3
Bevor Hester am folgenden Morgen vom Coldbath Square nach Hause kam, empfing Monk in der Fitzroy Street eine neue Mandantin. Sie betrat den Raum mit der Anspannung und streng kontrollierten Nervosität, die fast alle seine Mandanten an den Tag legten. Er schätzte sie auf etwa dreiundzwanzig. Sie war nicht hübsch, obwohl ihr Betragen so voller Anmut und Vitalität war, dass es einen Augenblick dauerte, bis er es bemerkte. Sie trug einen dunklen Rock und eine passende, auf Taille geschnittene Jacke, deren Stoff sehr teuer sein musste, so perfekt, wie sie saß. Sie trug eine Tasche, die viel größer war als ein Ridikül.
»Mr. Monk?«, fragte sie. Eine reine Formalität. Sie strahlte eine Entschlossenheit aus, die deutlich machte, dass sie da war, weil sie wusste, wer er war. »Ich bin Katrina Harcus. Sie stellen private Ermittlungen an. Ist das richtig?«
»Guten Tag, Miss Harcus«, antwortete er und wies auf einen der beiden großen, bequemen Sessel links und rechts vom Kamin. Heute brannte ein Feuer. Es war Frühling, aber frühmorgens und abends war es immer noch frisch, insbesondere wenn man stillsaß oder bedrückt war. »Sie haben ganz Recht. Bitte, setzen Sie sich, und erzählen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.«
Sie dankte ihm. Die Tasche, die sie zu ihren Füßen abstellte, schien, der Form nach zu urteilen, Schriftstücke zu enthalten, was die Frau bereits als ungewöhnlich kennzeichnete. Die meisten Frauen kamen weniger aus geschäftlichen Gründen zu ihm denn aus persönlichen: verlorener Schmuck, ein Misstrauen erregender Hausangestellter, ein zukünftiger Schwiegersohn – oder eine Schwiegertochter –, über den oder die sie mehr zu erfahren wünschten, ohne sich jedoch zu verraten, indem sie sich bei deren Bekannten erkundigten.
Er setzte sich ihr gegenüber.
Sie räusperte sich, als müsste sie ihre Nervosität unterdrücken, und sprach dann mit tiefer, klarer Stimme. »Ich werde mich bald mit Mr. Michael Dalgarno verloben und habe die Absicht, ihn zu heiraten.« Bei der Nennung seines Namens musste sie unwillkürlich lächeln, und in ihren Augen war ein Strahlen, das ihre Gefühle deutlich verriet. Dennoch fuhr sie fort, ohne auf Monks Anerkennung oder Gratulation zu warten. »Er ist Teilhaber einer großen Gesellschaft, die Eisenbahnen baut.« Hier verhärteten sich ihre Züge, und Monk spürte wachsende Angst. Er war es gewöhnt, Menschen sorgfältig zu beobachten, die Neigung des Kopfes, die Hände, die verschränkt oder entspannt waren, die Schatten in einem Gesicht, alles, was ihm verriet, welche Gefühle die Menschen hinter ihren Worten verbargen.
Er unterbrach sie nicht.
Sie atmete tief ein und stieß die Luft leise aus. »Das ist sehr schwer, Mr. Monk. Ich muss vertraulich mit Ihnen sprechen, als wären Sie mein Rechtsbeistand.« Sie sah ihn fest an. Sie hatte sehr schöne Augen, eher goldbraun als dunkel.
»Ich kann ein Verbrechen nicht verschweigen, Miss Harcus, wenn ich Kenntnis davon habe«, warnte er sie. »Aber davon abgesehen ist alles, was Sie mir eröffnen, vertraulich.«
»Das hat man mir berichtet. Bitte verzeihen Sie mir, dass ich mich vergewissern musste, aber ich muss Ihnen Dinge erzählen, die mir, wenn sie weitergetragen würden, großes Ungemach bereiten würden.«
»Wenn es nicht darum geht, ein Verbrechen zu decken, wird das nicht geschehen.«
»Und wenn es dabei auch um ein Verbrechen geht?« Sie sprach fest und wandte den Blick nicht ab, aber ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.
»Wenn es um ein geplantes Verbrechen geht, muss ich es mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern suchen, und das heißt auch, die Polizei darüber zu informieren«, antwortete er. »Wenn es um eines geht, das bereits verübt wurde, dann muss ich ihr alles sagen, was ich erfahre, falls ich mir sicher bin, dass es der Wahrheit entspricht. Andernfalls würde ich mich zum Mittäter machen.« Seine Neugier war geweckt. Welche Art von Hilfe wollte diese ruhige junge Frau von ihm? Ihr Verhalten war ungewöhnlich, und es schien, als sei ihr Ersuchen noch ungewöhnlicher. Er würde sehr enttäuscht sein, wenn sich herausstellte, dass er diesen Fall nicht übernehmen konnte.
»Verstehe.« Sie nickte. »Ich fürchte ein Verbrechen, aber ich möchte, dass Sie es, wenn dies irgend möglich ist, verhindern. Wenn ich die Macht dazu hätte, würde ich es selbst tun. Meine größte Sorge ist jedoch, Michael – Mr. Dalgarno – zu beschützen. Ich mag mich natürlich irren, aber so oder so: Es darf nie ein Wort über meinen Verdacht an die Öffentlichkeit dringen.«
»Natürlich nicht«, stimmte er ihr zu. Die Erklärung, die sie offensichtlich so schmerzlich fand, hätte er ihr gerne erspart. »Wenn es nichts ist, wäre es peinlich, und wenn etwas dran ist, darf man die Betroffenen nicht warnen.« Er sah die Erleichterung in ihrer Miene, weil er so rasch begriff. »Erzählen Sie mir von Ihren Befürchtungen, Miss Harcus.«
Sie zögerte, vertraute sich ihm nur ungern vorbehaltlos an. Das war leicht zu verstehen, und er wartete schweigend.
»Das Folgende habe ich dem entnommen, was Mr. Dalgar-no mir im Verlaufe eines Gespräches erzählt hat«, fing sie an, die Augen unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, um seine Reaktion zu beobachten und einzuschätzen. »Informationen, die ich zufällig mit angehört habe … und Unterlagen, die ich mitgebracht habe, damit Sie sie sich anschauen und darüber nachdenken können. Ich -«, zum ersten Mal wandte sie den Blick ab, »- ich habe sie genommen … gestohlen, wenn Sie so wollen.«
Er bemühte sich, sein Erstaunen nicht zu zeigen. »Verstehe. Wo?«
Sie hob den Blick. »Aus Mr. Dalgarnos Wohnung. Ich mache mir Sorgen um ihn, Mr. Monk. Ich glaube, beim Bau der neuen Eisenbahngleise ist Betrug im Spiel, und ich fürchte sehr, dass er mit hineingezogen wird, obwohl ich mir sicher bin, dass er unschuldig ist … zumindest … zumindest bin ich mir fast sicher. Manchmal geben auch ehrliche Menschen der Versuchung nach, den falschen Weg einzuschlagen, wenn ihre Freunde in etwas Unrechtes verwickelt sind. Loyalität kann … unangebracht sein, besonders, wenn man viel Gutes in seinem Leben der Großzügigkeit und dem Vertrauen eines anderen verdankt.« Sie sah ihn aufmerksam an, als wollte sie herausfinden, wie viel er begriff.
Eine ferne Erinnerung quälte ihn bei dem Gedanken, aber er ließ es sich nicht anmerken. Er konnte ihr nicht sagen, wie gut er genau diese Art von Verpflichtung und auch den Schmerz des Scheiterns kannte.
»Ist es ein Betrug, von dem Mr. Dalgarno profitieren könnte?«, fragte er ruhig.
»Sicher. Er ist Juniorpartner der Gesellschaft, und wenn die Gesellschaft mehr Geld macht, profitiert auch er davon.« Sie beugte sich ein wenig vor, es war nur eine winzige Bewegung, aber der Ernst in ihrem Gesicht war eindringlich. »Ich würde alles geben, was ich habe, um seine Unschuld zu beweisen und ihn vor möglichen Anschuldigungen zu beschützen.«
»Was genau haben Sie gehört, Miss Harcus, und aus wessen Mund?« Die Erwähnung von Eisenbahnen rührte eine alte Erinnerung in ihm auf – Licht und Schatten, Unbehagen, das Wissen um Schmerzen vor dem Unfall. Er hatte sein Leben seither wieder aufgebaut, etwas Neues und Gutes geschaffen, indem er sich die Fakten über sich, die er ausgegraben hatte, und die Erinnerungsfetzen, die zurückgekehrt waren, angesehen und zusammengesetzt hatte. Aber das meiste war verloren wie ein Traum, irgendwo in seinem Kopf und doch unzugänglich. Gerade das machte es so beängstigend. Was er herausgefunden hatte, war nicht immer angenehm: ein vom Ehrgeiz getriebener Mann – rücksichtslos, klug, mutig, mehr gefürchtet als geliebt.
