Einunddreißig
Arktis
Crusow saß aufgrund der eisigen Kälte, die er am Boden der Spalte ertragen hatte, zitternd da – an dem Ort, an dem Bret vor wenigen Stunden seinem Schicksal begegnet war. Er trug lange, gefütterte Unterhosen und nippte an heißem Tee. Mark und Kung saßen neben ihm. Larry, hinter dem metallenen Recherchetisch, schaute ihm zu. Er trug eine Gesichtsmaske, um die anderen nicht mit der ernsten Krankheit anzustecken, an der er noch immer litt. Alle hörten ihn rasselnd atmen; seine Lunge klang, als sei sie voller Kieselsteine.
Nach einem heftigen Hustenanfall schleuderte er Crusow entgegen: »Was ist passiert, verdammt? Seid ihr euch da unten an die Kehle gegangen?«
»Nein. Reg dich ab, bevor du dich aufregst. Sonst geht’s dir gleich noch schlechter als jetzt. Wir sehen doch alle, in was für einem Zustand du bist.«
Larry schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch und beugte sich vor, um Crusow näher zu sein. Seine Mimik war schwer zu durchschauen, da die Maske sein Gesicht bis auf seine kalten geröteten Augen verbarg. »Ich war dabei, als Bret sich über deine Frau geäußert hat. Ich habe gesehen, wie angepisst du warst. Weißt du ganz genau, dass es dir da unten nicht noch mal hochgekommen ist?«
»Meine Frau ist tot, Larry. Ja, ich konnte Bret nicht leiden, weil er, wie du, ein Kommisskopf war. Das bedeutet aber nicht, dass ich ihn wie ein Tier abschlachte, bloß weil er sich despektierlich über Trish ausgelassen hat.«
Larry lehnte sich zurück und nahm wieder auf der kalten Bank Platz. Obwohl der größte Teil seines Gesichtes verhüllt war, fiel allen auf, dass seine Wut über Brets unerwarteten Tod langsam nachließ. Er ist wahrscheinlich deliriös, dachte Crusow.
»Larry, im Gegensatz zu euch sind wir keine Soldaten. Ich weiß, dass ihr nicht viel über euch preisgebt, und von uns weiß eigentlich keiner, was ihr überhaupt hier zu suchen habt. Ich halte dich aber trotz eurer Dressur für einen Menschen. Wärst du zum Beispiel ein selbstsüchtiger Arsch wie Bret, würdest du die Maske da nicht tragen.«
Larry rückte die Maske gerade und zog die sie haltenden Bänder stramm. »Tja, wenn wir deinen erbärmlichen Arsch verlieren, sind wir jedenfalls alle tot.«
Mark mischte sich ein, um die Lage zu entspannen. »Mehr habe ich dich hier noch zu niemandem sagen hören, wenn man von deinen Militärkumpels absieht, Larry. Sie sind jetzt alle tot, Mann. Wenn du also mit uns zusammenarbeiten möchtest, wäre es an der Zeit, dass du dich ’n bisschen öffnest.«
Obwohl niemand Larrys Gesicht sehen konnte, besagte sein Blick, dass Mark auf dem richtigen Weg war.
»Wonach habt ihr hier gesucht, bevor die Scheiße losging?«, fragte Mark.
Larry schaute auf seine Hände. Er hob den Blick auch dann nicht, als sie die Teetasse packten. »Eiskerne. Wir haben Eiskerne rausgebohrt, verdammt. Wir haben ein paar Kilometer südwestlich von hier ’ne Bohranlage aufgestellt.«
»Was macht die Sache so verdammt geheim?«
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, weil ich eine Vereinbarung unterschrieben habe, die mich bei Zuwiderhandeln in den Knast gebracht hätte.« Larry hustete erneut heftig in die Maske hinein. »Wisst ihr noch, dass irgendein Arschloch, bevor die Scheiße losging, in einem Wachhundforum Regierungsdokumente veröffentlichte? Man hat ihn zwar am Arsch gekriegt, aber die Wirtschaft ging trotzdem den Bach runter. Ich weiß auch nicht genau, warum wir nach den Kernen gebohrt haben, aber ein paar Dinge weiß ich doch. Vermutlich gibt es, seit ich bestätigt habe, dass die Welt am Arsch ist, keinen Grund mehr, mein Wissen für mich zu behalten.« Larry war blass und wirkte, als bräuchte er einen Infusionsbeutel und zwanzig Stunden Bettruhe.
