5
Monk stand in seiner Wohnung am Kamin und starrte in die Flammen, während die Kohlen in sich zusammenfielen und die Funken sprühten. Oliver Rathbone war gerade gegangen. Er war fast zwei Stunden bei ihm gewesen und hatte ihm alles über seinen gegenwärtigen Fall erzählt. Tatsächlich hatte der Anwalt einen weniger selbstsicheren Eindruck gemacht als sonst.
Allem Anschein nach hatte Killian Melville ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt. Aber warum weigerte er sich so hartnäckig? Schließlich war Rathbone gesetzlich dazu verpflichtet, alle Auskünfte vertraulich zu behandeln.
Während Monk sich an den verglühenden Kohlen wärmte, konnte er sich nicht des Verdachts erwehren, dass das Problem mit einem Verbrechen in Zusammenhang stand. Warum sonst umwarb ein junger Mann eine in jeder Hinsicht begehrenswerte Frau, um dann, quasi am Vorabend der Eheschließung, seine finanzielle, berufliche und gesellschaftliche Situation aufs Spiel zu setzen, indem er die Verlobung löste? So etwas tat man nur aus den zwingendsten Gründen.
Es musste mit der Familie Lambert, mit Zillah selbst oder mit Melvilles eigener Situation zu tun haben. Da er ihr anscheinend bis zum letzten Augenblick den Hof gemacht hatte, konnte es nur etwas sein, das er gerade erst erfahren hatte. Oder aber es war eine Angelegenheit, die sein eigenes Leben betraf und von der er geglaubt hatte, sie verbergen zu können; und dann hatten die Umstände ihn eines anderen belehrt.
Wurde er erpresst? Das war eine Möglichkeit. Monk wollte noch am gleichen Nachmittag anfangen, der Sache nachzugehen, und zwar mit Melvilles Hilfe. Die Verhandlung sollte am Montagmorgen fo rtgesetzt werden, sodass ihm nur noch anderthalb Tage Zeit blieben, um etwas in Erfahrung zu bringen.
Er zog seinen Mantel an. Es war bereits halb drei, und er rechnete damit, bis zum späten Abend unterwegs zu sein.
Draußen schien die Sonne, aber im Osten türmten sich jenseits der Dächer dichte Wolken auf, und Monk wusste aus Erfahrung, dass das Wetter sehr schnell umschlagen konnte.
Er hatte beschlossen, mit einem eigenen Klienten zu beginnen, einem Mann, für den er in der Vergangenheit ein heikles Problem gelöst hatte. Zum Dank hatte Mr. Sandeman Monk jede nur erdenkliche Hilfe versprochen, falls er sie je benötigen sollte. Jetzt wollte Monk die Probe aufs Exempel machen.
Kurz vor drei Uhr traf er am Upper Badford Place ein und fragte, ob es möglich sei, Mr. Sandeman in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.
»Wenn es nicht wichtig wäre, würde ich ihn nicht an einem Samstag belästigen, noch dazu, ohne ihm zuvor eine Nachricht zukommen zu lassen«, erklärte Monk dem Butler, während er die Handschuhe abstreifte und dem Mann seinen Hut und seinen Stock reichte.
»Gewiss, Sir«, sagte der Butler, der seine Überraschung routiniert zu verbergen wusste. »Ich werde nachsehen, ob Mr. Sandeman zu Hause ist.« Das war die übliche Art, einem Besucher mitzuteilen, dass man sich bei seinem Herrn erkundigen wolle, ob der Gast auch willkommen sei. Natürlich war er sich vollauf darüber im Klaren, wer im Hause weilte und wer nicht. Das war schließlich seine Aufgabe. »Wenn Sie bitte im grünen Salon warten wollen, Sir, dort werden Sie es gewiss bequem haben.«
Der grüne Salon war ein sehr hübscher Raum, durchflutet vom nachmittäglichen Sonnenlicht, das durch die weiß gestrichenen Fenster fiel. Von dort aus hatte man einen Blick auf den Garten, in dem die silbrigen Blätter einer Birke in der leichten Brise schimmerten, als tanze die Luft. Die Wände des Raums waren in schlichtem Dunkelgrün gehalten, und an zwei Wänden hingen Landschaftsgemälde. Monk erinnerte sich noch von seinem früheren Besuch hier an diesen Salon, als Sandeman wegen eines angeblichen Diebstahls im Schlafzimmer seiner Frau so besorgt gewesen war. Aber diese Angelegenheit war damals zur Zufriedenheit geregelt worden, und es wäre taktlos gewesen, das Thema jetzt noch einmal anzuschneiden.
Monk brauchte nicht lange zu warten. Die Tür wurde geöffnet, und Robert Sandeman trat ein; sein gutmütiges Gesicht drückte Beunruhigung aus. Er war ein sehr wohlhabender Mann, der nach wie vor aussah, als trage er Kleider aus zweiter Hand, auch wenn seine Anzüge das Beste waren, was die Savile Row zu bieten hatte.
»Hallo, Monk!«, sagte er überrascht. »Es hat sich doch nichts Neues ergeben, oder?« Er vermochte nicht, die Besorgnis in seinem Blick zu verbergen.
»Keineswegs«, versicherte Monk ihm. »Ich ziehe im Augenblick Erkundigungen ga nz anderer Natur ein, für einen Freund, und ich hatte gehofft, Sie könnten mir vielleicht ein klein wenig behilflich sein. Ich muss genug in Erfahrung bringen, um bis Montagmorgen irgendeine Antwort auf meine Fragen gefunden zu haben, sonst hätte ich Sie nicht in dieser Weise überfallen.«
Sandemans Erleichterung war fast mit Händen zu greifen. Er zog die Tür hinter sich zu und deutete auf einen der tiefen Sessel, während er selbst auf einem der anderen Platz nahm.
»Mein lieber Freund, ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung.«
»Vielen Dank«, erwiderte Monk und setzte sich. Auf dem Weg hierher hatte er darüber nachgedacht, wie er das Thema am besten anschneiden konnte, ohne den Anschein zu erwecken, in Bereiche einzudringen, die kein Gentleman erörtern würde. Es gab keine einfache Lösung für sein Problem. »Es geht wiederum um eine heikle Angelegenheit«, begann er. »Vielleicht ein privates Problem, vielleicht auch ein finanzielles. Es ist alles noch ziemlich unklar. Und ich möchte nicht das Vertrauen des Betreffe nden missbrauchen oder seine Privatsphäre verletzen.«
»Ganz recht», sagte Sandeman schnell. »Ganz recht.«
Erleichtert lehnte er sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. »Also, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Monk begann seinen Bericht mit großer Umsicht. »Kennen Sie die Arbeit des Architekten Killian Melville?«
Sandeman war überrascht. »Ja! Ja, die kenne ich. Ein brillanter Bursche. Einzigartig. Seine Arbeit ist etwas völlig Neues und Unvergleichliches. Wussten Sie das? Ganz und gar ungewöhnlich«, fügte er hinzu. »Er schafft es, Räume größer aussehen zu lassen, als sie wirklich sind. Keine Ahnung, wie er das macht. Es hat was mit Farbschattierungen zu tun, mit Linienführung. Er benutzt Wölbungen und Bogen auf eine ganz ungewöhnliche Art und Weise.« Sandeman holte Luft, um fortzufahren, besann sich dann aber anders. »Ich darf natürlich nicht fragen, warum Sie das wissen wollen.«
Er blickte Sandeman lächelnd an. »Ich nehme an, es wird in der Abendzeitung stehen, falls es nicht schon heute Morgen erwähnt wurde«, erklärte er. »Unglücklicherweise lassen sich solche Dinge nicht vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen.«
Sandeman hob die Augenbrauen. »Oh? Es tut mir Leid, das zu hören. Armer Kerl. Es überrascht mich wirklich. Ich habe im Zusammenhang mit seinem Namen bisher nicht mal andeutungsweise von einem Skandal gehört.« Er sah Monk mit zusammengekniffenen Augen an. Hinter seinem freundlichen, sanften Auftreten verbarg sich ein scharfer Verstand.
»Nicht den Hauch eines Skandals?«, hakte Monk nach, wohl wissend, dass er mit äußerster Behutsamkeit vorgehen musste.
»Ich habe nichts als Lob über ihn gehört«, bestätigte Sandeman. »Natürlich gefallen seine Arbeiten nicht jedem. Wenn dem so wäre, würde das ja bedeuten, dass er Mittelmaß ist, jemand, der auf Nummer sicher geht, kurzum, bloßer Durchschnitt. Und das ist er ganz gewiss nicht. Jedermanns Freund ist niemandes Freund, den Ausdruck kennen Sie doch?« Er sah Monk fragend an, als wisse er, dass dieser ihm Recht geben würde. »Ich finde einen Mann, der stets und ständig sein Fähnchen nach dem Wind hängt und nie für sich selbst steht, absolut unerträglich. So ein Mann ist Melville nicht.« Er runzelte die Stirn. »Aber das ist kaum etwas, weshalb man einen Mann vor Gericht bringen würde. Und Sie sagten nicht, ob es sich um eine Zivilklage oder eine strafrechtliche Sache handelt.«
»Eine Zivilklage.«
»Es geht bestimmt nicht um ein Gebäude, das nicht dem gewohnten Standard entspricht.« So, wie Sandeman es sagte, war es keine Frage, sondern eine Feststellung. »Er versteht sich bestens auf seine Arbeit. Ich würde sogar behaupten, dass er der beste Architekt seiner Generation, möglicherweise des ganzen Jahrhunderts, ist.«
»Wo hat er eigentlich studiert?«, wollte Monk wissen. Sandeman dachte einen Augenb lick nach. »Hm, das weiß ich nicht«, antwortete er ein wenig erstaunt. »Ich habe nie jemanden darüber sprechen hören. Ist es wichtig?«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Monk. »Der Kern des Problems dürfte wohl kaum so weit in der Vergangenheit liegen. Ich nehme an, es sind Ihnen nie Gerüchte zu Ohren gekommen, dass er in finanziellen Dingen nicht vertrauenswürdig sei oder…«
Sandeman fiel ihm ins Wort. »Er ist Architekt, Monk. Ein Mann voller Visionen, ein Genie. Er ist kein Bankier und kein Händler. Er verkauft Ideen. Ich glaube, statt weiter um den heißen Brei herumzureden, sollten Sie mir besser, natürlich vollkommen vertraulich, etwas über das Wesen dieser Schwierigkeiten sagen. Wenn die Sache vor Gericht verhandelt wird, dauert es ohnehin nicht mehr lange, bis die Öffentlichkeit davon erfährt.«
Monk ging mehr als bereitwillig auf das Angebot Sandemans ein. »Er wird wegen eines gebrochenen Gelöbnisses verklagt.« Sandeman saß vollkommen reglos da. Er schwieg ungläubig.