Sie beobachtete ihn mit ihren intensiven goldbraunen Augen. Aber ihr eigener Kummer verzehrte sie.
»Gespräche über einen großen Gewinn, der geheim gehalten werden muss«, antwortete sie. »Die neue Strecke soll sehr bald fertig sein. Sie arbeiten gerade am letzten Abschnitt, und dann kann sie eröffnet werden.«
Er versuchte, dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen, zu verstehen, warum sie daraus auf Unredlichkeit schloss. »Ist es nicht normal, bei einem solchen Unternehmen einen großen Gewinn zu machen?«
»Natürlich. Aber nicht einen, der geheim gehalten werden muss, und … und es gibt noch etwas, das ich Ihnen noch nicht gesagt habe.«
»Ja?«
Ihre Augen suchten sein Gesicht sorgfältig ab, als sei jede noch so winzige Regung für sie von Bedeutung. Dalgarno schien ihr so wichtig zu sein, dass ihre Sorge um seine Verstrickung alles andere übertraf. Schätzte Monk die Sache falsch ein, konnte dies zur Katastrophe führen.
Sie fasste einen Entschluss. »Wenn es Betrug gegeben hat und dieser mit dem Ankauf von Land zu tun hat, wäre das moralisch sehr verwerflich«, sagte sie. »Aber wenn es um den eigentlichen Bau der Gleise geht, wenn Hügel abgetragen oder Brücken und Viadukte gebaut werden müssen, und es wird etwas gemacht, das nicht rechtens ist, etwas, das mit der Konstruktion oder dem Material zu tun hat, das nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist, verstehen Sie nicht, Mr. Monk, dass die Folgen sehr viel ernster … sogar verheerend sein könnten?«
Eine Erinnerung regte sich in ihm, so kurz, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er es sich nicht eingebildet hatte, wie ein dunkler Schatten am Rand des Bewusstseins. »An was für Folgen denken Sie, Miss Harcus?«
Sie stieß einen Seufzer aus und schluckte. »Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, Mr. Monk, wäre, wenn ein Zug entgleisen würde. Das Zugunglück könnte Dutzende von Menschenleben kosten … sogar Hunderte …« Sie hielt inne. Der Gedanke war zu furchtbar, um ihn weiter auszuspinnen.
Zugunglück. Das Wort bewegte etwas in Monk. Wie ein blitzender, tückischer Dolch fuhr es durch seinen Kopf. Er hatte keine Ahnung, warum. Gut, ein Zugunglück war eine furchtbare Angelegenheit, aber war es schlimmer als ein Unglück auf See oder irgendeine andere von Menschen verursachte oder durch Naturgewalten ausgelöste Katastrophe?
»Verstehen Sie?« Ihre Stimme drang von sehr weit weg zu ihm.
»Ja!«, sagte er heftig. »Natürlich.« Er zwang sich dazu, sich wieder auf die Frau vor ihm und ihr Problem zu konzentrieren. »Sie fürchten, dass ein Betrug bei der Konstruktion der Eisenbahn, entweder beim Ankauf von Land oder Material, zu einem Unfall führen könnte, bei dem viele Menschen ihr Leben verlieren könnten. Sie halten es für möglich, dass Mr. Dalgar-no mit dafür verantwortlich gemacht wird, obwohl sie es für äußerst unwahrscheinlich halten, dass er moralisch gesehen schuldig ist. Sie möchten, dass ich die Wahrheit über die Sache herausfinde, bevor so etwas passiert, und es dadurch verhindere.«
»Es tut mir Leid«, sagte sie leise, ohne jedoch den Blick zu senken. »Ich hätte nicht daran zweifeln sollen, dass Sie mich verstanden haben. Das ist genau das, was ich möchte. Bitte sehen Sie sich diese Unterlagen an, die ich mitgebracht habe, bevor Sie noch etwas dazu sagen. Ich wage nicht, sie Ihnen zu überlassen, falls sie gebraucht werden, aber ich glaube, dass sie wichtig sind.« Sie griff nach der Tasche zu ihren Füßen, öffnete sie, nahm fünfzehn oder zwanzig Blätter heraus, beugte sich vor und reichte sie ihm.
Automatisch griff er danach. Das erste Blatt war zusammengefaltet, und er faltete es auseinander. Es war ein Messtischblatt eines recht großen Areals mit vielen Hügeln und Tälern. Deutlich eingezeichnet war eine Eisenbahnlinie. Er brauchte einen Augenblick, um die Namen zu erkennen. Es war eine Strecke in Derbyshire an der Linie von London nach Liverpool.
»Ist das die neue Strecke, die Mr. Dalgarnos Gesellschaft baut?«, fragte er.
Sie nickte. »Ja. Sie verläuft durch eine sehr schöne Landschaft, zwischen Bergbaugegenden und den großen Städten. Sie soll größtenteils sowohl für Güter-als auch für Personenzüge genutzt werden.«
Er verzichtete darauf, seine Bemerkung über den ziemlich normalen Profit zu wiederholen. Er hatte es einmal gesagt. Er sah sich das nächste Blatt an, eine Karte eines sehr viel kleineren und daher weit detaillierteren Ausschnitts desselben Gebietes. Hier waren die Gitternetzmarkierungen in den Ecken, der Maßstab am unteren Rand und jeder Anstieg und Abfall des Geländes eingetragen und an den meisten Stellen die Zusammensetzung des Bodens und des Felsens unter der Erdoberfläche benannt. Wie er so darauf starrte, kam ihm das Blatt merkwürdig vertraut vor, als hätte er es schon einmal gesehen. Und doch war er, soweit er wusste, nie in Derbyshire gewesen. Die Namen der Städte und Dörfer waren ihm unbekannt. Ein oder zwei höhere Berge wurden benannt, aber sie waren ihm gleichermaßen fremd.
Katrina Harcus wartete, ohne etwas zu sagen.
Er sah sich das nächste Blatt an und das übernächste. Es waren Kaufverträge für Land. So etwas hatte er schon oft gesehen, beim Bau einer Eisenbahn waren viele davon notwendig. Jedes Stück Land gehörte irgendjemandem. Wenn sie ihren Zweck erfüllen sollten, mussten Eisenbahnen in Städten Halt machen, und der Weg in eine Stadt hinein und wieder hinaus führte in der Regel durch bebautes Gebiet. Sich da durchzukaufen war mitunter eine lange und schwierige Angelegenheit.
Einige Enthusiasten glaubten, das Recht des Fortschritts habe Vorrang vor allem anderen. Alle Gebäude, die der Eisenbahn im Weg waren, sollten abgerissen werden, selbst alte Kirchen, historische Denkmäler, bedeutende Baukunstwerke und Wohnhäuser. Andere nahmen den entgegengesetzten Standpunkt ein und verabscheuten den Lärm und die Zerstörung mit einer Intensität, die vor Gewaltaktionen nicht Halt machte.
Er blätterte zu der ersten Karte zurück. Dann erkannte er, was seine Erinnerung wachgerüttelt hatte, nicht die Landschaft an sich, sondern die Tatsache, dass es ein Messtischblatt war. Solche Karten, auf denen der Verlauf einer geplanten Eisenbahnstrecke provisorisch eingezeichnet war, hatte er schon früher einmal gesehen. Es hatte mit Arrol Dundas zu tun, seinem Freund und Mentor, als er als junger Mann Northumberland verlassen hatte und in den Süden gegangen war, dem Mann, dem er genau die Loyalität schuldete, von der Katrina Harcus gesprochen hatte: Ehrenschuld. Monk war damals bei einer Bank angestellt gewesen, entschlossen, sein Glück im Finanzwesen zu machen. Dundas hatte ihm beigebracht, sich wie ein Gentleman zu kleiden und zu verhalten, seinen Charme, Gewandtheit und seine Rechenkünste so einzusetzen, dass er andere bei Geldanlagen beraten und gleichzeitig selbst Profit machen konnte.
