bei jedem Halt des Zuges aus und wieder ein.

Kurz vor Einbruch der Nacht erreichte er steif und müde die Lime Street Station in Liverpool und suchte sich ein Quartier für die Nacht.

In der kühlen Morgenluft hatte Monk einen Entschluss gefasst, wo er mit seinen Nachforschungen anfangen würde. Wie weh es auch tun würde und welche Geheimnisse auch enthüllt würden, er musste mit Arrol Dundas anfangen. Wo hatte er gelebt? Wer waren seine Freunde gewesen, seine Kollegen? Was für ein Leben hatte er gelebt? Seit die ersten Erinnerungsfetzen zurückgekehrt waren, hatte Monk all das wissen wollen und gleichzeitig Angst davor gehabt. Es war an der Zeit, sich sowohl den Hoffnungen als auch den Ängsten zu stellen.

In den Zeitungsberichten hatte gestanden, wo Dundas zur Zeit seiner Verhaftung gelebt hatte. Das war leicht zu überprüfen, und er nahm eine Droschke in die elegante, baumbesäumte Straße. Vor Nummer vierzehn blieb er in dem Hansom sitzen und betrachtete die schönen Häuser, die groß und sorgfältig gepflegt waren. Dienstmädchen klopften hinter den Häusern Teppiche, lachten mit Austrägern oder stritten sich mit ihnen über den Preis für Fisch oder frisches Gemüse. Hier trödelte ein müßiger Stiefelputzer ein paar Minuten herum, dort stand ein Diener und machte ein wichtiges Gesicht. Ohne dass es ihm jemand sagte, wusste Monk: Dies war eine teure Wohngegend.

»Sind wir richtig, Sir?«, fragte der Kutscher.

»Ja. Ich möchte nicht reingehen. Nur hier warten«, antwortete Monk. Er wollte nachdenken und die Atmosphäre, den Anblick und die Geräusche in sich aufnehmen. Vielleicht riss irgendetwas hier die Schleier weg und zeigte ihm, was zu sehen er ebenso hoffte wie fürchtete – sich selbst, wie er damals gewesen war, großzügig oder habgierig, blind loyal oder ein Betrüger. Die Vergangenheit bemächtigte sich seiner. Nur noch eines, eine Tatsache, ein Geruch, ein Geräusch, und er würde ihr endlich unmittelbar gegenüberstehen.

Wer lebte jetzt in diesem Haus? War am oberen Treppenabsatz immer noch ein Fenster mit Glasmalerei, bevor die Treppe um die Ecke ins nächste Stockwerk hinaufführte? War im Garten immer noch ein Birnbaum voller weißer Frühlingsblüten? Im Salon lag sicher ein anderer Teppich, kein rot-blauer mehr, und die roten Vorhänge hingen womöglich auch nicht mehr dort.

Mit einem Ruck erinnerte er sich ganz deutlich daran, dass er am Esszimmertisch gesessen hatte. An der Fensterreihe gegenüber von ihm waren blaue Vorhänge. In den Kronleuchtern flackerten Kerzen, die sich in den silbernen Bestecken auf dem weißen Leinen spiegelten. Er konnte das Muster auf den Griffen erkennen, als hielte er jetzt einen in der Hand, reich verziert, mit einem in der Mitte eingravierten D. Es gab auch Fischmesser, eine neue Erfindung – vorher hatte man Fisch mit zwei Gabeln gegessen –, über die Mrs. Dundas außerordentlich erfreut war. Er sah Ruhe und Glück in ihrem Gesicht. Sie hatte etwas Pflaumenfarbenes getragen, das gut zu ihrer blassen Haut passte. Schön war sie nicht, aber sie strahlte Würde aus und war eine individuelle Persönlichkeit, die er stets geschätzt hatte. Es war ihre Stimme, die ihm am meisten gefiel, tief und ein wenig heiser, besonders wenn sie lachte. Dann lag darin pure Freude.

Ein Dutzend Menschen saßen am Tisch, alle elegant gekleidet, Juwelen glitzerten, die Gesichter waren entspannt und glücklich, und am Kopfende führte Arrol Dundas den Vorsitz über die fröhliche Gesellschaft.

Sie waren reich, sehr reich.

War es das Ergebnis eines Betrugs? Gründeten die ganze Eleganz und der Wohlstand auf den Verlusten anderer Menschen? Der Gedanke war dermaßen hässlich, dass Monk überrascht war, dass es ihm dabei nicht das Herz zerriss. Vielleicht hatten Katrinas Tod und die bruchstückhaften Erinnerungen und Bilder des Unfalls ihn zu sehr betäubt, sodass er nicht noch mehr Schmerz empfinden konnte.

Er beugte sich vor und klopfte kräftig an die Kutschenwand, um die Aufmerksamkeit des Kutschers auf sich zu lenken.

»Vielen Dank. Bringen Sie mich bitte zurück zum Archiv«, bat er ihn.

»Ja, Sir. In Ordnung.« Der Kutscher hatte oft mit exzentrischen Fahrgästen zu tun, doch ihm war es egal, solange sie zahlten. Er schlug leicht mit der Peitsche, und das Pferd, das froh war, nicht länger im grellen Sonnenlicht stehen zu müssen, setzte sich in Bewegung. Im Schatten war der Nachtfrost auf den Pflastersteinen noch nicht geschmolzen.

Hatte das Haus Dundas gehört, oder war es nur gemietet gewesen? Monk hatte die Angelegenheiten so vieler Menschen erforscht und wusste, dass so manch einer auf Kredit lebte. Er erinnerte sich an Mrs. Dundas, wie sie ihm an einem anderen Ort vom Tod ihres Mannes erzählt hatte. Hatte sie dieses schöne Haus aus finanziellen Gründen verlassen oder weil sie es nicht ertrug, in der Nähe ihrer alten Freunde zu leben, nachdem ihr Mann in Ungnade gefallen war? Es würde keine Einladungen mehr geben, keine Besuche, keine Gespräche auf der Straße. Jeder wäre weggezogen – er auch!

Dundas musste ein Testament hinterlassen haben. Und wenn das Haus verkauft worden war, würde es datierte Akten darüber geben.

Er brauchte bis zum Nachmittag, um herauszufinden, wonach er suchte. Doch was er fand, machte ihn ratlos und konfrontierte ihn mit einem Geheimnis, das er längst gelöst haben sollte. Das Haus war bereits vor Dundas' Tod verkauft worden, und seiner Witwe war am Ende nicht mehr geblieben als ein sehr bescheidenes Haus und eine winzige Jahresrente, mit der sie, wenn sie sparsam wirtschaftete, gerade so auskam.

Was ihn verblüffte und mit zitternden Händen und einem Gefühl der Enge in der Brust zurückließ, war der Name des Testamentsvollstreckers: William Monk.

Er stand vor dem Regal, in dem das Buch offen vor ihm lag, und beugte sich darüber. Seine Beine wurden schwach.

Was war mit dem Geld aus dem Verkauf des Hauses geschehen? Das Gericht hatte es nicht eingezogen. Der Gewinn aus dem betrügerischen Verkauf des Landes war noch nicht ausgezahlt worden. Dundas hatte das Haus zwölf Jahre lange besessen, sodass auf dessen Kauf kein Makel lag.

Wo war das Geld geblieben? Er sah noch einmal nach und noch einmal, aber trotz aller Sorgfalt konnte er keine Unterlagen darüber finden. Wenn er die Angelegenheit selbst bearbeitet hatte, und es schien, als habe Dundas ihm das anvertraut, dann hatte er alle Spuren verwischt. Warum? Der einzige Grund dafür, dass ein Mann seine Geldgeschäfte verbarg, konnte doch wohl nur der sein, dass sie unlauter waren?

Es war ein Vermögen gewesen! Wenn er selbst es genommen hatte, dann wäre er ein sehr reicher Mann gewesen. Das hätte er doch kaum vergessen können? Als er zur Polizei ging, hatte er nichts besessen als die Kleider, die er am Leib trug – und noch ein paar zum Wechseln. Kleider – Dundas hatte ihm beigebracht, sich gut, sehr gut zu kleiden, und das Vergnügen daran hatte er nie verloren.

Erinnerungsfetzen von Anproben bei Schneidern tauchten auf, Dundas, der sich zurücklehnte und Anweisungen gab, da noch ein wenig höher, dort einen Zentimeter mehr oder weniger, in den Beinen ein wenig länger. Ja – so stimmt's! Dieser Hemdenschnitt ist der beste, ägyptische Baumwolle, so knotet man eine Krawatte. Elegant, aber vulgär – tragen Sie nie so eine! Untertreiben, immer untertreiben. Ein Gentleman hat es nicht nötig, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diskret, aber teuer. Qualität macht sich auf lange Sicht bezahlt.

Monk stellte fest, dass er unwillkürlich lächeln musste, dabei hatte er einen Kloß im Hals, den er nur mit Mühe hinunterschlucken konnte.

Diese Vorliebe hatte er immer noch; er gab immer noch viel zu viel Geld für Kleider aus.

Was war mit dem Geld passiert?

Was hatte Mrs. Dundas hinterlassen, als sie starb?

Auch das war leicht herauszufinden, als er ihr Testament entdeckte: sehr wenig. Die Jahresrente erlosch mit ihrem Tod. Das Haus war eine kleine Summe wert, aber ein Teil davon ging für die Begleichung offener Schulden drauf. Sie hatte an den Grenzen ihres mageren Einkommens gelebt.

