3
Die Lamberts ließen sich auf keinerlei Vermittlungsversuche ein. Killian Melville wurde wegen Gelöbnisbruchs verklagt, und der Fall kam schon sehr bald zur Verhandlung. Das Ganze ging natürlich nicht ohne Klatsch und Tratsch und Spekulationen ab. Ein solches Ereignis hatte es in der Gesellschaft schon lange nicht mehr gegeben, und es war in aller Munde.
Oliver Rathbone hatte sein Wort gegeben, Melville zu verteidigen, und obwohl er nach wie vor keine weiteren Informationen hatte, die er hätte nutzen können, saß er mit gelassener Miene und einem ruhigen Lächeln im Gerichtssaal. Der Gegner, mit dem er es aufnehmen musste, hieß Wystan Sacheverall; er war für Miss Zillah Lambert tätig, wurde aber natürlich von deren Eltern bezahlt und bekam von ihnen seine Anweisungen.
Die Geschworenen waren bereits ausgewählt worden:
Allesamt Männer, denen ihr Amt diesmal noch größere Verlegenheit bereitete als gewöhnlich und die - was selbst dem oberflächlichsten Beobachter ins Auge fallen musste - wünschten, sie wären nicht in eine so private Angelegenheit hineingezogen worden. Rathbone musterte sie und fragte sich, wie viele von ihnen wohl eigene Töchter haben mochten. Ungefähr die Hälfte dieser Männer waren in einem Alter, in dem sie sich durchaus über die Eheschließungen ihrer Kinder Gedanken machen konnten. Waren ihre eigenen Ehen glücklich? Hatten sie innerhalb ihrer Familie Erfahrungen gemacht, die sie auch anderen wünschen würden? So vieles hing von Dingen ab, über die Rathbone nichts wusste. Für ihn würden sie wohlhabende Männer bleiben, die sich im Hinblick auf Alter, Aussehen und Charakter unterschieden und die nur zwei Dinge gemeinsam hatten: den guten Ruf und die finanziellen Mittel, um zum Geschworenen berufen zu werden.
Der Richter war ein relativ kleiner Mann mit sanften Gesichtszügen und bemerkenswert ruhigen, freimütigen blauen Augen. Er sprach sehr leise, sodass man genau zuhören musste, um ihm zu folgen.
Als erster Zeuge wurde Barton Lambert aufgerufen. Ihm waren Wut und Kummer anzumerken, als er durch den Gang nach vorne schritt und im Zeugenstand Platz nahm. Seine Wangen waren gerötet, und sein Körper wirkte steif.
Neben Rathbone biss Killian Melville sich auf die Lippen und starrte auf den Tisch hinunter. Während der ganzen Zeit ihrer Vorbereitung auf die Verhandlung hatte er einen durch und durch unglücklichen Eindruck gemacht, aber ganz gleich, was Rathbone sagte, welche Argumente er vorbrachte, welche Prognose er bezüglich des Ergebnisses machte, Killian hatte sich geweigert, von seinem Entschluss zu kämpfen abzurücken.
Sacheverall trat vor. Er war ein unauffälliger Mann mit ziemlich großen Ohren, strahlte aber eine Zuversicht aus, die ihm eine gewisse Würde verlieh, und er war relativ groß und hatte breite Schultern. Sein blondes Haar hätte dringend eines neuen Schnitts bedurft und kräuselte sich bereits auf seinem Kragen. Seine Stimme war angenehm - und er wusste es.
Barton Lambert legte den Eid ab, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Sacheverall lächelte ihn an. »Wir alle sind uns der Tatsache bewusst, dass dies eine bedrückende Erfahrung für Sie ist, Mr. Lambert, und dass Sie dies nur tun, um den guten Namen Ihrer Tochter zu verteidigen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass hinter Ihrem Vorgehen keinerlei Feindseligkeit liegt, ebenso wenig wie der Wunsch, irgendjemandem Schwierigkeiten oder Schmerz zu bereiten…«
Der Richter beugte sich vor. »Mr. Sacheverall, es ist nicht nötig, den Fall hier darzulegen. Sie brauchen ihn lediglich zu beweisen, wenn Sie so freundlich sein wollen«, sagte er sanft.
»Wenn Sie uns mit den Tatsachen vertraut machen, werden wir unsere eigene n Schlüsse ziehen. Wir gehen davon aus, dass alle Parteien ehrenwert sind, bis das Gegenteil erwiesen ist. Bitte, legen Sie jetzt Ihre Beweise vor.«
Sacheverall schien bestürzt zu sein. Offensichtlich kannte er Richter McKeever noch nicht.
Rathbone hatte wenigstens von ihm gehört. Er verbarg sein Lächeln.
»Mylord«, erklärte Sacheverall nun, »Mr. Lambert, wenn Sie dem Gericht bitte schildern würden, wie Sie Killian Melville kennen gelernt haben und unter welchen Umständen er mit Ihrer Tochter, Miss Zillah La mbert, bekannt gemacht wurde, deretwegen Sie diese Anklage vorbringen.«
»Selbstverständlich«, sagte Lambert barsch. Er räusperte sich, hüstelte dann und hob seine große Hand an den Mund. »Ich hatte ein wenig Kapital übrig, das ich ausgeben wollte. Ich wollte mit dem, was ich verdient hatte, ein wenig Schönheit schaffen.« Er sah Sacheverall Zustimmung heischend an und fuhr fort, nachdem dieser genickt hatte. »Ich dachte an ein Haus… an etwas wirklich Schönes… etwas anderes… Neues. Man hat mir damals verschiedene Architekten empfohlen.« Er rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. »Ich habe mir alle ihre Pläne angesehen. Der junge Melville war einer dieser Architekten. Seine Entwürfe haben mir mit Abstand am besten gefallen. Die anderen waren durchaus angemessen… Aber doch sehr prosaisch, verglichen mit seinen.« Er holte tief Atem, als wolle er seine Lungen bis zum Letzten füllen. »Ich habe ihn holen lassen. Er hat mir von Anfang an gut gefallen. Bescheiden, aber trotzdem selbstsicher. Hat mir direkt in die Augen gesehen.« Er hüstelte abermals. »Er wollte den Auftrag, das konnte ich sehen, aber er würde deshalb nicht katzbuckeln. Seine Entwürfe waren gut, und er wusste es.«
»Sie haben ihm den Auftrag gegeben, Pläne für Ihr neues Haus zu entwerfen?«, schlussfolgerte Sacheverall.
»Jawohl, Sir, das habe ich. Und als es fertig war, haben alle meine Bekannten und viele Fremde es bewundert. Es steht auf dem Abercorn Place in Maida Vale.« Der Stolz, der bei diesen Worten in Lamberts Stimme mitschwang, war unüberhörbar. Wie auch immer seine Gefühle für Melville gegenwärtig aussehen mochten, die Arbeit des jungen Mannes betrachtete er nach wie vor mit großem Wohlwollen. »Sie haben es vielleicht gesehen…«, fügte er hoffnungsvoll hinzu.
»Das habe ich in der Tat«, pflichtete Sacheverall ihm bei. »Es ist sehr schön. War das der Zeitpunkt, zu dem Sie auch gesellschaftlich mit Mr. Melville verkehrten und ihn in Ihr Haus einluden?«
»So ist es. Nicht sofort, Sie verstehen«, erklärte er, »aber als das Gebäude sich der Fertigstellung näherte. Er musste natürlich von Zeit zu Zeit bei mir vorsprechen, um sich mit mir zu beraten. Er war sehr gewissenhaft. Hat nichts dem Zufall überlassen.«
»Kein unvorsichtiger Mann?«, bemerkte Sacheverall.
Rathbone wusste, was sein Gegner vorhatte, aber er konnte ihn nicht aufhalten. Er betrachtete die Gesichter der Geschworenen. Es waren alle wohlhabende Männer, sonst säßen sie nicht auf ihren Plätzen. Sie würden Lamberts Gefühle verstehen und sich mit ihm identifizieren, selbst wenn ihre eigenen Häuser bedeutend kleiner waren.
»Ganz und gar nicht«, sagte Lambert mit Nachdruck. »Ich hätte doch keinen unvorsichtigen Mann eingestellt. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, Sir, wenn ich die beruflichen Fähigkeiten eines Mannes nicht richtig einschätze n könnte.« Er holte noch einmal tief Luft, als ringe er um Fassung. »Und ich dachte bisher immer, ich könnte auch den persönlichen Charakter eines Mannes einschätzen. Ich hätte geschworen, dass Melville so ehrenhaft ist wie nur irgendein anderer aus meinem Bekanntenkreis. Aber jetzt sieht es so aus, als wäre ich doch nicht so klug, wie ich dachte, nicht wahr?«
»Ich fürchte, so ist es, Sir«, erklärte Sacheverall. »Haben Sie Melville mit Ihrer Familie und vor allem mit Ihrer Tochter, Miss Zillah Lambert, bekannt gemacht?«
»Ja.«
»Verzeihen Sie mir diese Frage, Sir, die natürlich zutiefst taktlos klingen muss, aber haben Sie Mr. Melville als einen gesellschaftlich akzeptablen Mann, einen passenden Gefährten für Ihre Tochter, einen Freund vorgestellt - oder als einen Angestellten, einen Mann vom minderem Rang?«
»Nein, natürlich nicht!« Barton Lambert war gekränkt. Wenn man ihm etwas nicht vorwerfen konnte, dann Arroganz. Niemand beeindruckte ihn auf Grund seiner Geburt oder seines Rangs, außer Ihrer Majestät der Königin, denn er war zutiefst patriotisch, und sie war das Oberhaupt seines Landes. »Killian Melville musste sich seines Standes nicht schämen, und deshalb habe ich ihn in diesem Sinne vorgestellt«, sagte er scharf.
