SIEBENTES KAPITEL

 

Als ich gegen acht Uhr an diesem Abend bei Edwina Ballard eintraf, trat ich als der komplett ausgerüstete Industrieberater mit der Achtunddreißiger im Gürtelholster unter der Jacke auf. Ich hatte Edwina Ballard eine halbe Stunde später, nachdem mich Betty Wong — oder Betty Fessler? — verlassen hatte, angerufen; und sie hatte mir erklärt, acht Uhr passe ihr großartig, und natürlich würde Bobby Giles auch dasein. Der Ton ihrer Stimme hatte ausgedrückt, wer denn, zum Kuckuck, wohl sonst bei ihr sein sollte.

Also hatte ich an der Restaurant Row früh zu Abend gegessen und war anschließend zu den Palisades hinausgefahren.

Das Mädchen führte mich ins Wohnzimmer, wo die beiden saßen und wie ein frisch verheiratetes Paar in der dritten Woche seiner Ehe aussahen, das gleichzeitig entdeckt hat, daß die neue Möglichkeit, jede Nacht miteinander schlafen zu können, plötzlich an Reiz verloren hat.

Die elegante, gepflegte, aristokratisch aussehende Blonde war wie immer elegant angezogen — sie trug ein schwarzes Hostess-Gewand. Der Shakespeare-Schauspieler lag mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel, den zu zwei Dritteln gefüllten unvermeidlichen Cognacschwenker fest in der rechten Hand.

»Guten Abend, Mr. Holman«, sagte Edwina, und ein matter Schimmer von Interesse tauchte in ihren blaßblauen Augen auf. »Was ist mit Ihrem Gesicht los? Es sieht entschieden entsetzlich aus

»Sei nicht so verdammt unhöflich, mein liebes Herz brummte Giles in seinem prächtigen Bariton. »Sonst stellt er dir vielleicht dieselbe Frage, und ich bin sicher, es fällt ihm leichter, sie zu beantworten, als dir Er blickte mich an und grinste, aber die faszinierend braunen Augen waren ängstlich und ließen nervöse Spannung erkennen. »Wie geht es Ihnen, Mr. Holman? Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen

»Mir geht’s okay«, sagte ich. »Und einen Bourbon auf Eis, bitte.«

Er hievte seinen massiven Körper aus dem Sessel hoch und ging mit unbewußt geschmeidiger Anmut zur Bar. »Setzen Sie sich, alter Junge«, brummte er über seine Schulter hinweg, während er den Drink zurechtmachte. »Sie sehen aus wie ein Bestattungsinstitutsangestellter oder so was, der gekommen ist, um die Leiche abzutransportieren, bevor sie zu stinken beginnt

Ich setzte mich auf einen Stuhl, der dem seinen gegenüberstand, worauf sich Edwina Ballard auf der in diagonaler Richtung zu beiden stehenden Couch niederließ. Giles brachte mir das Glas, wobei er sein eigenes noch immer fest in der anderen Hand hielt, und ließ sich dann wieder in den Sessel fallen, in dem er zuvor gesessen hatte.

»Prost Er hob sein Glas. »Sie bringen hoffentlich gute Nachrichten Er beobachtete eindringlich mein Gesicht, und als ich nicht antwortete, zog er eine heftige Grimasse. »Na, dann jedenfalls ein paar schlechte, Himmel noch mal!«

»Sei nicht so ungeduldig, mein liebes Herz«, sagte Edwina mit spöttischer Stimme. »Ich bin überzeugt, Mr. Holman hat uns nicht besucht, nur um gratis Whisky trinken zu können

»Nun weiß ich, warum er mich an ein Bestattungsinstitut erinnert hat«, sagte er mürrisch. »Weil du den Humor eines Leichenbestatters hast, Liebling, verdammt makaber! Halte also jetzt sofort wenigstens einmal in deinem süßen giftversprühenden Dasein deinen süßen kleinen Rosenmund, Edwina, sonst könnte ich mich zu einer unritterlichen Geste mit meinem Handrücken hinreißen lassen

»Der liebe Bobby!« Sie blickte mich an und ihre feingeschnittenen Züge waren eine Maske kalter Wut. »Wenn ich ihn nicht so zärtlich liebte, hätte ich ihn schon lange umgebracht. Und wenn er so weitermacht, werde ich es ungeachtet dessen doch noch tun müssen

»Wenn Sie beide einen Schiedsrichter brauchen, werde ich gehen und einen suchen«, sagte ich erschöpft.

