6

Eine Stunde später hatte das Warten ein Ende gefunden. In der Scheune arbeiteten sich die Techniker in Mikrospurenanzügen Zentimeter um Zentimeter voran. Bereitschaftspolizisten aus Lahr und Schutzpolizisten vom Revier Breisach mit Unterstützung vom Revier Freiburg-Süd bewegten sich in einer langen Kette über das Feld in Richtung Wald. Über dem Rhein und den angrenzenden Wäldern und Feldern auf deutscher Seite flog der Hubschrauber. Auf französischer Seite durchkämmten Kollegen der Brigade de Gendarmerie aus Colmar das linke Rheinufer. Beeindruckt blickte Louise über die Szenerie. Niemand hatte es bislang ausgesprochen, aber die Hintergründe schienen klar zu sein. Rohmueller hatte ein paar Telefonate geführt. Auf Chefebene war Hektik ausgebrochen.

Wenn es, dachte sie, nur immer so einfach wäre.

An der Straße standen Streifen- und Mannschaftswagen, außerdem Übertragungswagen der Fernsehanstalten. Hinter einer Absperrung wartete eine Handvoll Reporter auf die Pressesprecherin der Polizeidirektion. Louise hatte sie eben gebrieft und losgeschickt. Energisch schritt sie den Pfad in Richtung Straße hinauf, die azurblaue Bluse leuchtete im bräunlichen Grün des Feldes.

Hans Meirich war zurück, genäht, gepflastert, fahl im Gesicht. Er hielt sich abseits und sprach nicht, Sprechen tat natürlich weh. Was vor dem Haus der Holzners geschehen war, schien ihn nachhaltig beeindruckt zu haben. Der alte Hase, vor versammelter Mannschaft von einem Proleten zu Boden geschlagen.

Sie hatte ihn gefragt, ob es nicht sinnvoller sei, wenn er sich krankschreiben lasse. Er hatte sie ähnlich grimmig angeschaut wie Thomas Ilic eine Stunde zuvor und den Kopf geschüttelt und unverständliche Laute hervorgebracht, ohne die Lippen zu bewegen.

Sie hatte die Achseln gezuckt. Allmählich war sie es leid. Jeder Mann ein Held, darunter machten sie es wohl nicht mehr.


Gegen halb zwei rief Hugo Chervel an, der jenseits des Rheins das Kommando hatte.

Auch Chervel war ein Held.

»Alors?«, fragte er.

»Rien.«

Sie hatten früher schon zusammengearbeitet, zuletzt im Winter 2002/2003, als deutsche und französische Polizei einen Kinderhändlerring hochgenommen hatten, der von einem zenbuddhistischen Kloster im Elsass aus operiert hatte.

»Ich hatte einen Anruf aus Paris«, sagte Chervel auf Französisch.

»Verstehe.«

Sie schwiegen. Die Hektik auf der Chefebene setzte sich in alle Richtungen fort. Rohmueller hatte ein Steinchen ins Wasser geworfen, nun schwappten die Wellen bis Paris.

»Wenn es hilft«, sagte Chervel.

»Hoffen wir es.«

Sie beendeten die Verbindung.

Louise mochte Chervel, obwohl er wie Rolf Bermann ein Leitwolf war. Aber er ließ sich nicht hinreißen wie Bermann, beschränkte sich auf subtile Frotzeleien, wenn es mal wieder um die Deutschen und die Franzosen im Allgemeinen ging. Und er setzte den unendlichen französischen Bürokratismen Vernunft und Notwendigkeit entgegen. Wie Bermann war Chervel ein Relikt aus einer Epoche, in der Männer geglaubt hatten, der Geruch nach Aftershave, Zigaretten, Schweiß wäre sexy und sie selbst das Maß aller Dinge, insbesondere weiblicher Sehnsucht. Aber sie fand es amüsant, ihm dabei zuzusehen, wie er sich elegant und humorvoll in dieser untergegangenen Welt bewegte.

Er und Bermann entstammten derselben Spezies, waren reinblütige Chauvinisten – Chervel, weil er Frauen verehrte, Bermann, weil er vor Frauen letztendlich Angst hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Chervel einer Frau gegenüber jemals gewalttätig werden würde. Bei Bermann war sie sich nicht sicher. Rolf Bermann war durch Zufall auf der Seite der Guten gelandet. Sein Beruf hatte immerhin Teile seines Wesens sozialisiert, und das unterschied ihn von Männern wie Holzner. Viel mehr war es wohl nicht.

Sie schüttelte die Gedanken ab. Der Fall begann, sie zu infizieren, drang in sie ein wie ein Virus, der sich in jede Körperzelle stahl. Die Schutzmechanismen funktionierten nicht, schon lange nicht mehr. Sie hatte die Fähigkeit verloren, sich abzugrenzen.

Eddie, Nadine, Holzner, die Polizeidirektion, das war das eine.

Ihre Wohnung, das neue Auto, der neue Mann, das war das andere.