Vieles hatte er von den bruchstückhaften Fakten aus anderen Fällen abgeleitet und nicht wirklich erinnert. Und stets verband er mit diesen plötzlichen Bildern Hilflosigkeit und Schmerz. Er hatte ganz schrecklich versagt. Als er jetzt die Karte betrachtete, hüllte der Kummer ihn wieder ein. Arrol Dun-das war tot. Monk wusste das. Dundas war im Gefängnis gestorben, in Ungnade gefallen für etwas, das er nicht getan hatte. Monk war dort gewesen und hatte ihn nicht retten können. Er hatte die Wahrheit gekannt und immer wieder versucht, andere davon zu überzeugen, doch das war ihm nicht gelungen.
Aber er wusste weder genau, wo, noch wann. Irgendwo in England, bevor er Polizist geworden war. Es war seine Unfähigkeit, Gerechtigkeit zu erwirken, die ihn dazu getrieben hatte, ein Teil des Rechtssystems zu werden. Mehr hatte er nicht erfahren, vielleicht, weil er es nicht gewollt hatte. Es gehörte zu dem Mann, der er einst gewesen war und den er heute kaum noch bewundern konnte. Seine Jugend gehörte zu dem harten, ehrgeizigen Mann, den nach Erfolg verlangt hatte, der die Schwachen verachtet und die Verletzlichen nur zu oft nicht beachtet hatte. Nichts von dem, was er jetzt tat, würde Dundas helfen oder seine Unschuld wiederherstellen. Er hatte damals versagt, als er alles gewusst hatte. Was konnte er jetzt erreichen?
Nichts! Es war nur so, dass das Messtischblatt mit der eingezeichneten Eisenbahnroute und die Grunderwerbsverträge eine Vergangenheit heraufbeschworen hatten, über die er nichts wusste; fast als sei er aus einem Traum aufgewacht, um in die Wirklichkeit einzutreten. Als sei alles vorher nur Einbildung gewesen.
Dann war es wieder verschwunden, und er saß in der Gegenwart in seinem Haus in der Fitzroy Street, hielt einen Stapel Papiere in der Hand und sah eine verstörte junge Frau an, die wollte, dass er der Welt – und vielleicht vor allem ihr – bewies, dass der Mann, den sie heiraten würde, keinen Betrug begangen hatte.
»Kann ich mir hiervon ein paar Notizen machen, Miss Harcus?«, fragte er.
»Selbstverständlich«, sagte sie schnell. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen erlauben, sie zu behalten, aber sie würden sicher vermisst.«
»Natürlich.« Er bewunderte ihren Mut, dass sie sie überhaupt an sich genommen hatte. Er stand auf, holte Feder und Papier von seinem Schreibtisch, brachte auch das Tintenfass mit und setzte sich an einen kleinen Tisch neben seinem Sessel. Er machte rasch Notizen von der ersten Karte, dann von der zweiten, notierte die Gitternetzmarkierungen, die Namen der größeren Städte und grob den Verlauf der Route.
Den anderen Unterlagen entnahm er Umfang, Preise und Namen der Vorbesitzer der erworbenen Ländereien. Dann sah er sich die übrigen Unterlagen an. Es gab Kaufverträge für enorm viel Material, einschließlich Holz, Stahl und Dynamit, für Werkzeuge, Waggons, Pferde, Lebensmittel, Futter und endlose Lohnanteile für die Streckenarbeiter, die das Land durchschnitten, Brücken und Viadukte bauten, die Schienen verlegten – aber auch für Stallknechte, Hufschmiede, Stellmacher, Zimmerleute, Landvermesser und Dutzende anderer Handwerker.
Es war ein riesiges Unterfangen, das ein Vermögen kostete. Aber beim Bau von Eisenbahnen war es seit jeher darum gegangen, zu spekulieren und Kapital aufs Spiel zu setzen, zu gewinnen oder alles zu verlieren. Deshalb waren Männer wie Arrol Dundas so fasziniert davon, und umgekehrt erforderte es auch deren ganzes Geschick und Risikobereitschaft.
Arrol Dundas früher, Dalgarno jetzt, und wer weiß vor wie vielen Jahre auch Monk.
Er ermahnte sich, die Papiere sorgfältig durchzulesen. Notizen reichten nicht. Sollte es tatsächlich einen Betrug gegeben haben, dann war er nicht so offen, dass jeder zufällige Beobachter ihn entdecken konnte. Sonst hätte Katrina Harcus ihn entdeckt und aller Wahrscheinlichkeit nach auch durchschaut. Es sei denn, sie hatte ihn durchschaut, brachte es aber nicht über sich, Dalgarno damit zu konfrontieren, und wollte, dass Monk ihn aufhielt, bevor er so tief in der Sache drinsteckte, dass es kein Zurück mehr gab.
Er las die Rechnungen und Quittungen sorgfältig durch. Die Ausgaben kamen ihm angemessen vor. Zwei waren von Michael Dalgarno unterzeichnet, die anderen von einem Jarvis Baltimore. Die Zahlen waren korrekt addiert, und es gab nichts, was nicht belegt war. Sicher waren einige der gekauften Grundstücke teuer gewesen, aber das war der Abschnitt, wo zuvor Häuser gestanden hatten, Arbeiterunterkünfte, Pachtfarmen. Die gezahlte Summe schien nicht höher zu sein, als das Land wert war.
Er schaute sich die letzten beiden Aufstellungen über die Löhne der Streckenarbeiter an. Sie waren das, was ein hart arbeitender, qualifizierter Mann erwarten konnte. Er überflog die Liste. Steinmetze bekamen vierundzwanzig Shilling pro Woche. Maurer bekamen das Gleiche, ebenso Zimmerleute und Hufschmiede. Die mit den Spitzhacken arbeitenden Bergarbeiter bekamen neunzehn Shilling, die Schaufler siebzehn. Die letzten beiden Posten wirkten ein wenig hoch. Er blickte auf die Unterschrift am unteren Ende – Michael Dalgarno. War das schon Betrug – ein oder zwei Shilling über dem Preis für Bergarbeiter?
Er betrachtete das letzte Blatt. Die Bergarbeiter bekamen vierundzwanzig Schilling, die Schaufler zweiundzwanzigeinhalb. Die Unterschrift war … er spürte, wie das Blut in seinem Schädel pochte. Er blinzelte, aber er sah immer noch dasselbe. Es war direkt vor seiner Nase – William Monk!
Er hörte, dass Katrina Harcus etwas sagte, aber es war kaum mehr als ein Rauschen in seinen Ohren.
Das ergab keinen Sinn. Sein Name auf der Aufstellung! Und seine Handschrift! Er konnte es nicht abstreiten. Er hatte die Vergangenheit bis zum Jahr 1856 verloren, konnte sich aber seither genauso gut wie jeder andere an alles erinnern. Welches Datum? Wann war das? Er konnte nachweisen, dass er nichts damit zu tun hatte.
Das Datum! Da war es, am oberen Rand, direkt unter dem Namen der Gesellschaft. Baltimore und Söhne, 27. August 1846. Vor siebzehn Jahren. Warum lag dieser Beleg bei den aktuellen? Er sah Katrina Harcus an. Sie beobachtete ihn mit glänzenden Augen.
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte sie atemlos.
Sollte er es ihr sagen? Bei dem Gedanken zog sich alles in ihm zusammen. Bis er die Sache begriffen hatte, musste er seine Ängste unbedingt für sich behalten. Ihr ging es nur um Dalgarno. Rein zufällig hatte jemand ein Blatt Papier gegriffen, und so war ein alter Beleg zwischen die laufenden Unterlagen geraten. Es war Zufall, dass es sich um dieselbe Gesellschaft handelte. Und warum auch nicht? Es gab nicht so sehr viele große Fabrikanten und Bauunternehmer in dieser Branche. Und es ging um dieselbe Gegend, den Nordwesten von London. Kein allzu großer Zufall.