»Ich stehe im Dienst seines Rechtsanwalts, der ihn verteidigt«, beantwortete Monk die unausgesprochene Frage.
»Ich verstehe«, sagte Sandeman mit zweifelnder Stimme. Er sah Monk argwöhnisch an. Er stand nicht so tief in Monks Schuld, dass er sich deswegen anderen gegenüber unehrenhaft gezeigt hätte, und plötzlich hatte sich eine merkwürdige Kühle über den Raum gesenkt. »Ich bezweifle, dass ich Ihnen helfen kann«, fuhr er fort. »So weit ich Melville kenne, ist er ein absolut rechtschaffener Mann, sowohl in geschäftlichen als auch in privaten Dingen. Ich habe nie etwas Nachteiliges oder Unrühmliches über ihn gehört.« Er sah Monk direkt in die Augen. »Und das kann ich Ihnen ohne jeglichen Vorbehalt versichern, wohl wissend, dass ich in Ihrer Schuld stehe.«
Monks Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Der Fall könnte unschön werden. Ich nehme an, dass die Familie des Mädchens ihm ernsthafte charakterliche Schwächen unterstellen wird, damit auch nicht der Schatten eines Zweifels auf ihre Tochter fällt. Wenn Melville in irgendeinem Punkt angreifbar ist, einem, den er uns vorenthalten hat oder den er vielleicht selbst nicht kennt, dann müssen wir darüber Bescheid wissen, um ihn verteidigen zu können.«
Sandemans Züge entspannten sich, und er ließ sich erleichtert in seinen Sessel zurücksinken. »Oh, ich verstehe.« In seinem Lächeln lag nun wieder die alte Freundlichkeit.
»Wer ist die Dame?«
Monk zögerte nicht mit seiner Antwort. »Miss Zillah Lambert.«
»Ach?« Sandeman schwieg einen Augenblick. »Ich kann Ihnen trotzdem nicht weiterhelfen. Ich weiß ein wenig über Barton Lambert. Kein sehr kultivierter Mann, aber andererseits lässt er sich auch von niemandem an der Nase herumführen. Er hat sein Vermögen mit harter Arbeit, gutem Urteilsvermögen und einem gewissen Maß an Mut gemacht. Meiner Einschätzung nach hat er keinen besonderen gesellschaftlichen Ehrgeiz, würde aber eine Demütigung auch nicht so einfach hinnehmen.«
»Und was ist mit seiner Frau?«, fragte Monk lächelnd. Sandeman holte tief Luft, und Monk hatte den Eindruck, dass er mehr wusste, als er zu sagen bereit war.
»Eine sehr hübsche Frau. Ich habe sie ein paar Mal getroffen. Einmal habe ich sogar bei ihnen zu Hause gespeist.« Er legte den Kopf leicht schräg. »Ich gestehe, dass ich kein derart schönes Haus erwartet hätte. Ich habe bei einigen der wohlhabendsten Familien Englands und einigen der ältesten gespeist, aber das Haus der Lamberts ist einfach unvergleichlich. Es ist ausgesprochen originell… ich meine in architektonischer Hinsicht. Es ist einfach großartig in seiner Andersartigkeit. Das is t Killian Melvilles Werk.« Er lächelte, als er sprach. »Man tritt in die Halle mit einem Fußboden aus roter Eiche in einem wunderbar warmen Farbton und Wänden, die in anderen Schattierungen gehalten sind. Die Farben sind wie… wie süßer und trockener Sherry… nein, eher wie brauner Zucker. Aber wegen der Fenster war der Raum voller Licht. Er vermittelte den Eindruck von Großzügigkeit und Geräumigkeit. Alle Linien waren gefällig, nichts störte, nichts war beengt.«
Monk unterbrach ihn nicht, obwohl sein Gastgeber ihm mehr über Killian Melville erzählte als über Lambert. Er wollte keine Sympathien für Melville entwickeln, weil er den Fall für hoffnungslos hielt. Es war leichter, ihn für einen Schurken oder einen Narren oder beides zu halten.
Sandeman erzählte noch immer von dem Haus. Offensichtlich gefiel ihm das Thema.
»Der Speiseraum war einfach süperb«, sagte er begeistert und beugte sich ein wenig vor. »Ich hatte schon viele prächtige Räume gesehen und dachte, mich könnte nichts mehr überraschen.« Er beobachtete Monks Reaktion auf seine Worte.
»Der Unterschied lag weniger in der eigentlichen Konstruktion als in den Details, sodass der Gesamteindruck auch hier Helligkeit und Schlichtheit vermittelte, und erst bei näherem Hinsehen wurde einem klar, was hier anders war. Im Wesentlichen ging es um die perfekte Proportion.«
»Sie wollen also sagen, dass Melville ein echtes Genie ist«, bemerkte Monk.
»Ja… ja, ich glaube, das will ich sagen«, stimmte Sandeman ihm zu. »Aber ich möchte auch bemerken, dass Lambert das verstand und zu schätzen wusste. Und Mrs. Lambert war ebenfalls für all diese Dinge empfänglich und hat sie auf ihre Weise perfekt ergänzt. Alles in ihrem Speisesaal war vollkommen. In den Vasen befand sich nicht eine Lilie, an der ein Makel gewesen wäre, am Kristall war nicht ein Fingerabdruck oder eine angeschlagene Stelle zu entdecken, das Silber hatte nirgends einen Kratzer und die Tischwäsche nirgendwo auch nur den Schatten eines alten Flecks.« Er neigte ganz leicht den Kopf. »Alles, aber wirklich alles war von erlesenem Geschmack. Und sie selbst war die perfekte Gastgeberin. Das Essen war natürlich köstlich und reichlich, ohne auch nur im Mindesten protzig zu sein.«
»Interessant«, stellte Monk fest. »Aber es hilft uns nicht weiter.«
»Ich weiß nicht, wie ic h Ihnen helfen könnte.« Sandeman zog die massigen Schultern hoch. »Barton Lamberts Ruf ist untadelig, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht. Ich habe nie auch nur die leiseste Andeutung darüber gehört, dass er etwas anderes ist als das, was er zu sein scheint: ein raubeiniger, aber gewitzter Geschäftsmann, der ein Vermögen gemacht hat und aus dem Norden des Landes nach London kam, um seinen Erfolg auszukosten, die Künste zu fördern - hauptsächlich Architektur, aber auch Musik und Malerei - und Frau und Tochter die Annehmlichkeiten der Londoner Gesellschaft zu bieten. Und sollten Sie versuchen, irgendwelche Beweise dafür zu finden, dass er die Bordelle im West End aufsucht oder sich heimlich eine Mätresse hält, sich an Glücksspielen beteiligt oder gelegentlich einen über den Durst trinkt, dann bezweifle ich, dass Sie Erfolg haben werden. Und selbst wenn, würde es Ihnen nicht helfen. Das alles tun nämlich die meisten Männer in seiner Position. Keines dieser Laster wäre ein Grund, seine Tochter nicht zu heiraten.«
Das wusste Monk. »Was ist mit Mrs. Lambert?«, fragte er.
»So weit ich weiß, ist sie genauso über jeden Verdacht erhaben«, erwiderte Sandeman. »Sie hat einen untadeligen Ruf. Vielleicht ist sie eine Spur zu ehrgeizig für ihre Tochter, aber ich bin mir nicht sicher, ob man das als Fehler bezeichnen würde. Wenn ja, können Sie etlichen Londoner Müttern dasselbe vorwerfen.«
»Woher kommt sie eigentlich?«
»Keine Ahnung.« Sandemans Augen weiteten sich. »Glauben Sie, Melville ist das wichtig?«
»Nein. Ich versuche nur, jeder Möglichkeit nachzugehen. Könnte ihre Tochter außerehelich sein?«
»Nein«, sagte Sandeman lächelnd. »Ich weiß, dass sie achtzehn Jahre alt ist, und die Lamberts haben jüngst ihren zwanzigsten Hochzeitstag gefeiert. Das wurde an dem Abend, als ich dort zu Gast war, erwähnt. Es muss jetzt einige Monate her sein, sieben oder acht. Und würde das etwas an Melvilles Meinung über das Mädchen ändern?« Er zog abermals die Schultern hoch. »Ja, wahrscheinlich wäre das möglich. Weil er nicht wüsste, wer der Vater war. Könnte dann so ziemlich jeder gewesen sein.«
Monk versagte es sich zu bemerken, dass sich dasselbe von vielen anderen behaupten ließe, denn dies war ein Argument, an dem Sandeman vielleicht Anstoß nehmen würde. Ihm fielen keine weiteren Fragen mehr ein, die vielleicht eine nützliche Antwort versprachen, also stand er auf und bedankte sich.