Wenn er Dundas' Testamentsvollstrecker gewesen war, wie war er das Geld dann losgeworden? Wo? Bei wem? Und vor allem, warum? Diese Frage quälte ihn auf Schritt und Tritt, wie ein zu enger, scheuernder Schuh.

Er trank einen heißen Kaffee, war jedoch zu angespannt, um etwas zu essen.

Was hatte das mit Baltimore zu tun? Vielleicht würden ihm die Verhältnisse von Baltimore und Söhne Aufschluss darüber geben oder ihn auf eine neue Spur führen, der er folgen konnte.

Er brauchte bis zum nächsten Tag, um jemanden zu finden, der sowohl fähig als auch willens war, die Sache mit ihm zu besprechen: Mr. Carborough, der im Hinblick auf eigene Investitionen eine Untersuchung von Unternehmen durchführte.

»Gute Gesellschaft«, sagte er begeistert und fuhr mit einem Bleistift durch die Luft. »Klein, aber gut. Hat hübsche, wenn auch nicht übermäßige Gewinne aus den Landkäufen gezogen, und noch höhere natürlich aus dem Eisenbahnbau selbst. Zentrale jetzt in London, glaube ich. Bauen noch so eine hübsche Strecke nach Derby.«

Sie saßen in Carboroughs Büro, das eine schmale belebte Straße in der Nähe der Docks überblickte. Salzgeruch trieb zu dem halb offenen Fenster herauf, Rufe, Verkehrslärm und das Quietschen der Winden, mit denen Ballen auf- und abgeladen wurden, drangen herein.

»Was ist mit Dundas und dem Landbetrug?«, fragte Monk mit betont ruhiger Stimme, als hätte er kein persönliches Interesse an dem Thema.

Carborough schürzte die Lippen. »Dumm, sich bei einer solchen Banalität erwischen zu lassen«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Habe es nie begriffen. Er war brillant. Einer der besten Handelsbankiers in der Stadt, wenn nicht sogar der beste. Dann geht er hin und macht so etwas Dummes, wie die Gitternetzmarkierungen auf einem Messtischblatt zu ändern, damit der Streckenverlauf über seinen eigenen Grund geführt wird, und er macht – wie viel?« Er zuckte die Achseln. »Höchstens tausend Pfund. Als hätte er die nötig gehabt. Zur selben Zeit sollte er einen Anteil von dem bekommen, was die Gesellschaft mit den neuen Bremsen verdiente. Er beschaffte das Geld für ihre Entwicklung.«

»Welche neuen Bremsen?«, fragte Monk schnell.

Carborough machte große Augen.

»Ach … Sie haben ihr eigenes Bremssystem für Eisenbahnwagen und Güterwaggons entwickelt. Um einiges billiger als die Standardausführung, die jetzt benutzt wird. Hätte ein Vermögen eingebracht. Weiß nicht, was da passiert ist. Sie haben die Sache nie weiterverfolgt.«

»Warum nicht?«, fragte Monk. Erinnerungsmomente blitzten auf und versanken im selben Augenblick wieder.

»Das weiß ich nicht, Mr. Monk«, antwortete Carborough. »Nach Dundas' Prozess schien alles eine Weile stillzustehen. Dann starb er, wissen Sie?« Er legte den Bleistift neben seinen Block und richtete ihn parallel dazu aus. »Im Gefängnis, der arme Teufel. Vielleicht war der Schock zu viel für ihn. Jedenfalls haben sie sich danach auf neue Strecken konzentriert. Schienen die Sache mit den Bremsen völlig zu vergessen. Bauten ihre eigenen Wagen und so. Haben ganz schön was damit verdient. Sind, wie gesagt, nach London gezogen.«

Monk stellte ihm weitere Fragen, aber Carborough wusste nichts über Dundas persönlich und hatte, soweit er sich erinnerte, Monks Namen noch nie gehört.

Es gab auch keine Spur des Geldes, das Dundas für das Haus bekommen haben musste. Es war so vollständig verschwunden, als wären die Banknoten, mit denen es bezahlt worden war, verbrannt worden.

Als Nächstes wollte er zu Reverend William Colman, der eine sehr eindrucksvolle Zeugenaussage gegen Dundas abgegeben hatte. Es konnte eine unerfreuliche Begegnung werden, denn Colman erinnerte sich sicher noch an Monk. Er würde der Erste sein, der Monk noch von damals kannte. Dundas und seine Frau waren tot, ebenso Nolan Baltimore. Monk würde mit dem Menschen konfrontiert werden, der er damals gewesen war, und am Ende würde es kein Entrinnen vor dem geben, an was Colman sich erinnerte.

Hatte er den Mann damals wegen seiner Zeugenaussage gehasst? War er unfreundlich zu ihm gewesen und hatte versucht, ihn in Verruf zu bringen? Hatte Colman Monk für genauso schuldig gehalten wie Dundas, nur dass es sich nicht beweisen ließ?

Colman war noch im Amt, und es war nicht schwierig, ihn im Crockford's Clerical Directory, dem Adressbuch der anglikanischen Kirche, zu finden. Am späten Nachmittag ging Monk in einem Dorf am Stadtrand von Liverpool den kurzen Weg zur Pfarrhaustür hinauf. Er spürte ein Flattern im Magen, und seine Hände waren klamm und schmerzten, so oft hatte er sie zu Fäusten geballt. Er zwang sich, sich zu entspannen, und zog am Glockenstrang.

Die Tür wurde überraschend schnell geöffnet, und ein großer Mann in leicht verknitterten Kleidern und einem Kollar schaute ihn erwartungsvoll an. Er war schlank, hatte graues Haar und ein energisches, intelligentes Gesicht. Monk wusste mit einem Schauer der Erinnerung, der so heftig war, dass er ihm den Atem verschlug, dass es Colman war – er hatte eine Zeichnung von ihm in der Zeitung gesehen, er war unter den Demonstranten gegen die Eisenbahn gewesen. Viel lebendiger aber hatte er ihn in seinen Träumen gesehen, wie er sich verzweifelt durch die Trümmer des brennenden Zuges kämpfte.

Im selben Augenblick erkannte ihn Colman, und der Mund stand ihm einen Augenblick lang offen vor Verblüffung.

»Monk?« Er schaute genauer hin. »Sie sind Mr. Monk, nicht wahr?«

Monk hatte Mühe zu sprechen. »Ja, Mr. Colman. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ein wenig Ihrer Zeit widmen würden.«

Colman zögerte einen winzigen Augenblick, dann machte er die Tür weit auf. »Kommen Sie herein. Was kann ich für Sie tun?«

Monk hatte bereits beschlossen, dass der einzige Weg, etwas zu erreichen, der war, dass die ganze Wahrheit herauskam, falls das überhaupt möglich war. Das hieß auch, offen über seinen Gedächtnisverlust und die einzelnen Bruchstücke, die jetzt auftauchten, zu sprechen.

Colman ging in ein Zimmer voraus, in dem er Gemeindemitglieder empfing, und bat ihn, Platz zu nehmen. Er betrachtete Monk neugierig, was nur allzu natürlich war, denn er hatte ihn sechzehn Jahre nicht gesehen. Er suchte sicher nach den Veränderungen, dem Charakter, der sich tiefer in seine Züge eingegraben hatte, die kleinen Unebenheiten, seine abgemagerte Gestalt.

Monk war sich Colmans Persönlichkeit und der Macht der Gefühle, die er früher in ihm gespürt hatte, deutlich bewusst – nichts hatte sie geschwächt. Die Trauer war noch da, die Erinnerung daran, wie er die Toten begraben und die betroffenen Familien getröstet hatte.

Colman wartete.

Monk fing an zu berichten. Es fiel ihm schwer, und seine Stimme stockte, als er die Jahre von damals bis heute zusammenfasste und mit der Geschichte von Baltimore und Söhne und der neuen Eisenbahnlinie endete.

Während Colman ihm zuhörte, lag Zurückhaltung in seiner Miene, der Widerhall von früherer Wut, Kummer und Schmerz. Damals hatten sie auf verschiedenen Seiten gestanden, und das war seiner Miene, seinem wachsamen Blick und seinen leicht zusammengekniffenen Lippen deutlich anzusehen, und auch seiner angespannten Körperhaltung – ein Bein über das andere geschlagen, die Hände zu Fäusten geballt. Sie waren immer noch Gegner. Das würde niemals in Vergessenheit geraten.

»Nolan Baltimore ist ermordet worden«, erklärte Monk. Er sah Colman erschrocken zusammenfahren, dann ein zufriedenes Glitzern und gleich danach Schuld, die ihn sogar leicht erröten ließ. Aber er beeilte sich nicht, die gewöhnlichen Beileidsbekundungen auszusprechen. Daran hinderte ihn seine Ehrlichkeit.

»Von einer Prostituierten«, fügte Monk hinzu. »Während er perversen Vergnügungen nachging.«

Colmans Gesicht zeigte deutlichen Widerwillen.

»Und deswegen sind Sie hier?«, fragte er argwöhnisch.

»Nicht direkt«, antwortete Monk. »Aber es bedeutet, dass wir ihn nicht nach etwas fragen können, das wie ein ganz ähnlicher Betrug bei Baltimore und Söhne aussieht, der fast genauso abläuft wie die Sache damals.«

Colman setzte sich ruckartig auf. »Ein weiterer Betrug? Aber Dundas ist tot, die arme Seele. Ausgerechnet Sie müssen das doch wissen. Ihr Erinnerungsvermögen kann doch nicht dermaßen … in Mitleidenschaft … ich meine …« Er unterbrach sich.