»Es liegt nur daran, daß meine Nerven ein bißchen strapaziert sind, alter Junge«, sagte Giles düster. »Ich verspreche, daß wir beide mäuschenstill sein werden wie Starlets aus dem Team eines Produzenten, während Sie Ihre freudvollen oder betrüblichen Nachrichten vor uns ausbreiten

Ich beobachtete, wie er seinen Cognac hinunterchluckte, und sah, wie die Hand, die das Glas hielt, ein wenig zitterte. Ich wußte nicht recht, ob er mir leid tun solle oder nicht.

»Über die Zwangsvorstellung, die Sie da hegen, brauchen Sie sich nicht mein weiter den Kopf zu zerbrechen«, sagte ich gelassen.

»Sie meinen, es ist überhaupt nichts passiert Seine Stimme klang plötzlich hoffnungsvoll. »Ich habe mir diesen ganzen blutigen, dummen Alptraum nur eingebildet

»Nein«, sagte ich, »eingebildet haben Sie sich nichts, denn die Geschichte ist wahr. Sie ist wirklich passiert

»Um Himmels willen flüsterte er blindlings. »Dann habe ich sie umgebracht Er schloß krampfhaft die Augen, und sein scharfgeschnittenes Gesicht schien sich plötzlich förmlich aufzulösen.

»Ich glaube es nicht«, sagte Edwina Ballard mit Schärfe. »Wie können Sie das mit Sicherheit wissen, Mr. Holman? Haben Sie irgendwelche Beweise

Ich erzählte ihr über die Strandhütte, die Nick Fessler gehörte und nicht Marty Jennings, über den frisch geschrubbten Boden im Wohnzimmer und wie Fessler und sein Freund Russ Robut die Hütte in die Luft gesprengt hatten. Wie Sammy Westin zuerst zugegeben hatte, daß man ihn erpreßt hatte, damit er löge, und wie dann Betty Wong seine Aussage bestätigt hatte — zumindest in diesem Punkt.

»Nur hat Fessler nichts davon gesagt, daß sie tot war«, fügte ich schließlich hinzu. »Er hat lediglich behauptet, sie sei nur übel zugerichtet worden

»Sie war tot«, sagte Giles mit einem Unterton hoffnungsloser Überzeugtheit in der Stimme. »Ich weiß es

»Halt den Mund fuhr ihn Edwina an und warf ihm einen eiskalten Blick zu. »Mr. Holman muß noch eine Menge Beweise beibringen, bevor ich auch nur halbwegs überzeugt bin, daß es wirklich geschehen ist Ihre Eiseskälte wandte sich nun gegen mich. »Soviel ich mich erinnere, sagten Sie bei Ihrem letzten Hiersein, die einzige Möglichkeit, nachzuweisen, daß der Alptraum meines Herzchens hier Wirklichkeit sei, wäre, nachzuweisen, daß die fünf, die auf der Party zurückblieben, sich untereinander abgesprochen hatten, einen Mord zu vertuschen. — Stimmt’s?«

»Oder um eine schwere Körperverletzung zu vertuschen, falls Fessler die Wahrheit gesprochen hat, was das Mädchen anbelangt«, sagte ich.

»Aus welchem Grund sollten sich die fünf zusammenschließen, um so etwas zu tun? Verdammt Sie lachte verächtlich. »Beantworten Sie mir das einmal

»Marty Jennings, um den Star seines nächsten Ausstattungsfilms zu decken«, erklärte ich ihr gelassen. »Virginia Strong, weil sie ein professionelles Callgirl unter Martys Obhut ist — oder würden Sie das anders bezeichnen? Sammy Westin, weil er eben eine Schlafzimmersitzung mit der Strong gehabt hat und weil ihm die anderen drohten, dies seinem liebenden Weibe mitzuteilen, wenn er nicht tat, was sie von ihm verlangten. Nick Fessler, weil er vermutlich eine größere Summe von Jennings erwartete, wenn er den Mund hielt. Und Betty Wong, weil sie Fesslers Frau ist.«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Ich glaube es nicht. Welche Beweise haben Sie dafür, daß diese Dixie überhaupt existiert hat

Ich holte das Foto, das ich in der Wohnung gefunden hatte, und reichte es Robert Giles. — Ein paar Sekunden später starrte er mich mit glasigen Augen an und nickte dann. Edwina riß es ihm aus den Händen und starrte darauf, als hoffte sie, es würde sich in Luft auflösen.