»Ich hoffe, Sie können irgendwie helfen«, sagte Sandeman stirnrunzelnd.
»Ja, hoffentlich«, sagte Monk.
»Tja, unschöne Sache«, meinte Sandeman. »Wenn ich irgendetwas höre, werde ich Sie davon in Kenntnis setzen.«
Und damit musste sich Monk zufrieden geben.
Er verbrachte einen anstrengenden Nachmittag mit der Betrachtung des jüngsten Gebäudes, das nach den Plänen Killian Melvilles errichtet wurde und kurz vor der Fertigstellung stand. Zuerst musste er die Erlaubnis eines dubiosen Hausaufsehers einholen und sich dann vorbei an viel beschäftigten Handwerkern mühsam einen Weg über Bretter und Gipsfässer bahnen.
Es war eine unangenehme Erfahrung. Eigentlich wollte er nichts mit Melville zu tun haben, aber schon jetzt faszinierte ihn die Kraft seiner Visionen. Als er im Hauptwohntrakt stand, wo gerade Carraramarmor verlegt wurde, waren überall um ihn herum Licht und Helligkeit. Es war kein kaltes, farbloses Licht, sondern eins, das den Eindruck von Weite und Freiheit vermittelte. Es wirkte fast so, als sei das Innere so grenzenlos wie das Äußere mit seinen klaren, aufstrebenden Linien und großflächigen Fassaden. Das Gebäude war äußerst modern und avantgardistisch, aber auch zeitlos.
Während er durch die noch nicht fertig gestellten Galerien schlenderte, spürte Monk, wie er sich nach und nach entspannte. Er schritt durch einen Säulengang in eine weitere Halle, in der die Sonne durch ein gewaltiges Rosettenfenster auf einen hellen Holzfußboden fiel. Die anderen Fenster waren sehr hoch und rund und ließen das Licht in das Deckengewölbe fluten. Unwillkürlich lächelte er. Monk war gern hier, fast als sei er in Gesellschaft eines Menschen, den er mochte.
Was konnte einen Mann, der so etwas zu schaffen vermochte, dazu bringen, einer Frau einen Heiratsantrag zu machen und dann sein Wort zu brechen? War es wirklich so, wie er Rathbone berichtet hatte?
Der Geist, der diese Gebäude geschaffen hatte, war von Klarheit und Sehnsucht erfüllt, von Mut und Willenskraft. Ein solcher Mann konnte unmöglich ein Feigling oder ein Betrüger sein.
Monk hatte unwillkürlich die Fäuste geballt. Er spürte den Wunsch, dies mit aller Macht zu bewahren, den Menschen, dessen Geist sich hier manifestierte, zu schützen. Er hatte andere nie nach dem beurteilt, was sie sagten, sondern nach dem, was sie taten, nach den Entscheidungen, die sie trafen, wenn es schwierig oder gefährlich wurde. Und dieses hoch in den Himmel aufragende Gebäude legte Zeugnis von Killian Melvilles Entscheidungen ab. Er hatte es mit der Absicht betreten, seinen Erbauer nicht zu mögen, sich nicht dafür zu interessieren, was aus ihm werden würde. Jetzt trat er durch die Eingangstür und ging die Treppe hinunter auf den Vorplatz. Der Wind war scharf und kalt. Die Sonne verschwand bereits hinter den Dächern.
Wie konnte er Melville helfen? Was verbarg er, und warum vertraute er es Rathbone nicht an? Schützte er sich selbst oder einen anderen? Das musste er vor Montagmorgen und dem Wiederbeginn der Verhandlungen herausfinden.
Es war schon spät am Sonntagnachmittag. Alle Geschäfte und Firmen, alle Behörden, bei denen er hätte nachfragen können, waren geschlossen. Er würde noch andere Bekannte aufsuchen müssen.
Er blieb einige Augenblicke regungslos auf dem Gehsteig stehen. Einige Fußgänger gingen vorüber, zwei Damen, die miteinander plauderten, während ihre Krinolinen über das Pflaster wirbelten. Eine von vier Pferden gezogene Kutsche fuhr in flottem Tempo vorbei. Jemand rief etwas, und ein junger Mann kam auf die Straße gerannt.
Monk erinnerte sich an den Namen des Mannes, den er über Architekten und Geldangelegenheiten befragen konnte. Er machte kehrt und ging energischen Schritts über den Platz und durch einen Bogengang, der in eine Hauptstraße mündete. Dort fand er einen Hansom und nannte dem Fahrer eine Adresse in der Gower Street.
George Burnham war ein älterer Herr mit einem phänomenalen Gedächtnis und gern bereit, andere daran teilhaben zu lassen und ein wenig damit anzugeben. Er legte Kohlen auf das Feuer und gab den Dienern Anweisung, für sich selbst und Monk das Abendessen zu servieren. Dann scheuchte er eine große und sehr schöne schwarzweiße Katze, die er Florence rief, weg, damit Monk auf dem besten Sessel Platz nehmen konnte.
»Ich kenne alle Architekten, Maler und Bildhauer, die in den letzten vierzig Jahren nach London gekommen sind«, erklärte er selbstbewusst. »Mögen Sie Schweinefleischpastete, mein lieber Monk?«
»Ja, gern«, sagte Monk und setzte sich behutsam auf den Sessel, um sein Jackett nicht zu verknittern, - er gab sich alle Mühe, die Katzenhaare auf dem Polster zu ignorieren.
»Wunderbar!« Mr. Burnham rieb sich die Hände. »Ganz wunderbar. Wir werden Schweinefleischpastete, warmes Gemüse und dazu Mixed Pickles essen. Mrs. Shipton macht die besten Pickles in der ganzen Stadt. Und wie wäre es vorher mit einen kleinen Schlückchen Sherry? Vielleicht einem feinen, lieblichen Amontillado? Gut, gut!« Er zog an der Glocke. »Und nun, mein lieber Junge, was wollen Sie wissen?« Er lächelte aufmunternd.
Monk hatte ihn während eines heiklen Falls kennen gelernt, bei dem eine gewisse Summe Geldes verschwunden war. Die Sache war zu Mr. Burnhams Zufriedenheit ausgegangen. Eine größere Zahl solcher Klienten war von unschätzbarem Wert. Zuerst hatte Monk nur Verachtung gehabt für die kleineren Fälle, die er seiner Talente nicht für würdig hielt und in denen er angesichts seiner beschränkten Finanzen nicht mehr sah als ein notwendiges Übel. Jetzt wurde ihm allmählich bewusst, welch großen Wert Klienten wie Sandeman oder Mr. Burnham für ihn hatten.
»Was halten Sie von Killian Melvilles Arbeit?«, fragte er frei heraus.
Mr. Burnham legte den Kopf zur Seite, und in seinen blauen Augen leuchtete echtes Interesse auf.
»Grandios«, sagte er. »Der beste Architekt dieses Jahrhunderts.« Er fragte nicht, warum Monk das wissen wollte, ließ ihn aber nicht aus den Augen.
»Wo hat er studiert?« Monk runzelte die Stirn.
»Keine Ahnung!«, antwortete Mr. Burnham prompt. »Das weiß niemand. Zumindest niemand, den ich kenne. Der Mann ist vor ungefähr fünf Jahren von Gott weiß wo nach London gekommen. Ich kann seinen Akzent nicht einordnen, obwohl ich’s versucht habe. Aber ich glaube nicht, dass es wichtig ist. Der Mann ist ein Genie. Er könnte seine eigenen Regeln aufstellen. Verstehen Sie mich nicht falsch«, fügte er ernsthaft hinzu. »Er ist ein sehr angenehmer Bursche, ohne Allüren oder Arroganz. So weit ich weiß, hat er keine Temperamentsausbrüche, hält sich keine Mätresse und ist auch sonst keinerlei Lastern verfallen.« Er hatte Monk noch immer nicht nach dem Grund seiner Erkundigungen gefragt.
»Könnte er auf dem Kontinent studiert haben?«, fragte Monk.
Florence sprang auf Mr. Burnhams Schoß, drehte sich mehrere Male um sich selbst und ließ sich dann nieder.
»Natürlich könnte er das!«, antwortete Mr. Burnham.
»Wahrscheinlich wird es so gewesen sein. Er ist viel zu originell, um auf all seine Inspirationen hier gestoßen zu sein.
Aber wenn Sie an seinen technischen Fähigkeiten zweifeln, machen Sie sich umsonst Sorgen. Ich kenne Barton Lambert gut genug, um darauf zu wetten, dass er Erkundigungen über Melville eingeholt hat. Mit Sicherheit sind Melvilles Entwürfe in statischer Hinsicht perfekt, sonst hätte er nicht einen Penny in seine Projekte investiert.« Er streichelte Florence geistesabwesend über den Rücken. »Sie können darauf genauso fest bauen wie auf die Bank von England. Die Häuser werden so lange stehen wie der Tower von London, das versichere ich Ihnen.« Er sprach mit absoluter Überzeugung und begleitete seine Worte mit einem Lächeln.
Die Tür wurde geöffnet, und eine stämmige und sehr freundlich wirkende Frau trat ein. Mr. Burnham stellte sie als Mrs. Shipton, seine Haushälterin, vor und bat darum, dass man ihnen ein Abendessen für zwei servieren möge. Sie schien sich über den Gast zu freuen und machte sich rasch wieder an die Arbeit.