Monk rettete ihn aus der peinlichen Situation. »Ich erinnere mich daran. Aber an was ich mich nicht erinnere, ist, wie der Betrug damals aufgedeckt wurde … nicht im Einzelnen. Sehen Sie, diesmal sieht es so aus, als sei ein Mann namens Dalgarno verantwortlich, nur dass sein wichtigster Ankläger auch tot ist … ermordet.« Diesmal sah er das pure Mitleid in Colmans Miene. »Eine Frau«, fuhr Monk fort. »Sie war mit ihm verlobt, und dank dieser privilegierten Stellung entdeckte sie bestimmte Dinge, die Geschäftliches betrafen, hörte Gespräche mit an und sah Unterlagen, die ihr klar machten, dass etwas ernstlich nicht stimmte. Sie brachte alles zu mir. Ich habe die Sache so weit wie möglich untersucht, aber ich konnte keinen Betrug entdecken. Ein bisschen Preistreiberei, aber das ist alles.«

»Aber sie wurde umgebracht?«, unterbrach Colman ihn und beugte sich vor.

»Ja. Und Dalgarno wurde des Mordes angeklagt. Aber um seine Schuld zu beweisen, müssen wir den Betrug zweifelsfrei nachweisen.«

»Verstehe.« Seine Miene machte deutlich, dass er tatsächlich vollkommen verstand. »Was möchten Sie von mir wissen?«

»Sie waren derjenige, der damals als Erster den Verdacht auf Betrug hegte. Warum?«

Colman runzelte die Stirn. Er war eindeutig fasziniert von dem Gedanken an einen solchen vollständigen Gedächtnisverlust, wo Monk sich doch damals so leidenschaftlich in der Sache engagiert hatte. »Sie erinnern sich wirklich nicht daran?« Er erstarrte, und seine Stimme klang belegt. »Sie erinnern sich nicht an meine Kirche? In dem Tal zwischen den alten Bäumen? An den Friedhof?«

Monk mühte sich, aber vergeblich. Er machte sich ein Bild davon, aber rein aus der Fantasie, nicht aus der Erinnerung. Er schüttelte den Kopf.

»Sie war schön«, sagte Colman traurig. »Eine alte Kirche. Ursprünglich normannisch, mit einer Krypta darunter, wo man schon vor rund tausend Jahren Menschen beerdigt hat. Der Friedhof war voller alter Familiengräber, fünfzehn oder zwanzig Generationen. Es war die Geschichte des Ortes. Geschichte besteht schließlich aus Menschen.« Er sah Monk eindringlich an, suchte nach dem Mann hinter der Fassade, den Leidenschaften, die er tiefer aufrühren – und verletzen – konnte als den analytischen Verstand. »Sie haben die Eisenbahnlinie mitten hindurchgebaut.«

Jetzt regte sich in Monks Erinnerung etwas: ein milder, vernünftiger Bischof, der voller Bedauern war, aber den Fortschritt und den Bedarf an Arbeitsplätzen, Transportmöglichkeiten und den Fortschritt der Menschheit anerkannte. Es hatte einen scheuen Hilfspfarrer gegeben, der sich dafür begeisterte, das Alte zu bewahren und gleichzeitig das Neue zu befördern, und der nicht einsehen konnte, dass das unmöglich war.

Und zwischen den beiden stand Reverend Colman, ein Enthusiast und Befürworter der ungebrochenen Kette der Geschichte, für den die Eisenbahn eine verheerende Gewalt war, die die familiären Bande mit den Toten zerriss und die Denkmäler, welche die spirituelle Verbindung lebendig hielten, mutwillig zerstörte. Monk hörte Stimmen, die sich erhoben, Angst-und Wutschreie, und sah hassverzerrte Gesichter.

Aber Colman hatte mehr getan, als nur zu protestieren, er hatte ein Verbrechen nachgewiesen. War er das, war diese schwer fassbare Erinnerung der Beweis? Wen würde er anklagen – Baltimore oder Monk? Monk räusperte sich. Sein Hals war so eng, dass er kaum atmen konnte.

»Man hat die Kirche abgerissen?«, fragte er.

»Ja. Die neue Strecke verläuft genau da, wo einst die Kirche stand.« Colman fügte nichts weiter hinzu, seine Stimme sagte genug.

»Wie haben Sie den Betrug entdeckt?« Monk zwang sich, normal zu sprechen. Er war kurz vor der Wahrheit.

»Ganz einfach«, antwortete Colman. »Jemand erzählte mir, er habe Kaninchen auf dem Hügel beobachtet, um den sie herumgebaut hatten, weil es angeblich zu teuer war, einen Tunnel hindurchzutreiben. Ein Gemeindemitglied, das Probleme hatte wegen Wilderei. Als ich ihn fragte, wo er erwischt worden sei, erzählte er es mir. Kaninchen graben nicht in Granit, Mr. Monk. Streckenarbeiter können fast alles sprengen, bei Felsen dauert es nur ein wenig länger und kostet daher mehr. Ich habe die ursprünglichen Messtischblätter gefunden. Wenn man die, die Baltimore benutzte, genauer betrachtete, sah man, dass sie gefälscht waren. Wer immer es gemacht hatte, er war zu schlau gewesen, um die Höhenangaben oder die Bodenbeschaffenheit zu verändern – er suchte sich einen Hügel, der woanders lag, und änderte die Gitternetzmarkierungen. Äußerst geschickt.«

Monk stellte die Frage, die er stellen musste, aber er musste sich erst räuspern: »Arrol Dundas?«

»Es sah so aus«, sagte Colman bedauernd, als wäre es ihm lieber gewesen, wenn es jemand anders gewesen wäre.

»Hat er es je zugegeben?«

»Nein. Doch er hat auch niemand anderen beschuldigt, und zwar wohl eher aus Würde oder moralischen Gründen als aus Ahnungslosigkeit.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Monk erfasste, was Colmans Worte wirklich bedeuteten. Er hatte schon seine nächste Frage stellen wollen, unterbrach sich aber mitten im Satz.

»Sie meinen, Sie bezweifelten Dundas' Schuld?«, fragte er ungläubig.

Colman blinzelte. »Sie haben stets behauptet, er sei es nicht gewesen. Auch nach der Verurteilung haben Sie geschworen, er sei nicht derjenige gewesen, der das Messtischblatt manipuliert hat, und sein Gewinn sei allein durch kluge Spekulation und nicht durch Unredlichkeit zusammengekommen. Er hat einfach billig ge- und teuer verkauft.«

Monk war verwirrt. »Wer hat denn dann die Unterlagen gefälscht? Baltimore? Warum sollte er? Er besaß dort kein Land!«

»Und hatte hinterher auch keine Verkaufserlöse auf der Bank«, stimmte Colman ihm zu. »Ich weiß die Antwort nicht. Wenn es nicht Dundas war, dann kam das Geld womöglich durch Bestechung herein, aber das wird man nie beweisen können.«

»Warum sollte jemand anders die Messtischblätter gefälscht haben?«, hakte Monk nach.

Colman runzelte die Stirn und überlegte sich seine Antwort gut, seine Worte waren sorgfältig gewählt. »Die Eisenbahnlinie führte mitten durch meine Kirche, und das war das Einzige, an was ich damals denken konnte.« Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen. »Und der Unfall … die Kinder …« Er unterbrach sich. Er fand nicht die richtigen Worte, und vielleicht sah er das Entsetzen in Monks Miene und wusste, dass Worte auch nicht notwendig waren.

Monks Erinnerung an Colman verdichtete sich. Er hatte sich damals gewünscht, ihn zu mögen, aber seine Zeugenaussage gegen Dundas hatte es verhindert. Jetzt war das für beide längst Vergangenheit, und es gab nichts mehr, um was sie sich streiten mussten.

Colman blinzelte und lächelte entschuldigend. »Ich fürchte, ich bin Ihnen keine große Hilfe beim Sammeln der Beweise, die Sie brauchen, um zu belegen, dass Dalgarno die junge Frau umgebracht hat oder dass Baltimore den Betrug begangen hat. Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, war er bereits tot, als sie umgebracht wurde.«

»Ja, zwei oder drei Wochen.«

»Dann war Dalgarno womöglich in den Betrug verstrickt und konnte, sobald Baltimore tot war, den ganzen Profit alleine einstreichen?«, meinte Colman.

»Oder ihn mit dem Sohn, Jarvis Baltimore, teilen«, berichtigte ihn Monk. »Das scheint wahrscheinlich zu sein; insbesondere da Dalgarno – wie meine Frau beobachten konnte – jetzt der Tochter, Livia, den Hof macht.«

Colman machte große Augen. »Ihre Frau ist mit den Baltimores bekannt?«

Monk machte sich nicht die Mühe, sein Lächeln zu verbergen, ebenso wenig wie den Stolz, der hoch und strahlend in ihm aufwallte, auch wenn ihm zugleich der Schmerz wie ein Dolchstoß durchs Herz fuhr bei dem Gedanken, was er verlieren konnte. »Nein. Sie leitet am Coldbath Square ein Haus, wo Prostituierte Zuflucht und medizinische Hilfe finden, und Li-via Baltimore wandte sich nach dem Tod ihres Vaters verärgert und betrübt und Hilfe suchend an sie. Hester bekam ein paar Informationen und besuchte sie. Sie war als Krankenschwester auf der Krim. Es gibt kaum etwas, was sie aufhalten kann, wenn sie einmal überzeugt ist, dass sie im Recht ist.«

Colman schüttelte den Kopf, auch wenn seine Augen strahlten. »Ich hoffe, sie musste Miss Baltimore nicht über den wahren Charakter ihres Vaters aufklären«, sagte er. »Es könnte ja sein, dass er den gleichen Trick noch einmal angewandt hat.