»Worauf wartest du also noch, verdammt?«, sagte Mark. »Pack aus.«
»Bret, mir und den anderen wurde nicht viel erzählt. Wir wissen nur, dass es hier oben im Eis um etwas geht, das mit der nationalen Sicherheit zu tun hat. Aber nicht an jeder beliebigen Stelle.« Larry zögerte kurz, stand auf und hinkte zur anderen Seite des Raumes, um die Maske wegzuschieben und einen Schluck Tee zu trinken.
Nachdem er sie wieder zurechtgerückt hatte, ging er an den Tisch zurück. »Wir und die anderen Militärs waren aus Sicherheitsgründen hier. Und um dafür zu sorgen, dass nichts nach draußen drang, falls wir hier unten etwas Ungewöhnliches finden sollten. Man hat uns gesagt, wir sollten mit allem rechnen. Man hat uns auch informiert, dass die Kernbohrer den Befehl hatten, das Bohreisen zwanzigtausend Jahre tief ins Eis hinunterzuschieben. Unsere Kommandostruktur war da ziemlich konkret. Sie wollte Eis aus der Zeit von vor zwanzigtausend Jahren. Auf ein paar Hundert Jahre mehr oder weniger kam es nicht an. Die Befehle kamen direkt aus dem Nationalen Sicherheitsrat im Weißen Haus, direkt von den Geheimdienstlern. Allem Anschein nach haben die hier, schon bevor alles am Arsch war, etwas gesucht. Ich habe nichts gefunden, was dazu passt, aber ich und ein paar andere vergatterte Typen haben vermutet, dass es da eine Verbindung geben muss. Die zeitliche Abstimmung weckte einfach unseren Argwohn. Die Hälfte der Militärs und Zivilisten haben sich im letzten Frühjahr vom Acker gemacht. Ich glaube, dass einige von denen mehr über die ganze Sache wussten als ich. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Verdammt.« Crusow spuckte einen verdorbenen Sonnenblumenkern in eine leere Tasse. »Du glaubst nicht, dass irgendwas aus dem Eis das getan hat?«
»Ich wüsste nicht, wie … Die Welt wimmelte von Untoten, und wir haben doch nur ein paar Kernproben aus dem Eis gebohrt. Wir hatten gar keine Zeit. Alles ist so schnell passiert. Die nutzlosen Kerne sind, fertig zum Abtransport, in dem Versandbehälter eingeschlossen. Dazu wird es aber nie kommen. Ich will nicht sagen, dass irgendwas, hinter dem wir her waren, für diesen Scheiß verantwortlich ist. Ich sage nur, dass der Zeitablauf eigenartig ist. Solche Befehle habe ich noch nie gesehen.« Larrys Husten wurde schlimmer.
»Du klingen übel, wie Katze mit Haarball«, sagte Kung. »Du schlafen. Ich dich bringen Bett.«
Larry war einverstanden. Er nickte. Kung brachte ihn in seine Unterkunft und sorgte dafür, dass er sich hinlegte. Crusow und Mark führten das Gespräch weiter.
»Was war noch mal mit dieser Schiffssache?«, fragte Crusow.