»Das beweist gar nichts schnaubte sie. »Es ist einfach das Bild irgendeiner billigen überentwickelten Blonden, mehr nicht

»Um alles auf der Welt —!« Giles starrte sie wütend an. »Benimm dich nicht wie eine Vollidiotin! Glaubst du vielleicht, ich kann das Mädchen nicht erkennen

»Du blöder Trottel rief sie heiser. »Was hast du denn vor

»Ich habe es die ganze Zeit über gewußt«, sagte er langsam, als ob er keines ihrer Worte gehört hätte. »In meinem tiefsten Inneren habe ich die ganze Zeit über gewußt, daß ich sie umgebracht habe

»Sie wissen nicht das geringste mit Gewißheit, jedenfalls nicht, bevor wir das Mädchen gefunden haben«, knurrte ich.

»Ich bin froh, daß Sie endlich einmal etwas Vernünftiges von sich geben«, sagte Edwina schroff. »Da Sie all Ihre anderen brillanten Schlußfolgerungen mit solcher Schnelligkeit gezogen haben, Mr. Holman, bin ich überrascht, daß ein so geringfügiges Detail wie herauszufinden, wo das Mädchen steckt, ein solches Problem für Sie bildet

»Es gibt einen sicheren Weg, es herauszufinden«, sagte ich.

»Welchen fragte Giles eifrig.

»Rufen Sie Nick Fessler an und fragen Sie ihn; er ist derjenige, der es mit Sicherheit weiß

»Aber woher wollen Sie wissen, ob er Bobby die Wahrheit sagt protestierte sie mit schrill kreischender Stimme. »Wenn Fessler, wie Sie soeben behauptet haben, Marty Jennings erpreßt hat, damit die ganze Sache vertuscht würde, warum sollte er dann Bobby die Wahrheit erzählen

»Weil ein Schuft wie Fessler sich überlegen wird, daß das, was er aus Marty Jennings herausholt, kleine Fische sind, verglichen mit dem, was er aus Giles herausholen wird, wenn es Robert darum geht, seine eigene Haut zu retten«, sagte ich brutal.

»Na, der Dreckskerl wird eine gewaltige Überraschung erleben«, sagte Giles mit einer Art mürrischer Befriedigung. »Ich werde keinen Penny bezahlen. Wenn ich das arme Mädchen umgebracht habe, werde ich nicht versuchen, meine Haut zu retten, indem ich Fessler oder sonst jemandem Erpressungsgelder bezahle! Ich werde vielmehr auf mich nehmen, was auf mich zukommt und...«

»Oh, hör mit deinem verdammten Edelmut auf, du sentimentaler Süffel knurrte ihn Edwina wütend an. »Was geschehen ist, ist geschehen! Du kannst es jetzt nicht mehr ändern. Und was hilft es dem Mädchen oder dir — oder sonst jemandem wenn du auf Grund einer noblen Geste aller Wahrscheinlichkeit nach für den Rest deines Lebens hinter Schloß und Riegel kommst? Wenn nicht noch Schlimmeres geschieht

»Rufen Sie Fessler an«, wiederholte ich geduldig. »Er ist der einzige, der mit Sicherheit weiß, ob das Mädchen lebt oder tot ist

Giles gab einen langen zitternden Seufzer von sich. »Ja, natürlich«, sagte er und nickte langsam. »Sie haben völlig recht, Mr. Holman. Das werde ich jetzt tun

Er stand auf, blieb einen Augenblick stehen, um bewußt seine Schultern zu straffen, und ging dann auf das Telefon zu, das auf dem Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers stand. Ich ließ ihn aus meinem Blickfeld entschwinden und konzentrierte mich darauf, zu beobachten, wie sich die Haut über Edwina Ballards feingeschnittenen Zügen so spannte, daß sie wie Pergament kurz vor dem Augenblick des Zerreißens wirkte. In ihren blaßblauen Augen lag ein gequälter Ausdruck, gemischt mit schnell zunehmendem Entsetzen. Ich hörte das leise Klirren, als Giles den Hörer abnahm, und ihr Gesicht schien bei dem Laut einzufallen.