Aber ich weiß nicht, wie Sie das den Geschworenen klar machen wollen, wenn Sie keine Beweise dafür haben. Das erste Mal kam er davon, weil offensichtlich war, dass er keinerlei finanziellen Gewinn daraus zog, Dundas dagegen sehr wohl.«

»Dundas starb sehr arm«, sagte Monk und wurde von alter Traurigkeit und Wut überschwemmt.

Auch Colman wurde plötzlich sehr ernst. »Das habe ich gehört, obwohl es sehr merkwürdig ist. Er war ein ausgezeichneter Bankier, einfach brillant. Aber das können Sie doch nicht vergessen haben?«

»Nein, hab ich nicht. Aber wo ist das Geld hingekommen?«

Colman sah Monk düster an.

»Ich habe keine Ahnung. Niemand wusste es. Und kurz danach hat dieser Unfall alle anderen Gedanken verdrängt.« Plötzlich war sein Gesicht abgehärmt, und die Farbe wich ihm aus den Wangen. »Es war die Hölle auf Erden. Die Schreie werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Die Erinnerung an den Geruch nach verbranntem Haar verursacht mir immer noch Schweißausbrüche und Übelkeit. Aber Sie kennen das. Sie waren dort.«

Er sah krank aus. Monk senkte den Blick. Er wusste, was Colman meinte. Er hatte einiges davon in seinem eigenen Albtraum erfahren. Es war merkwürdig, fast belanglos real, Col-man sagen zu hören, Monk sei dort gewesen; er wusste es sehr genau und auf schreckliche Weise aus den Albträumen seiner verborgenen Erinnerung.

»Was war die Ursache?«, fragte er.

Colman blickte langsam auf. »Das hat man nie herausgefunden. Aber es war nicht das neue Gleis. Das war vollkommen in Ordnung. Zumindest … soweit die Untersuchungen ergaben.« Der letzte Tropfen Blut wich aus seinem Gesicht, und er erstarrte. »O nein! Sie glauben doch nicht, dass das noch einmal passiert? Mein Gott, bloß nicht! Ist es das, was Sie fürchten?«

»Was Katrina Harcus fürchtete«, antwortete Monk. »Aber ich habe alles untersucht; ich bin die Schienen abgelaufen und konnte keinerlei Fehler entdecken. Sagen Sie mir, Mr. Colman, wie kann ich diesen Betrug beweisen? Es ist wieder passiert, und doch sehe ich ihn einfach nicht!«

Colman sah ihn, von heftigem Mitleid ergriffen, an. »Ich weiß nicht. Glauben Sie, wenn ich es wüsste, hätte ich all die Jahre geschwiegen? Egal, wem es geschadet hätte, ich hätte gesprochen. Ich weiß es einfach nicht!«

Monk blickte hilflos auf, seine Gedanken waren gefangen wie Strandläufer in der Brandung, er spürte, wie das Wasser an seinen Füßen zerrte, ihm das Gleichgewicht raubte, und doch ergab das alles keinen Sinn.

»Suchen Sie nach Bestechungsgeldern«, drängte Colman. »Etwas anderes kann es nicht sein.«

Beim Thema Bestechung wollte Monk ihm nicht widersprechen. Colman hatte sich längst seine Meinung gebildet. Er blieb noch eine Weile, dankte Colman und verabschiedete sich. Seine Schritte waren jetzt leichter. Ein alter Feind war versöhnt. Jetzt würde er keine Angst mehr haben, wenn er Colmans Gesicht in seinen Träumen sah.

Aber die eine Tatsache, die ihm, wie er überzeugt war, helfen würde, alle anderen aus dem festen Knoten seiner Erinnerung zu entwirren, hatte er nicht gefunden.

Monk hatte den Mut und den Willen, sich diese Tatsache anzusehen, aber der winzige Teil von ihm, der tief in ihn hineinschaute und wusste, was es war, hielt es immer noch vor seinem Bewusstsein verborgen.

Um ihm zu trotzen … oder ihn zu schützen?

Er fuhr über Derby nach London zurück, sah sich noch einmal die ursprüngliche Streckenführung an und überprüfte, über wessen Besitz sie genau geführt hätte. Es gab einen großen, wohlhabenden Bauernhof, dessen Weideflächen geteilt worden wären, was es unmöglich gemacht hätte, Vieh von einer Seite auf die andere zu treiben.

Die Strecke hätte zudem durch ein Gehölz geführt, eines der besten in der Gegend, um Füchse aufzustöbern, ein beliebtes Jagdrevier. Waren Bestechungsgelder gezahlt worden, um die Strecke eine oder zwei Meilen weiter über ungenutztes Land zu führen? Im Großen und Ganzen wahrscheinlich nicht, denn es schien sowieso das Naheliegendste zu sein. Der Akt der Zerstörung hätte sonst bei den Bewohnern der nächstgelegenen Stadt zu gefährlicher Feindseligkeit geführt.

War das denn wirklich ein Verbrechen? War es überhaupt eine Sünde, die es wert war, mit mehr als einem flüchtigen Bedauern darüber nachzudenken?

Michael Dalgarno hatte sich in seiner Beziehung zu Katrina als unwürdiger Mann erwiesen. Er hatte ihre Liebe angenommen, so lange es ihm passte, und sie fallen lassen, als sich durch Livia Baltimore eine finanziell lukrativere Verbindung geboten hatte. Aber auch das war kein Verbrechen … wenngleich eine Sünde, deren sich viele schuldig machten.

Aber nichts davon konnte Motiv genug für Dalgarno sein, Katrina zu ermorden.

Einen Betrug zu verdecken wäre ein Motiv gewesen, aber worin lag er? Monk konnte nichts beweisen. Alles, was er hatte, waren Ideen und Verdächtigungen. Monk erinnerte sich an den Brief, in dem er namentlich erwähnt wurde und den er bei Katrina mitgenommen hatte. Seine Hand tat ihm weh, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. Hätte er ihn dort gelassen, wäre Runcorn jetzt hinter ihm her, und wäre es nicht Runcorn, sondern einer seiner Kollegen, wäre dieser von seiner Schuld genauso überzeugt!

»Natürlich ist er schuldig!«, sagte Runcorn ungehalten, als Monk vom Bahnhof aus direkt zu ihm fuhr, um ihm von seinem Misserfolg zu berichten. Sein Büro war wie immer mit Akten überhäuft, aber sie waren alle ordentlich gestapelt, als hätte er sie bereits durchgearbeitet. Er war zu beschäftigt, um Monk einen Tee anzubieten. Wie dem auch sei, er schien ihn inzwischen eher als Kollegen denn als Gast zu betrachten. Er sah ihn skeptisch und ein wenig enttäuscht an. »Die Tatsache, dass Sie keinen Beweis für einen Betrug mitgebracht haben, bedeutet nicht, dass er unschuldig ist«, sagte er grimmig. »Es heißt nur, dass er es so gut verborgen hat, dass Sie es nicht aufdecken können. Vermutlich hat er aus Dundas' Fehlern gelernt. Zwei Farmen oder Landsitze, oder was sagten Sie?«

»Ja«, antwortete Monk zugeknöpft. »Und wenn ich die Strecke geplant hätte, hätte man mir kein Bestechungsgeld zahlen müssen, damit ich sie um den Hügel herum- und nicht hindurchführe, um die Teilung eines solchen Landgutes zu vermeiden.«

»Wollen Sie sich etwa mit Dalgarno vergleichen?« Runcorn zog in einer Mischung aus Überraschung und Zweifel die Augenbrauen hoch.

Monk zögerte. Die Frage war sarkastisch gemeint gewesen, aber er erkannte ein Körnchen Wahrheit darin. Es gab eine physische Ähnlichkeit, die durch entsprechendes Selbstbewusstsein – man könnte auch Arroganz sagen –, die Vorliebe für exzellente Kleidung und eine gewisse Anmut in den Bewegungen noch verstärkt wurde. Wenn der Zeuge tatsächlich jemanden auf dem Dach bei Katrina gesehen hatte und seine Beschreibung auf Dalgarno passte, passte sie auch auf Monk. Viele Leute hatten ihn mit Katrina gesehen – zum Beispiel im Park. Auf einen zufälligen Betrachter mochte es gewirkt haben, als hätten sie gestritten. Mit einem Frösteln in der Magengrube erinnerte sich Monk daran, wie sie seinen Mantel gepackt und dabei den Knopf abgerissen hatte. Er wusste, wann das passiert war, aber sie hatte ihn in der Hand gehalten, als sie starb. Warum? Warum hatte sie ihn so viel später immer noch in der Hand gehalten? Ohne ein Motiv war Dalgarno nicht schuldiger als Monk. Vielleicht war der Beweis gegen Dalgar-no genauso vom Zufall oder vom Unglück begünstigt?

»Monk!«, sagte Runcorn laut. »Wollen Sie sich mit Dalgarno vergleichen?«

Monk zwang sich mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. »Irgendwie schon«, antwortete er.