»Ein Mann, auf dessen Wort Sie bauen würden?«, fragte Monk. »Auch auf sein Urteil?«
»Absolut!«, antwortete Mr. Burnham sofort. »Da können Sie jeden fragen.«
Monk lächelte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ›jeder‹ mir die Wahrheit sagen würde.«
»Ah!« Mr. Burnham lächelte und ließ sich ein wenig tiefer in den Sessel sinken. Florence schnurrte laut.
»Sie sind ein Skeptiker. Das müssen Sie ja sein. Wie dumm von mir, das zu vergessen.«
Monk musste unwillkürlich daran denken, wie sympathisch ihm Mr. Burnham während der Zeit ihrer Bekanntschaft gewesen war. Es hatte ihm beinahe Leid getan, als der Fall zum Ende kam.
Mr. Burnham schichtete weitere Kohlen auf das Feuer. Die Flammen loderten hoch, und Burnham verfolgte das Spektakel ein wenig besorgt, bis er zu dem Schluss kam, dass keine Brandgefahr bestand. Dann lehnte er sich wieder in seinen Stuhl zurück, nahm die Katze wieder auf den Schoß und verschränkte die Arme über dem Bauch.
»Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte über Barton Lambert erzählen«, begann er vergnügt, denn er erzählte nur zu gern Geschichten. »Dann werden Sie verstehen, was ich meine.«
Monk lächelte amüsiert.
»Bitte, tun Sie das.« Es war durchaus möglich, dass Burnhams Geschichte etwas Licht in die Sache bringen würde, außerdem durfte er sich auf ein vorzügliches Abendessen freuen, denn er hatte Mrs. Shiptons Küche schon zweimal gekostet.
Mr. Burnham ließ sich noch tiefer in seinen Sessel sinken und begann mit seinen Ausführungen.
»Eines müssen Sie über Barton Lambert wissen. Er liebt die Schönheit in all ihren Erscheinungsformen. Trotz seines wenig kultivierten Äußeren und seiner - offen gesagt - eher plebejischen Herkunft«, fuhr er mit einem keineswegs unfreundlichen Lächeln fort, »hat er die Seele eines Künstlers, obwohl er Geschäftsmann ist. Er besitzt zwar selbst kein künstlerisches Talent, unterstützt es aber bei anderen. Das ist seine Art, an den Dingen, die sie schaffen, Anteil zu nehmen.«
Ein Stückchen Kohle fiel aus dem Feuer, Monk packte es mit der Zange und legte es in den Kamin zurück.
»Er ist ein Mensch, der keine Missgunst kennt«, setzte Mr.
Burnham seinen Bericht fort. »Und das ist an sich schon etwas ausgesprochen Schönes, mein lieber Junge. Ich glaube überdies, dass er selbst sich dessen nicht bewusst ist. Eine Tugend, die sich nicht selbst bespiegelt, ist von besonderem Wert.«
Mrs. Shipton kam herein und deckte den kleinen Klapptisch.
Sie legte eine mit Spitze gesäumte Decke auf, silbernes Besteck, Salz und Pfefferstreuer sowie sehr feine Kristallgläser, und wenige Augenblicke später trug sie das Abendessen herein und servierte es. Mr. Burnham hielt kaum in seiner Geschichte inne, während er Florence auf den Boden setzte, Monk zu seinem Stuhl geleitete und sich bei Mrs. Shipton bedankte. Sie begannen zu essen.
»Lord…« Er zögerte. »Ich denke, ich werde diskretionshalber nicht seinen Namen nennen… Dieser Herr also suchte Mr. Lambert wegen des Baus einer Bürgerhalle für öffentliche musikalische Darbietungen auf.« Er reichte Monk die Schüssel mit dampfendem Gemüse und sah wohlwollend zu, wie dieser sich bediente. »Die Halle sollte äußerst teuer werden, und Mylord war bereit, zumindest die Hälfte der Kosten selbst vorzustrecken, wenn Lambert die andere Hälfte übernahm. Er hatte Beziehungen zur königlichen Familie.« Er legte ein kleines Stück Pastete auf einen Unterteller und stellte ihn für Florence auf den Boden. »Die Sache würde ihm großes Ansehen einbringen, etwas, das Lambert von keiner anderen Seite erhalten konnte. Stellen Sie sich vor, was das für einen solchen Mann bedeutet hätte, einen Mann, der durch und durch Patriot ist? Die bloße Erwähnung der Königin rief in ihm schon zutiefst aufrichtigen Respekt hervor.«
Monk genoss sein Essen. Das köstliche selbst gebackene Brot war ein Luxus, den er zu schätzen wusste, weil es ihm nur selten zuteil wurde.
»Diese Halle«, fuhr Mr. Burnham fort, während er sich noch einmal von dem würzigen Mix Pickles bediente und die Schale dann zu Monk hinüberschob, »sollte Ihrer Majestät gewidmet werden. Das alles liegt jetzt schon eine Weile zurück, und Killian Melville war damals nicht der Architekt, sondern ein anderer Bursche, den Mylord vorgeschlagen hatte. Lambert bekam die Pläne, und er war ganz aus dem Häuschen vor Aufregung. Er kannte sich in den Belangen der Welt genug aus, um zu wissen, dass seine einfache Herkunft ihm auf normalem Wege niemals die Aufnahme in eine solche Gesellschaft gestattet hätte. Mrs. Lambert hingegen wirkt von Kopf bis Fuß wie eine Dame; ob das angeboren ist oder nur angelerntes Verhalten, weiß niemand. Frauen scheinen sich solche Fähigkeiten müheloser anzueignen. Es liegt in ihrer Natur, sich anzupassen. Das muss es wohl!«
Monk gab keine Antwort. Er hatte den Mund voll.
»Sie ist eine bemerkenswert hübsche Frau und versteht sich auf die Kunst zu gefallen, ohne jemals aufdringlich oder übereifrig zu erscheinen«, fuhr Mr. Burnham fort. »Und doch strebt sie auf ihre Art und Weise ebenfalls nach absoluter Vollkommenheit. Sie ist eine wahre Künstlerin, wo es um häusliche Details geht, eine Frau, die ihrer Umgebung den Stempel von Eleganz und Luxus aufdrückt, so als seien diese Dinge schon immer dort gewesen.« Er musterte Monk, um sich zu vergewissern, dass er sich verständlich gemacht hatte, und war offensichtlich mit dem Ergebnis zufrieden.
Der erste Gang wurde abserviert, und man bot ihnen Siruptorte mit Sahne an. Monk ließ sich einen Teller füllen, und Mr. Burnham strahlte vor Freude. Er löffelte Florence etwas Sahne auf den Unterteller am Boden.
»Sie können sich vorstellen«, nahm er das Gespräch wieder auf, »wie glücklich Mrs. Lambert war, als Mylords einziger Sohn eine unverhohlene Zuneigung zu ihrer Tochter fasste, ein charmantes, fröhliches Mädchen, das zwar noch nicht im heiratsfähigen Alter war, aber sich diesem doch rasch näherte. In ein oder zwei Jahren hätten die Familien ein überaus annehmbares Arrangement treffen können, und zu gegebener Zeit wäre die junge Miss Lambert im wahrsten Sinne des Wortes eine Lady geworden, die Herrin eines der schönsten Landgüter Englands.«
»Aber etwas ist dazwischengekommen?« Monks Interesse war jetzt geweckt.
»In der Tat«, stimmte Mr. Burnham zu. »Ja wirklich, so war es.« Er beugte sich über den Tisch, und sein Gesicht glänzte im Schein der Kerzen. »Diese Halle sollte in jeder Hinsicht prachtvoll werden«, wiederholte er eindringlich. »Lambert war begeistert von der Idee. Er nahm die Pläne und Entwürfe mit nach Hause und brütete über ihnen wie ein Mann, der die Heilige Schrift studierte. Er war Feuer und Flamme für das Projekt. Immerhin ist doch auch das eine Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen, nicht wahr? Ein Kunststück, das tausend Jahre oder länger überdauern kann!« Er sah Monk in die Augen.
Monk nickte. Worte waren unnötig.
»Abend für Abend saß er über diesen Plänen«, sagte Mr. Burnham, dessen Stimme kaum mehr war als ein Flüstern. »Und er entdeckte einen Fehler… einen fatalen Fehler! Zuerst konnte er es nicht glauben - er konnte die Vorstellung nicht ertragen! Es war das Ende seiner Träume. Und nicht nur seiner, sondern auch das der Träume seiner Frau und möglicherweise auch das Ende des zukünftigen Glücks für seine Tochter, obwohl das natürlich weniger problematisch war; denn sie würde zweifellos andere Verehrer finden.«
»Aber Lambert entschied sich dafür, den Bau abzulehnen?«, nahm Monk den Schluss der Geschichte vorweg, während er sich den letzten Bissen seiner Siruptorte in den Mund schob. Burnhams Bericht war sehr interessant, aber wenig hilfreich, was diesen Fall betraf. Die Geschichte sagte viel aus über Barton Lambert, warf aber kein Licht auf die Frage, warum Melville Zillah sitzen gelassen hatte.
»Ja… sehr zu Mylords Ärger«, pflichtete Mr. Burnham ihm bei. »Lamberts Rückzug warf Fragen auf, der Fehler in dem Plan wurde bekannt. Der eine oder andere Ruf hat dadurch schwer gelitten.«
»Lambert machte sich also mächtige Feinde?« Das war kaum ein Motiv für Melvilles Tat, aber er musste jeder Möglichkeit nachgehen.