»Noch nicht.« Sein Mund war trocken, das Sprechen bereitete ihm Mühe. »Die Zahlen scheinen zu stimmen, aber ich sollte mir alle Fakten notieren und ihnen nachgehen. Das, was Sie hier haben, deutet jedoch nicht auf Unregelmäßigkeiten hin.«
»Ich habe gehört, dass sie von einem gewaltigen Gewinn gesprochen haben, weit höher als normal«, sagte sie ängstlich und mit gerunzelter Stirn. »Wenn es offen in den Unterlagen wäre« – sie zeigte auf die Papiere –, »hätte ich es selbst finden können. Aber ich bin zutiefst besorgt, Mr. Monk, zunächst um Michael, seinen Ruf und seine Ehre, ja sogar um seine Freiheit. Männer können wegen Betrugs ins Gefängnis gesteckt werden …«
Monk fror innerlich. Als wüsste ausgerechnet er das nicht! Als wäre es erst Tage, ja, erst wenige Stunden her, sah er Dun-das mit bleichem Gesicht vor sich auf der Anklagebank, als er verurteilt wurde. Er erinnerte sich noch gut an ihren letzten Abschied. Und er wusste noch genau, wo er gewesen war, als Mrs. Dundas ihm vom Tod ihres Mannes erzählt hatte. Er hatte sie besucht. Sie saß im Speisezimmer. Er sah die Sonne hell und kalt durch die Fenster auf die Vitrinen scheinen, sodass die Porzellanhunde darin kaum zu sehen waren. Der Tee war kalt geworden. Sie hatte ganz allein dort gesessen, und die Zeit war verstrichen, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen.
»Ja, ich weiß«, sagte er kurz angebunden. »Ich werde die Landkäufe und die Qualität des Materials sehr sorgfältig unter die Lupe nehmen und überprüfen, ob die Arbeiten tatsächlich so ausgeführt wurden wie hier angegeben. Wenn es etwas gibt, das zu einem Zugunglück führen könnte, werde ich es finden, das verspreche ich Ihnen, Miss Harcus.« Das war voreilig, und in dem Augenblick, in dem er es aussprach, wusste er das, aber der Zwang in ihm war größer als das leise warnende Flüstern in seinem Kopf.
Sie entspannte sich, und zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, zeigte sie ein Lächeln, so strahlend und lebhaft, dass das Gesicht beinahe schön war. Sie erhob sich.
»Vielen Dank, Mr. Monk. Was Sie da sagen, könnte mich nicht glücklicher machen. Ich bin überzeugt, dass Sie alle meine Hoffnungen erfüllen werden. Sie sind in der Tat genau der Mann, den ich mir vorgestellt hatte.«
Sie wartete auf die Unterlagen. Konnte er das Blatt mit seiner eigenen Unterschrift behalten? Nein. Sie beobachtete ihn. Es war unmöglich.
Sie nahm die Papiere und steckte sie wieder in ihre Tasche, dann holte sie sorgfältig fünf Sovereigns aus ihrer Geldbörse und hielt sie ihm hin. »Wird dies als Honorarvorschuss für Ihre Bemühungen genügen?«
Seine Lippen waren trocken. »Sicher. Wo kann ich Sie erreichen, um Ihnen zu berichten, was ich herausgefunden habe?«
Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Ich muss mit äußerster Diskretion vorgehen. Wie Sie sicher verstehen werden, dürfen weder Mr. Dalgarno noch die Familie Baltimore von meinem Anliegen erfahren.«
»Selbstverständlich.«
»Ich weiß nicht, wem ich trauen kann oder wer von meinen Freunden nicht wüsste, zu wem er halten sollte, wenn er von meinen Befürchtungen erführe. Daher finde ich es nur vernünftig, niemandem diese Last aufzubürden. Ich werde von übermorgen an jeden Nachmittag gegen zwei Uhr im Regent's Park sein.« Sie lächelte leicht. »Das macht mir nichts aus. Ich hatte immer schon ein Faible für Pflanzen, und meine Anwesenheit dort wird kein Befremden auslösen. Vielen Dank, Mr. Monk. Guten Tag.«
»Guten Tag, Miss Harcus. Ich komme, sobald ich etwas herausgefunden habe.«
Nachdem sie weg war, saß er eine Weile da und las ein ums andere Mal seine Notizen durch. Abgesehen von der Order, die seine Unterschrift trug, gaben die Papiere ein stimmiges Bild ab. Es war genau das, was er erwartet hätte. Offensichtlich war es nur eine Auswahl aus dem gesamten Material, das sich über viele Jahre hinweg angesammelt hatte. Aber wer war so unverfroren, Belege zu verändern oder zu fälschen, sodass man bei Prüfung der Unterlagen Unstimmigkeiten entdecken würde? Die Unstimmigkeiten lagen doch sicher eher zwischen dem, was in den Unterlagen stand, und der Wirklichkeit. Dafür würde er nach Derbyshire fahren und die Eisenbahnlinie in Augenschein nehmen müssen.
Sehr viel wahrscheinlicher war, dass der Betrug beim Land-kauf passiert war. Wenn er in Derbyshire die entsprechenden Büros aufsuchte, wo sich die Originale der Messtischblätter befanden, konnte er die Besitzverhältnisse, den Geldtransfer und alles andere Relevante leicht in Erfahrung bringen.
Als Hester, erschöpft und verängstigt von den Ereignissen der Nacht, kurz vor elf nach Hause kam, war er erleichtert, sie zu sehen. Sie war später dran als gewöhnlich, und er hatte sich schon Sorgen gemacht. Er bemühte sich, alles, was mit Eisenbahnen zu tun hatte, aus seinen Gedanken zu verbannen, sogar die Tatsache, dass eines der Dokumente seine Unterschrift getragen hatte. Sie war die ganze Nacht auf gewesen und wollte offensichtlich mit ihm über etwas so Dringendes sprechen, dass sie kaum wartete, bis sie sich gesetzt hatte.
»Nein, danke«, antwortete sie, als er ihr Tee anbot. »William, was in Coldbath vorgeht, ist ganz und gar abscheulich.« Sie erzählte ihm von den jungen Frauen, denen man Geld geliehen hatte und von denen man verlangt hatte, es mit horrenden Zinssätzen zurückzuzahlen, indem sie sich für die speziellen Bedürfnisse von Männern, die Frauen aus guten Familien wollten, prostituierten. »Sie ergötzen sich daran, sie zu erniedrigen. Bei einem gewöhnlichen Straßenmädchen kriegen sie das niemals«, sagte sie wütend. »Wie können wir dagegen angehen?« Sie schaute ihn an, Zorn flammte in ihren Augen, und ihre Wangen waren erhitzt.
»Ich weiß nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß und hatte dabei ein schlechtes Gewissen. »Hester, seit Menschengedenken werden Frauen auf diese Weise ausgebeutet. Ich weiß nicht, was man, außer ab und zu in einzelnen Fällen, dagegen tun könnte.«
Eine Niederlage würde sie nicht einstecken. Steif und kerzengerade saß sie auf der Kante ihres Sessels. »Es muss doch etwas geben!«
»Nein … nicht unbedingt«, verbesserte er sie. »Nicht auf dieser Seite von Gottes Gerechtigkeit. Aber wenn du etwas finden kannst, helfe ich dir, so gut ich kann. In der Zwischenzeit habe ich einen neuen Fall, der möglicherweise mit Betrug beim Bau der Eisenbahn zu tun hat …« Er sah die Ungeduld in ihrem Blick. »Nein, es geht nicht nur um Geld!«, sagte er schnell. »Wenn eine Eisenbahnstrecke auf Land gebaut wird, das auf betrügerische Weise erworben wurde, oder wenn in die eigene Tasche gewirtschaftet wird, ist das gesetzeswidrig und unmoralisch, aber was ist, wenn auf Land gebaut wird, das falsch vermessen wurde, das sich unter dem Gewicht eines Kohlezuges senkt? Oder wenn die Brücken oder Viadukte mit billigem oder unzulänglichem Material gebaut wurden? Dann besteht die Gefahr, dass es zu einem Unfall kommt. Hast du mal darüber nachgedacht, wie viele Tote und Verletzte es bei einem Eisenbahnunglück gibt? Wie viele Menschen passen in einen Passagierzug?«
Ihre Ungeduld verflüchtigte sich. Sie atmete langsam seufzend aus. »Es könnte Landbetrug sein; davon verstehe ich nichts. Aber die Streckenarbeiter kennen sich mit den Baumaterialien aus. Sie würden niemals mit etwas bauen, was nicht gut genug ist, und sie würden keinesfalls etwas Unzulängliches bauen.« Sie sagte dies mit vollkommener Sicherheit, nicht, als wäre es eine Möglichkeit, sondern eine Tatsache.