»Meine Tochter wurde dazu erzogen, einen Mann zu achten, der sich seinen Wohlstand selbst erarbeitet und die Welt dadurch bereichert.« In diesen Worten schwang eine Herausforderung mit, und er drehte sich auf seinem Stuhl in Richtung der Geschworenen, um Blickkontakt aufzunehmen, während er sprach. Wenn er schon vor den Herren der Gesellschaft die Schmach seiner Familie enthüllen musste, würde er das erhobenen Hauptes tun und dafür sorgen, dass niemand seine Prinzipien missverstand.
Gegen seinen Willen hatte der Mann Rathbone bereits für sich eingenommen.
»Ganz recht«, nickte Sacheverall und deutete dabei mit dem Kopf kaum merklich in Richtung der Geschworenen. »Sie haben ihn als Gleichen unter Gleichen in Ihr Haus eingeführt und mit Ihrer Familie bekannt gemacht. Sie haben ihm uneingeschränkte Gastfreundschaft gewährt.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Dann kam er zur Sache. »Und in der Folgezeit hat er sich mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter angefreundet?«
»Das hat er.«
»Er kam regelmäßig zu Besuch und fühlte sich in Ihrer Gesellschaft wohl…« Sacheverall sah kurz zu Rathbone hinüber. »Oder sollte ich sagen, er schien sich wohl zu fühlen«, korrigierte er sich.
»Ja, Sir.«
»Sie haben eine Zuneigung zu ihm gefasst?«
»Ich konnte ihn schon immer gut leiden«, räumte Lambert ein. In der ganzen Zeit im Zeugenstand hatte er Melville kein einziges Mal angesehen. Rathbone war sich dessen zutiefst bewusst, und er war überzeugt, dass dasselbe für Melville galt.
»Haben Sie ihn auch zu gesellschaftlichen Anlässen außerhalb Ihres Hauses mitgenommen?«
»Von Zeit zu Zeit. Er war nicht der Mann, der ständig auswärts speisen und höfliche Konversation machen wollte, und ich glaube auch nicht, dass er getanzt hat.«
Rathbone stand auf. »Mylord, niemand bestreitet, dass Mr. Lambert und seine Familie Mr. Melville gegenüber großzügig und freundlich gewesen sind und ihm größte Gastfreundschaft erwiesen haben oder dass Mr. Melville seinerseits Ihnen dafür dankbar war und Ihnen die größte persönliche Wertschätzung entgegenbrachte. Das einzig Wesentliche ist die Frage, ob er sich im Stande fühlt, Miss Lambert zu heiraten, ob er es jemals gewünscht und ob er sich mit einer solchen Übereinkunft jemals einverstanden erklärt hat. Mr. Melville erklärt, dass Miss Lambert das Wesen seiner Wertschätzung für sie missverstanden habe und dass Mrs. Lambert etwas unterstellt hat, das nicht den Tatsachen entsprach. Es ist sogar vorstellbar, dass Miss Lambert das wusste, sich aber außer Stande fühlte, sich aus einer Situation zu befreien, die äußerst peinlich geworden war.«
Richter McKeever lächelte. »Alle möglichen Dinge sind vorstellbar, Sir Oliver. Wir wollen uns auf das beschränken, was sich beweisen lässt. Wie auch immer, Mr. Sacheverall, ich stimme mit Sir Oliver darin überein, dass niemand die Tatsache bestreitet, dass sich zwischen Mr. Melville und Mr. Lamberts Familie, insbesondere seiner Tochter, eine herzliche Freundschaft entwickelt hat. Solche Freundschaften münden nicht immer in eine Ehe. Bitte, fahren Sie fort.«
Sacheverall verneigte sich, legte aber, als er sich wieder Lambert zuwandte, vielleicht eine Spur weniger Zuversicht an den Tag, wenn man Rückschlüsse aus seiner Haltung ziehen durfte.
»Hat Mr. Melville Ihre Tochter im Verlauf Ihrer Freundschaft gelegentlich zu gewissen gesellschaftlichen Anlässen begleitet, hat er ihr Gesellschaft geleistet? Ist er vielleicht mit ihr spazieren gegangen, hat er ihr von seinen Leistungen erzählt, von seinen Abenteuern, seinen Zukunftsplänen? Haben die beiden Gedanken über Kunst, Literatur und Musik ausgetauscht? Hat er ihr Gedichte vorgelesen, ihr die Entwürfe seiner Arbeit gezeigt, mit ihr über Scherze und amüsante kleine Episoden gelacht? Hat er ihr, ganz allgemein gesprochen, den Hof gemacht, Mr. Lambert?«
Rathbone warf einen Seitenblick auf Melville, aber dieser starrte weiter nur geradeaus.
»Das alles hat er getan, Sir, wie Sie sehr wohl wissen«, antwortete Lambert grimmig. Sacheveralls Worte mussten Erinnerungen in ihm geweckt haben, denn plötzlich war sein Widerstreben wie ausgelöscht, und er war offensichtlich sowohl verletzt als auch wü tend. Jetzt mied er Melvilles Blick nicht länger, sondern sah ihn direkt und herausfordernd an, und seine ganze Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Rathbone sackte innerlich in sich zusammen. Gegen diese Art von Aufrichtigkeit gab es keine Verteidigung. Wäre er ein Geschworener gewesen, hätte er nur einen einzigen Weg gesehen. Killian war schuldig, und es war fast unmöglich, sich eine gute Meinung von dem Mann zu bilden. Niemand konnte ein Mädchen umwerben, wie Lambert es beschrieben hatte, und dann erwarten, dass es sein Verhalten nicht als Liebeserklärung ansehen würde. Nicht einmal eine Närrin könnte das missverstehen.
Wieder sah er Melville von der Seite an. Er hatte seinen blonden Kopf gesenkt, und seine Wangen waren deutlich gerötet. In seine n Augen stand Verzweiflung, als säße er in der Falle.
Rathbone war sich nicht sicher, ob er ihm Leid tat oder ob er einen solchen Zorn verspürte, dass er ihm für diese Verantwortungslosigkeit am liebsten eine Ohrfeige versetzt hätte.
»Es hat Sie also nicht im Mindesten überrascht, als eine Verlobung folgte, quasi als natürliche Fortsetzung der Ereignisse?«, schlussfolgerte Sacheverall.
»Natürlich nicht!«, antwortete Lambert. »Niemand war überrascht! Es war so natürlich, wie die Nacht dem Tag folgt.«
»Ganz recht.« Sacheverall lächelte traurig. Er schürzte die Lippen und sah mit einem Stirnrunzeln zu Lambert auf. »Es wurden Vorkehrungen für die Hochzeit getroffen?«
»Ja. Eine Ankündigung in der Times. Die ganze Gesellschaft wusste Bescheid.« Er sprach das Wort ›Gesellschaft ‹ mit einer Schärfe aus, die seinen Schmerz verriet und vielleicht auch ein gewisses Maß an Abneigung, als wisse er nur allzu gut um das Getuschel und die Scherze auf Kosten seiner Familie.
»Natürlich«, murmelte Sacheverall. »Und was geschah dann, Mr. Lambert?«
Lambert drückte die Schultern durch. »Melville löste die Verlobung«, sagte er leise. »Ohne Grund. Ohne Vorwarnung.
Hat einfach die Verlobung gelöst.«
»Es war Killian Melville, nicht Ihre Tochter?«, betonte Sacheverall, dessen Verärgerung deutlich aus seiner Stimme herauszuhören war.
Rathbone sah Melville an, und dieser beugte sich vor, hob eine Hand an die Lippen und biss sich auf die Nägel.
»So ist es.« Lamberts Gesicht verriet seine Anspannung. Er wurde öffentlich gedemütigt. Er vermied es, irgendjemanden anzusehen. Wieder ging Rathbone durch den Kopf, wie viel besser es doch für alle gewesen wäre, wenn Zillah Lambert sich bereit erklärt hätte, das Verlöbnis zu lösen, ganz gleich, ob sie das nun wollte oder nicht. Anscheinend hatte sie einfach nicht geglaubt, Melville könnte es ernst gemeint haben mit dem, was er sagte.
Obwohl Rathbone natürlich nur Melvilles Wort dafür hatte, dass er tatsächlich versucht hatte, ihr diesen Vorschlag zu machen. Vielleicht hatte ihn zu guter Letzt doch der Mut verlassen.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was Mr. Melvilles außergewöhnliches Verhalten ausgelöst haben konnte, Sir?«, fragte Sacheverall. Er hatte seine Augenbrauen hochgezogen, und seine ganze Haltung drückte Unverständnis aus.
»Nein, ich habe nicht die leistete Ahnung«, erwiderte Lambert kopfschüttelnd. »Ich kann es einfach nicht begreifen. Es ergibt keinen Sinn.«
»Für mich auch nicht«, pflichtete Sacheverall im bei. »Es sei denn, es gäbe da Dinge, die wir über Mr. Killian Melville nicht wissen…«
Rathbone erhob sich.
Sacheverall drehte sich mit einer hochmütigen Gebärde zu ihm um. »Ihr Zeuge, Sir Oliver.« Er lächelte, wohl wissend, dass er beinahe unangreifbar war, und kehrte zu seinem Platz zurück.
Rathbone war es, als habe man ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Er hatte Sacheverall noch nie zuvor bei einer Gerichtsverhandlung als Gegner erlebt. Er kannte nur dessen Ruf, hatte den Mann aber offensichtlich unterschätzt. Sein unansehnliches, ziemlich dümmliches Gesicht war trügerisch. Der volle Klang seiner Stimme hätte ihn warnen müssen.
Er trat in die Mitte der freien Fläche, die von den Sitzplätzen der Anwälte, dem Zeugenstand, dem Richter und der erhöhten Doppelreihe der Geschworenen begrenzt war. Er blickte zu Barton Lambert auf. Abgesehen davon, dass er Respekt vor dem Mann hatte, war er schlau genug, um ihn nicht gegen sich aufzubringen. Die Geschworenen neigten ohnehin dazu, sich auf seine Seite zu schlagen.
»Guten Tag, Mr. Lambert«, begann er. »Ich bedaure die Umstände, die uns heute wieder zusammenführen. Ich muss Ihnen einige Fragen zur Klärung dieser Angelegenheit stellen, um meine Pflicht gegenüber meinem Mandanten zu erfüllen.«
»Ich verstehe, Sir«, sagte Lambert freundlich. »Deshalb sind wir hier. Fragen Sie.«
Rathbone quittierte seine Worte mit einem höflichen Nicken.