»Nein«, sagte sie heiser. »Ruf ihn nicht an, Bobby

»Ich muß«, sagte er dumpf. »Ich muß wissen, ob Dixie lebt oder tot ist

»Sie ist tot Aus Edwinas Kehle drang ein tierischer Wimmerlaut. »Warum konntest du nicht alles lassen, wie es war? Ich habe dich angefleht, nicht weiterzubohren, sondern all den Leuten zu glauben, die dir sagten, das Ganze bestünde nur in deiner Einbildung Sie vergrub das Gesicht in den Händen und brach in ein rasches Schluchzen aus. »Aber du mußtest mit diesem Idioten Milford reden, nicht wahr? Du mußtest sogar einen professionellen Schnüffler wie Mr. Holman engagieren! Nun ist es zu spät, und dein ganzes Leben ist...«

Ich hörte Giles’ Schritte nicht, aber plötzlich schob sich seine massige Gestalt an mir vorbei und ragte neben der zusammengekauert dasitzenden Edwina Ballard auf.

»Woher weißt du eigentlich, daß sie tot ist, mein liebes Herz fragte er leise.

»Warum konntest du mir nicht glauben«, stöhnte sie, »oder Marty glauben — oder einem der anderen? Warum hast du...

Er packte sie bei den Handgelenken und zog sie mühelos auf die Füße, so daß ihr von Tränen verwüstetes Gesicht nur wenige Zentimeter von der unerbittlichen Kälte seiner Augen entfernt war. »Woher weißt du das mit solcher Bestimmtheit

Er schüttelte sie mit plötzlicher ungeduldiger Gewalt, und ihr Kopf wurde mit einem so heftigen Ruck nach hinten geschleudert, daß ich einen Übelkeit erregenden Augenblick lang dachte, er hätte ihr das Genick gebrochen.

»Sag es mir«, flüsterte er, »du dreckige, widerwärtige, alte...«

»Nicht, Bobby!« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »In dieser Nacht, als sie dich hierher zurückbrachten und auf der Zufahrt liegenließen...«

»Sie?« Wieder schüttelte er sie wütend. »Wer, zum Teufel, sind >sie<

»Nick Fessler und ein großer dicker Mann, bei dessen Anblick allein mir schon schlecht wird«, sagte sie dumpf. »Sie befahlen mir, dieselbe Geschichte zu erzählen wie die übrigen, die noch auf der Party waren; daß du das Haus gar nie verlassen habest, nur einfach gegen vier Uhr morgens völlig betrunken gewesen seist, und daß dich Westin heimgefahren habe, daß du aber auf der Zufahrt wieder umgesunken sein müßtest. Ich dachte, sie machten Spaß, es sei eine Art dummer Streich. Fessler wurde wütend auf mich und sagte: >Okay, lachen Sie sich nur ordentlich einen!< Dann zerrte er mich zum hinteren Teil des Wagens, öffnete den Kofferraum und...«, sie schloß fest die Augen bei der Erinnerung, »da lag die Leiche des Mädchens, eingewickelt in einen schmutzigen Teppich, der mit Blut vollgesogen war, und ihr Gesicht war...« Edwina stöhnte mitleiderregend, dann verdrehten sich ihre Augen nach oben, und ihr Körper wurde schlaff.

Giles starrte sie einen Augenblick lang verdutzt an, dann ließ er einfach ihre Handgelenke los, so daß sie vor seinen Füßen zu einem formlosen Haufen zusammensackte.

»Sie hat es gewußt«, sagte er schwerfällig, und in sein Gesicht stieg eine dunkle Röte. »Die ganze verdammte Zeit über — von heute morgen an, als sie mir die Haustür öffnete, hat sie es gewußt

Ich packte ihn an der Schulter und wirbelte ihn herum, als er den Fuß hob, um ihr mit seiner Schuhspitze ins Gesicht zu stoßen.

»Immer sachte, Mr. Giles knurrte ich. »Vielleicht hat sie nur versucht, Sie zu decken

»All diese verdammten Lügen«, grollte er. »All diese witzigen Bemerkungen, wie gut ich die Grand-Guignol-Rolle gespielt hätte. Erinnern Sie sich, Mr. Holman? Und die ganze Zeit über wußte sie es

»Setzen Sie sich«, sagte ich, »und hören Sie auf, sich auf Shakespeare-Manier leid zu tun

»Was?« Er starrte mich zwei Sekunden lang verblüfft an. »Was, zum Kuckuck, wollen Sie —

Ich preßte meine flache Hand gegen seine Brust und gab ihm einen sachten Ruck, so daß er in den Sessel zurückfiel, den ich soeben verlassen hatte.