»Woher, um alles in der Welt, willst du das wissen?«, fragte er sie, nicht herablassend, sondern so, als hätte sie darauf eine Antwort. Sie war müde und hatte zu viel Schmerz gesehen, und er wollte ihr nicht noch mehr wehtun.
»Ich kenne Streckenarbeiter«, erwiderte sie und unterdrückte ein Gähnen.
»Was?« Er hatte sich sicher verhört. »Woher kennst du denn Streckenarbeiter?«
»Von der Krim«, sagte sie und schob sich das Haar aus der Stirn. »Als wir im Winter 54/55 bei der Belagerung von Sewastopol neun Meilen vor dem Hafen von Balaklava festsaßen und die einzige Straße so ausgewaschen war, dass man nicht mal mit einem Karren durchkam. Die Soldaten froren sich zu Tode oder starben an der Cholera.« Sie schüttelte ein wenig den Kopf, als schmerzte die Erinnerung heute noch. »Wir hatten nichts zu essen, keine Kleider, keine Medikamente. Aus England haben sie Hunderte von Streckenarbeitern geschickt, um eine Eisenbahnlinie zu bauen. Mitten im russischen Winter arbeiteten sie ohne Hilfe und fluchten und bekämpften einander, und im März war sie fertig. Doppelte Gleisführung, sogar mit Nebenstrecken. Und sie war perfekt.« Sie sah ihn mit einem Funkeln aus Stolz und Trotz an, als wären es ihre eigenen Männer gewesen. Vielleicht hatte sie auch welche gepflegt, wenn sie einen Unfall erlitten oder Fieber gehabt hatten.
Er versuchte sich vorzustellen, wie Arbeitstrupps mitten im tiefen Schnee eine Trasse durch die Berge legten, Tausende Meilen von zu Hause weg, um die Armee zu befreien, für die es sonst keinen Ausweg gab. Er wagte nicht, an die Soldaten zu denken oder an die Inkompetenz, die zu einer solchen Situation geführt hatte.
»Darüber hast du noch nie gesprochen«, sagte er.
»Ich hatte keinen Anlass«, antwortete sie und unterdrückte erneut ein Gähnen. »Es waren alles unbezahlte Kräfte, aber ich glaube nicht, dass die Verhältnisse hier anders sind. Aber sieh's dir an. Prüf nach, ob es jemals einen Unfall gegeben hat, der durch schlechten Aushub oder mangelhafte Bauweise der Trasse verursacht wurde. Schau, ob du einen Tunnel findest, der eingebrochen, oder ein Viadukt, das eingestürzt ist, oder Schienen, die auf schlechtem Untergrund oder mit dem falschen Gefälle verlegt wurden, oder was die Streckenarbeiter sonst noch gemacht haben.«
»Das werde ich«, meinte er. »Und jetzt geh zu Bett. Du hast getan, was du konntest.« Er legte seine Hand auf ihre. »Denk nicht an den Wucherer und die Frauen. Gewalt wird es immer geben. Du kannst sie nicht aufhalten; alles, was du tun kannst, ist, den Opfern zu helfen.«
»Das klingt ziemlich jämmerlich!«, sagte sie wütend.
»Wie bei der Polizei«, sagte er mit einem halben Lächeln. »Wir haben nie ein Verbrechen verhindert, immer nur hinterher die Täter gefangen.«
»Du hast sie vor Gericht gebracht!«, wandte sie ein.
»Manchmal, nicht immer. Tu das, was in deiner Macht steht. Blockiere dich nicht selbst, indem du über das verzweifelst, was du nicht erreichen kannst.«
Sie lenkte ein, gab ihm noch rasch einen zärtlichen Kuss und taumelte dann ins Schlafzimmer.
Monk verließ das Haus und fuhr in die Stadt, um nach den Informationen zu forschen, die ihm helfen würden, Katrina Harcus' Fragen zu beantworten. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber das Bild seiner eigenen Unterschrift auf dem Dokument von Baltimore und Söhne von vor siebzehn Jahren nagte wie ein dumpfer Zahnschmerz an ihm. Es fiel ihm nicht im Traum ein zu leugnen, dass es seine Unterschrift war. Er hatte sie zweifelsfrei wiedererkannt, die vertraute kühne Handschrift, energischer als heute, die zu dem Mann gehörte, der er einst gewesen war, noch bevor er einen genaueren Blick auf sich selbst geworfen und sich gefragt hatte, wie andere ihn wahrnahmen.
Er ging zu dem Leiter einer Handelsbank, zu dessen Freude er ein kleines Familiengeheimnis gelöst hatte.
»Baltimore und Söhne?« John Wedgewood hatte Mühe, seine Neugier zu verbergen. Sie saßen in seinem eichengetäfelten Büro. Auf dem Beistelltisch stand eine kristallene Karaffe, aber Monk lehnte den Whiskey ab. »Hoch geachtete Gesellschaft. Finanziell solide«, fuhr Wedgewood fort. »Eine große Tragödie, besonders für die Familie. Ich nehme an, die Familie hat Sie beauftragt zu ermitteln? Traut der Polizei nicht.« Er schürzte die Lippen. »Sehr klug. Aber Sie müssen sich sehr beeilen, wenn Sie einem Skandal zuvorkommen möchten.«
Monk hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. Es stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn bevor er noch die Zeit hatte, über eine Antwort nachzudenken, ging Wedgewood ein Licht auf.
»Nolan Baltimore wurde in einem Londoner Bordell tot aufgefunden«, sagte Wedgewood und zog vor Abscheu, vielleicht sogar vor Mitleid, die Augenbrauen hoch. »Ich bitte um Verzeihung. Mein Schluss, man habe Sie gebeten, die Wahrheit herauszufinden, und zwar schneller als die Polizei, und diese dann um Diskretion anzuhalten, war wohl verfrüht.«
»Nein«, antwortete Monk und wunderte sich einen Augenblick, warum er in den Schlagzeilen nichts darüber gelesen hatte, doch er wusste die Antwort, bevor er die Frage ausgesprochen hatte. Das war bestimmt der Mord gewesen, von dem Hester gesprochen hatte und der dazu geführt hatte, dass die Polizei in der Gegend um die Farringdon Street herumschwirrte, um eine aller Wahrscheinlichkeit nach hoffnungslose Suche durchzuführen. Die Presse würde den Grund für diese Aktivitäten zweifellos bald herausgefunden haben. Sie mussten nur einen der Bewohner fragen, dem das Ganze lästig genug war, und dann würde man die ganze Geschichte früher oder später ans Tageslicht zerren und gehörig aufbauschen.
»Nein«, wiederholte er. »Ich interessiere mich für den Ruf der Gesellschaft, nicht für Mr. Baltimore persönlich. Wie gut ist ihre Arbeit? Wie fähig und rechtschaffen sind ihre Leute?«
Wedgewood runzelte die Stirn. »In welcher Hinsicht?«
»In jeder.«
»Fragen Sie im Interesse eines möglichen Investors?«
»Sozusagen.« Es lag einigermaßen nah an der Wahrheit. Katrina Harcus investierte ihr Leben und ihre Zukunft in Michael Dalgarno.
»Finanziell gesund«, sagte Wedgewood, ohne zu zögern. »Das war nicht immer so. Hatten vor fünfzehn oder sechzehn Jahren eine Krise, haben sie aber überstanden. Weiß nicht genau, um was es dabei eigentlich ging, aber damals ging's vielen Leuten schlecht. War die große Zeit der Expansion. Leute sind Risiken eingegangen.«
»Und ihr handwerkliches Können?«, fragte Monk.
Wedgewood sah ein wenig überrascht aus. »Sie haben wie alle anderen auch Wanderarbeiter eingesetzt. Streckenarbeiter, Bergleute, Steinmetze, Maurer, Zimmerleute und Hufschmiede – und so weiter. Dann sind da noch Maschinisten und Schlosser, Vorarbeiter, Zeitnehmer, Vorsteher, Zeichner und Ingenieure.« Er zuckte leicht die Achseln und sah Monk verwirrt an.