»O nein, mein lieber Monk«, sagte Mr. Burnham mit einem breiten Lächeln. »Ganz im Gegenteil, er kam recht gut aus der Sache heraus. Wir mögen in unserer Gesellschaft zwar eine Menge Speichellecker und Heuchler haben, aber es gibt immer noch viele, die einen ehrlichen Mann bewundern. Es war Mylord, der den Schaden davontrug.«
»Ich verstehe.«
»Sie scheinen enttäuscht zu sein«, sagte Mr. Burnham, der Monk forschend ins Gesicht sah. »Was hatten Sie sich denn erhofft?«
»Eine Erklärung, warum es einem jungen Mann widerstreben könnte, Miss Lambert zu heiraten«, gestand Monk. »Ich nehme an, ihr Ruf ist so untadelig, wie es den Anschein hat?« Florence strich um seine Beine und hinterließ zweifellos lange, seidenweiche Haare auf seiner Hose.
Mr. Burnham hob seine schütteren Augenbrauen. »So weit ich weiß, hat sie ein lebhaftes Wesen, das jedoch das Maß des Normalen nicht übersteigt, und wie alle jungen und hübschen Mädchen neigt sie dazu, eine Spur mehr zu kokettieren, als die Regeln des Anstands es zulassen. Das ist nur natürlich.«
Monk musste lachen. Der Abend war überaus angenehm verlaufen, aber soweit er es beurteilen konnte, ohne jeden Nutzen für Rathbone gewesen. Er sprach Mr. Burnham seinen aufrichtigen Dank aus, blieb noch eine halbe Stunde, um sich belanglose Geschichten anzuhören, und ging dann nach Hause. Vor dem Zubettgehen legte er sich noch einen Plan für den kommenden Tag zurecht.
Der Sonntagmorgen brachte auch keine Fortschritte. Monk suchte zwei oder drei Bekannte auf, die lediglich das bereits Gehörte bestätigten. Einer von ihnen besaß eine Spielhalle in einem weniger reputablen Teil des West Ends und verlieh gelegentlich Geld an Herren, die vorübergehende finanzielle Engpässe zu überbrücken hatten. Er wusste für gewöhnlich, wer bereits Schulden hatte und bei wem. Er verstand sich meisterlich darauf, das Vermögen einer Person, die man ihm nannte, genau zu schätzen. Er hatte nie von Killian Melville gehört, und Barton Lambert kannte er nur vom Hörensagen. Keiner der beiden schuldete, so weit er wusste, irgendjemandem auch nur einen halben Penny. Und gewiss waren beide keine Spieler.
Ein anderer Bekannter, dem einige Bordelle in Haymarket gehörten und der über die Vorlieben und Schwächen vieler Gentlemen bestens im Bilde war, hatte ebenfalls von keinem der beiden Männer gehört.
Am frühen Nachmittag war Monk schließlich von dem beharrlich fallenden Regen durchnässt und durchgefroren, absolut entmutigt. Killian Melville schien einfach nur ein junger Mann zu sein, der einer Frau vielleicht in einem Augenblick fleischlicher Lust einen überstürzten Heiratsantrag gemacht hatte und dies nun bereute. Vielleicht hatte er sie verführt und verachtete sie nun dafür, weil er sich fragte, ob er der Erste gewesen war. Es war ein schändliches Benehmen, und Monk hatte wenig Verständnis für ein solches Verhalten. Wenn man seine Gelüste befriedigen wollte, gab es dafür genügend Frauen.
Aber als Monk sich den Mantelkragen fester zuzog und mit gesenktem Kopf gegen den stärker werdenden Regen ankämpfte, wollte es ihm einfach nicht einleuchten, dass ein Mann, der so erhabene Bauwerke schuf, ein Heuchler oder ein Feigling sein sollte, nicht bereit, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Konnte ein Mensch einen derart zwiespältigen Charakter haben? Er trat vom Bürgersteig herunter über die Abflussrinne und lief über die gepflasterte Straße. Gerade in diesem Augenblick bog ein Kutscher in seinem Hansom in rascher Fahrt um die Ecke und beschimpfte ihn, weil er ihm in den Weg gelaufen war. Die Räder spritzten Wasser auf und durchnässten seine Hose, woraufhin er den Mann seinerseits mit einem Schwall von Schimpfwörtern bedachte.
Als er die gegenüberliegende Straßenseite erreichte, versuchte er sich von Wasser und Schlamm zu befreien. Dann setzte er eilig seinen Weg fort und erreichte nach kurzer Zeit den Woburn Place. Die kahlen Bäume des Tavistock Square lagen direkt vor ihm. Der Himmel wurde wieder klar. Ein Brougham fegte an ihm vorbei. Zwei junge Frauen, die sich untergehakt hatten, lachten laut. Ein kleiner Junge warf einen Stock für ein schwarzweißes Hündchen, das mit aufgeregtem Gebell hinterherlief. »Casper!«, rief der Junge, »Casper! Hol das Stöckchen!«
Monk bog in den Tavistock Square und blieb vor Nummer vierzehn stehen. Bevor er es sich anders überlegten konnte, betätigte er den Glockenzug.
»Guten Abend«, begrüßte er das Dienstmädchen, das die Tür öffnete. »Mein Name ist Monk. Ich würde gern Miss Latterly sprechen, falls sie sich im Haus aufhält und bereit wäre, mich zu empfangen. Das heißt, sofern Lieutenant Sheldon damit einverstanden ist?«
Das Dienstmädchen schien weniger überrascht zu sein, als er erwartet hatte, aber dann fiel ihm ein, dass tags zuvor Rathbone da gewesen sein musste. Irgendwie ärgerte ihn diese Tatsache.
»Ich hätte natürlich Verständnis, falls sie zu beschäftigt ist«, fügte er hinzu.
Aber sie war nicht zu beschäftigt, und sehr bald schon erschien sie in der kleinen Bibliothek, in der er wartete. Sie sah adrett aus, wirkte aber ein wenig blass. Ihr Haar hatte sie eine Spur zu straff zurückgebunden. Die Frisur war zweifellos praktisch, für ihr markantes, intelligentes Gesicht aber keineswegs vorteilhaft.
Sie sah ihn überrascht an. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, ihn zu sehen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er steif. »Sie sehen müde aus.« Ihre Züge spannten sich an. Es war offensichtlich nicht das, was sie hören wollte.
»Mir geht es sehr gut, vielen Dank. Und Ihnen? Sie sehen durchgefroren aus.«
»Ich bin durchgefroren!«, fuhr er sie an. »Es regnet. Ich bin nass bis auf die Haut.«
Sie warf einen Blick auf seine Hose und biss sich auf die Lippen.
»Ja, das sehe ich. Sie wären besser beraten gewesen, einen Hansom zu nehmen. Sie müssen ein beträchtliches Stück gelaufen sein.«
»Ich habe nachgedacht!«
»Das sieht man«, erwiderte sie. »Vielleicht hätten Sie besser aufpassen sollen, wo Sie hintreten.« Ein kaum merkliches Zucken ihrer Mundwinkel verriet ihre Erheiterung.
»Sie arbeiten schon zu lange als Pflegerin«, kritisierte er. »Sie haben es sich angewöhnt, den Leuten Ratschläge zu geben, was sie tun sollten und was nicht. Das ist eine äußerst unangenehme Eigenschaft. Niemand lässt sich gern herumkommand ieren, selbst wenn der Tadel berechtigt ist.«
Zwei rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Er hatte sie verletzt, und er wusste es.
Sie hob sarkastisch die Augenbrauen. »Und Sie sind durch die Gosse gewatet, nur um mir das zu sagen?«
»Nein, natürlich nicht !« Er hatte nicht beabsichtigt, mit ihr zu streiten. Warum ließ er sich nur immer wieder von ihr in die Defensive drängen? Er hätte mit keiner anderen Frau so gesprochen. Die bloße Vertrautheit ihres Anblicks, die eigenartige Mischung aus Verletzlichkeit, Arroganz und echter Stärke machten ihm bewusst, wie sehr sie zu einem Teil seines Lebens geworden war - und dieser Umstand ängstigte ihn. Sie konnte nicht fortgehen, ohne das Gewebe seines Lebens zu zerreißen, und er besaß keinen Schild, der stark genug ge wesen wäre, diesen Schmerz abzuwehren. Trotzdem trieb er sie durch sein Verhalten immer weiter von sich weg.
Er holte tief Luft, um sich unter Kontrolle zu bringen.
»Ich bin hergekommen, weil ich dachte, Sie könnten mir in dem Fall, in dem ich für Rathbone tätig bin, behilflich sein«, erklärte er. »Die Verhandlung wird morgen fortgesetzt, und er steckt in beträchtlichen Schwierigkeiten.«
Ihre Besorgnis war unübersehbar, aber wem galt sie, ihm oder Rathbone?
»Sie meinen den Architekten, der sein Wort gebrochen hat? Was versuchen Sie herauszufinden?«
»Den Grund für sein Verhalten natürlich«, erwiderte er.
Sie setzte sich kerzengerade auf einen Stuhl. Er stellte sich vor, wie eine strenge Gouvernante ihr als Kind ein hartes Lineal in den Rücken gedrückt hatte.
»Ich meinte, ob Sie herausfinden wollen, was mit ihm nicht stimmt - oder was mit ihr nicht stimmt«, erklärte sie geduldig, als wäre er ein wenig begriffsstutzig.
»Beides«, antwortete er. »Er ist wichtiger, denn wenn da etwas ist, wäre Rathbone zumindest vorgewarnt.« Er ließ sich auf den anderen Stuhl sinken.