»Während der Zeit, da Mr. Melville regelmäßig in Ihrem Haus verkehrte, Sir, war er da bei Ihnen beschäftigt, um den von Ihnen in Auftrag gegebenen Bau zu entwerfen und zu überwachen?«
»So ist es.«
»Und er stand mit Ihrer ganzen Familie auf freundschaftlichem Fuß?«
»Nicht so, wie Sie es ausdrücken, Sir«, wandte Lambert ein…
Sie versuchen zu sagen, dass er mit uns allen gleichermaßen gut befreundet war, aber das stimmt nicht. Er war stets nett und höflich zu Mrs. Lambert und immer freundlich zu mir, aber das wäre auch nicht anders zu erwarten gewesen, oder?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich war in beruflicher Hinsicht sein Mäzen, in gewisser Weise sein Arbeitgeber. Er wäre ein Narr gewesen, hätte er sich mir gegenüber unhöflich gezeigt.« Während er sprach, mied er erneut Melvilles Blick. »Nicht dass ich das Gefühl gehabt hätte, er könnte mich nicht leiden, das nicht. Und ich mochte ihn. Ein redegewandter, intelligenter, anständiger junger Mann, dafür habe ich ihn gehalten. Aber es war meine Tochter, mit der er seine Zeit verbracht, mit der er gelacht und sich unterhalten hat, mit der er seine Ideen und seine Träume geteilt hat - und zweifellos auch ihre.«
In seinem Gesicht stand das ganze Ausmaß seiner Enttäuschung und das Gefühl, verraten worden zu sein. »Ich kann die beiden selbst jetzt noch deutlich vor mir sehen, wie sie die Köpfe zusammensteckten, lachten und scherzten und einander in die Augen sahen. Sie können mir nicht erzählen, er hätte ihr nicht den Hof gemacht, denn ich habe es selbst miterlebt!« Sein Blick forderte Rathbone und jeden anderen, der ihm vielleicht widersprechen wollte, offen heraus.
Rathbone hatte keine Handhabe gegen ihn, und er wusste es. Es war ihm zuwider, was er hier tat, was sie alle hier taten.
»Mr. Lambert«, sagte er deutlich schroffer, als er beabsichtigt hatte. »Wann hat Mister Melville um die Hand Ihrer Tochter angehalten?«
Lambert schien verwirrt zu sein. Rathbone wartete ab.
»Nun… das hat er nicht getan«, gab Lambert zu. »Nicht mit so vie len Worten jedenfalls. Er hätte es tun sollen, da gebe ich Ihnen Recht. Er hat es da an guten Manieren fehlen lassen, was ich aber zu übersehen bereit war.«
»Vielleicht hat er es an guten Manieren fehlen lassen«, pflichtete Rathbone ihm bei. »Aber vielleicht fehlte auch die Absicht? Ist es möglich, dass er Miss Lambert zwar sehr gern hatte, aber eher auf eine geschwisterliche Art denn als Verehrer, und dass seine Gefühle falsch gedeutet wurden… natürlich mit der besten Absicht und in aller Unschuld?«
»Möglicherweise, wenn es sich um einen Mann unseres Alters gehandelt hätte, Sir Oliver«, sagte Lambert trocken. »Obwohl ich das ebenfalls bezweifeln möchte. Und ein Mann in Melvilles Alter empfindet normalerweise einer hübschen und freundlichen jungen Frau gegenüber nicht gerade geschwisterlich.«
Im Raum war verschiedentlich leises Getuschel zu hören, es klang fast wie das Rascheln von Blättern. Rathbone hatte Mühe, die Fassung zu wahren. Es gefiel ihm nicht, dass Lambert ihn seiner eigenen Altersklasse zuordnete, und es überraschte ihn selbst, wie sehr ihn dies kränkte. Lambert musste mindestens fünfzig sein.
»Es gibt viele jungen Damen, die ich bewundere, deren Gesellschaft ich als angenehm empfinde«, bemerkte er ziemlich steif, »aber ich habe nicht den Wunsch, sie zu heiraten.«
Lambert schwieg.
Rathbone blieb nichts anderes übrig, als weiterzusprechen. Er tat Melvilles Sache damit keinen Gefallen.
»Also hat Mr. Melville Sie nicht um die Hand Ihrer Tochter gebeten, und doch haben Sie alle angenommen, dass er sie heiraten wolle, und es wurden Vorkehrungen getroffen, Anzeigen aufgegeben und so weiter. Von wem, Sir?«
»Von meiner Frau und mir selbst natürlich. Wir sind die Brauteltern.« Lambert sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er hatte ein sehr breites, eher grobes Gesicht. »Das ist so üblich!«
»Das weiß ich«, räumte Rathbone ein. »Ich möchte nur klarstellen, dass Mr. Melville an diesen Vorbereitungen keinen Anteil hatte. Das alles konnte in die Wege geleitet werden, ohne dass ihm bewusst geworden ist, wie ernst man seine Beziehung zu Miss Lambert nahm.«
»Nur wenn er ein kompletter Narr war!«, schnaubte Lambert.
»Vielleicht war er das ja.« Rathbone lächelte. »Er wäre nicht der erste junge Mann, der sich im Umgang mit einer jungen Dame zum Narren gemacht hätte.«
Seine Worte lösten tosendes Gelächter auf der Zuschauergalerie aus, und selbst der Richter konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Will mein gelehrter Freund damit sagen, dass sein Mandant ein Narr ist, Mylord?«, erkundigte sich Sacheverall.
»Ich glaube, genau das habe ich gerade getan«, gestand Rathbone ein. »Ein Narr, aber kein Schurke, Mylord.«
Die leuchtend blauen Augen des Richters waren sehr groß, sehr unschuldsvoll. Das Licht fiel auf seine kahlen Schädel und ließ den Kranz seines weißen Haares wie einen Heiligenschein aussehen.
»Eine ungewöhnliche Art der Verteidigung, Sir Oliver, aber nicht einzigartig. Ich hoffe, Ihr Mandant wird es Ihnen danken, falls Sie Erfolg haben sollten.«
Rathbone lächelte kläglich. Er dachte das Gleiche. Schließlich wandte er sich wieder Lambert zu.
»Sie sagen, Sir, dass der Bruch des Verlöbnisses ohne jede Vorwarnung erfolgt sei. Heißt das, dass diese Sache nur Sie überrascht hat, Mr. Lambert, oder auch alle anderen?«
»Wie bitte?« Lambert sah ihn verwirrt an.
»Ist es nicht möglich, dass Mr. Melville, als ihm klar wurde, wie weit die Vorbereitungen gediehen waren, mit Miss Lambert gesprochen hat? Dass er versucht hat, ihr zu erklären, dass die Dinge ihm aus der Hand geglitten sind? Könnte es sein, dass Ihre Tochter Sie davon nicht unterrichtet hat? Vielleicht hat sie nicht geglaubt, dass er es ernst meinte. Oder sie dachte, sein Verhalten sei lediglich einer Nervosität zuzuschreiben, die mit der Zeit vergehen würde?«
»Nun…«
»Ist das möglich oder nicht?«
»Möglich, ja«, räumte Lambert ein. »Aber ich glaube es nicht.«
»Natürlich nicht«, nickte Rathbone. »Vielen Dank. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.«
Sacheverall hatte nicht die Absicht, das Thema weiterzuverfolgen. Seine Position war sehr stark, und er wusste es.
Rathbone überlegte sich, warum er Lambert nicht nach dem Schaden gefragt hatte, den der Ruf seiner Tochter erlitten haben musste, und warum er die Sache vor Gericht brachte, statt sie halbwegs privat zu erledigen. Das war ein Versäumnis, das ihm selbst nicht passiert wäre.
Die Antwort auf diese Frage kam jedoch umgehend.
Sacheverall, der höchst selbstzufrieden aussah, rief Delphine Lambert in den Zeugenstand.
Sie nahm ihren Platz mit sichtbarer Bekümmerung, aber mit einem Höchstmaß an Würde ein. Sie war eine ziemlich kleine Frau, hielt sich aber so bemerkenswert gerade, dass sie etwas Königliches an sich hatte. Sie trug Dunkelblau, was ihrem Teint schmeichelte, und die gewaltigen Röcke mit ihren Krinolinenreifen betonten ihre noch immer schmale Taille. Sie hatte wegen der schmalen Treppenstufen ein wenig Mühe, den Zeugenstand zu erklimmen, und wandte sich dann dem Gerichtsdiener zu, der ihr den Eid abnahm.
Sacheverall entschuldigte sich im Voraus für den Kummer, den es ihr bereiten würde, über ein so heikles Thema sprechen zu müssen. Es gelang ihm anzudeuten, dass auch das Melvilles Schuld sei, bevor er zu seiner ersten Frage kam.
»Mrs. Lambert, Sie waren zugegen, während sich die Beziehung zwischen Mr. Melville und Ihrer Tochter entwickelt hat?«
»Selbstverständlich!« Ihre Augen weiteten sich. »Es ist üblich, dass eine Mutter ihre Tochter in solchen Zeiten beaufsichtigt. Ich habe nur die eine Tochter, daher war es für mich nicht weiter schwierig.«
»Sie haben also alles gesehen, was vor sich gegangen ist?«, hakte Sache verall noch einmal nach.
»Ja«, nickte sie. »Und ich versichere Ihnen, dass es niemals irgendeine Ungehörigkeit gegeben hat. Ich habe mich für eine gute Menschenkennerin gehalten, aber man hat mich gänzlich hinters Licht geführt.« Sie sah verwirrt und unschuldig aus, als könne sie noch immer nicht begreifen, was vorgefallen war.
Rathbone fragte sich, ob Sacheverall sie brillant auf ihre Rolle vorbereitet oder ob er in ihr einfach die perfekte Zeugin gefunden hatte.