Aber das gab es nicht mehr, das eine und das andere. Die Grenzen hatten sich irgendwann vor längerer Zeit aufgelöst. Was Holzner und Eddie möglicherweise getan hatten, warf in ihrem distanzlosen Kopf die Frage auf, ob Chervel oder Bermann zu Ähnlichem fähig wären, nur weil sie Männer waren.

Sie hatte gehofft, dass sich durch Ben Liebermann etwas ändern würde. Das andere existierte doch jetzt wieder, in aller Deutlichkeit und Intensität. Aber ganz offensichtlich hatte sich nichts geändert, und dieser Gedanke machte ihr Angst.

Zeit für eine Pause, dachte sie, bevor es zu spät ist.

Missmutig verzog sie den Mund. Schon wieder? Pausierte sie nicht inzwischen jedes Jahr? Ein paar Wochen Suchtklinik hier, ein paar Monate Kloster da, hin und wieder Krankenhaus, wenn auf sie geschossen worden war, den ganzen vergangenen November krankgeschrieben, weil sie nicht verkraftet hatte, was Antun Lonc?ar alias Heinrich Schwarzer getan hatte, den ganzen Dezember Urlaub in Osijek bei Ben Liebermann …

Eine Bewegung ließ sie aufsehen. Hans Meirich kam auf sie zu und schaute sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf. Nichts Neues von den Franzosen.

»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie.

Meirichs Brauen senkten sich drohend.

»Geh heim, Hans.«

Der geschundene Mund öffnete sich einen Spalt, Meirich grummelte Unverständliches. Er sah tatsächlich zum Erbarmen aus. Holzners Schlag hatte mehr aufplatzen lassen als nur die Lippen. Die Augen lagen in dunklen Höhlen, der Blick fast schon verzweifelt, als wäre ihm in dem Moment, als ihn die Faust getroffen hatte, jeglicher Stolz und Selbstwert weggebrochen. Als hätte der Schlag seine ganze Existenz in Frage gestellt.

»Kann doch jedem passieren, Hans«, sagte sie und drückte seinen Arm.

Er nickte. Sein Blick war plötzlich kühl und wachsam.

»Du rührst ihn nicht an, klar?«

Seine Brauen hoben sich fragend.

»Holzner. Du rührst ihn nicht an.«

Meirich winkte generös ab. Nein, ich doch nicht.

Helden eben.


Lubowitz, einer der Techniker vom Dezernat 42, war vor die Scheune getreten und winkte sie zu sich. Er hielt ein Tütchen hoch. Während sie zu ihm ging, versuchte sie zu erkennen, was sich darin befand.

Ein Zigarettenstummel, von dem kaum mehr als der Filter übrig war.

»Ziemlich frisch«, sagte er. »Marlboro, wenn du mich fragst. Die sieben.«

Sie blickte in die Scheune. Mittlerweile staken etwa zwei Dutzend Spurentafeln im Boden; die sieben befand sich unweit des Eingangs. Louise sah zu Lubowitz hoch, der gut einsneunzig war, ein ungepflegter, gelegentlich knurriger Schlaks. Mehr wusste sie nicht von ihm. Groß, ungepflegt, knurrig, genial, das war alles. Sie begegneten sich beinahe täglich, und sie kannte nicht einmal seinen Vornamen. Niemand, dachte sie, kannte seinen Vornamen. Lubowitz war Lubowitz.

»Was heißt ziemlich frisch?«

»Lag höchstens einen Tag da. Schau ihn dir mal genau an.«

Sie nahm das Tütchen, drehte und wendete es, ein Stummel, wie Stummel eben aussahen. »Und?«

»Bin ich Sherlock Holmes oder du?«

»Sag schon.«

»Er wurde nicht ausgetreten, Bonì, er ist runtergebrannt.«

»Habt ihr Brandspuren?«

»Nicht den Hauch davon.«

»Da hatte jemand Glück.«

»Muss einer von den Bösen gewesen sein. Die Guten haben kein Glück.«

»Was ist mit der Decke?«

»Fasern. Rot, reiner Kunststoff. Irgendwas ganz Billiges, was du in jedem Kaufhaus kriegst.«

Sie nickte. »Die Decke ist wichtig.«

»Kann doch auch der Kleinen gehören.«

»Der Kleinen?«

Lubowitz rollte die Augen. »Nerv mich nicht, Bonì.«

Sie schwieg.

»Der Frau«, sagte Lubowitz.

»Die Decke gehört dem Täter, oder sie hat sie hier gefunden.«

Lubowitz nickte bedächtig.

»Was denkst du, kann es …«

»Ich denke nicht, Bonì. Ich schaue nur.«

»Kann es hier passiert sein?«

»Du meinst, kann sie hier geschlagen und vergewaltigt worden sein? Dafür gibt es keine Anzeichen. Keinerlei Kampfspuren. Da drüben hat jemand gelegen, aber viel mehr war da nicht.«

»Okay. Noch was?«

Er seufzte. »Ich geb dir den kleinen Finger, und du willst den ganzen Kerl.«

»Also?«

»Blut, Haare, Haut, Urin, Schuhabdruckspuren. Eine verfaulte Bananenschale. Tote Mäuse. Skelettierte Mäuse. Steinharte Kaugummis. Fast steinharte Kaugummis. Verrostete Nägel. Die Scheiße von Katzen, Hunden, Ratten, Hasen, Füchsen …«

Sie hob die Hand, um ihn zu bremsen.