»Erinnern Sie sich daran, das Mädchen umgebracht zu haben fuhr ich ihn an.

»Nein!« Er schüttelte protestierend sein Löwenhaupt. »Ich erinnere mich nur daran, aufgewacht zu sein, diese leere Flasche mit dem Fuß über den Boden gestoßen und gehört zu haben, wie sie gegen ihren Kopf prallte und...«

»Sie erinnern sich an alles in dieser Nacht, was geschah, während Sie noch bei Bewußtsein waren«, sagte ich langsam. »Vielleicht — kippen Sie oft bewußtlos um, wenn Sie viel getrunken haben

»Nein«, sagte er entschieden. »Nie. Ich bin mein ganzes Leben lang ein Säufer gewesen, Mr. Holman, aber ich habe ein unbegrenztes Fassungsvermögen Er grinste, aber es war ein freudloses Grinsen. »Sehr zur Verzweiflung meines Arztes — er pflegt immer zu sagen, es sei einfach nicht anständig, einen Mann wie mich mit einem solchen Stoffwechsel auszustatten, der mir erlaube, mein Leben lang ein Säufer zu sein, ohne je dafür büßen zu müssen!«

»In dieser Nacht in der Hütte war es also das erstemal, daß Sie wegen zuviel Alkohols die Besinnung verloren

»Allerdings, verdammt Er rümpfte angewidert die Nase. »Und ich hatte bei Marty Jennings nicht einmal soviel getrunken. Vielleicht ist was mit meinem Stoffwechsel nicht in Ordnung

»Oder mit diesem dreißig Jahre alten Calvados sagte ich.

»Wie meinen Sie das

»Es war Dixies Einfall, daß Sie beide an den Strand gehen sollten — in die Hütte, die Nick Fessler drei Monate zuvor von Jennings gekauft hatte«, sagte ich. »Und sie war Fesslers Freundin

»Glauben Sie, daß man etwas in den Calvados hineingetan hat

»Möglich. Wenn er vorher mit einer Droge versetzt wurde, konnte Dixie sicher sein, daß Sie ihn auch trinken würden Ich zündete mir eine Zigarette an und dachte darüber nach. »Es scheint mir ein verteufelter Zufall zu sein. Der einzige Alkohol, der sich in der Hütte befindet, ist eine Flasche Calvados — das Zeug, das Sie ohnehin immer trinken. Und nicht nur gewöhnlicher Fusel, sondern französischer Calvados, und dazu einer, der dreißig Jahre auf dem Buckel hat

»Aber warum, um alles auf der Welt, hätte sie mich mit einer Droge betäuben wollen? — Das ist ein faszinierender Gedanke, mein liebes Herz«, sagte Giles kalt. »Er erweckt in mir den Wunsch, dir dieselbe Frage zu stellen, Was hattest du mit mir vor

»Bobby, ich schwöre dir-«, Edwina hielt einen Augenblick lang inne und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »alles, was ich versucht habe, ist, dich zu beschützen, Liebling! Ich schwöre es dir! Du mußt mir glauben

Er starrte sie nur an, und sie schauderte plötzlich bei dem Ausdruck von Widerwillen und Haß in seinen Augen.

»Verdammt sollen Sie sein, Mr. Holman«, flüsterte sie, »verdammt für Ihre dreckigen Lügen und Ihre Verdächtigungen und...«

»Halt den Mund brummte Giles angewidert. »Mir wird bei deinem Anblick schon übel

»Rufen Sie Fessler an«, sagte ich. »Vielleicht ist er jetzt zu Hause

Er ging zum Apparat, nahm den Hörer ab, wählte die Nummer und lauschte ein paar Sekunden lang. »Es meldet sich noch immer niemand

»Lassen Sie es für eine Weile klingeln«, sagte ich. »Fessler ist der einzige, der mit Sicherheit weiß, ob das Mädchen lebt oder tot ist

»Sie ist tot! Ich habe euch doch gesagt, daß sie tot ist; ich habe ihre Leiche im Kofferraum seines Wagens gesehen sagte Edwina mit einem Unterton aufkeimender Hysterie in der Stimme. »Warum wollt ihr mir nicht glauben Sie starrte hoffnungslos auf Giles ausdrucksloses und gleichgültiges Gesicht und brach erneut in Tränen aus.