»Irgendwie?«, fragte Runcorn, der sich darüber wunderte, dass Monk dies ernst meinte.

Monk spürte, dass er an einem Abgrund stand, und zog sich zurück. »Oberflächlich betrachtet«, antwortete er. Sein Kopf war bereits mit etwas anderem beschäftigt, mit seinen Zweifeln und seiner Not. »Nur oberflächlich.« Er wollte sich so rasch wie möglich entschuldigen. Er musste zu Rathbone. Es war dringend. Womöglich war es schon zu spät.

»Mehr ist da nicht«, sagte er. »Sie werden sich auf die Staatsanwaltschaft verlassen müssen. Es tut mir Leid.«

Runcorn stöhnte. »Ich nehme an, ich sollte dankbar sein, dass Sie's versucht haben.«

Monk musste anderthalb Stunden warten, bis Rathbone Zeit hatte, ihn zu empfangen. Es waren unglückliche anderthalb Stunden, viel zu lang, um dazusitzen und darüber nachzudenken, wie schwierig das war, was er tun musste, und in welche Verlegenheit es ihn brachte.

Als Rathbone schließlich kam und Monk in sein vertrautes elegantes Büro führte, machte er keine langen Worte.

»Michael Dalgarno wurde des Mordes an Katrina Harcus angeklagt, aber der Beweis hängt davon ab, ob er ein Motiv hat«, sagte er freiheraus.

»Natürlich.« Rathbone nickte und sah Monk mit wachsendem Interesse an. Sie kannten sich so gut, dass er wusste, dass Monk ihn nicht aufsuchte, um etwas so Offensichtliches zu sagen. Er wäre auch nicht so angespannt und seine Stimme nicht so gepresst, ginge es nicht um eine äußerst wichtige und schmerzliche Angelegenheit. Die Beziehung zwischen ihnen war tief, doch gelegentlich gab es auch Rivalität zwischen dem geistig abgeklärten und selbstsicheren Rathbone, dem es jedoch an emotionalem Mut fehlte, und dem arroganten, unsicheren Monk, der fast so aussah und sich verhielt wie ein Gentleman und der doch die innere Leidenschaft besaß, sein Herz zu binden, und der jetzt verzweifelt fürchtete, nach aller Mühe, Veränderung und Hoffnung am Ende doch zu verlieren.

Rathbone betrachtete ihn ernst und wartete darauf, dass er sich erklärte.

»Runcorn hält Dalgarno für schuldig, weil Katrina einen Beweis dafür hatte, dass er in den betrügerischen Kauf und Verkauf von Land für die neue Eisenbahnstrecke von Baltimore und Söhne nach Derby verwickelt war«, fing er an. »Ich dachte das auch, aber ich habe so gründlich wie möglich gesucht, habe sogar alle geschäftlichen Transaktionen mit denen bei dem Betrug von Baltimore und Söhne in Liverpool vor sechzehn Jahren verglichen, als ich noch selbst für die besagte Bank arbeitete.« Er sah, dass Rathbone überrascht war, dies jedoch gleich wieder verbarg. »Aber ich kann keinen Beweis finden«, fuhr er fort. »Jedenfalls nicht genug, um einen Mann wegen eines Mordes zu hängen.«

Rathbone betrachtete seine Hände, dann sah er Monk an. »Worin genau bestand Ihre Verwicklung in den ersten Betrug damals, soweit Sie wissen?«, fragte er.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem nur die nackte Wahrheit weiterhelfen konnte. Jedes Ausweichen konnte als Schuld auf ihn zurückfallen wie ein Messer, das alles Gute zerstörte, das ihm geblieben war.

»Arrol Dundas, der Mann, der mir alles Wissenswerte beibrachte und fast wie ein Vater zu mir war, wurde beschuldigt, Land billig gekauft und es dann, nachdem er die Messtischblätter geändert hatte, damit die Strecke verlegt wurde, mit riesigem Gewinn verkauft zu haben«, antwortete er. »Man befand ihn für schuldig, und er starb im Gefängnis.« Es war merkwürdig, es in so knappen Worten zusammenzufassen. Es klang wie ein juristischer Fall und nicht wie das Leben von Menschen, das man zerstört hatte. Am besten brachte er es hinter sich und fügte den hässlichsten Part auch gleich hinzu. »Und während er im Gefängnis war, geschah der schlimmste Eisenbahnunfall aller Zeiten. Ein Kohlenzug stieß mit einem Sonderzug voller Kinder zusammen.«

Rathbone war so entsetzt, dass er erst einmal schwieg. »Verstehe«, sagte er schließlich, wobei seine Stimme so leise war, dass man sie kaum hörte. »Und hatte er etwas mit dem Betrug zu tun?«

»Nicht dass ich wüsste. Der Unfall wurde menschlichem Versagen zugeschrieben, womöglich sowohl des Zugführers als auch des Bremsers.«

»Beweise?« Rathbone hob leicht die Augenbrauen.

»Keine. Niemand hat je etwas herausgefunden. Aber man hat noch nie von Streckenarbeitern gehört, die eine fehlerhafte Strecke gebaut hätten. Es gibt zu viele Kontrollen, und es sind zu viele Leute daran beteiligt, die ihr Handwerk verstehen.«

»Verstehe. Und hatte Dundas den Betrug begangen, oder war es jemand, der noch lebt? Dalgarno?«

»Nicht Dalgarno, er war vor sechzehn Jahren noch ein Schuljunge. Ich weiß nicht, ob es Dundas war. Damals war ich von seiner Unschuld überzeugt … Zumindest glaubte ich es.« Er wich Rathbones Blick nicht aus. »Ich habe darum gekämpft, dass er freigesprochen wird … und ich kann mich an den Kummer und die Hilflosigkeit erinnern, als er verurteilt wurde.«

»Aber …«, stocherte Rathbone vorsichtig wie ein Chirurg mit einem Skalpell, und deshalb tat es auch weh.

»Aber ich kann mich nicht erinnern. Ich fühle mich wegen irgendetwas schuldig. Ich weiß nicht, ob deswegen, weil ich ihm nicht helfen konnte. Ich war gerade in Liverpool und habe mir die finanziellen Angelegenheiten angeschaut, so weit mir das ohne weitere Befugnisse möglich war. Er war damals recht wohlhabend. Vermutlich hatte er Gewinne aus dem Landverkauf gezogen …«

Rathbone nickte. »Natürlich. Man nimmt an, dass das zum Beweis des Betrugs beitrug. Was ist damit?«

»Er starb sehr arm.« Diesmal sah Monk Rathbone nicht an. »Er verkaufte sein großes Haus, und seine Witwe lebte äußerst bescheiden in einem recht zweifelhaften Viertel. Als sie starb, hinterließ sie nichts. Sie hatte von einer Jahresrente gelebt, die mit ihrem Tod endete.«

»Und Sie wissen nicht, was mit dem Geld geschah?«

Monk blickte auf. »Ich habe alles Mögliche versucht, um mich daran zu erinnern: Ich habe Orte wieder aufgesucht und die Zeitungen von damals gelesen, aber es fällt mir nicht ein.«

»Wovor haben Sie Angst?« Rathbone ersparte ihm nichts. Vielleicht war das notwendig, wie wenn ein Arzt tastete, um zu sehen, wo es am meisten wehtat.

Konnte er lügen? Zumindest in diesem Punkt? Um was ging es? Er musste Rathbone erzählen, dass er die Briefe verbrannt hatte, die ihn – fälschlicherweise – in die Sache hineinzogen.

»Dass ich damals Bescheid wusste«, antwortete er. »Ich war sein Testamentsvollstrecker. Er muss mir vertraut haben.«

Rathbone hielt sich keineswegs bedeckt, obwohl er zögerte und man seiner Stimme anhörte, dass es ihn schmerzte. »Könnte es sein, dass Sie das Geld genommen haben?«

»Weiß ich nicht! Vielleicht. Ich erinnere mich nicht.« Monk beugte sich vor und blickte zu Boden. »Alles, was ich deutlich vor mir sehe, ist ihr Gesicht, das Gesicht seiner Witwe, als sie mir sagte, dass er tot sei. Wir waren in einem ganz gewöhnlichen Haus, klein und ordentlich. Ich hatte das Geld nicht, aber ich weiß nicht, ob ich nicht etwas damit gemacht habe. Ich habe mir den Kopf zermartert, aber ich kann mich einfach nicht erinnern!«

»Verstehe«, sagte Rathbone freundlich. »Und wenn Dundas unschuldig war, wie Sie damals glaubten, bedeutet das, dass es keinen Betrug gegeben hat oder dass jemand anders ihn begangen hat?«

»Ich glaube, das ist die entscheidende Frage«, sagte Monk, richtete sich langsam auf und begegnete Rathbones Blick. »Vor sechzehn Jahren gab es Betrug, zweifelsfrei. Auf dem Messtischblatt waren falsche Gitternetzmarkierungen. Wenn es nicht Dundas war, dann war es jemand anders, möglicherweise Nolan Baltimore …«

»Warum?«, unterbrach ihn Rathbone. »Warum sollte Baltimore einen Vermessungsbericht fälschen, wenn Dundas persönlich davon profitierte?«

»Ich weiß nicht. Es ergibt in meinen Augen keinen Sinn«, räumte Monk geschlagen ein. Er fühlte sich wie von allen Seiten umzingelt. »Aber ich glaube nicht, dass es diesmal Betrug gab. Die Strecke wurde verlegt, aber das Land gehörte Dalgar-no nicht. Wenn illegal Profit gemacht wurde, dann allenfalls durch Bestechungsgelder, um die Strecke umzulenken, damit keine landwirtschaftlichen Betriebe oder Güter zerteilt wurden. Aber so, wie die liegen, hätte jeder die Strecke umgeleitet – auch ohne Bestechung.«

Rathbone schaute ihn mit ernster Miene an. »Monk, was Sie da sagen, ist, dass Dalgarno keinen Ihnen bekannten Grund hatte, diese Frau umzubringen. Wenn er kein Motiv hatte und niemand ihn dabei beobachtet hat, gibt es keinen Beweis, um ihn auf das Verbrechen festzunageln.«

»Ein paar kleine gibt es«, sagte Monk langsam und sehr deutlich. Er hörte die Worte fallen wie Steine, unwiederbringlich. »Ein Papier, das Katrina hinterließ und das ihn beschuldigt. Aber sie hinterließ auch eines, auf dem sie – auf den ersten Blick – mich beschuldigt. Und der Knopf.« Jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Rathbone würde ihn zwingen, die ganze Wahrheit zu erzählen.