»Aber die sind alle kompetent, sonst würden sie sich nicht halten. Dafür sorgen die Männer selbst. Ihr Leben hängt davon ab, dass jeder das tut, was er tun soll, und zwar richtig. Die besten Arbeiter der Welt, und die Welt weiß das! Britische Streckenarbeiter haben überall in Europa, Amerika, Afrika und Russland Eisenbahnen gebaut und werden zweifellos auch nach Indien, China und Südamerika gehen. Warum auch nicht? Überall werden Eisenbahnen gebraucht. Jeder braucht sie.«
Monk wappnete sich für die Frage, die er fürchtete. »Was ist mit Unfällen?«
»Gott allein weiß, wie viele Männer beim Bau umkommen.« Wedgewood schürzte die Lippen, Ärger und Trauer in den Augen. »Aber ich habe nie von einem Unfall gehört, der auf schlechte Bauweise zurückzuführen war.«
»Unzulängliche Materialien?«, fragte Monk.
Wedgewood schüttelte den Kopf. »Sie kennen ihre Materialien, Mr. Monk. Kein Streckenarbeiter würde den falschen Stein oder das falsche Holz benutzen. Sie wissen, was sie tun. Müssen sie ja auch. Wenn Sie eine Mauer nicht ordentlich abstützen oder untaugliches Holz dafür benutzen, bricht das Ganze über Ihnen zusammen. Schließlich kenne ich mich in der Branche aus, und ich habe nie von Streckenarbeitern gehört, die sich geirrt haben.«
»Aber es hat Unfälle gegeben!«, beharrte Monk. »Einstürze, Tote!«
Wedgewood machte große Augen. »Natürlich hat es die gegeben, Gott steh uns bei. Schreckliche Unfälle. Aber sie hatten nichts mit der Trasse zu tun.«
»Womit dann?« Monk merkte, dass er die Luft anhielt, nicht wegen Katrina Harcus, sondern um seiner selbst willen. Arrol Dundas und seine eigene Schuld an dem, was vor siebzehn Jahren geschehen war, kamen ihm in den Sinn.
»Alles Mögliche.« Wedgewood sah ihn neugierig an. »Fehler des Fahrers, überladene Waggons, schlechte Bremsen, falsche Signale.« Er beugte sich ein wenig vor. »Hinter was sind Sie her, Mr. Monk? Wenn jemand in Baltimore und Söhne investieren will, muss er sich nur in der Finanzwelt erkundigen. Dafür braucht man keinen privaten Ermittler. Jeder Bankangestellte könnte Auskunft geben.«
»Mein Mandant hat keine Nerven«, räumte Monk ein. »Wie ist es mit ungeeignetem Untergrund?«
»Nichts dergleichen«, antwortete Wedgewood sofort. »Gute Streckenarbeiter können überall bauen. Im Sand. Sogar im Sumpf – es kostet einfach nur mehr. Sie müssen Pontons legen oder Pfähle einrammen, bis sie auf Grundgestein stoßen. Sicher, dass es nicht um etwas Persönliches geht?«
Monk lächelte. »Ja, ganz sicher. Mein Mandant ist weder die Familie Baltimore, noch ist er mit ihr verwandt. Ich habe kein Interesse an Nolan Baltimores Tod, außer, er hätte etwas mit der Rechtschaffenheit oder der Sicherheit seiner Eisenbahnen zu tun.«
»Das bezweifle ich«, sagte Wedgewood bedauernd. »Nur ein sehr bedauerlicher Mangel an persönlichem Urteilsvermögen.«
Monk dankte ihm und verließ ihn, um die andere Idee zu verfolgen, die immer drängender an ihm nagte. Vielleicht würde niemand einen Betrug riskieren, hinter den ein scharfäugiger Streckenarbeiter leicht kommen konnte. Der Profit, den er dabei machen konnte, war nur gering. Weit einfacher, weniger gefährlich und sicher auch weitaus profitabler war ein Betrug beim Ankauf von Land für die Eisenbahnstrecke.
Hester erzählte er nichts. Es war ihm zu nahe, zu real, um einen anderen damit zu belasten, obwohl er sich nicht einmal klar und deutlich daran erinnern konnte. Da war nur diese namenlose Angst irgendwo im Hintergrund.
Am folgenden Tag stellte er sich ganz gezielte Fragen. Wer entschied, wo eine Eisenbahntrasse verlief? Welche Vorschriften gab es für den Erwerb von Land? Wer vermaß es? Wer kaufte es? Woher kam das Geld?
Erst als er all diese Fragen beantwortet hatte, die ihn alle zu der Eisenbahngesellschaft zurückführten, kam ihm der Gedanke, was denn eigentlich mit denjenigen Menschen geschah, die einst in den Häusern gewohnt hatten, die abgerissen wurden, um Platz für den Fortschritt zu machen, oder mit denjenigen, die das Land bebaut hatten, das jetzt zerteilt oder unterhöhlt wurde?
Die Antworten überraschten ihn nicht, als wären sie ihm von früher her so selbstverständlich wie jetzt dem adrett gekleideten Schreiber, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß und bei der Frage etwas perplex dreinschaute.
»Sie ziehen woandershin, Sir. Dort können sie doch nicht bleiben!«
»Sind sie denn alle damit einverstanden?«
»Nein, Sir, nicht stillschweigend«, meinte der Schreiber. »Und bei einem großen Anwesen – von Adligen und dergleichen – muss die Eisenbahnstrecke schon mal außen herumgeführt werden. Notgedrungen. Wer im Parlament oder so die Macht hat, kann dafür sorgen, dass man seinen Besitz nicht antastet. Manche von denen wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, dass ihr Jagdrevier geteilt wird.«
»Jagd? Etwa auf Moorhühner und Fasane?«, fragte Monk leicht überrascht. Er hatte eher an landwirtschaftlich genutzte Flächen gedacht.
»Füchse«, korrigierte ihn der Schreiber. »Sie reiten gerne hinter ihnen her und können ihre Pferde einfach nicht dazu bringen, über die Schienen zu springen wie über Hecken.« Das Glitzern in seinen Augen verriet eine gewisse Befriedigung darüber, aber er ging nicht weiter darauf ein. So wie es aussah, hatte er vor langer Zeit gelernt, keine persönliche Meinung zu haben oder sie zumindest nicht kundzutun.
»Verstehe.«
»Waren Sie im Ausland, Sir?«
»Warum?«
»Hab mich nur gefragt, wieso Sie das alles nicht wissen. War 'ne Menge Wirbel darum in den Zeitungen, vor 'ner Weile schon. Proteste und so. Teufelswerk … die Eisenbahn. Wenn der Herr gewollt hätte, dass wir so reisen und in einer solchen Geschwindigkeit, hätte er uns stählerne Haut und Räder an den Füßen gegeben.«
»Und wenn er nicht gewollt hätte, dass wir nachdenken, hätte er uns keinen Verstand gegeben«, erwiderte Monk sofort, und als er die Worte aussprach, war ihm, als hörte er ihr Echo, als hätte er sie schon einmal gesagt.
»Erklären Sie das mal den Pfarrern, deren Kirchen abgerissen und verlegt werden!« Das Gesicht des Schreibers drückte beredt seinen gewaltigen Respekt aus und eine Belustigung, die er mit aller Kraft zu verbergen suchte.
»Abgerissen und verlegt?« Monk wiederholte die Worte, als könnte er seinen Ohren nicht trauen, und doch wusste er im Grunde, dass es stimmte. Wieder hatte ihn eine Erinnerung gestreift: ein hageres, wutverzerrtes Gesicht über einem Kollar. Dann war es verschwunden. »Ja, selbstverständlich«, sagte er schnell. Er wollte nicht, dass der Mann ihm noch mehr darüber erzählte. Das Erinnerte war unangenehm und schuldbeladen.
»Natürlich protestieren sie.« Der Schreiber zuckte die Achseln. »Haufenweise. Reden von Mammon und dem Teufel, vom Ruin des Landes und so weiter.« Er kratzte sich am Kopf. »Muss zugeben, dass ich auch nicht allzu freundlich reagieren würde, wenn man die Grabsteine meiner Eltern rausreißen und sie dann unter den Gleisen des Siebzehn-Uhr-vierzig-Zuges von Paddington oder so liegen lassen würde. Ich würde wohl auch mit einem Schild in der Hand da draußen stehen und den Profitmachern mit dem Höllenfeuer drohen.«
»Hat irgendjemand jemals mehr getan, als zu drohen?« Monk musste danach fragen. Wenn nicht, würde die Frage stets in ihm rumoren und alles überschatten, bis er die Antwort gefunden hatte. »Hat jemand mal eine Strecke sabotiert?«
Der Schreiber zog ruckartig die Augenbrauen hoch. »Sie meinen, einen Zug in die Luft gesprengt? Großer Gott! Ich hoffe nicht!« Er biss sich auf die Lippen. »Wenn ich so darüber nachdenke – es gab ein paar schlimme Unfälle, bei einem oder zweien weiß bis heute niemand so genau, wie sie eigentlich passiert sind. Normalerweise gibt man dem Lokführer oder dem Bremser die Schuld. Vor etwa sechzehn Jahren gab es einen ganz bösen Unfall auf der Strecke nach Liverpool rauf, das war so eine, wo die Kirche versetzt werden musste und der Vikar darüber zutiefst betrübt war.« Er starrte Monk mit wachsendem Entsetzen an. »Schrecklich. Ich habe damals noch zu Hause gewohnt, und ich erinnere mich, wie mein Vater, weiß wie eine Wand, in die Stube kam, und zwar ohne die Zeitung. Es war Sonntagmittag; wir waren in der Kirche gewesen und hatten noch keinen Blick in die Morgenzeitungen geworfen.