»Nehmen Sie einmal einen Augenblick lang an, sie sagt die Wahrheit«, sagte ich. »Dann...«

»Das liebe Herz ist unfähig, die Wahrheit zu sagen, alter Junge«, erwiderte er spöttisch. »Ich fürchte, sie ist ebensosehr eine geborene Lügnerin, wie sie ein geborenes Luder ist

»Vergessen Sie nicht, daß Sie im Augenblick keine Zeit haben, sich billigen Luxusvergnügungen wie Ihrem Haß auf Edwina Ballard hingeben zu können«, fuhr ich ihn an.

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte er düster. Er blickte eine Sekunde lang auf das Telefon, als handle es sich um etwas aus dem fernen Weltall. »Zum Kuckuck damit!« Er knallte den Hörer heftig auf.

»Wenn Fessler die Leiche des Mädchens im Kofferraum seines Wagens hatte, als er Sie hierher zurückbrachte«, sagte ich langsam, »wenn es so war, wie Edwina es beschwört, so muß die Tote noch im Kofferraum gewesen sein, als er gleich danach zu Marty Jennings zurückkehrte. Edwina sagt, er sei zwischen vier und halb fünf dagewesen. Sammy Westin zufolge kam Fessler gegen fünf Uhr zu Marty zurück. Auf diese Weise hätte er nicht genügend Zeit gehabt, die Leiche unterwegs loszuwerden. Und es war in jedem Fall wichtiger, so schnell wie möglich zur Party zurückzukehren, um sich mit den Leuten dort abzusprechen — und zu veranlassen, daß alle behaupteten, das Mädchen Dixie sei lediglich eine trunkene Traumvision von Robert Giles.«

»Und sagte Giles mit ausdrucksloser Stimme.

»Und nachdem er Jennings verlassen hat, entledigte er sich der Leiche«, sagte ich. »Nur daß man sich eben einer Leiche nicht so ohne weiteres entledigen kann — jedenfalls nicht, wenn man unter allen Umständen vermeiden will, daß sie gefunden wird. Wohin hat er sie gebracht

Er grinste kalt. »Fragen Sie mich, Mr. Holman

»Ich frage jedermann, einschließlich mich selbst«, sagte ich. »Da ich einsehe, daß wir uns bei Fessler im Augenblick nicht erkundigen können

Stille senkte sich schwer auf das Zimmer, während wir einander anstarrten, ohne rechte Hoffnung, daß dem anderen ein brillanter Einfall käme.

»Ich überlege gerade«, sagte Giles schließlich. »-Dixie war doch Fesslers Freundin, nicht wahr

»Ja.«

»Wenn er nun eifersüchtig war? Wenn das der Grand war, weshalb er uns hinaus zur Hütte folgte? Und wenn er sie dort in einer plötzlichen Aufwallung von Wut umbrachte, während ich noch besinnungslos auf dem Boden lag?«

»Nein, ich...« Ich hielt inne und überlegte erneut. »Ich wollte eben sagen, dann hätte er sich nicht hinterher dort aufgehalten, aber ein Bursche wie Nick Fessler tut nichts ohne Absicht. Wäre es nicht eine ganz raffinierte Rache gewesen? Nachdem er seine Freundin umgebracht hatte, weil sie ihn mit Ihnen betrogen hatte, kann er Ihnen den Mord in die Schuhe schieben und zugleich Geld aus der Sache herausschinden, indem er vorgibt, Ihnen ein Alibi zu verschaffen, und Sie dann erpreßt, damit Sie seines Schweigens sicher sind.«

»Glauben Sie, daß es so war fragte er erwartungsvoll.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber ich werde alles daransetzen, um es herauszufinden

Ich zündete mir eine neue Zigarette an, während ich mir nach wie vor eifrig überlegte, was Fessler mit der Leiche gemacht hatte, sofern es überhaupt eine gegeben hatte. Irgendwann nach fünf Uhr früh, nachdem er Marty Jennings’ Haus verlassen hatte, mußte er sich ihrer entledigt haben — und zwar rasch! Sie mochte nicht für alle Zeiten beseitigt worden sein — dazu konnte er gar nicht genügend Zeit gehabt haben —, aber er konnte sie auch nicht einfach irgendwo im Gebüsch haben liegenlassen, wo bestimmt irgend jemand darüber stolpern würde. Er mußte sie also vorübergehend in ein Versteck gebracht haben, wo sie niemand fand, bis er später Gelegenheit hatte...