Sacheverall war zu gerissen, um auf dem Punkt herumzureiten. Die Geschworenen hatten sie gesehen. Er versagte es sich sogar, einen Blick in Rathbones Richtung zu werfen.
»Mrs. Lambert«, fuhr er fort. »Wären Sie so freundlich, uns eine typische Begegnung zwischen Miss Lambert und Mr. Melville zu beschreiben, eine Begegnung, die nach Ihrem besten Wissen so charakteristisch wie möglich war.«
»Aber gewiss, wenn Sie wünschen.« Sie drückte die Schultern noch weiter durch, ohne dabei auch nur im Mindesten zu übertreiben. Diese Geste war keine Effekthascherei. Das Ganze war eine Tortur für sie. Ihre Haltung und ihre Stimme waren voller Angst, und sie war sich dessen bewusst, welch dunklen Schatten dies auf die Zukunft ihrer Tochter werfen musste.
Wieder verspürte Rathbone Zorn darüber, dass Melville es überhaupt so weit hatte kommen lassen. Er war nicht nur ein Narr, sondern auch verantwortungslos. Er sah sich nach seinem Mandanten um, der auf dem Stuhl neben ihm saß und Rathbones Blick auswich. Er schien in seiner eigenen Welt gefangen zu sein.
Das Gericht wartete. Delphine Lambert hatte entschieden, über welche Episode sie sprechen wollte, und begann nun: »Mr. Melville war bei uns gewesen, um mit meinem Gatten über eine bauliche Angelegenheit zu sprechen - ich glaube, es hatte etwas mit Erkerfenstern zu tun. Mein Mann verließ das Haus, und Mr. Melville kam nach unten in den Salon, um mit Zillah und mir den Tee zu nehmen. Das war im letzten Herbst. Es war einer dieser goldenen Tage, an denen alles von solch zauberhafter Schönheit ist, und man weiß, dass es nic ht von Dauer sein kann.«
Sie blinzelte und gab sich alle Mühe, Gefühle zu beherrschen, die offensichtlich noch sehr frisch waren.
Sacheverall ließ ihr Zeit.
»Wir haben über alle möglichen belanglosen Dinge geplaudert«, fuhr Delphine fort. »Ich erinnere mich, dass Killian - Mr. Melville - in dem Sessel neben dem Sofa Platz genommen hatte. Zillah saß auf dem Sofa, und ihre Röcke waren wie eine Wolke, die sie einhüllte. Sie trug Rosa und sah sehr hübsch aus.« Ihr Blick wurde weich bei der Erinnerung. »Er machte eine Bemerkung darüber. Das hätte jeder getan. Wenn Sie sie sehen, werden Sie es verstehen. Wir haben uns unterhalten und miteinander gelacht. Er interessierte sich für alles.« In ihren Worten schwang noch die Überraschung mit, die sie damals empfunden hatte. »Jede Einzelheit schien ihm zu gefallen. Zillah erzählte ihm von einem Fest, an dem sie teilgenommen hatte, und sie gab einige Anekdoten zum Besten, die wirklich ausgesprochen komisch waren. Ich fürchte, wir waren vielleicht eine Spur zu kritisch, und unsere Erheiterung war nicht immer sehr freundlich…. aber wir haben so gelacht, dass uns die Tränen über die Wangen liefen.« Sie lächelte und blinzelte, als wollten die Tränen auch jetzt wieder kommen, aber diesmal aus Kummer. »Zillah hat die wunderbare Gabe, Leute perfekt zu imitieren, und Killian war davon begeistert. Es mag vielleicht nicht sehr damenhaft sein«, entschuldigte sie sich, »aber wir hatten so viel Spaß dabei.«
Sacheverall nickte zufrieden. Selbst die Geschworenen lächelten.
Rathbone warf Melville einen Blick zu. Dieser biss sich auf die Lippen und bewegte seinen Kopf leicht hin und her, um diese Aussage zu bestätigen. Er sah todunglücklich aus.
»Bitte fahren Sie fort«, drängte Sacheverall sanft.
»Wir tranken Tee«, fuhr Delphine fort. »Dazu aßen wir noch warme Hörnchen mit geschmolzener Butter. Es ist nicht leicht, diese Hörnchen anmutig zu verzehren. Auch darüber haben wir gelacht. Und wir haben Teekuchen getoastet. Sie waren köstlich.« Sie machte eine kleine, missbilligende Handbewegung. »Wir haben alle aufgegessen. Dann sind Killian und Zillah aufgestanden, um einen Spaziergang im Garten zu machen. Die Blätter wechselten gerade die Farbe, und die Chrysanthemen blühten.« Sie sah erst den Richter an, dann wieder Sacheverall. »Sie haben so einen wunderbaren Duft, ganz erdig und warm. Sie erinnern mich immer an alles, was schön ist… üppig, aber niemals vulgär. Wenn wir doch nur immer solche Vollkommenheit haben könnten!« Sie seufzte.
»Nun, wie auch immer, Killian und Zillah blieben eine Weile draußen, aber ich habe meine Pflichten als Anstandsdame trotzdem in jeder Hinsicht erfüllt. Zillah erzählte mir später, sie hätten über ihre Vorstellungen von einem zukünftigen Heim gesprochen, über all die Dinge, die sie besonders gern hätten, darüber, wie es sein würde… Farben, Stilrichtungen, Möbel… alles, was zwei Liebende für ihre Zukunft eben so planen.«
Rathbone blickte abermals zu Melville hinüber. Konnte ein Mann denn wirklich so ein Narr sein, dass er mit einer Frau über derartige Dinge sprach, ohne genau zu wissen, dass sie dies als Vorspiel zu einem Heiratsantrag auffassen würde?
»Stimmt das?«, fragte er leise.
Melville drehte sich zu ihm um. Das Blut war ihm in die Wangen geschossen, und seine Augen brannten, aber er sah Rathbone direkt an.
»Ja… und nein…«
»Das wird nicht reichen!«, stieß Rathbone mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn Sie nicht ehrlich zu mir sind, kann ich Ihnen nicht helfen, und glauben Sie mir, Sie werden jede erdenkliche Hilfe brauchen!«
»Mag sein, dass sie es so empfunden hat«, antwortete Melville, der jetzt wieder nach unten blickte, anstatt Rathbone anzusehen. Seine Stimme war leise und angespannt. »Wir haben über Häuser und Möbel gesprochen. Aber es ging doch nicht um ein Haus für uns beide! Ich bin Architekt… Häuser sind nicht nur mein Beruf, sie sind meine Leidenschaft. Ich würde mit jedem über einen Entwurf reden! Sie hat mir erzählt, wie sie sich ihr Haus wünscht, und ich habe ihr Vorschläge gemacht, wie sich das erreichen ließe. Ich habe ihr von einigen neuen Möglichkeiten erzählt, mehr Wärme zu schaffen, mehr Licht und Farben, davon, wie sie ihre Träume verwirklichen könnte. Aber es ging um ihr Haus - nicht um ein Haus für uns beide!« Er drehte sich wieder zu Rathbone. »Ich hätte mit jedem so gesprochen! Ja, natürlich haben wir zusammen gelacht - wir waren Freunde…« Seine Augen wirkten kummervoll. Rathbone hätte schwören können, dass ihm diese Freundschaft teuer gewesen war und dass ihr Verlust schmerzte.
Delphine Lambert redete noch immer; sie erzählte von anderen Gelegenheiten, bei denen Melville und Zillah Lambert zusammen gewesen waren, von ihrer Kameradschaft und ihrer Gabe, die Gedanken des anderen sofort zu verstehen.
Rathbone warf einen Blick auf die Gesichter der Geschworenen. Ihr Mitleid war unverkennbar. Um ihre Meinung zu ändern, würden sie eine Enthüllung über Zillah Lambert brauchen, die so schockierend war, dass sie all ihre jetzigen Empfindungen zunichte machten und sie sich nur noch wütend und hintergangen fühlten. Und Melville hatte geschworen, dass es kein derartiges Geheimnis gebe. War es vorstellbar, dass er etwas wusste, was eine Ehe mit ihr unmöglich machte, sie aber noch immer zu gern hätte, um es aufzudecken - nicht einmal, um seinen eigenen Kopf zu retten?
Es musste etwas sein, wovon ihre Eltern nichts wussten, sonst hätten sie es niemals riskiert, vor Gericht zu gehen.
Und Zillah selbst hatte es nicht gewagt, es ihnen zu verraten, nicht einmal um Melville zu retten und diese Farce zu vermeiden.
Rathbone würde Melville noch härter zusetzen müssen, um ihm sein Geheimnis zu entlocken, denn er war von Anfang an davon überzeugt gewesen, dass es da noch etwas gab.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gericht zu.
Delphine beschrieb gerade ein großes gesellschaftliches Ereignis. Ihr Gesicht leuchtete bei der Erinnerung an diese aufregenden Stunden.
»Alle Mädchen waren einfach hinreißend«, sagte sie mit weicher Stimme. Ihre schlanken Hände ruhten auf dem Geländer vor ihr; sie umklammerte es nicht, sondern berührte es nur ganz sacht. »Die Kleider waren exquisit.« Sie lächelte beim Sprechen.
»Wie ein Meer von Blüten, das der Wind hereingeweht hatte - so sah es aus, als sie über den Boden wirbelten. Die Kronleuchter funkelten, und das Licht spiegelte sich in ihrem Schmuck und ihrem Haar wider. Und die jungen Männer waren so elegant. Killian tanzte den ganzen Abend mit Zillah und hat kaum mit jemand anderem gesprochen. Einige Tänze hat er ausgelassen, aber ich habe nicht gesehen, dass er einer anderen Dame auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt hätte, ganz gleich, wie schön oder wie charmant sie gewesen sein mochte.« Sie zog die Schultern ein wenig in die Höhe. »Und es waren viele Damen mit Titel dort und Erbinnen, die ein beträchtliches Vermögen zu erwarten hatten. An diesem speziellen Abend war Lady…«
Sacheverall hob die Hand. »Ich bin überzeugt, dass viele hoch stehende Persönlichkeiten anwesend waren, Mrs. Lambert.