›Wo ist die Zeitung, George?‹, fragte meine Mutter.
›Gibt heute keine Zeitung, Lizzie‹, antwortete er.
›Auch nicht für dich, Robert‹, sagte er zu mir. ›Auf der Strecke rauf nach Liverpool hat es einen schrecklichen Unfall gegeben. Fast hundert Menschen sind umgekommen, und Gott weiß, wie viele Verletzte es gab. Ich erzähl's euch, weil ihr es sowieso auf der Straße hören werdet, aber seht euch bloß keine Zeitung an. Da stehen Sachen drin, die ihr gar nicht wissen wollt. Und Bilder, die ihr nicht sehen wollt.‹ Er wollte meine Mutter schonen.«
»Aber Sie haben sie trotzdem angeschaut?«, fragte Monk, obwohl er die Antwort bereits wusste.
»Natürlich!« Bei der Erinnerung wurde der Schreiber ganz blass. »Ich wünschte, ich hätt's nicht getan. Was mein Vater wegen meiner Mutter nicht erwähnt hatte, war, dass ein Kohlenzug einen Sonderzug mit einer Gruppe Kinder auf einem Ferienausflug erwischt hatte. Sie kamen gerade von einem Tag am Meer zurück, die armen kleinen Würmer.« Wie um sie zu vertreiben, die qualvollen Schreckensbilder von zerquetschten Körpern in zertrümmerten Waggons und von Rettern, die voller Angst vor dem, was sie vorfinden würden, in verzweifelter Eile zu ihnen vorzudringen versuchten, blinzelte er.
War es das, was verschüttet am Rand von Monks Bewusstsein lauerte wie eine Pestbeule, die darauf wartete, geöffnet zu werden? Was für ein Mensch war er, dass er von einer solchen Sache gewusst – ja, sogar daran teilgehabt – und sie doch vergessen hatte? Und wenn er nicht daran beteiligt gewesen war, warum war seine Trauer dann nicht so unschuldig wie die des Mannes?
Was hatte er damals getan? Wer war er gewesen vor dieser Nacht vor fast sieben Jahren, als er in einem einzigen Augenblick ausgelöscht und neu erschaffen worden war, geistig rein gewaschen, körperlich aber immer noch derselbe Mensch, immer noch verantwortlich?
Gab es auf der Welt irgendetwas Wichtigeres, als dies zu erfahren? Oder irgendetwas Schrecklicheres?
»Was hat den Unfall verursacht?« Er hörte seine eigene Stimme wie von weit weg, ein Fremder, der in der Stille sprach.
»Weiß nicht«, sagte der Schreiber leise. »Hat man nie rausgefunden. Haben, wie schon gesagt, dem Zugführer und dem Bremser die Schuld gegeben. War ja leicht. Die waren schließlich tot und konnten sich nicht mehr wehren. Kann sein, dass sie's waren, wer weiß.«
»Wer hatte die Strecke gebaut?«
»Weiß ich nicht, Sir, aber sie war perfekt. Wurde seither ständig befahren, und es ist nie wieder was passiert.«
»Wo war das genau?«
»Weiß nicht mehr, Sir. War natürlich auch nicht der einzige Eisenbahnunfall. Hab mich nur daran erinnert, weil er der schlimmste war – wegen der Kinder.«
»Irgendetwas hat ihn ausgelöst«, beharrte Monk. »Züge stoßen nicht einfach so zusammen.« Er wünschte sich sehnlichst, man würde ihm sagen, es sei ganz sicher menschliches Versagen gewesen und habe nichts mit der Planung oder dem Bau der Strecke zu tun gehabt, aber ohne Beweise konnte er das nicht glauben. Arrol Dundas war vor Gericht gestellt und ins Gefängnis geworfen worden. Die Geschworenen waren überzeugt gewesen, dass er einen Betrug begangen hatte. Warum? Welchen Betrug? Monk wusste nichts darüber. Hatte er damals etwas gewusst? Hätte er Dundas retten können, wenn er bereit gewesen wäre, seine Beteiligung einzugestehen? Das war die Angst, die von allen Seiten auf ihn zukroch wie die herannahende Nacht und ihm all seine neu gewonnene Wärme und Freude zu rauben drohte.
»Weiß nicht«, beharrte der Schreiber. »Das wusste niemand, Sir. Oder wenn doch, dann hat niemand darüber gesprochen.«
»Nein … natürlich nicht. Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Monk. »Wo kann ich etwas über Grunderwerb und die Vermessungsarbeiten für die Eisenbahn herausfinden?«
»Am besten gehen Sie in die dem betreffenden Streckenabschnitt am nächsten liegende Kreisstadt«, antwortete der Schreiber. »Wenn's Ihnen um die alte Strecke geht, sollten Sie am besten in Liverpool anfangen.«
»Für Derbyshire ist das wohl Derby, nicht wahr?« Das war eigentlich keine Frage. Er hatte sich die Antwort selbst gegeben. »Vielen Dank.«
»Bitte, jederzeit. Hoffentlich nützt's Ihnen was«, sagte der Schreiber zuvorkommend.
»Doch, ja, danke.« Als Monk das Büro verließ, war er ein wenig benommen. Liverpool war wichtig, aber wenn er herausfand, welche Landverkäufe mit der jetzigen Baltimore-Linie zu tun hatten, wäre er zumindest mit den Abläufen vertraut. Liverpool hatte sechzehn Jahre gewartet, und er musste Katrina Harcus berichten. Wenn Betrug auf irgendeine Weise zu dem ersten Unfall geführt hatte, war er mehr als jeder andere moralisch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht wieder vorkam. Er konnte nicht nach Liverpool fahren und die Geister seiner Erinnerung jagen und zulassen, dass der ganze Albtraum sich wiederholte, weil er zu beschäftigt war, um sich darum zu kümmern.
Er ging zurück in die Fitzroy Street, um saubere Kleider und genug Geld zu holen und Hester zu sagen, wohin er fuhr und warum. Dann nahm er einen Hansom zur Euston Station und von dort den nächsten Zug nach Derby.
Die Reise kostete neunzehn Shilling und drei Pence und dauerte mit einmal Umsteigen in Rugby fast vier Stunden. Der Wagen der zweiten Klasse war in drei Abteile aufgeteilt, die weniger als anderthalb Meter lang und mit je zwölf nackten, niedrigen Sitzen ausgestattet waren. Die Abteile waren nicht verbunden, und die Trennwände waren mit Werbeplakaten beklebt. Das Ganze war so niedrig, dass Monk sich bücken musste, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Die erste Klasse war höher, aber sie war auch teurer und nicht unbedingt besser geheizt oder sauberer – obwohl die Jalousiefenster zumindest die fliegenden Händler hindern würden, auf den Bahnhöfen den Kopf hereinzustecken und den Fahrgästen ihren Gin-Atem ins Gesicht zu blasen!
Es war ein kühler Tag, an dem sich Sonne und Regen abwechselten, was für Ende März ganz normal war, aber wie zu erwarten war der Zug unbeheizt. Die mit heißem Wasser gefüllten metallenen Fußwärmer waren so oder so der ersten Klasse vorbehalten. Dennoch war der Zug weit besser als die so genannten »Parlamentszüge«, die gemäß Lord Palmerstons Gesetz Durchschnittsbürgern das Eisenbahnfahren zum Preis von einem Penny pro Meile ermöglichten.
Monk war froh, als er in Rugby aussteigen und sich die Beine vertreten, auf die Toilette gehen und von einem Händler auf dem Bahnsteig ein Sandwich kaufen konnte.