»Knopf?« Rathbone runzelte die Stirn.

»Als sie starb, hielt sie den Knopf einer Herrenjacke in der Hand.«

»Beim Kampf abgerissen? Warum, zum Teufel, haben Sie das nicht gleich gesagt?«

Jetzt war Rathbone voller Eifer, seine Augen funkelten. »Damit kann man ihn festnageln – Motiv hin oder her!«

»Eben nicht«, sagte Monk trocken, sich selbst in diesem schrecklichen Augenblick des makabren Witzes bewusst.

Rathbone machte den Mund auf, um etwas zu sagen, dann spürte er etwas, was tiefer und jenseits aller Worte lag, und sagte nichts.

»Ich hatte mich am Mittag mit ihr im Park getroffen«, fuhr Monk fort. »Sie war sehr beunruhigt und immer noch leidenschaftlich von Dalgarnos Schuld überzeugt. Wir stritten uns mehr oder weniger darüber, zumindest muss es für etliche Passanten so ausgesehen haben.«

In höchster Konzentration beugte sich Rathbone ein wenig über den Tisch.

Monk wurde es heiß und kalt. Er zitterte. »Sie griff nach mir, als wollte sie meine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und dann riss sie mir den Knopf von der Jacke. Das war der Knopf in ihrer Hand.«

»Mehrere Stunden später? Als sie mit ihrem Mörder rang?«, fragte Rathbone leise. »Monk, sagen Sie mir die ganze Wahrheit? Wenn ich Sie verteidigen soll, müssen Sie das tun.«

Monk richtete langsam den Blick auf ihn. Er fürchtete, was er sehen würde. »Ich bin hier, um Sie zu bitten, Dalgarno zu verteidigen«, sagte er und überging Rathbones Überraschung. »Ich glaube, er ist unschuldig. So oder so, ich möchte, dass er auf die bestmögliche Weise verteidigt wird. Wenn er hängt, muss ich über alle vernünftigen oder sonstigen Zweifel hinaus sicher sein, dass er sie wirklich umgebracht hat.«

»Ich mache mir mehr Sorgen darum, Ihren Hals zu retten«, sagte Rathbone ernst. »Sie kannten diese Frau, Sie wurden am Tag ihres Todes beobachtet, wie Sie mit ihr stritten, und sie hielt den Knopf Ihrer Jacke in der Hand. Und Sie haben mir noch nicht gesagt, was mit den Briefen geschehen ist, die Sie belasten.«

»Ich habe sie an mich genommen«, erklärte ihm Monk. »Runcorn bat mich, ihm ihre Wohnung zu zeigen. Ich habe sie zuerst entdeckt und habe sie an mich genommen und zu Hause verbrannt.«

Rathbone stieß einen langen Seufzer aus. »Verstehe. Und an wen waren diese Briefe gerichtet?«

»An eine Frau namens Emma, mehr weiß ich nicht, außer dass sie nicht in London lebt. Ich ging noch einmal hin« – er sah Rathbone zusammenzucken, ignorierte es aber – »und suchte nach weiteren Briefen oder einem Adressbuch, aber ich habe keines gefunden.«

»Haben sie regelmäßig korrespondiert?«

Monks Stimme war heiser. »Weiß ich nicht!« Das Tagebuch ließ er unerwähnt. Niemand wusste davon, und er hielt an dem winzigen Hoffnungsfaden fest, dass es ihm irgendetwas über Katrina sagen würde, was ihm einen – wenn auch noch so vagen – Hinweis geben konnte. Zudem enthielt es ihre Träume, die er bewahren wollte. Wenn er ehrlich war, ging es ihm hauptsächlich darum.

»Verstehe«, wiederholte Rathbone leise. »Und Sie fürchten, Ihre Handlungen bringen einen Mann an den Galgen, der unschuldig ist.« Das war keine Frage.

Monk sah ihn unverwandt an. »Ja. Würden Sie ihn bitte verteidigen?«

»Er hat vielleicht längst einen Anwalt«, meinte Rathbone. »Aber ich will alles in meiner Macht Stehende tun. Versprochen.«

Monk wollte »unbedingt« sagen, merkte jedoch, wie dumm das war. Er bat um einen – vielleicht unmöglichen – Gefallen, für den er Rathbone nicht bezahlen konnte. »Vielen Dank«, sagte er stattdessen.

Rathbones Lächeln war wie ein kurzer Sonnenstrahl auf einer Winterlandschaft. »Dann lassen Sie uns anfangen. Wenn Dalgarno sie nicht umgebracht hat, und Sie waren es auch nicht, wer war es dann? Haben Sie irgendeine Idee?«

»Nein«, sagte Monk einfach. Es war die nackte Wahrheit. Er merkte, wie wenig er im Grunde über Katrina Harcus wusste. Er hätte sie bis ins kleinste Detail beschreiben können – ihr Haar, ihr Gesicht, ihre bemerkenswerten Augen, wie sie sich bewegte, das Timbre ihrer Stimme. Er hätte Rathbone sagen können, was sie bei ihren Verabredungen getragen hatte. Aber bis zum Tag ihres Todes hatte er nicht einmal gewusst, wo sie wohnte, ganz abgesehen davon, woher sie kam, wer ihre Familie war oder wie ihr tägliches Leben aussah.

Rathbone kniff die Lippen zusammen und schluckte einen Kommentar über Monks Leichtgläubigkeit hinunter. Wenn er so richtig darüber nachdachte, wusste auch er über manche seiner eigenen Mandanten nicht sehr viel. »Also, dann sollten Sie als Erstes so viel wie möglich über sie herausfinden«, sagte er düster. »Gehen Sie allem nach, aber erstatten Sie mir jeden Tag Bericht.« Eigentlich hätte er das nicht betonen müssen.

Monk stand auf. Rathbone war gnädig mit ihm umgegangen, hatte ihn weder kritisiert noch beschuldigt, aber Monk kannte ihn gut genug, um zu wissen, was er dachte. Dennoch fühlte er sich so niedergeschlagen, als hätte Rathbone alles offen ausgesprochen.

Rathbone reichte ihm das Geld, das er brauchen würde.

»Vielen Dank«, sagte Monk, dem das eigentlich gar nicht recht war. Ob Rathbone wenigstens einen Teil davon von Dalgarno zurückbekommen würde, stand in den Sternen, aber Monk konnte es sich nicht leisten, es abzulehnen. Er hatte keine Ahnung, wohin ihn seine Suche führen würde. Nicht nur Dalgarnos Leben würde davon abhängen, sondern sein eigenes

Bewusstsein und seine Identität und, wenn es hart auf hart kam, sogar sein Leben. Sollte es so aussehen, als würde man Dalgarno verurteilen, musste er dem Gericht von dem Papier berichten, das er in Katrinas Zimmer gefunden und zerstört hatte, und aussagen, dass der Knopf von ihm stammte. Wie sollte Rathbone ihn dann noch vor dem Strick retten können? Und doch war er unschuldig. Und vielleicht auch Dalgarno.

»Ich muss bei Dalgarno selbst anfangen«, sagte er laut. »Sorgen Sie dafür, dass ich mit ihm sprechen kann.«

Die Uhr hatte neun geschlagen, als Monk in der Zelle des Newgate-Gefängnisses stand. Rathbone saß an der Seite auf dem einzigen Stuhl. Dalgarno, blass und unrasiert, ging ruhelos auf und ab. Sein Gesicht war bereits gezeichnet von dem Schock der Erkenntnis, dass ihm möglicherweise der Galgen bevorstand.

»Ich habe sie nicht umgebracht!«, sagte er verzweifelt, und seine Stimme war so hoch, dass sie fast brach.

Monk hielt seine Gefühle eisern unter Kontrolle. Das war die einzige Möglichkeit, überhaupt klar zu denken.

»Dann hat es jemand anders getan, Mr. Dalgarno«, antwortete er. »Kein Geschworener wird Sie freisprechen, wenn Sie ihnen nicht einen anderen Schuldigen nennen können.«

»Ich weiß nicht, wer, um Gottes willen, das getan hat!«, rief Dalgarno erregt. »Glauben Sie, ich säße im Gefängnis, wenn dem so wäre?« Er sah Monk an, als wäre dieser ein völliger Idiot.