Wichtig ist nur, dass Mr. Melville Ihrer Tochter sehr offensichtlich den Hof gemacht hat, sodass alle es sehen konnten und man seine Absichten kaum missverstehen oder falsch auslegen konnte. Und nun, Madam, muss ich ein weitaus schmerzlicheres Thema ansprechen, wofür ich mich entschuldigen möchte. Ich wünschte aufrichtig, es ließe sich vermeiden, aber das ist leider ausgeschlossen.«
»Ich verstehe.« Delphine nickte, und das Leuchten in ihrem Gesicht verschwand; ihr Körper schien förmlich zu schrumpfen, als sie sich von vergangenem Glück ab und wieder der Gegenwart zuwandte. »Tun Sie, was notwendig ist, Mr. Sacheverall.«
»Sie haben mit gerade erzählt, dass Mr. Melville Ihrer Tochter öffentlich und erkennbar den Hof gemacht hat. Es muss also in Ihrem Freundeskreis, ja in der ganzen Gesellschaft, bekannt gewesen sein, dass die beiden heiraten würden?«
»Selbstverständlich.« Sie hob ihre schönen Augenbrauen.
»Sie hat keinen Hehl aus ihrem Glück gemacht. Welches junge Mädchen tut das schon?«
Sacheverall ging einige Schritte in die eine Richtung, dann wieder in die andere. Er bewegte sich sehr elegant und war sich dessen bewusst. Schließlich blieb er stehen und sah sie wieder an. »Mr. Melville hat also plötzlich und ohne einen Grund, der uns einsichtig wäre, die Verlobung gelöst und sich geweigert, sein Eheversprechen einzuhalten. Welche Wirkung wird das auf Miss Lamberts Ruf haben und ihre Aussichten auf eine zukünftige Ehe?«
»Es wird sie natürlich ruinieren!« Die Panik in Delphines Worten war unüberhörbar. »Wie könnte es anders sein? Die Leute werden sich fragen, warum, und wenn es keine Antwort auf diese Frage gibt, werden sie das Schlimmste vermuten. Das tut doch jeder, nicht wahr?«
»Ja, Mrs. Lambert, ich fürchte, das gehört zu den weniger einnehmenden Charakterzügen der menschlichen Natur«, sagte Sacheverall voller Mitleid. »Selbst wenn es ungerechtfertigt ist.« Er lächelte kläglich. »Und Schönheit hat bisweilen ihre Nachteile, da sie bei den weniger vom Schicksal Begünstigten Neid erweckt.«
Delphine schien den Tränen nahe zu sein. »Und dabei ist sie vollkommen unschuldig!«, sagte sie verzweifelt. »Es ist so ungerecht!« Ihr Blick richtete sich auf die Geschworenen und kehrte dann zu Sacheverall zurück. »Wie konnte er ihr das antun - ihr oder einer anderen Frau? Es ist grausam! Ich kann die Leute schon hören, wie sie einander fragen, was denn wohl nicht stimmt mit ihr. Was weiß er über sie, was er nicht sagen will?« Sie musterte ihn trotzig. »Und da ist nichts! Gar nichts! Sie ist bescheiden und klug, aber nicht zu klug; hübsch, aber nicht zu stolz oder überheblich, und sie ist so ehrenhaft, wie ein junges Mädchen es nur sein kann.« Sie schluckte, und ihre Stimme wurde rau. »Und sie war so verliebt in ihn. Es ist so furchtbar, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, warum er es tut! Sie müssen es herausfinden! Sie müssen beweisen, dass Killian Melville, nicht Zillah boshaft und von widernatürlichem Wesen ist.«
»Das werden wir, Mrs. Lambert«, versicherte Sacheverall ihr sanft. »Wir werden dem Gericht und der Gesellschaft beweisen, dass Miss Lambert ohne Ursache großes Unrecht zugefügt wurde. Ihr Ruf wird voll und ganz wiederhergestellt werden. Es wäre unverzeihlich zuzulassen, dass ihre ganze Zukunft ruiniert wird, weil ein einziger junger Mann bestenfalls verantwortungslos, schlimmstenfalls unehrlich oder unmoralisch gehandelt hat. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, an Ihrem Platz zu bleiben, falls Sir Oliver noch Fragen an Sie hat? Vielen Dank, Mrs. Lambert.« Er drehte sich mit einer einladenden Geste zu Rathbone um.
Der zuversichtliche Ausdruck auf seinem Gesicht war Warnung genug. Rathbone wusste, dass Fragen an Delphine Lambert seiner Sache nicht dienlich sein würden. Sie hatte ihr Anliegen praktisch im Alleingang vorgetragen. Und sie hatte es ohne jede Übertreibung getan. Auf diese Weise ein Verlöbnis zu lösen, nachdem jedermann glaubte, es sei eine Liebesaffäre vorangegangen, das musste einfach dem geneigtesten Betrachter den Eindruck vermitteln, dass mit Zillah Lambert etwas nicht stimmte, dass Melville aber zu sehr Gentleman war, um es zu enthüllen.
Er erhob sich, denn er wagte es nicht, sie aus dem Zeugenstand zu entlassen, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Das wäre ein offenes Eingeständnis seiner Niederlage gewesen.
Ein leises Raunen ging durch den Raum. Die Geschworenen beobachteten ihn genau.
»Wir könnten Ihre Besorgnis nachvollziehen, Mrs. Lambert«, sagte er höflich, während er in Gedanken verzweifelt nach etwas suchte, um ihre Aussage abzuschwächen. »Vielleicht könnten Sie mir etwas über diese Hochzeitsvorbereitungen berichten, von denen Sie sprachen…«
»Alle abgeschlossen!« Ihre Stimme wurde lauter. »Natürlich waren die offiziellen Einladungen noch nicht versandt, aber jeder wusste, wer eingeladen war, sodass es im Grunde auf dasselbe hinauslief! Ich habe mich noch nie in meinem Leben so gedemütigt gefühlt. Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es war, es den Leuten sagen zu müssen!« Sie streckte den Arm aus, und ihre Hände wirkten selbst bei dieser erregten Geste noch anmutig. »Wie erkläre ich es? Was kann man überhaupt sagen? Die arme Zillah.« Sie wendete sich dem Richter zu. »Haben Sie denn überhaupt den Hauch einer Ahnung, wie sie sich fühlt? Immer wenn jemand lacht und wir nicht den Grund dafür wissen, glauben wir, die Leute machen sich über unser Missgeschick lustig.«
Rathbone zwang sich, freundlich zu bleiben. »Ich bin überzeugt, dass das nur natürlich ist. Wir haben alle solche Ängste erlebt, wenn wir mit etwas…« Welches Wort konnte er benutzen, ohne zu kritisch zu wirken? Er hatte da einen Satz angefangen, den er unmöglich beenden konnte. Sie drehte sich wieder zu ihm um. »… wenn wir mit einer Peinlichkeit rechnen müssen«, sagte er schließlich. »Aber um noch einmal auf diese Vorbereitungen zurückzukommen, Mrs. Lambert…«
»Die Schneiderin, die Brautjungfern, die Kirche natürlich, die Blumen, die zu dieser Jahreszeit wachsen«, zählte sie die einzelnen Dinge auf. »Ich habe ungezählte Stunden damit verbracht, alles auf das Beste zu organisieren. Es ist der wichtigste, der allerschönste Tag im Leben einer Frau, und ich wollte sicherstellen, dass bei ihrer Hochzeit nichts, aber auch gar nichts falsch lief. Wir haben weder Zeit noch Mühe, noch Kosten gescheut. Nicht dass es ums Geld ginge. Sie dürfen nicht einen Augenblick glauben, dass es das war!« Sie wies den Gedanken mit einer knappen Handbewegung weit von sich.
Seltsamerweise glaubte er ihr. Es waren die Ehre, der Ruf ihrer Tochter, die ihr am Herzen lagen. Was ein einmaliges Ereignis hätte sein sollen, war nun Anlass höchster Peinlichkeit geworden, und die goldene Zukunft war unwiederbringlich dahin. »Ich bin überzeugt davon, dass es so ist, Mrs. Lambert«, pflichtete er ihr beschwichtigend bei. »Ich bezweifle es nicht. Aber meine Frage ist: Welchen Anteil hatte Mr. Melville an all diesen Plänen und Entscheidungen?«
Sie sah ihn verständnislos an. »Mr. Melville? Es sind die Brauteltern, die diese Vorbereitungen treffen, Sir Oliver. Er hatte nichts damit zu tun.«
»Genau darauf wollte ich hinaus.« Er achtete darauf, keinerlei Triumphgefühl zu zeigen. Es würde die Geschworenen verstimmen. Er stand mitten im Raum und war sich darüber im Klaren, dass alle Blicke auf ihm ruhten. »Er hat sich nicht zum Stil des Hochzeitskleides geäußert, zur Anzahl oder Art der Blumen oder gar zur Kirche…«
Jetzt war sie vollkommen verwirrt.
»Mylord.« Sacheverall erhob sich mit ungläubigem Gesichtsausdruck. »Will mein gelehrter Freund etwa andeuten, dass Mr. Melville die Verlobung gelöst hat, weil er in diesen Dingen nicht um seine Meinung gefragt wurde? Und dass ein derart absurdes Benehmen gerechtfertigt sei? Wenn dem so wäre, Mylord, würde kein Mann jemals heiraten!« Er wandte sich mit einem Lachen den Geschworenen zu.
Rathbone verlor nur aufgrund seiner langjährigen Erfahrung nicht die Fassung.