Sie betrachtete ihn ernst. »Was haben Sie herausgefunden?«
Er schämte sich seiner geringen Ausbeute. Der erwartungsvolle Blick in ihren Augen schmerzte ihn. Sie hatte keine Ahnung, wie schwierig es war, an die Art von Informationen heranzukommen, die Rathbone benötigte. Es konnte Wochen dauern, falls er überhaupt etwas herausfand. Er forschte nach den intimsten Einzelheiten im Leben einiger Menschen, nach Dingen, die sie geheim hielten. Die ganze Unternehmung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
»Es ist nichts, was im öffentlichen Bereich zu finden wäre«, erwiderte er mit einer gewissen Schärfe. »Ich hätte vielleicht eine Chance gehabt, wenn Rathbone mich vor einem Monat hinzugezogen hätte. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, diesen Fall zu übernehmen. Er hat keine Chance, ihn zu gewinnen. Der Ruf des Mädchens ist untadelig, der ihres Vaters ebenso, wenn nicht besser. Der Mann ist mehr als ehrenwert.«
»Und ist Melville das, abgesehen von dieser Angelegenheit, nicht auch?«, fragte sie herausfordernd.
»So weit ich weiß, schon, ja, aber dies ist eine ziemlich große Ausnahme«, gab er zurück. Er sah sie sehr direkt an. »Ich hätte gedacht, dass Sie mehr Sympathie für die junge Frau hegen, die für alle sichtbar von einem Mann sitzen gelassen wurde, von dem sie mit gutem Grund glaubte, dass er sie liebe.«
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
Eine Woge der Scham stieg in ihm auf. Die Andeutung hinter seinen Worten war nicht im Mindesten beabsichtigt gewesen, er hatte lediglich sagen wollen, dass auch sie eine junge Frau sei. Aber jetzt war es zu spät, das richtig zu stellen. Es würde falsch und heuchlerisch klingen. Er war wütend auf sich selbst. Er musste irgendeine intelligente Bemerkung finden, um seine Worte vergessen zu machen. Andererseits durfte es kein Rückzieher sein.
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Vorstellung davon, was sie getan haben könnte, um ihn zu einem solchen Verhalten zu verleiten«, sagte er. Natürlich glaubte er nicht, dass sie sich selbst einmal in einer solchen Lage befunden hatte. Wenn sie auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, würde sie wissen, wie seine Worte gemeint waren.
»So, das dachten Sie?«, erwiderte sie kalt. »Das überrascht mich. Sie meinen also, ich hätte ein recht buntes Leben geführt… in dieser Hinsicht. Ich hatte bisher nie den Eindruck, dass Sie so über mich denken. Ganz im Gegenteil.«
Nun verlor er endgültig die Fassung. »Um Himmels willen, Hester, seien Sie nicht so kindisch! Ich habe mir Ihr früheres Leben niema ls irgendwie ausgemalt, weder in Scharlachrot noch in trostlosem Grau! Ich dachte lediglich, dass Sie als Frau die Gefühle der Dame besser verstehen müssten als ich, das ist alles. Aber ich sehe, dass ich mich offensichtlich geirrt…« Er hielt inne, als die Tür geöffnet wurde und ein stämmiger, muskulöser Mann eintrat. Er zog mit erregter Miene die Tür hinter sich zu, würdigte Monk keines Blickes und wandte sich sofort an Hester.
Sie stand auf, als hätte sie Monk vollkommen vergessen, und fragte äußerst besorgt: »Ist etwas passiert?«
Der hoch gewachsene Mann sah flüchtig zu Monk hinüber.
»Das ist Mr. Monk«, stellte Hester ihn beiläufig vor, als er sich ebenfalls von seinem Platz erhob. »Mr. Athol Sheldon.« Sie ließ den beiden Männern keine Zeit zu einer Erwiderung, sondern fuhr hastig fort: »Was ist passiert? Ist etwas mit Gabriel?«
Athol Sheldon entspannte sich ein wenig und stieß einen leisen Seufzer aus. »Tja - ich fürchte, er ist eingeschlafen und hatte einen Alptraum. Es geht ihm… ziemlich schlecht. Ich - ich weiß nicht, was ich am besten für ihn tun kann, und die arme Perdita ist furchtbar aufgeregt.« Er drehte sich halb zu Monk um. »Es tut mir Leid, dass ich stören muss«, sagte er, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Dann wandte er sich sofort wieder Hester zu. Es war nicht notwendig, sie zum Mitkommen aufzufordern; sie ging bereits zur Tür.
Monk folgte ihr, weil er ein Ereignis, das offensichtlich eine Art Notfall war, einfach nicht ignorieren konnte. Es war aufdringlich und neugierig, mit ihnen zu gehen, und gleichzeitig unsensibel zurückzubleiben. Sein Instinkt sagte ihm, sich für Ersteres zu entscheiden.
Athol führte sie durch die Halle und die Treppe hinauf. Wenn ihm Monks Anwesenheit merkwürdig erschien, so war er zu sehr mit seinen eigenen Sorgen besc häftigt, um eine Bemerkung darüber zu machen. An der obersten Treppenstufe stand eine Dienstbotin, eine Frau von vielleicht vierzig Jahren. Ihr mageres Gesicht war vor Sorgen zerfurcht. Ihr Blick richtete sich nicht auf Athol, sondern auf Hester. Nur einen Schritt von ihr entfernt stand eine jüngere Frau mit einem liebreizenden, verängstigten Gesicht, bleichen Wangen und zitternden Lippen. Sie rang die Hände und schien die Tränen nur mühsam zurückzuhalten.
Die Tür hinter ihr stand einen Spaltbreit offen, und Hester ging an den beiden Frauen vorbei in das Zimmer, nachdem sie einen Moment gezögert hatte, um sich zu fassen. Monk konnte ein breites Bett sehen, in dem ein junger Mann lag. Er hatte sich zusammengekrümmt und das Gesicht tief in den Kissen vergraben. Es dauerte einen Augenblick, bis Monk klar wurde; dass sein linker Arm fehlte.
Zuerst sah Hester gar nichts. Sie setzte sich auf das Bett und schlang die Arme um ihn, dann drückte sie die Wange in sein blondes, zerzaustes Haar und hielt ihn fest. Es war eine Geste, die Monk überraschte, denn es lagen eine Spontaneität und eine Zärtlichkeit darin, wie er sie noch nie zuvor bei ihr erlebt hatte. Sie reagierte einfach auf seinen Schmerz, nicht auf eine Berührung oder eine Bitte seinerseits. Hesters Verhalten verlieh dem Ganzen eine neue, ernstere Bedeutung.
Athol Sheldon, der neben ihm stand, war peinlich berührt. Er räusperte sich, wie um etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben und schwieg. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Gabriel«, sagte Hester leise, die Zuschauer draußen vor der offenen Tür ignorierend, »war es wieder James Lovat?« Gabriel nickte.
Perdita sah Athol fragend an.
»Ich habe keine Ahnung«, erklärte Athol. Nun trat auch er in Gabriels Zimmer. »Also wirklich, mein lieber Junge«, sagte er zu seinem Bruder, dessen Kopf noch immer halb in Hesters Armen lag. »Du musst das alles hinter dir lassen. Es ist eine Tragödie, an der sich jetzt nichts mehr ändern lässt. Du hast das Deinige getan. Jetzt musst du die Sache vergessen.«
Hester sah mit großen, leuchtenden Augen zu ihm auf. »Man kann nicht vergessen, wie es einem beliebt, Mr. Sheldon. Manchen Erinnerungen muss man sich stellen und mit ihnen leben.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Athol ihr mit fester Stimme.
»Dann wissen wir ja, falls Ihnen etwas Derartiges zustoßen sollte, Mr. Sheldon«, sagte Hester ungerührt, »was das Beste für Sie ist. Aber für Gabriel werden wir tun, was er wünscht.«
»Gabriel ist krank!«, entgegnete er aufgebracht. Gefühle, die er weder verstehen noch teilen konnte, machten ihm Angst, und diese war seiner Stimme deutlich anzuhören. Er hatte keine Ahnung, welche Dämonen im Kopf seines Bruders ihr Unwesen trieben. »Es ist unsere Pflicht und ein Teil unserer… unserer Liebe zu ihm, Entscheidungen in seinem Interesse zu treffen. Ich hätte gedacht, dass Sie als Krankenschwester sich darüber im Klaren wären!« Der letzte Satz war unüberhörbar eine Anschuldigung.
Monk holte bereits Luft, um Hester zu verteidigen, dann sah er ihr Gesicht und wusste, dass sie keine Hilfe brauchte. Sie verstand Athol besser als er selbst.
»Wenn wir ihm helfen wollen, werden wir ihm zuhören«, antwortete sie sachlich. »Die Trauer um den Tod eines Freundes sollte nicht verdrängt werden. Sie würden nicht so sprechen, wenn James Lovat bei einem Unfall hier in England gestorben wäre statt in Cawnpore an Wundbrand.«
»Ich würde niemanden dazu ermutigen, darüber nachzugrübeln!«, wandte Athol mit hochrotem Gesicht ein.
»Aber darum geht es hier nicht. Er ist nicht in England gestorben, der arme Kerl. Der ganze indische Aufstand und insbesondere die Belagerung von Cawnpore und ihre Gräueltaten sind Themen, bei denen man besser nicht verweilt.« Sein Tonfall war bestimmt, als sei das, was er sagte, ein Befehl, aber er machte noch immer keine Anstalten zu gehen. Plötzlich dämmerte Monk, dass Athol von Hester abhängig war. Er mochte sie herablassend behandeln oder in ihr eine Frau und damit zwangsläufig ein Wesen von minderem Intellekt und minderen Fähigkeiten sehen, aber er wusste, dass sie die innere Stärke besaß, mit dem Grauen und den Tragödien des Lebens fertig zu werden, eine Stärke, die ihm selbst fehlte.
Ein geradezu lächerlicher Stolz stieg in Monk auf.