»Was, zum Kuckuck, ist mit Ihnen los, Mr. Holman fragte Giles mit leicht unsicherer Stimme. »Sie sehen aus, als ob Ihnen eben ein Gespenst begegnet wäre

»Ich habe mir eben etwas überlegt«, antwortete ich vage. »Ein ziemlich verrückter Einfall, aber es lohnt sich, ihm nachzugehen Ich stand auf. »Rufen Sie Fessler heute nicht mehr an, das hat noch Zeit bis zum Morgen

»Sie gehen weg Er runzelte besorgt die Stirn. »Was, zum Kuckuck, soll ich mit dem Rest der Nacht anfangen

»Das ist Ihre Sache«, sagte ich. »Bloß ermorden Sie das >Liebe Herz< nicht, denn dazu ist der Zeitpunkt nicht geeignet

 

 

Das vernachlässigt aussehende, dem Strand von Santa Monica zu liegende Appartementhaus war still, als ob seine Bewohner fortgegangen seien — und vergessen hätten, daß sie hier wohnten und nie wieder zurückkehren würden. Ich versuchte, die Tür im ersten Stock zu öffnen, und stellte fest, daß sie nicht verschlossen war. Das war nicht abwegig, da ich mich erinnerte, daß ich wahrscheinlich der letzte gewesen war, der heute morgen die Wohnung verlassen hatte. Innen knipste ich die Lichter an und schloß die Tür hinter mir.

Die düstere Atmosphäre des Wohnzimmers schien mich förmlich mit einer Art finsterer Befriedigung zu umfangen. Die öde Einrichtung, der jeder Funken Individualität, jede persönliche Note fehlte, löste eine plötzliche tiefe Niedergeschlagenheit bei mir aus. Ich zündete mir eine Zigarette an und ging in die Küche, wobei ich mich hoffnungsvoll fragte, ob wohl von der vorhergehenden Nacht noch etwas in der Ryeflasche übriggeblieben sei. Dem war natürlich nicht so. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und ging dann ins Schlafzimmer. Die Bettüberzüge bildeten noch immer einen zusammengeknüllten Haufen auf dem Bett, eine gedämpfte Erinnerung an die Leidenschaft der vergangenen Nacht. Ich öffnete den Schrank und betrachtete die Reihe der dort aufgehängten Kleider — dieselben, auf die ich an diesem Morgen einen flüchtigen Blick geworfen hatte — und schob sie auf die eine Seite. Die Kleiderbügel kreischten schwach protestierend, während sie dem einen Ende der Stange zuglitten, und die Kleider bauschten sich ärgerlich.

Es gab also ein Mädchen namens Dixie.

Ihre Leiche stand, in einen blutbefleckten schmutzigen Teppich gehüllt, gegen die Ecke des Schranks gelehnt, wo die auf den Bügeln hängenden Kleider sie vor forschenden Blicken verborgen gehalten hatten. Ich blieb eine ganze Weile einfach stehen und starrte sie an, sah den oberen Teil ihres Kopfes aus dem Teppich herausragen und die langen Strähnen rotblonden Haares, die über den Rand hinunterhingen.

Ich wußte, daß ich sie mir näher betrachten mußte - daß ich den leblosen, in diesen unvorstellbaren Teppich gewickelten Körper aus dem Schrank herausheben - daß ich diese schmutzige obszöne Umhüllung lösen mußte, um festzustellen, wie das Mädchen umgekommen war.

All dies wußte ich, aber es nützte nicht das geringste. Meine Finger weigerten sich, sich auch nur zu biegen, geschweige denn, sich nach der Toten auszustrecken.

Etwa fünf lange Sekunden stand ich da, ohne mich zu bewegen, und spürte den kalten Schweiß auf meinem Gesicht. Dann hörte ich unmittelbar hinter mir einen schrillen, hohen, pfeifenden Laut, und fast gleichzeitig wurde ich unter einer scheußlich vertrauten Lawine explodierender Blitze und Schmerzen begraben.