»Nein, Mylord, ich möchte nichts dergleichen andeuten, und das hätte mein gelehrter Freund erfahren, wenn er nur noch ein oder zwei Sekunden gewartet hätte. Was ich andeuten will, ist, dass diese Vorbereitungen, so vortrefflich sie zweifellos waren, ohne Mr. Melvilles Wissen getroffen wurden. Er hat nicht um Miss Lamberts Hand angehalten, und er hatte auch nicht die Absicht dazu. Man setzte es allenthalben als selbstverständlich voraus, und die Familie handelte aus gutem Glauben und ohne seine Mitwirkung. Er hat diese Vereinbarung nicht gebrochen, weil er sie nie getroffen hat. Es war eine bloße Mutmaßung - vielleicht mit gutem Grund, aber nichtsdestoweniger eine Mutmaßung.«
»Sir Olivers Argumentation ist überaus unbeholfen!«, protestierte Sacheverall. Er starrte Rathbone an. »Sind Sie fertig? Etwas Besseres haben Sie uns nicht zu bieten?«
Das hatte Rathbone in der Tat nicht, aber es war auch nicht der Zeitpunkt, dies zuzugeben.
»O doch«, log er entschieden. »Ich erkläre lediglich, was ich mit meiner Frage beabsichtigt habe, da Sie sie falsch ausgelegt haben.«
»Wollen Sie damit sagen, Mrs. Lambert habe eine Hochzeit ausgerichtet ohne jede Gewissheit, dass es auch einen Bräutigam gab?«, fragte Sacheverall höhnisch.
»Ich möchte damit sagen, dass es sich um ein Missverständnis handelte, nicht um ein Schurkenstück«, antwortete Rathbone, der sich sehr wohl darüber im Klaren war, wie lahm sein Argument klang, so sehr es vermutlich auch der Wahrheit entsprach. Trotzdem war er nach wie vor davon überzeugt, dass Melville ihnen etwas so Wichtiges vorenthielt, dass es einer Lüge gleichkam. Der Mann hatte etwas schwer Fassbares an sich, etwas, von dem er nicht einmal eine Ahnung hatte, was es hätte sein können. Er hatte diesen Fall einem Impuls folgend übernommen, und er bedauerte es.
Sacheverall tat die Äußerung mit einem Achselzucken ab und kehrte zu seinem Platz zurück.
»Sir Oliver?«, fragte der Richter.
Es gab nichts weiter zu sagen. Er konnte die Sache nur noch schlimmer machen.
»Nein, vielen Dank, Mylord. Und auch Ihnen vielen Dank, Mrs. Lambert.«
Sacheverall hatte nichts hinzuzufügen. Er war klug genug, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Er gewann diesen Prozess, ohne selbst Anstrengungen unternehmen zu müssen.
Es war schon ziemlich spät, Zeit, das Mittagessen einzunehmen. Das Gericht vertagte sich.
Rathbone verließ mit Melville den Saal. Die Menge starrte auf sie. Einige hässliche Bemerkungen fielen, laut genug, um sie zu hören. Melville, dessen Wangen noch immer gerötet waren, hielt den Kopf gesenkt und den Blick unverwandt geradeaus gerichtet. Er konnte die Schmähungen genauso wenig überhört haben wie Rathbone.
»Ich wusste nichts von der Hochzeit, bis alles geplant war!«, sagte er verzweifelt. »Natürlich ist mir so dies und das zu Ohren gekommen. Aber ich habe nicht einmal begriffen, dass es dabei um mich ging!« Sie kamen durch die Eingangshalle des Gerichtsgebäudes. Rathbone hielt die Türen auf.
»Ich weiß, das klingt läc herlich«, fuhr Melville fort, »aber ich habe einfach nicht zugehört. Meine Gedanken waren bei meiner Arbeit: bei Bogen und Türstürzen. Die Frauen reden oft über Mode und darüber, wer wen heiraten wird. Meist ist es nur Geschwätz und müßige Spekulation.«
»Wie kann man nur so dumm sein?«, fuhr Rathbone ihn an, der langsam die Geduld verlor.
»Wahrscheinlich, weil ich es so wollte«, antwortete Melville mit erstaunlicher Aufrichtigkeit. »Ich wollte einfach nicht, dass es wahr sei, also habe ich es ignoriert. Wenn Ihnen eine Sache wichtig genug ist, können Sie alles andere ausblenden.« Jetzt standen sie draußen in dem scharfen Wind und dem Sonnenlicht. Seine Augen waren von demselben bläulichen Grün wie das Meer. »Mir liegen Gebäude und Bogengänge am Herzen, Säule n und Stein, die Art, wie das Licht einfällt, Farben und Kraft und Schlichtheit. Mir ist es wichtig, Dinge zu entwerfen, die mich überdauern werden, Dinge, die noch Generationen nach uns Freude bereiten.«
Er vergrub mit einer heftigen Gebärde die Hände in den Taschen und starrte Rathbone an, während sie die Straße hinunter zu dem überfüllten Restaurant gingen, wo sie zu Mittag essen wollten. Sie drängten sich an anderen Menschen vorbei, ohne sie wahrzunehmen.
»Waren Sie einmal in Athen, Sir Oliver?«, fragte er. »Haben Sie den Parthenon im Sonnenlicht gesehen?« Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Es ist das Werk eines Genies. Alles weist geringfügige Maßabweichungen auf, um dem Beobachter die Illusion von Vollkommenheit zu vermitteln… Und das ist perfekt gelungen.« Er machte eine weit ausholende Bewegung mit den Armen und hätte dabei um ein Haar einen graubärtigen Herrn getroffen. Er entschuldigte sich geistesabwesend und wandte sich dann wieder Rathbone zu.
»Können Sie sich die Geisteshaltung der Männer vorstellen, die das gebaut haben? Und da stehen wir nun zweitausend Jahre später und sind sprachlos vor Ehrfurcht angesichts solcher Schönheit.«
Unbewusst ging er immer schneller, und Rathbone seinerseits musste sein Tempo beschleunigen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Und die Toskana!«, fuhr er mit glühendem Gesicht fort. »Im Grunde aber nicht nur die Toskana, sondern ganz Italien: Venedig, Pisa, Siena. Aber die Architektur der toskanischen Renaissance hat diese schlichte Erhabenheit an sich! Klassisch, ohne großspurig zu sein. Ein hervorragendes Gefühl für Farbe und Proportion. Man könnte sich diese Dinge ewig ansehen. Die Arkaden… die Kuppeln! Haben Sie die Rundfenster gesehen? Das alles scheint ein Teil der Natur zu sein, scheint ihr direkt zu entspringen, statt mit ihr zu konkurrieren… Es ist alles weich und flüssig. Nichts ist gegen den Strich gebürstet. Das ist das Geheimnis. Die Einheit mit der Landschaft, niemals entfremdet, niemals eine Beleidigung für das Auge oder den Geist. Und sie wussten genau, wo sie die Terrassen platzieren mussten und die Bäume, vor allem die Zypressen. Sie führen den Blick auf perfekte Weise von einem Punkt zum nächsten.«
»Das Restaurant«, unterbrach Rathbone ihn.
»Was?«
»Das Restaurant«, wiederholte er. »Wir müssen etwas zu Mittag essen, bevor wir zurückgehen.«
»Oh. Ja… ja, vermutlich.« Es war ihm offensichtlich entfallen. Es war unbedeutend.
Als erste Zeugin des Nachmittags wurde Zillah Lambert selbst gehört. Sie legte den Eid mit großem Ernst und zitternder Stimme ab und b lickte zu Sacheverall auf. Ihr Gesicht war bleich, aber sie wirkte dennoch gefasst in ihrem cremefarbenen, mit blassem Grün eingefassten Kleid, das ihr wunderbar stand. Ihr volles Haar hatte sie hoch aufgetürmt, statt es streng zurückzubinden; sie sah verletzlich und sehr jung aus. Trotzdem ging etwas Leuchtendes von ihr aus, das an einen frischen Sonnentag im April erinnerte.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, lächelten die Geschworenen ihr zu. Sie nahm die Existenz dieser Männer überhaupt nicht wahr, sondern sah nur Sacheverall an. Nicht ein einziges Mal verirrte sich ihr Blick zu Melville, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen.
»Ich bedaure, dass dies alles notwendig ist, Miss Lambert«, begann Sacheverall seine Befragung, gerade so, wie Rathbone es vorhergesehen hatte. »Aber es ist absolut unvermeidlich, sonst würde ich Sie nicht in diese Verlegenheit bringen und dieser Pein aussetzen.«
»Ich verstehe«, flüsterte sie. »Bitte tun Sie, was Sie tun müssen.«
Sacheverall schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Miss Lambert, ist Mr. Killian Melville im Verlauf der letzten zwei Jahre ein ständiger Gast in Ihrem Elternhaus gewesen?«
»Ja, Sir.«
»Hat er nur Ihren Vater aufgesucht, oder auch Ihre Mutter und Sie selbst?«
»Er hat auch mit uns sehr viel Zeit verbracht«, erwiderte sie.
»Er hat oft mit uns gespeist und ist dann anschließend bis spät in den Abend hinein geblieben. Er und ich, wir haben über alle möglichen Dinge geredet, über unsere Hoffnungen und Überzeugungen, unserer Erfahrungen, über Dinge, die uns schön oder interessant erschienen, komisch oder traurig.« Sie blinzelte heftig, um die Tränen zu unterdrücken. Dann sah sie für eine Sekunde zu Melville hinüber, wandte aber sogleich wieder Blick ab. »Er war der beste und freundlichste Gefährte, den ich hatte. Er war klug und ehrlich und konnte mich besser als irgendjemand sonst zum Lachen bringen. Er hat mir wunderbare Geschichten von einigen der Orte erzählt, die er besucht hatte, von Dingen, die er gesehen hatte, und darüber, wie er zu ihnen stand… und von den Häusern, die er noch bauen wollte. Er versteht sehr viel von Geschichte, vor allem von der Kunstgeschichte Italiens. Ich - ich finde es wunderbar, ihm zuzuhören, weil ihm die Dinge so sehr am Herzen liegen.«
Eine gewisse Anspannung in ihrer Stimme zog Sacheveralls Mundwinkel nach unten, und seine Augen blickten durchdringend.