»Mr. Sheldon.« Hester ließ Gabriel sanft in die Kissen sinken, erhob sich und strich sich dann mit einer Hand ihre zerknitterten Röcke glatt. »Wenn es Gabriel gewesen wäre, der in Cawnpore den Tod gefunden hätte, oder Ihre Gattin oder eines Ihrer Kinder - und es gab hunderte von Frauen und Kindern unter den Toten - , was würden Sie davon halten, wenn deren Freunde versuchten, sie zu vergessen?«
»Nun, ich - ich denke, ich würde es verstehen, wenn sie damit ihr eigenes Gemüt vor Alpträumen schützen wollten…«, hob Athol an.
»Oh, es geht Ihnen nicht darum, Gabriel zu schützen«, unterbrach sie ihn. »Es geht darum, dass Sie selbst nichts darüber zu hören wünschen und dass Sie glauben, bei uns anderen verhielte es sich ebenso.«
»Unsinn!«, protestierte er ein wenig zu schnell. »Ich möchte, dass Gabriel gesund wird, dass er sein altes Leben wieder aufnimmt - zumindest… zumindest so weit er es kann. Und ich möchte Perdita vor Dingen bewahren, von denen eine Frau nichts wissen sollte. Also wirklich, Miss Latterly.« Seine Stimme wurde lauter, und seine Zuversicht wuchs. »Wir haben dieses Thema schon einmal besprochen. Ich dachte, wir hätten uns verstanden. Dieses Haus soll eine Zuflucht vor der Hässlichkeit und den Gräueltaten der Welt sein, ein Ort, an dem insbesondere Gabriel seinen Frieden finden und sich an Geist und Seele von den Schrecken des Kriegs erholen kann, ein Ort, an dem er sich absolut sicher fühlt…« Er fand sichtlich Gefallen an seiner Rede, denn seine Züge hatten sich entspannt, und um seine Lippen spielte ein schwaches Lächeln. »Es ist Perditas Aufgabe, dies alles zu gewährleisten, und unsere, sie dabei in jeder nur erdenklichen Weise zu unterstützen.« Er fuhr herum und sah Perdita an. Seine Augen strahlten sie an. »Und du darfst versichert sein, meine Liebe, dass wir uns dem gewachsen zeigen werden!«
»Ich danke dir, Athol«, erwiderte sie hilflos. An ihrer Miene ließ sich unmöglich erkennen, ob sie erleichtert oder eingeschüchtert war.
Die Dienstbotin hinter ihr hielt noch immer den Blick unverwandt auf Hester gerichtet.
Monk drehte sich wieder zu ihr herum.
Der Mann im Bett richtete sich auf und wandte sich ihnen zu.
Seine Haut war gerötet und sein Gesicht entsetzlich entstellt. Eine Woge des Mitleids wallte in Monk auf.
»Ich weiß, dass Sie sich dieser Aufgabe gewachsen zeigen werden, Mr. Sheldon«, sagte Hester. Ihre Stimme klang sanft, aber sehr klar und bestimmt. »Und es wird ein Ort der Sicherheit sein…«
»Gut - gut…«, begann er.
»… aber es wird Gabriel nicht helfen, wenn Sie ihn zu etwas zwingen, wozu er noch nicht bereit ist«, fuhr sie fort. »Ein Gefängnis ist ein Ort, an dem man nicht sein will und dem man nicht entfliehen kann.«
»Also wirklich! Miss Latterly…«, protestierte Athol.
»Hör auf, über mich zu reden, als sei ich nicht anwesend, Athol.«
Es war das erste Mal, dass Gabriel etwas sagte. Sein Gesicht mochte zerstört sein, seine Stimme jedoch war no ch immer klar und von ungewöhnlicher Klangfarbe.
»Ich habe einen Arm verloren, nicht den Verstand. Ich möchte nicht vom Leben abgeschirmt werden, als hätte ich einen Nervenzusammenbruch gehabt oder litte an Hysterie. Davon, dass wir so tun, als hätte es Cawnpore nie gegeben, werden meine Alpträume nicht besser, und ich möchte meine Freunde nicht vergessen, als hätten sie nie gelebt, als seien sie nie gestorben. Das wäre Verrat. Sie haben Besseres verdient. Gott weiß, dass es so ist!« In seiner Stimme lagen so viel Zorn und Schmerz, dass sogar Athol betroffen schwieg.
Nur Hester hatte den Krieg so erlebt wie er. Selbst Monk wusste, dass er von dieser Erfahrung ausgeschlossen war, trotz all der Armut und des Leids, das er in den Elendsvierteln der Stadt, nicht weit von diesem Haus entfernt, gesehen hatte. Aber er war dankbar dafür, dass er nicht auch noch das Leid des Krieges hatte miterleben müssen, nicht wütend.
Er warf Hester einen Blick zu, beseelt von dem Wunsch, dass sie erkannte, wie sehr er mit ihr übereinstimmte und sie bewunderte. Gabriel Sheldon musste sich verzweifelt danach sehnen, mit einem Menschen offen über seine Erlebnisse sprechen zu können. Man kann der Wahrheit nur für eine begrenzte Zeit ausweichen, dann schnürt sie einem die Luft zum Atmen ab.
»Vielleicht sollten wir besser nach unten gehen?«, fragte er laut. »Ich bin überzeugt, dass die Angelegenheit, über die ich mit Miss Latterly sprechen wollte, noch ein Weilchen warten kann.«
»Oh…« Athol hatte offensichtlich ganz vergessen, wer er war. »Gut… gut. Ja, vielleicht sollten wir das tun. Und über etwas anderes reden, was? Möchten Sie vielleicht ein Glas Whisky, Mister…?«
»Monk. Ja, gern.« Er drehte sich um und folgte Athol durch den Flur und die Treppe hinunter. Er wäre lieber geblieben, um noch mit Hester zu reden, aber er wusste, dass das im Augenblick nicht möglich war.
Allerdings überraschte sie ihn. Er hatte kaum die Tür zum Salon hinter sich zugezogen, als Hester eintrat.
»Hat er sich gefangen?«, fragte Perdita sofort. Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Ja«, versicherte Hester ihr lächelnd. »Machen Sie sich keine Sorgen um ihn. Diese Erinnerungen kommen einfach von Zeit zu Zeit wieder hoch. Keinem von uns würde es anders ergehen.« Athol runzelte die Stirn und machte einen kleinen Schritt nach vorn, aber Perdita schien ihn gar nicht zu bemerken, da sie sich ganz auf Hester konzentrierte.
»Ich verstehe einfach nichts davon«, flüsterte sie. »Ich habe niemals etwas wirklich Schreckliches miterlebt. Es ist, als sei ich tausend Meilen von ihm entfernt, als liege ein Ozean zwischen uns, und ich weiß nicht, wie ich ihn überqueren soll. Ich begreife es ja nicht einmal. Ich habe nie Alpträume.«
»Wirklich nicht?« Hester sah sie zweifelnd an. »Waren Sie nicht entsetzt und innerlich gebrochen…«
»Miss Latterly!«, rügte Athol sie scharf.
»Nein!« Monk legte Athol eine Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»… als Sie Gabriel nach seiner Rückkehr das erste Mal sahen?«, beendete Hester ihren Satz.
»Nun…« Die Erinnerung stand Perdita deutlich ins Gesicht geschrieben, und sie rang um Worte und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Nun… ich…« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja… genauso… habe ich mich gefühlt.«
»Haben Sie es nicht auch manchmal vergessen und sind mit dem Gefühl aufgewacht, als wäre alles noch beim Alten? Und dann ist es Ihnen plötzlich wieder eingefallen, und Sie mussten es noch einmal von vorn durchleben?«
»Ja!« Plötzlich wusste Perdita, was Hester meinte und klammerte sich daran fest, als würde es sie vor dem Ertrinken retten. »Ja, so ist es.«
»Dann wissen Sie, was Alpträume sind«, sagte Hester. »Es ist dieses Entsetzen, alles noch einmal zu erleben und den Schmerz zu spüren wie beim ersten Mal - nur dass es wieder und wieder geschieht.«
»Der arme Gabriel. Meinen Sie, wenn ich etwas…«, sie sah Hester ernst an, »wenn ich etwas über die Geschichte Indiens lesen würde, wie Sie vorgeschlagen haben - ob ich ihm dann besser zuhören und von größerem Nutzen sein könnte?«
»Ich glaube wirklich nicht…«, begann Athol.
Perdita drehte sich zu ihm. »Ach, sei doch still!«, sagte sie scharf. »Mir wäre es auch lieber, nichts über die Qualen und den Tod dieser Menschen zu erfahren und mir einzubilden, diese Welt sei überall so sicher wie hier. Aber das stimmt nicht, und in meinem Herzen weiß ich es. Wenn ich auf ewig ein Kind bleiben will, werde ich Gabriel verlieren…«
»Unfug, meine Liebe »Sag mir nicht, es sei Unfug!«, fuhr sie ihn an und ballte die Hände zu Fäusten. »Er muss darüber sprechen können. Wenn er nicht mit mir redet, dann wird er sich an Hester wenden. An dich ganz bestimmt nicht! Du weißt ja nicht mehr über Indien als ich! Nicht darüber, wie es wirklich war, über die Hitze und den Staub und die Krankheiten, die Fliegen und die Grausamkeit, den Tod. Du weißt nicht, was mit ihm passiert ist! Und ich auch nicht… aber ich werde es herausfinden!«
»Du bist übermüdet«, sagte er und nickte heftig. »Das ist kaum überraschend. Du hast eine höchst schwierige Zeit hinter dir. Jede Frau würde…«
»Hör auf damit!«, rief sie laut. Sie war den Tränen nahe. »Hör auf, mit mir zu reden, als sei ich ein Kind! Ich weiß, dass ich schwach bin! Hester war auf der Krim und hat sterbende Männer gepflegt, hat Grausamkeiten miterlebt, von denen wir in unseren schön gebügelten Zeitungen, die der Butler uns auf einem Tablett serviert, noch nicht einmal gelesen haben! Und was habe ich getan? Ich habe zu Hause gesessen, dumme kleine Bildchen gemalt, Deckchen gestickt und die Wäsche geflickt! Nun, ich weigere mich, länger so nutzlos herumzusitzen! Ich habe - ich habe Angst!«
Athol war entsetzt. Er wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte und starrte zugleich ärgerlich und flehend Hester an. Er hasste sie dafür, dass sie diese Krise heraufbeschworen hatte, und doch brauchte er sie, um damit fertig zu werden, ein Umstand, der ihm zutiefst zuwider war.