Um auf der nächsten Etappe etwas zu lesen zu haben, kaufte er auch eine Zeitung. Da er zu Anfang des Bürgerkriegs, der dort getobt hatte, in Amerika gewesen war, interessierte er sich für einen Artikel über das Vorrücken der Unionstruppen unter einem Generalmajor Samuel R. Curtis, der in Missouri einen Feldzug begonnen hatte. Den letzten Kriegsberichten zufolge hatten sich die in der Minderheit befindlichen Konföderierten in den Nordwesten von Arkansas zurückgezogen.
Er erinnerte sich mit Entsetzen an das Blutbad, dessen Zeuge er in der Schlacht im vergangenen Sommer geworden war, an das schiere Grauen, das ihn erfasst hatte, und an Hesters Tapferkeit bei der Versorgung der Verwundeten. Nie war seine Bewunderung für sie größer gewesen. Zum ersten Mal sah er die zerfetzten Körper, die sie zu retten versuchte. Er betrachtete alles, was er je zuvor über sie gedacht und für sie empfunden hatte, von nun an mit anderen Augen – ihren Zorn, ihre Ungeduld – und hatte größtes Verständnis, wenn sie manchmal barsch reagierte.
Während er durch das Abteilfenster die friedliche Landschaft betrachtete, spürte er Dankbarkeit in sich aufwallen und den Willen, sie zu schützen und sie vor Gewalt oder Gleichgültigkeit zu bewahren.
Als der Zug in den Bahnhof von Derby einfuhr, war er hocherfreut. Nun konnte er mit seinen Nachforschungen beginnen.
Er verbrachte den ganzen Tag im Stadtarchiv, wo er sich alle Landverkäufe entlang der ganzen Trasse von einer Grenze der Grafschaft bis zur anderen anschaute, bis ihm die Buchstaben vor den schmerzenden Augen verschwammen. Aber er fand nichts Ungesetzliches. Sicher wurden Gewinne eingestrichen, Vorteile gezogen aus der Unwissenheit des anderen und Hunderte von Familien ihres Zuhauses beraubt – obwohl es auch einige Bemühungen gab, neue Häuser für sie zu finden –, und eine immense Summe Geld war von einer Hand in die andere gewandert.
Monk versuchte, sein altes Rechentalent wieder zu aktivieren, das er als Bankangestellter gehabt haben musste, um genau zu verstehen, was passiert war und wohin die Gewinne geflossen waren. Er brütete über den Seiten, aber wenn es Gesetzesübertretungen gegeben hatte, waren sie zu schlau versteckt, als dass er sie finden konnte. Vielleicht hätte er sie vor sechzehn oder siebzehn Jahren erkannt, aber wenn er diese Fähigkeiten damals gehabt hatte, dann hatte er sie zwischenzeitlich verloren.
Eisenbahn bedeutete Fortschritt. In einem Land wie England mit seinen Minen, Mastbetrieben, Werften, Baumwollspinnereien und Fabriken mussten Kanäle zwangsläufig von der schnelleren, flexibleren Eisenbahn abgelöst werden. Mit ihr konnte man den Weg abkürzen, durch Berge hindurchfahren oder oben drüber, von einem Tal zum anderen, ohne dass man Zeit und Geld verlor, weil Schleusenkammern gefüllt und geleert und Wassermassen ständig hin und her bewegt werden mussten. Die Zerstörungen auf der Strecke waren nur ein Teil dieses Prozesses, den keine Macht verhindern konnte. Den Bau neuer Kanäle hätten die Bewohner von Dörfern wie von Städten, Bauern, Landadel und Pfarrer nicht weniger verflucht.
Er sah Artikel mit Zeichnungen von Protestierern, die Spruchbänder hochhielten, Zeitungskarikaturen, welche die dröhnenden, Dampf ausstoßenden Eisenmaschinen als Teufelswerk bezeichneten, wo sie doch eigentlich nur das Ergebnis von Zeit und Arbeit waren. Und Korruption lag in der Natur des Menschen.
Er saß da und durchforschte alle Dokumente, die er sich vorgenommen hatte, bis ihm der Kopf brummte und seine Schultern schmerzten. Es gab Gewinne und Verluste, aber in diesem Geschäft war das nun mal Schicksal. Es gab dumme Entscheidungen, daneben solche, die er mit der Weisheit einiger halb erinnerter Erfahrungen als Fehlentscheidungen hätte vorhersehen können. Und natürlich gab es auch einfach Pech – aber auch Glück. Fehleinschätzungen, kaum der Rede wert, hier mal eine Entfernung, dort mal eine falsche Vermessung, kamen auch vor.
Während er über den Seiten grübelte, wurde ihm die Arbeit zunehmend vertrauter. Das Rad der Zeit schien stillzustehen, und er hätte von dem Lampenschein auf den Papieren aufschauen können und statt des leeren Gasthauszimmers oder des einsamen Tisches im Archiv oder in der Bibliothek genauso gut Dundas erblicken können, der ihn anlächelte.
In der zweiten Nacht wachte er im Dunkeln auf, lag angespannt im Bett, verwirrt über die Stille und ohne eine Ahnung zu haben, wo er war. In seinem Kopf erklangen noch wütende und anklagende Schreie, erschienen ihm noch die Menschen, die einander anrempelten, und deren weiße, vor Kummer verzerrte Gesichter.
Er war außer Atem, als wäre er gelaufen. Ohne es zu merken, hatte er sich im Bett aufgesetzt. Er war wie gelähmt. Wovon hatte er geträumt? Er wollte entkommen, laufen und laufen und es für immer hinter sich lassen!
Doch es würde ihm folgen. Das sagte ihm sein Verstand. Wenn man vor seinen Ängsten floh, verfolgten sie einen. Das wusste er von dem Kutschenunfall, der ihn seiner Vergangenheit beraubt hatte, und den darauf folgenden Albträumen.
Er war nicht bereit, sich umzudrehen und in diese anklagenden Gesichter der Menschen zu schauen. Er fühlte sich wie wund, als hätte man ihn körperlich berührt, so real waren sie gewesen. Aber es gab kein Entrinnen, denn sie waren in ihm, Teil seines Bewusstseins, seiner Identität.
Sehr langsam legte er sich wieder hin, sank auf die Laken, die jetzt kalt waren. Er zitterte. Die Angst war noch da, ein namenloser Schrecken, der, selbst als er den Mut aufbrachte oder einfach nicht anders konnte, als ihn anzuschauen, keine Form annahm. Er konnte sich an die Wut erinnern, den Verlust, aber die Gesichter selbst waren verschwunden. Was glaubten sie, was er getan hatte? Ihnen ihr Land genommen? Einen Hof geteilt, einen Besitz ruiniert, Häuser zerstört, sogar einen Friedhof geschändet? Es war doch nichts Persönliches, er hatte es im Auftrag der Eisenbahn getan!
Aber für diejenigen, die verloren hatten, war es sehr persönlich. Was war persönlicher als das eigene Zuhause? Oder das Land, das Eltern und Großeltern seit Generationen bebaut hatten? Oder die Erde, in der die Toten der Familie begraben lagen?
Ging es darum? Um den blinden, verängstigten Widerstand gegen Veränderung? Dann war er nur insofern schuldig, als er das Werkzeug des Fortschritts war. Warum schmerzte sein Körper, und warum hatte er Angst, wieder einzuschlafen? Wegen der Dämonen, die zurückkehren würden, wenn er keinen Wächter hatte, sie abzuhalten?
Ging es gar nicht um Land, sondern um die unendlich viel schlimmere Sache, an die er überhaupt nicht zu denken wagte – den Unfall?
Er hatte nichts entdeckt, außer dass Baltimore und Söhne dort, wo die Schienen um den Hügel herumgeführt wurden, wohl zu viel Gewinn gemacht hatte. Laut einer anderen, älteren Vermessung war der Hügel mindestens fünfzehn Meter kleiner. Mit einer geschickten Mischung aus Gefälle und Einschnitten wäre nicht mal ein Tunnel notwendig gewesen. Aber die Sprengungen wären trotzdem teuer gewesen. Granit war fest, und ihn fortzuschaffen war kostspielig. War der Gewinn hoch genug, um es einen Betrug zu nennen? Nur wenn er vorherige Kenntnis und Absicht nachweisen konnte. Und selbst das war zweifelhaft.