»Ganz recht«, sagte er steif. »Kurzum, Miss Lambert, man könnte sagen, er hat Ihnen den Hof gemacht.« Das war eine Schlussfolgerung, keine Frage. Er fuhr unverzüglich fort. »Er hat von seinen Gefühlen gesprochen, er hat Ihnen von seinen Hoffnungen für die Zukunft erzählt, er hat Ihnen ein außergewöhnliches Vertrauen entgegengebracht, mehr, so dürfen wir vermuten, als irgendjemandem sonst. Hat er unmissverständlich klargemacht, dass er tiefe Gefühle für Sie hegt, ganz gleich, auf welche Weise oder mit welchen Worten?«
»Ja… ich habe es jedenfalls geglaubt.« Sie suchte in ihrem Retikül nach einem Taschentuch und wischte sich damit über die Augen. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Aber selbstverständlich«, erwiderte Sacheverall sanft. »Ich nehme an, dass jeder in diesem Raum verstehen wird, was Sie empfinden, abgesehen von Melville und vielleicht von seinem Anwalt.«
Rathbone dachte daran, Einspruch zu erheben, aber es lohnte der Mühe nicht. Die Bemerkung war gefallen, und ihre Wirkung würde weniger ausschlaggebend sein als Zillahs Verhalten. Man konnte spüren, wie das Mitgefühl für sie sich im Raum ausbreitete. Selbst auf der Galerie herrschte völliges Schweigen. Wenn irgendjemand geneigt gewesen war, über sie zu lachen oder ihr Missgeschick mit einem Gefühl der Genugtuung zu betrachten, hatte er jetzt entweder seine Meinung geändert oder spürte die Stimmung im Saal und hielt sich klugerweise zurück.
».Miss Lambert«, fuhr Sacheverall fort. »Was sic h Mr. Melville vollauf im Klaren über die Hochzeitspläne und all die Vorbereitungen?«
Sie klang überrascht. »Natürlich.«
»Er war zugegen, als Sie über Dinge wie die Auswahl der Kirche sprachen? Er wurde diesbezüglich um Rat gefragt, nicht wahr?«
»Ja, natürlich wurde er gefragt.« Sie erwiderte seinen Blick.
»Glauben Sie, wir würden so etwas arrangieren, ohne uns seiner Gefühle zu versichern?«
»Nein, das glaube ich nicht, Miss Lambert, aber Sir Oliver scheint davon auszugehen, dass es so war.« Das leichte Schnauben, mit dem er seine Worte begleitete, war höhnisch.
»Hat Mr. Melville Ihnen zu irgendeiner Zeit auch nur den leisesten Hinweis darauf gegeben, dass er sein Versprechen nicht einhalten würde?« Er machte eine ruckartige Kopfbewegung in Melvilles Richtung.
»Nein«, sagte sie schlicht.
»Und hat er Ihnen seither Gründe für sein Verhalten genannt?«, hakte Sacheverall noch einmal nach.
»Nein.« Sie hatte Mühe, ihre Gefühle zu beherrschen, das konnte jeder sehen. Einige der Geschworenen musterten sie durchdringe nd, anderen war das Ganze um ihretwillen peinlich, und sie wollten nicht aufdringlich wirken. Wenn Sacheverall nicht vorsichtig war, ging er das Risiko ein, seinerseits das Wohlwollen der Geschworenen einzubüßen. Vielleicht spielte das keine Rolle für ihn, solange er nur sicher sein konnte, dass sie auf ihrer Seite waren. Was Rathbone über ihn wusste, legte die Vermutung nahe, dass er ein Mann war, der um jeden Preis gewinnen wollte.
Sacheverall biss sich auf die Unterlippe und zeigte deutlich sein Widerstreben.
»Miss Lambert, hat er Ihnen einen Grund für sein Benehmen genannt, irgendeinen Grund?«
»Nein«, sagte sie so leise, dass man es kaum hören konnte.
Der Richter beugte sich vor, bat sie aber nicht, ihre Worte zu wiederholen.
»Nur noch eine Frage, Miss Lambert«, versprach Sacheverall.
»Haben Sie selbst eine Ahnung, warum er das getan haben könnte? Haben Sie ihm irgendeinen Anlass gegeben? Gibt es etwas, das er über Sie in Erfahrung gebracht haben könnte, über Ihre Familie oder über Ihr persönliches Verhalten, das seine Entscheidung erklären oder rechtfertigen könnte?«
»Das sind mindestens drei Fragen, Mr. Sacheverall«, bemerkte der Richter.
»Es wird nur eine Antwort notwendig sein, Mylord«, antwortete Sacheverall und hob die Hände. »Danach gehört die Zeugin Sir Oliver.«
»Miss Lambert?«, hakte der Richter nach.
»Nein, Mylord, ich weiß von nichts«, versicherte sie. Sacheverall zuckte die Achseln und sah erst die Geschworenen, dann Rathbone an. »Sir Oliver, Ihre Zeugin.« Rathbone erhob sich. »Vielen Dank, Mr. Sacheverall. Ich habe das Gefühl, dass Sie meinen Argumenten bereits vorgegriffen haben.« Er lächelte breit, um Sacheverall zu verunsichern und gleichzeitig zu reizen. Dann wandte er sich Zillah zu; er lächelte immer noch, aber jetzt war sein Lächeln sehr sanft. »Miss Lambert, Sie haben meinem gelehrten Freund soeben erklärt, Sie wüssten keinen Grund, warum Mr. Melville Ihr Verlöbnis gebrochen haben könnte. Es liegt keinerlei Schatten über Ihrer Familie, Ihrer finanziellen Situation oder Ihrem persönlichen Ruf.«
Auf der Galerie wurde ein Murren laut, und die Gesichter der Geschworenen verfinsterten sich.
Rathbone lächelte nach wie vor. »Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Ihre Worte in jedem Punkt der Wahrheit entsprechen. Verlieren Sie leicht die Geduld, Miss Lambert, oder neigen Sie zu Verdrossenheit?«
Sie sah überrascht auf. »Ich glaube nicht, Sir. Jedenfalls hat mir nie jemand etwas dergleichen gesagt.«
»Tratschen Sie vielleicht gern?«
»Nein, Sir. Ich betrachte das als eine verachtenswerte Angewohnheit.«
Wieder wurde ein Raunen der Missbilligung von der Galerie laut, und mehrere Geschworene warfen ihm unfreundliche Blicke zu.
Richter McKeever runzelte die Stirn, unterbrach ihn jedoch nicht.
Melville trommelte angespannt mit den Fingern auf das Pult vor ihm. Sacheverall sah ungemein selbstzufrieden aus.
»Und Sie erfreuen sich einer guten Gesundheit?«, fuhr Rathbone fort. »Sie haben keinerlei chronische Krankheiten, nicht mehr als die üblichen Wehwehchen, die uns alle von Zeit zu Zeit heimsuchen?«
»Meine Gesundheit ist hervorragend, Sir.« Sie schien immer noch ganz verwirrt zu sein.
»Ihre Geduld mit meinen aufdringlichen Fragen legt Zeugnis für Ihr ausgeglichenes Temperament und Ihr freundliches Wesen ab, Miss Lambert«, sagte Rathbone liebenswürdig. »Und es ist für jeden von uns hier deutlich zu sehen, dass Sie eine bemerkenswert angenehme Erscheinung sind!« Er ignorierte ihr Erröten. »Und Sie beweisen eine Bescheidenheit, die Ihnen gut zu Gesicht steht. Oh… ich habe zu fragen vergessen, sind Sie vielleicht extravagant?«
Sie blickte auf ihre Hände herab. »Nein, Sir, das bin ich nicht.«
»Und der große Erfolg Ihres Vaters sichert Sie in finanzieller Hinsicht ab. Alles in allem scheinen Sie eine Braut zu sein, die zu erringen jeder Mann sich glücklich schätzen dürfte.«
»Vielen Dank, Sir.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum Killian Melville diese Gelegenheit ungenutzt lassen will, aber der Fehler liegt bei ihm, gewiss nicht bei Ihnen.«
Melville hob ruckartig den Kopf.
Sacheverall starrte erst Rathbone, dann den Richter an. McKeever beugte sich nach vorn. »Worauf wollen Sie hinaus, Sir Oliver? Sie scheinen mir Ihren eigenen Mandanten zu verunglimpfen.«
»Ich will darauf hinaus, Mylord, dass Miss Lambert nicht zu den jungen Damen gehört, die nur einen einzigen Heiratsantrag bekommen«, erklärte er jovial und sah sie an, während er sprach. »Sie ist in jeder Hinsicht überaus begehrenswert. Sie scheint keine gravierenden Fehler zu haben, abgesehen von den kleinen menschlichen Schwächen, die man wohl bei jedem erwarten darf. Sie wird zweifellos noch viele weitere Heiratsanträge erhalten, die mindestens so viel versprechend sind wie der von Mr. Melville. Sie könnte leicht das Herz eines Mannes gewinnen, der Titel und Vermögen besitzt. Ich kann meinem gelehrten Freund Mr. Sacheverall nicht Recht geben«, sagte er und deutete in Zillahs Richtung, »dass sie auf eine schlimme Art und Weise verletzt wurde, so wie es auch ihre Mutter, Mrs. Lambert, angedeutet hat. Ich spreche dabei natürlich nicht von ihren Gefühlen, die unleugbar verletzt wurden. Man hat sie gekränkt, und ihr Vertrauen wurde missbraucht, aber ihre Zukunft in dieser Welt hat keinen Schaden genommen. Unglücklicherweise können wir unsere persönlichen Gefühle vor den Verletzungen der Liebe nicht schützen. Wer sich auf das Leben einlässt, muss auch die Risiken in Kauf nehmen.«
»Also, wirklich!«, protestierte Sacheverall. Er stand auf und trat vor.
McKeever hob seine schütteren Augenbrauen, und seine großen blauen Augen blickten unschuldig. »Ja, Mr. Sacheverall?«
»Ich…« Sacheverall gab sein Vorhaben mit sichtbarem Abscheu auf und kehrte an seinen Platz zurück.
»Benötigen Sie sonst noch irgendwelche Informationen von Miss Lambert?«, fragte McKeever die Anwälte.