Monk wartete darauf, dass Hester die Geduld mit Perdita verlor. Sie hatte vollkommen Recht, sie war nutzlos und hatte sich wie ein Kind vor der Wirklichkeit versteckt.
»Angst zu haben ist nichts Schlimmes«, sagte Hester zuversichtlich und stellte sich neben Perdita. »Die meisten von uns haben Angst. Was zählt, sind nicht unsere Gefühle, sondern das, was wir tun. Gabriel hat sicher nichts dagegen, wenn Sie Angst haben, denn dann wird er wissen, dass Sie zumindest ein wenig von seiner Geschichte verstehen. Alles kann niemand verstehen.«
»Sie verstehen es.«
Hester lachte. »Unfug! Ich weiß lediglich, wie es ist, Schmerzen mit ansehen zu müssen, die man nicht lindern kann, selbst Angst zu haben, seinen Körper bis an die Grenze der Erschöpfung zu treiben, dass man nicht einmal mehr die Kraft zum Weinen hat.« Sie nahm sie am Arm. »Jetzt trinken Sie einen ordentlichen Sherry oder etwas anderes, und dann gehen Sie zu ihm nach oben.«
»Aber Sie sind es, mit der er reden will!«, wand te Perdita ein.
Ihre ganze Haltung drückte Widerstreben aus.
»Angst?«, fragte Hester mit einem Lächeln.
»Ja!« Perdita wich zurück.
»Dann ist dies der Augenblick, Mut zu fassen«, sagte Hester.
»Stellen Sie sich vor, wie viel schlimmer es den Soldaten ergehe n muss, wenn sie die Order zum Angriff erhalten! Was ist das Schlimmste, das Ihnen passieren kann? Sie können in der Achtung Ihres Mannes sinken! Sie werden weder Arm noch Bein verlieren, noch verbluten oder…«
»Das genügt!«, unterbrach sie Athol wütend. »Sie vergessen sich, Miss Latterly!«
Perdita schluckte, drehte sich dann sehr langsam um und starrte ihn wütend an.
»Sie hat vollkommen Recht! Ich gehe nach oben zu Gabriel. Bitte warte nicht auf mich. Ich weiß nicht, wann ich wieder unten sein werde.« Und o hne seine oder Hesters Reaktion abzuwarten, marschierte sie aus dem Raum.
»Trinken Sie einen Whisky«, schlug Monk Athol vor, obwohl seine Worte eher wie ein Befehl klangen. Er war unglaublich stolz auf Hester, als habe er selbst Anteil an ihrem Verhalten. Das war natürlich absurd, aber sie waren Freunde und verstanden sich in vieler Hinsicht näher als Mann und Frau. Sie hatten zusammen Triumphe gefeiert und Katastrophen erlebt, kannten einander und wussten um die guten und schlechten Zeiten beim anderen. Er vertraute ihr mehr als irgendjemandem sonst.
Athol nahm den Whisky und stürzte ihn hinunter, um sich gleich noch ein Glas einzuschenken. Er vergaß dabei, auch Monk etwas zu trinken anzubieten, so verwirrt war er.
Hester wandte sich an Monk. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er dachte oder fühlte.
»Möchten Sie immer noch über diesen Fall reden, der Ihnen Schwierigkeiten bereitet?«, fragte sie, als hätten sie ihr Gespräch erst vor wenigen Sekunden unterbrochen.
Er verspürte kein Bedürfnis danach, denn es gab im Grunde nichts zu sagen. Andererseits wollte er auch noch nicht gehen.
»Wenn Sie die Zeit erübrigen könnten, gern«, antwortete er.
»Gewiss.« Sie drehte sich zu Athol um. »Ich werde oben sein, falls man mich braucht, Mr. Sheldon, aber ich glaube, das wird erst zur Schlafenszeit notwendig sein.«
»Was? Oh. Ja, ich denke, Sie haben für einen Tag wirklich genug getan.« Er war unzufrieden, und er wollte es sie wissen lassen.
Monk beobachtete sie genau und konnte in ihrem Gesicht keine Zeichen von Verlegenheit oder Zweifel erkennen.
Sie führte ihn aus dem Raum und die Treppe hinauf in ein kleines Wohnzimmer, das sie mit der hageren Zofe Martha Jackson teilte. Sie saßen in tiefen, chintzüberzogenen Sesseln, und er berichtete ihr von seiner fruchtlosen Suc he nach Informationen, die Rathbone von Nutzen sein konnten. Er erwähnte auch, dass Melville anscheinend im Ausland studiert hatte, da er bis vor fünf Jahren niemanden in England bekannt war. Schließlich erzählte er ihr noch die Geschichte von Barton Lambert und dem namenlosen Lord, der mit dem fehlerhaften Bauplan zu tun hatte.
Das alles waren Dinge, zu denen Hester kaum etwas beitragen konnte; es tat Monk einfach gut, mit ihr zusammen zu sein und seine Gedanken zu klären, indem er sie in Worte fasste.
Es war fast eine ganze Stunde vergangen, als Martha Jackson eintrat. Zuerst ärgerte er sich über diese Störung. Aber Martha war eine sympathische Person und wirkte aufrichtig, was ihm gefiel.
Hester kam auf die Kinder von Marthas Bruder und ihre Behinderung zu sprechen und auf die Tatsache, dass niemand etwas über ihren Verbleib wusste.
»Wie lange ist das jetzt her?«, fragte Monk Martha.
»Einundzwanzig Jahre«, erwiderte sie, und die Hoffnung in ihrem Blick erlosch. Sie hatte in der Vergangenheit gelebt und ihm davon erzählt, als sei das alles erst kürzlich geschehen, zu einer Zeit, da es noch möglich gewesen wäre, etwas zu unternehmen. Jetzt war es töricht, auch nur daran zu denken.
Er war überrascht. Samuel musste ein älterer Bruder Marthas gewesen sein. Mitfü hlend betrachtete er ihr müdes Gesicht, in das die Trauer zurückgekehrt war, das Begreifen, dass die Kinder nicht mehr gefunden werden konnten, dass man ihnen nicht mehr helfen oder ihnen die Liebe geben konnte, die sie vor langer Zeit verloren hatten.
Er sah hastig zu Hester hinüber. Sie beobachtete ihn, und ihr Blick war so direkt, dass er das Gefühl hatte, sie könne seine Gedanken lesen und in sein Herz sehen. Zu seiner eigenen Verwunderung hatte er nichts dagegen.
Was ihm missfiel, war die Tatsache, dass er sie würde enttäuschen müssen. Er konnte nicht tun, was sie wollte.
Martha blickte auf ihre Hände hinab. Dann zwang sie sich, Monk anzulächeln. »Es würde nichts helfen, selbst wenn ich sie finden könnte«, sagte sie leise. »Was könnte ich für sie tun? Ich konnte sie damals nicht zu mir nehmen, und ich könnte es heute nicht. Ich wünschte einfach, ich wüsste Bescheid. Ich… wünschte, sie wüssten, dass sie jemanden haben… dass es jemanden gibt, der zu ihnen gehört, dem sie am Herzen liegen.«
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte Monk leise, wohl wissend, dass er ein Narr war. »Vielleicht ist es nicht ganz unmöglich.«
Ein Hoffnungsfunke glomm in Marthas Augen auf. »Würden Sie das tun?« Dann erlosch das Leuchten wieder. »Aber ich habe nur sehr wenig Geld gespart…«
»Ich glaube nicht, dass ich Erfolg haben werde«, sagte er aufrichtig. »Und für einen Fehlschlag würde ich nichts berechnen«, log er. Er mied Hesters Blick, obwohl er spürte, dass sie ihn ansah. »Bitte machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Es ist sehr unwahrscheinlich. Ich werde es einfach nur versuchen.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Monk«, sagte Martha so ruhig sie konnte. »Es ist sehr freundlich von Ihnen… wirklich sehr freundlich.«
Er stand auf. Es war keineswegs freundlich, es war idiotisch. Wenn er Hester das nächste Mal traf, würde er mit klaren Worten sagen, wie lächerlich das ganze Unterfangen war.
»Sparen Sie sich Ihren Dank, bis ich irgendetwas herausgefunden habe«, erwiderte er schroffer als beabsichtigt.
Er fühlte sich plötzlich schuldig. Er hatte es für Hester getan, und dabei wusste er, dass er dieser Frau nicht würde helfen können. »Auf Wiedersehen, Miss Jackson. Es wird höchste Zeit, dass ich gehe. Ich muss Sir Oliver noch Bericht erstatten. Gute Nacht, Hester.«
Sie stand auf, trat auf ihn zu und lächelte. »Ich begleite Sie zur Tür. Und ich danke Ihnen, William.«
Er warf ihr einen Blick zu, bei dem sie hätte erstarren müssen, der auf sie allerdings keinerlei Wirkung zu haben schien.