Monk empfand Mitleid mit ihm und Schuldgefühle wegen seiner eigenen Beteiligung, aber mögen konnte er den Mann nicht. Ob er sie nun umgebracht hatte oder nicht, er hatte Katrina Harcus schlecht behandelt.

»Hysterie bringt uns nicht weiter«, sagte er frostig. »Logik ist das Einzige, was helfen könnte. Was wissen Sie über Katrina? Und bitte, erzählen Sie mir alles, und die Wahrheit, ob sie schmeichelhaft für Sie ist oder nicht. Ihr Leben könnte davon abhängen. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Rücksicht auf Ihren Ruf oder Ihren Stolz zu nehmen.«

Dalgarno starrte erst ihn und dann Rathbone wütend an.

Rathbone nickte unmerklich.

»Ich habe sie auf einem Gartenfest kennen gelernt«, sagte Dalgarno gedämpft. »Sie war charmant, voller Leben. Ich fand, sie war die interessanteste Frau, die ich je getroffen hatte. Aber ich wusste nichts über ihre soziale Herkunft, außer, dass sie offensichtlich aus gutem Hause stammte und genügend Geld besaß, um sich modisch zu kleiden.«

»Wer waren ihre Freunde?«, fragte Monk.

Dalgarno ratterte ein halbes Dutzend Namen herunter. Monk sagten sie nichts, aber er sah, dass Rathbone wohl einige kannte.

»Vielleicht hat einer von ihnen sie umgebracht«, sagte Dalgarno verzweifelt. »Ich wüsste nicht, warum, aber ich habe es nicht getan. Warum sollte ich? Sie schien zu glauben, ich wollte sie heiraten, dabei hatte ich das nie vor.« Er errötete leicht. »Aber es gab keinen Betrug – ich schwöre es!« Er fuhr ruckartig mit der Hand durch die Luft. »Wir haben vielleicht hier und da ein bisschen abgezweigt, aber das tun alle.«

Monk ließ das unkommentiert. Es war jetzt nicht wichtig. »Das ist genau der Grund, warum ich mehr über Katrina erfahren muss, Mr. Dalgarno. Jemand hat sie umgebracht. Wo kam sie her? Was ist mit ihrer Familie?«

»Ich weiß es nicht!«, sagte Dalgarno ungeduldig. »Darüber haben wir nicht gesprochen.«

»Aber Sie hatten vorgehabt, Sie zu heiraten«, sagte Monk. »Als ambitionierter junger Mann haben Sie doch sicher Erkundigungen eingeholt?«

Dalgarno wurde rot. »Ich … ich glaube, Sie kam ursprünglich aus der Gegend um Liverpool. Sie sagte, beide Eltern seien tot.«

Das ergab Sinn. Der Betrug, dessen sie Dalgarno beschuldigte, war eine nahezu identische Kopie dessen, weswegen man Dundas damals verurteilt hatte. Wenn sie in der Nähe von Liverpool aufgewachsen war, konnte sie davon und von dem Unfall, von dem sie Monk erzählt hatte, gehört haben.

Er stellte weitere Fragen, aber für einen Mann, der angeblich verliebt gewesen war, wusste Dalgarno überraschend wenig über sie. Doch dann erinnerte sich Monk mit brutaler Offenheit daran, wie wenig er über einige der jungen Frauen gewusst hatte, denen er früher den Hof gemacht hatte.

Vielleicht weil er Hester seit den ersten Monaten nach dem Unfall kannte und sie alle anderen aus seinem Herzen verdrängt hatte. Sie war real, die anderen waren nur Idealisierungen gewesen, die zu begehren er geglaubt hatte.

Hatte Dalgarno so gegenüber Katrina Harcus empfunden? Wenn ja, konnte ihm Monk daraus keinen Vorwurf machen. Es hatte wenig Sinn, Dalgarno nach ihrer Beziehung zu fragen, denn sie hatten keine Möglichkeit, seine Aussagen zu überprüfen.

»Was ist mir Ihrer Familie, Mr. Dalgarno?«, fragte er. »Haben Sie ihnen Miss Harcus vorgestellt? Ihre Mutter hat Sie doch sicher nach ihr gefragt? Vielleicht wollte sie mehr über sie wissen?«

Dalgarno wandte den Blick ab. »Meine Familie lebt in Bristol. Mein Vater ist bei schlechter Gesundheit, er kann nicht reisen, und meine Mutter lässt ihn nicht allein.«

»Aber Sie und Miss Harcus hätten reisen können«, wandte Monk ein.

Dalgarno wirbelte herum und sah ihn wütend an. »Ich habe Miss Harcus nicht gefragt, ob sie meine Frau werden will!«, fuhr er ihn an. »Sie hat sich das vielleicht eingebildet, aber so sind Frauen!«

»Besonders, wenn man ihnen Grund zu der Annahme gibt«, sagt Monk ebenso heftig.

Dalgarno machte den Mund auf, als wollte er widersprechen, und schloss ihn dann zu einem dünnen Strich.

Monk konnte nichts Hilfreiches mehr erfahren. Am Ende verließ er die überwältigend bedrückende Atmosphäre des Gefängnisses und ging mit Rathbone durch die Newgate Street. Keiner von ihnen sagte, ob er Dalgarno leiden mochte oder nicht, oder erwähnte die Tatsache, dass er kein Mitleid für Katrina Harcus gezeigt hatte und keine Gewissensbisse, dass er sie so unfein benutzt hatte.

»Liverpool«, sagte Rathbone lakonisch. »Wenn es etwas mit Ihrer Vergangenheit zu tun hat, liegt der Hund dort begraben. Die Polizei kümmert sich um das, was in London zu finden ist, also sollten Sie damit nicht Ihre Zeit vergeuden. Ehrlich, Monk, ich weiß nicht, wonach Sie suchen.«

Monk sagte nichts. Er wusste es auch nicht, aber das zuzugeben wäre einer Kapitulation gleichgekommen, die er sich nicht leisten konnte.

Als Monk in die Fitzroy Street kam, war das Haus leer, aber kaum war er zehn oder fünfzehn Minuten zu Hause, da kam Hester völlig aufgeregt herein. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als sie ihn sah, ließ ihre Einkäufe auf den Tisch fallen und trat, ohne zu zögern, auf ihn zu, als zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass er sie in die Arme schließen würde.

Er konnte gar nicht anders, als sie fest zu umarmen und zu spüren, wie innig sie seine Umarmung erwiderte.

Sie machte sich frei und schaute zu ihm auf. »William, ich habe den Mord an Nolan Baltimore aufgeklärt, zumindest zum Teil. Ich weiß nicht genau, wer es getan hat, aber ich weiß, warum.«

Er musste unwillkürlich lächeln. »Wir alle wussten es, mein Liebling. Wir wussten es die ganze Zeit. Frag irgendeinen Stiefelputzer oder Straßenhändler. Er hat seine Rechnungen nicht bezahlt. Irgendein Zuhälter hatte was dagegen, und es kam zu einem Streit.«

»Nicht ganz«, sagte sie wie eine unzufriedene Gouvernante.

»Das ist nur eine Vermutung. Ich habe dir doch erzählt, dass es ein Bordell gibt, in dem der eine Partner anständigen jungen Frauen, die aus dem einen oder anderen Grund in Schulden geraten sind, Geld leiht …«

»Ja, hast du. Was hat das damit zu tun?«

»Der Partner war er!«, sagte sie. Und als sie die Entrüstung in seiner Miene sah, fuhr sie fort: »Ich dachte mir, dass du so denken würdest. Er hat das Geld verliehen, und Squeaky Robinson hat das Bordell geführt. Aber Baltimore war dort auch Freier! Deswegen wurde er umgebracht, weil er zu weit ging. Eines der Mädchen hat sich gewehrt und ihn aus einem Dachgeschossfenster gestoßen. Squeaky ließ die Leiche dann zu Abel Smith schaffen.«

»Hast du das der Polizei gesagt?«

»Nein! Ich hatte eine sehr viel bessere Idee.«

Sie glühte vor Zufriedenheit. Er fürchtete, dass er ihr diese würde rauben müssen. »Besser?«, fragte er vorsichtig.

»Ja, ich habe die Schuldscheine verbrannt und Squeaky Robinson aus dem Geschäft geworfen. Wir übernehmen das Gebäude, mietfrei, und die jungen Frauen dort können sich um die Patientinnen kümmern.«

»Das hast du getan?«, fragte er ungläubig. »Wie?«

»Also, nicht allein …«

»Wirklich?« Seine Stimme wurde unwillkürlich höher. »Und wessen Hilfe hast du in Anspruch genommen? Oder wäre es mir lieber, ich wüsste es nicht?«

»Ach, ganz ehrbare«, wandte sie ein. »Margaret Ballinger und Oliver!«

»Was?« Er konnte es nicht fassen.

Sie lächelte und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Dann erzählte sie ihm in allen Einzelheiten, was sie gemacht hatten, und endete mit einer Entschuldigung. »Ich fürchte, es wird bei der Geschichte mit dem Eisenbahnbetrug nicht viel nützen. Es hat überhaupt nichts damit zu tun.«

»Nein«, meinte er, aber innerlich verspürte er einen winzigen Funken Stolz. »Ich muss in dieser Sache noch einmal nach Liverpool.«

»Ach …«

Dann erzählte er ihr im Gegenzug, was Runcorn gesagt hatte.