Beide lehnten dankend ab, und er vertagte das Gericht auf den folgenden Tag.
Rathbone fühlte sich erbärmlich. Er hatte einen geringfügigen Sieg über Sacheverall errungen, indem er auf Zillah Lamberts augenfälligen Charme und ihre offensichtliche Unschuld hingewiesen hatte, aber den Fall würde er damit nicht gewinnen, und das wussten sie beide. Seine Bemerkungen machten Melvilles Verhalten nur umso unbegreiflicher. Als Rathbone nun tief in Gedanken versunken und mit energischem Schritt den Fußweg entlangging, mied er sorgsam die Blicke der wenigen Berufskollegen, an denen er vorüber kam; er wollte den nächsten Hansom nehmen, den er finden konnte. Und die ganze Zeit über ließ ihn die Frage nicht los, was Melville über Zillah oder ihre Familie wissen konnte, das zu sagen er sich weigerte? Ebendieser Gedanke musste früher oder später auch all ihren Freunden und Feinden in der Gesellschaft kommen. Ganz gewiss würden ihn die Mütter ihrer Rivalinnen aussprechen. Und diese Frauen würden ganz sichergehen, dass ihre Spekulationen auch den Müttern passender junger Herren, den Erben von Titeln und Vermögen, zu Ohren kämen.
Wenn jemand Zillah Lambert aus Liebe heiratete, dann konnte er, wie es schien, gar nichts Besseres tun, aber bei der Mehrheit der Männer, auf die ihre Mutter es abgesehen hatte, würde das nicht der Fall sein. Selbst wenn niemand es laut auszusprechen wagte, so waren die Geschworenen doch Männer von Welt und zweifellos selbst verheiratet, hatten vielleicht Söhne, die in Bälde auf Brautschau gehen würden. Wären sie bereit, ein Mädchen zu akzeptieren, das Anlass zu solchen Fragen gegeben hatte?
Es begann zu regnen, und er musste laufen, um den Hansom zu erreichen, bevor zwei offenkundig ungeduldige Gentlemen ihm zuvorkommen konnten. Er hörte ihren verärgerten Protest, als er die Tür zuwarf und dem Kutscher seine Adresse nannte.
Zwei Stunden später - nachdem er gegessen und fünfunddreißig Minuten mutlos in seinem Wohnzimmer auf und ab gegangen war - verließ er abermals das Haus, um mit einer anderen Droschke zu Melvilles Wohnung zu fahren.
Er war bisher nur ein einziges Mal dort gewesen. Während ihrer Vorbereitung auf die Verhandlung war Melville zu ihm gekommen. Sein Quartier lag in einem hübschen georgianischen Stadthaus, das sich jedoch in keiner Weise von seinen Nachbarn zu beiden Seiten unterschied. Sobald er jedoch das Vestibül, die Halle und die Treppe zum zweiten Stockwerk, in dem Melvilles Räume lagen, hinter sich gelassen hatte, erwies sich der Bau als etwas durch und durch Besonderes. Sämtliche inneren Wände waren niedergerissen, und die neuen hatte man gerundet und in Farben getüncht, die auf einzigartige Weise den Eindruck von Geräumigkeit und Licht vermittelten. Sie waren eigens dazu geschaffen, eine optische Illusion von Distanz und zugleich Wärme zu erzeugen. Ein Raum schien mit dem nächsten zu verschmelzen. Elfenbein und Goldtöne und die Farbe von braunem Zucker fügten sich nahtlos in den Glanz von poliertem Holz. Ein leuchtend fuchsienrotes Kissen zog den Blick auf sich, der dann wiederum von einem grell türkisch rosafarbenen gefesselt wurde.
Killian Melville saß mitten im Zimmer auf einem bestickten Kamelsattel. Er sah elend aus und blickte kaum auf, als Rathbone eintrat und das Dienstmädchen sich zurückzog.
»Ich nehme an, Sie wollen den Fall abgeben«, sagte er düster.
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken, denn ich stehe da wie ein übler Schuft.«
»Sie stehen nur da wie ein Schuft?«, fragte Rathbone sarkastisch.
Melville blickte auf. Es lagen tiefe Schatten unter seinen Augen, und von der Nase zum Mund und um die Mundwinkel herum zogen sich feine Linien. Er war gut aussehend auf eine kultivierte, asketische Art, aber der herausragendste Eindruck, den sein Gesicht vermittelte, war nach wie vor seine Aufrichtigkeit. Er hatte etwas Direktes an sich, etwas, das Mut, ja sogar Tollkühnheit vermuten ließ.
»Also, wollen Sie den Fall niederlegen?«, wiederholte er.
»Nein, das will ich nicht!«, sagte Rathbone scharf. Was ihn antrieb, war eher Stolz als Vernunft und ganz gewiss nicht die Hoffnung, den Prozess zu gewinnen. »Ich werde den Fall zu Ende bringen, aber das Beste, was ich für Sie erreichen kann, ist eine Eingrenzung des Schadens. Mit dem, was ich von Ihnen weiß, kann ich Sacheverall nicht schlagen, - er hat alle Trümpfe in der Hand.«
»Das ist mir klar«, pflichtete Melville ihm bei. »Ich erwarte auch keine Wunder.«
»O doch, genau das tun Sie!« Rathbone setzte sich auf das Sofa, ohne auf eine Aufforderung zu warten. »Sonst wären Sie mit dieser Sache gar nicht erst vor Gericht gegangen. Es ist noch nicht zu spät, um Nervosität oder Indisponiertheit vorzuschützen und sie trotz allem zu heiraten. Möglich, dass sie Ihren Antrag zurückweist, Grund genug hätte sie ja dazu - aber dann wäre zumindest ihre Ehre gerettet, und Sie hätten Ihren Kopf aus der Schlinge gezogen.«
Melville lächelte selbstironisch. »Aber was ist, wenn sie mich nimmt?«
»Dann heiraten Sie sie«, antwortete Rathbone. »Sie ist charmant, bescheiden, intelligent, ausgeglichen und gesund. Ihr Vater ist reich, und sie ist seine einzige Erbin. Um Himmels willen, Mann, was wollen Sie denn noch? Sie haben zugegeben, dass Sie sie mögen, und das Mädchen selbst hat offensichtlich eine große Zuneigung zu Ihnen gefasst.«
Melville wandte den Blick ab. »Nein«, sagte er, aber in seiner Stimme lag absolute Entschlossenheit. »Ich kann sie nicht heiraten.«
Rathbone war außer sich. Er fühlte sich hilflos, weil er so schlecht ausgerüstet in die Schlacht ziehen musste.
Melville saß auf dem Kamelsattel und starrte mit hochgezogenen Schultern unglücklich und verstockt auf den Boden.
»Dann nennen Sie mir um Gottes willen einen Grund!« Rathbone hörte, wie seine Stimme ärgerlich und immer lauter wurde. »Wenn Sie es mir verbieten, werde ich diesen Grund nicht anführen, aber lassen Sie ihn mich zumindest wissen! Was stimmt nicht mit Zillah Lambert? Trinkt sie? Hat sie eine Krankheit? Liegt vielleicht Wahnsinn in ihrer Familie? Was ist es?«
»Nichts«, sagte Melville halsstarrig und ohne aufzublicken. Rathbone konnte nur sein Profil sehen. »So weit ich weiß, ist sie genauso charmant und unschuldig, wie sie aussieht«, fuhr er fort. »Mir ist nichts Gegenteiliges bekannt.«
»Dann muss es an Ihnen liegen«, sagte Rathbone anklagend.
Er konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor so wütend auf einen Mandanten gewesen zu sein. Melville war begabt, gut aussehend und ein durch und durch herausragender Mensch mit sehr viel Charme…. und er richtete sich wegen einer Sache zu Grunde, die im Vergleich zu den Tragödien und Gewalttaten, mit denen Rathbone für gewöhnlich zu tun hatte, absolut nichtig war. Es war natürlich keine Kleinigkeit, wenn der gute Ruf einer jungen Frau in Zweifel gezogen und ihre Gefühle verletzt wurden, aber diese Dinge wogen so viel weniger als die Gefängnisstrafen, der Ruin und oft sogar der Tod, mit denen er in Mordfällen konfrontiert war. Und Melville vermittelte ihm das Gefühl, seinen Schwierigkeiten mehr oder weniger selbst heraufbeschworen zu haben. Warum hatte er gelogen? Was konnte es nur sein, das zu verbergen einen solchen Preis wert war?
Melville saß schweigend und in sich zusammengesunken da.
»Was ist es?«, insistierte Rathbone. »Ist es nur Zillah Lambert, die Sie nicht heiraten wollen, oder sind Sie grundsätzlich gegen eine Heirat?«
Melville drehte sich zu ihm um; sein Gesicht spiegelte Verwirrung wider, und in seinen Augen lag etwas Dunkles, das Rathbone möglicherweise für Furcht hielt.
»Nun?«, fragte er eindringlich. »Steht es Ihnen frei zu heiraten? Was Sie mir auch erzählen, ich bin durch einen Eid dazu verpflichtet, es vertraulich zu behandeln. Ich darf vor Gericht um Ihretwillen nicht lügen, aber ich kann und werde Schweigen bewahren. Andererseits kann ich Ihnen unmöglich helfen, wenn ich nicht weiß, woran ich bin!«
Melville wandte sich mit starrer Miene ab. »Es steht mir frei zu heiraten… aber nicht Zillah Lambert. Damit ist die Sache erledigt. Es liegt nicht an ihr. Ich werde die Strafe auf mich nehmen. Tun Sie einfach nur Ihr Bestes.«
Rathbone blieb noch eine halbe Stunde, aber er bekam nichts mehr aus Melville heraus. Um Viertel vor zehn verabschiedete er sich und ging nach Hause; der Wind hatte zugenommen, und der sturzbachartige Regen war noch immer überraschend kalt.
Er schenkte sich ein Glas Malzwhisky ein, leerte es mit einem einzigen Zug, ging dann zu Bett und schlief ausnehmend schlecht, weil ihm seine Träume keine Ruhe ließen.