»Das hörst du dir jetzt an, Bonì«, sagte Lubowitz und wirkte zum ersten Mal in diesen Minuten zufrieden.


Eine halbe Stunde später kam Reinhard Graeve, der seit sechs Monaten das Kunststück fertigbrachte, unaufdringlich in die Rolle des Kripoleiters hineinzuwachsen und doch in jeder Sekunde Autorität auszustrahlen. »Wir werden eine Soko aufrufen«, sagte er. »Sie bekommen alles, was Sie brauchen. Leute, Technik, Zeit.«

»Das geht ja schnell«, sagte Louise.

»Tja«, sagte Graeve.

Sie standen abseits auf dem Feld, sahen zu, wie die uniformierten Kollegen im Wald verschwanden. Lubowitz war mit seinen Technikern abgezogen, der Hubschrauber rheinabwärts geflogen, Meirich in die Direktion gefahren. Plötzlich war die Stille zurückgekehrt und mit ihr eine merkwürdig unwirkliche Atmosphäre. Ein Lauern lag über der Szenerie, als würden sie beobachtet. Als sähen die Scheune, das Feld, der Wald dabei zu, wie ihnen Stück für Stück die Geheimnisse entrissen wurden.

»Lassen Sie mich raten. Sie hatten Anrufe.«

Graeve lächelte. »Aus Bonn, Berlin und Stuttgart.«

»Rohmueller zieht die Strippen.«

»Verurteilen Sie ihn nicht. Wenn Sie in seiner Lage wären, würden Sie auch alle Möglichkeiten nutzen, die Sie haben.«

»Zum Glück hab ich leider keine Kinder.«

Graeve hob eine Augenbraue und sah mit einem Mal sehr väterlich aus. Er besaß viel von Bobs Effizienz und ein wenig von Almenbroichs Menschlichkeit. Vielleicht mal wieder ein Chef, den man morgens um sechs in seinem Büro mit privaten Problemen heimsuchen konnte.

Sie lächelte leicht. Eine Option für die Zukunft.


Chervel rief an. Rien.

Thomas Ilic rief an. Nichts.

Er stand mit einer Handvoll Kollegen am Bahnhof und zeigte Fotos von Nadine herum. Andere Kollegen besuchten Taxifahrer, die am Sonntagmorgen Dienst gehabt hatten, zu Hause oder an Standplätzen. Ein Taxifahrer hatte Nadine früher einmal gefahren, aber nicht vor ein paar Tagen. Meirichs Leute befragten Inge Rovak und Rudi, deren Namen und Nummern in Nadines Festnetztelefon gespeichert waren.

Bermann rief an. Bin in einer Stunde da. Habt ihr was?

Nichts.

In dem Moment, als das Telefon erneut klingelte, entstand am Waldrand Bewegung. Einer der Bereitschaftspolizisten lief winkend auf das Feld.

»Frau Bonì«, sagte Graeve angespannt.

»Ich sehe es.« Sie hielt das Handy ans Ohr, während sie dem Kollegen der BePo entgegengingen.

»Bonì?«

»Ja.«

Ein Ermittler vom Dezernat OK, der Name sagte ihr vage etwas, Andi Bruckner, die Stimme hatte sie auch schon gehört, eine laute, aggressive Stimme. Bruckner saß in einem Taxi am Standplatz Schwabentor. Der Fahrer hatte Nadine auf dem Foto erkannt.

Vom Waldrand drangen Rufe an ihr Ohr. Der Kollege der BePo war stehengeblieben. Was er rief, verstand sie nicht.

»Was?«, schrie Graeve.

Sie beschleunigten ihre Schritte.

»Er hat sie am Sonntag gegen fünf vom Kagan zum Martinstor gefahren«, sagte Bruckner. »Ein Kerl hat sie begrüßt. Anfang zwanzig, halblange Haare, attraktiv. Surfertyp.«

Sie erinnerte sich an ein Foto auf Rohmuellers Listen. Serge, der Exfreund, sah wie ein Surfer aus.

»Kein Zweifel, dass es Nadine war?«

»Kein Zweifel. So eine Zuckerpuppe vergisst man nicht, sagt er.«

»Ruf Thomas Ilic an«, bat Louise und beendete die Verbindung.

Dann hatten sie den Kollegen der BePo erreicht, einen jungen Polizeiobermeister, der sich keuchend auf den Oberschenkeln abstützte. Wortlos deutete er hinter sich.

»Reden Sie doch, Mann!«, rief Graeve.

Sie hatten Eddie Holzners Leiche gefunden.

Jäger in der Nacht: Kriminalroman
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