»Ach ja, während wir die Leichen raufgezogen haben, hat Larry die Kurzwelle abgehört und eine Anfrage vom Schiff niedergeschrieben. Man möchte, dass wir helfen, Informationen an ein Boot auf einem Rettungseinsatz im Pazifik weiterzuleiten.«
»Das ist gut für uns, Mark. Ich glaube, da sollten wir mitspielen. Diese Leute sind der einzige Rettungsanker, den wir packen konnten. Vielleicht sind sie überhaupt die Einzigen, deren Sender stark genug ist, um uns hier oben zu erreichen.«
»Yeah, genau das hab ich mir auch gedacht«, sagte Mark. »Sie teilen uns beim nächsten planmäßigen Gespräch ’ne andere Frequenz mit, dann könnten die Weitergaben bald losgehen.«
»Das sind rundherum wunderbare Nachrichten, Mann. Wenn die Marine Rettungsunternehmen fährt, bedeutet es, dass die Welt noch nicht ganz im Eimer ist.«
Mark gab mal wieder den Schwarzseher vom Dienst. »Nein, die ganze Welt nicht – nur wir armen Säcke hier oben am Polarkreis in der Finsternis.«
»Auf dich kann man immer zählen, Mark. Mach nur so weiter, dann nominiere ich dich noch, mir beim Leichentreibstoff zu helfen.«
»Was für’n schreckliches Wort.«
»Wenn du’s nicht machst, muss Kung es tun.«
»Kung wird’s machen. Nach dem, wo er herkommt, ist er ohnehin froh, dass er nicht irgendwo Bestandteil einer Körperwelten-Ausstellung ist.«
»Das war selbst für dich ’n übler Witz.«
»Ich geb mir halt Mühe.«
Ein Kilometer vor der Nordküste der Insel Oahu
Die letzte Planungsphase läuft. Das Ziel liegt in südlicher Richtung, gut 15 Kilometer von der Küste entfernt. Saien und ich stehen via Sondereinsatz-Team-Stimmnetz zur Unterstützung bereit. Selbst wenn wir hier am Arsch mit dem Krempel festhängen, müssten wir mindestens fähig sein, uns ein wenig Einblick zu verschaffen. Nach allem, was ich über die Kreaturen weiß, beneide ich diese Männer nicht. Sie gehen zwar am Abend an Land, doch aufgrund der Entfernung brauchen sie hin und zurück wahrscheinlich zwei Tage. Die Strahlung ist ein weiterer Faktor. Bevor sie rausgehen, werde ich mich ihnen offiziell vorstellen und sie – falls sie mir überhaupt zuhören – über die verstrahlten Kreaturen in Kenntnis setzen. Seit Saien und ich mit dem Hubschrauber angekommen sind, haben sie keine zehn Worte mit uns gesprochen.
Als Exfunker habe ich mich in die Funkstation eingearbeitet und ebenso in das Vergnügen, ein rudimentäres Funknetz aufzubauen. Da die Station stark unterbesetzt war, war es nicht schwierig, den diensthabenden Funkoffizier, einen Lieutenant, zu überzeugen, dass meine Hilfe vielleicht gebraucht wird. Wir haben den KW-Stromkreis im Nu zum Laufen gebracht und uns mit einer Station verständigt, von der ich nicht erwartet hatte, dass sie etwas Funktionierendes hinbekommt.
Ein Mann in einer arktischen Außenstation, der Crusow heißt, assistiert, indem er Meldungen vom Flugzeugträger an uns weiterleitet. Der Flugzeugträger hatte kein Glück mit direkter Kommunikation, und die Außenstation im hohen Norden scheint sich zu freuen, dass sie uns beistehen kann. Abgesehen von den normalen Meldungen des Flugzeugträgers, von denen ich erwartet hatte, dass man sie an uns weitergab (Allgemeines zum Operationsgebiet, etc.), bekam ich auch eine persönliche Nachricht von John. Er fragt an, ob ich Lust habe, eine Partie Schach zu spielen, und hat seinen ersten Zug über die Relaisstation offeriert. Ich habe ihn mir aufgeschrieben, werde das Spielbrett aufbauen und meinen Zug mit dem nächsten Funkspruch durchgeben. Es ist gut, von daheim zu hören.