»Das ist kein Beweis, nicht wahr?«, sagte sie. »Aber sie müssen die Strecke doch aus irgendeinem Grund umgeleitet haben, und Miss Harcus sagte, sie erwarteten einen riesigen Gewinn, der geheim bleiben musste.« Sie blickte ihn fest an. »Was hast du vor?«

Das machte es leichter für ihn, da sie sowieso davon ausging, dass er etwas tun würde.

»Noch einmal nach Liverpool fahren«, antwortete er, »und versuchen herauszufinden, welche Fehler Arrol Dundas begangen hat, dass er erwischt wurde.« Er sah, dass sie große Augen machte, und hörte, wie sie nach Luft schnappte und ausatmete, ohne etwas zu sagen. »Wegen dieses Falles«, meinte er. »Nicht wegen der Vergangenheit.«

Sie entspannte sich und lächelte.

Er quartierte sich wieder in derselben Pension ein, wo er sich inzwischen vertraut, ja sogar willkommen fühlte. Als Erstes musste er herausfinden, ob Katrina Harcus hier geboren worden war. Ihrem Alter nach schloss er, dass das um 1830 herum gewesen sein musste, kurz vor der standesamtlichen Geburtenregistrierung, was hieß, dass er in einer örtlichen Kirche nach dem Eintrag ihrer Taufe suchen musste. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als von einer Gemeinde zur anderen zu gehen. Um Rathbone davon zu unterrichten, schickte er ihm ein Telegramm.

Monk brauchte vier beschwerliche und ermüdende Tage, um den Eintrag in den Büchern einer kleinen gotischen Kirche am Stadtrand von Liverpool zu finden. Katrina Mary Harcus.

Ihre Mutter war Pamela Mary Harcus. Ihr Vater war nicht aufgeführt. Die Schlussfolgerung war offensichtlich. Eine uneheliche Geburt war ein Stigma, von dem sich nur wenige erholten. Er empfand Mitleid, als er den einsamen Eintrag las. Er stand in dem staubigen Seitenschiff, wo die Sonne in leuchtenden Streifen durch die Buntglasfenster fiel, und sah den Gemeindepfarrer auf sich zukommen. Vielleicht war es gar nicht überraschend, dass Katrina ihr Zuhause verlassen hatte und nach London gezogen war, wo man sie nicht kannte und wo sie keine Freunde hatte, um eine bessere Zukunft zu suchen und den Makel, ein uneheliches Kind zu sein, hinter sich zu lassen.

»Haben Sie es gefunden?«, fragte der Geistliche hilfsbereit.

»Ja, vielen Dank«, antwortete Monk. »Lebt Mrs. Harcus noch in der Gemeinde?«

Das sanfte, freundliche Gesicht von Reverend Rider wurde traurig. »Nein«, sagte er leise. »Sie ist vor etwa drei Monaten gestorben, die arme Frau.« Er seufzte. »Sie war eine so charmante Person, voller Leben, voller Hoffnung. Sah stets das Beste in allem. War nicht mehr dieselbe nach dem …« Er besann sich, bevor er fortfuhr. »Nachdem ihr Wohltäter gestorben war«, endete er.

War das ein Euphemismus für ihren Liebhaber, Katrinas Vater?

»War es danach schwer für sie?«, fragte Monk besorgt. Er trug um des Vikars willen Mitleid zur Schau, das er normalerweise auch empfunden hätte, aber im Augenblick konnte er die Energie, die es ihn gekostet hätte, nicht aufbringen.

»Ja … ja.« Rider schürzte die Lippen und nickte. »Allein zu sein bei schwindender Gesundheit und ohne Geld, ist immer hart. Die Menschen können sehr herzlos sein, Mr. Monk. Unsere eigenen Schwächen betrachten wir im Allgemeinen mit viel Nachsicht und die der anderen mit sehr wenig. Ich nehme an, weil wir wissen, wie heftig die Versuchungen sind, und alle inneren Gründe kennen, warum wir so leicht vom Weg abkommen. Bei anderen Menschen erkennt man nur das Äußere, und selbst das entspricht nicht immer der Wahrheit.«

Monk wusste sehr genau, was der Vikar meinte, genauer, als dieser sich vorstellen konnte. Auf diese Weise beurteilt zu werden war äußerst schmerzlich. Er spürte, wie sich über ihm die Drohung zusammenbraute, auf Unrecht reagieren zu müssen, das in einer Zeit begangen worden war, an die er sich nicht erinnerte, und das ihm vorkam, als hätte es ein Fremder begangen.

Aber er hatte keine Zeit, seinen eigenen Gefühlen nachzuhängen, wie sehr sie ihn auch bestürmten.

»Ja«, sagte er, um nicht schroff zu erscheinen. »Diese Engstirnigkeit ist den meisten Menschen gemein. Vielleicht wäre es heilsam, für kurze Zeit von anderen beurteilt zu werden, statt selbst zu urteilen.«

Rider lächelte. »Sehr weitsichtig von Ihnen, Mr. Monk.«

»Wissen Sie, wer ihr Wohltäter war? Vielleicht der Vater ihrer Tochter, die ich kannte und der ich bei einem gewissen Problem zu helfen versucht habe.«

»Kannte?«, fragte Rider schnell, der sich über die Vergangenheitsform wunderte.

»Sie ist tot.« Monk musste keine Trauer vorschützen. Und er empfand mehr als nur Schuld, dass er es nicht verhindert hatte; es war der Verlust eines Menschen voller Leidenschaft und einer Eindringlichkeit, an der er, auch wenn ihm das nicht bewusst war, Anteil genommen hatte.

Rider war überwältigt, eine große Erschöpfung überkam ihn. »O Gott … das tut mir Leid«, sagte er leise. »Sie war stets so voller Leben. Ein Unfall?«

»Nein.« Monk wagte es, die Wahrheit zu sagen. »Sie wurde umgebracht …« Er unterbrach sich, als er sah, wie schockiert Rider war.

»Es tut mir Leid«, meinte Monk. »Ich hätte es Ihnen schonender beibringen sollen. Ich bin besorgt, denn ich fürchte, sie haben den falschen Mann verhaftet, und die Zeit, die Wahrheit herauszufinden, ist knapp.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

Monk war sich nicht sicher, aber er stellte die offensichtliche Frage. »Wer war ihr Vater? Und wann ist sie hier weggegangen?«

»Vor etwa zwei Jahren«, antwortete Rider und runzelte vor Konzentration die Stirn.

»Und ihr Vater?«, hakte Monk nach.

Rider sah ihn betroffen an. »Ich wüsste nicht, was das mit ihrem Tod zu tun haben sollte. Das ist lange her. Alle Betroffenen sind tot – sogar die arme Katrina. Lassen Sie sie in Frieden ruhen, Mr. Monk.«

»Wenn sie tot sind«, wandte Monk ein, »kann man ihnen damit nicht mehr wehtun. Ich werde es niemandem sagen, außer wenn es notwendig ist, um das Leben eines Mannes zu retten, der sonst womöglich unschuldig gehängt wird.«

Rider seufzte, sein Gesicht vor Bedauern zerfurcht. »Es tut mir Leid, Mr. Monk, ich kann das Vertrauen nicht brechen, nicht einmal das der Toten. Sie wissen aus dem Taufregister bereits mehr, als ich Ihnen gesagt hätte. Abgesehen von meiner persönlichen Achtung, waren diese Menschen meine Gemeindemitglieder, und ihr Glaube war mir anvertraut. Wenn der junge Mann unschuldig ist, wird das Gesetz dies feststellen und um der armen Katrina willen den Schuldigen finden. Vielleicht auch um seinetwillen, obwohl es nicht an uns ist zu urteilen.« Er atmete tief durch. »Es tut mir aufrichtig Leid, zu hören, dass sie tot ist, Mr. Monk, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«

Monk drängte ihn nicht weiter, er sah in Riders freundlichem, traurigem Gesicht, dass er in seiner Überzeugung nicht wanken würde.

»Es tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Neuigkeiten gebracht habe«, sagte er leise. »Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben.«

Rider nickte. »Guten Tag, Mr. Monk, und möge Gott Sie bei Ihrer Suche leiten.«

Monk zögerte, wappnete sich und drehte sich noch einmal um.

»Mr. Rider, hatte Katrina eine Freundin namens Emma?« Sein Herz klopfte wild. Er sah die Antwort in Riders Miene, bevor dieser etwas sagte.

»Nicht dass ich wüsste. Es tut mir Leid. Meines Wissens waren da nur sie, ihre Mutter und ihre Tante, Eveline Austin. Doch die starb vor zehn oder zwölf Jahren. Aber ich werde ihren Tod natürlich nächsten Sonntag in der Kirche erwähnen, und es wird sich zweifellos herumsprechen.« Er lächelte traurig. »Das haben schlechte Nachrichten so an sich.«

Monk schluckte, sein Mund war trocken. Er spürte, dass alles Kostbare ihm wie Wasser zwischen den Fingern zerrann, und er konnte nichts tun, um es festzuhalten.

»Alles in Ordnung, Mr. Monk?«, fragte Rider besorgt. »Sie sehen ein wenig unwohl aus. Es tut mir Leid, dass ich so … so wenig helfen kann.«

»Nein!« Monk nahm sich zusammen. Es war eine Ausflucht, denn noch war er alles andere als frei. »Vielen Dank. Sie haben mir nur die Wahrheit gesagt. Vielen Dank für Ihre Zeit. Guten Tag.«

»Guten Tag, Mr. Monk.«