23

Kurz darauf fuhr sie los, doch im Berufsverkehr auf der langen Ausfallstraße aus Colmar kam sie nur langsam voran. Im Rückspiegel für Momente die Vogesen, auf einer Brücke im Osten der Kaiserstuhl, wie schön, dachte sie, Colmar und das Elsass, Freiburg und der Breisgau waren, und was für Menschen sie beherbergten. Menschen wie Haberle, die beiden anderen Männer, die sich morgens um fünf in Freiburg ein Mädchen holten. Immer wieder sah sie Nadines verängstigtes, geschundenes Gesicht vor sich, Claus Rohmuellers verzweifelten Blick, hörte die unausgesprochenen Vorwürfe. So war es eben, dachte sie, so war diese Gesellschaft auch hier, nach außen schön und freundlich und friedlich, in sich verfault, ein Sumpf aus Trieben, Machtgelüsten, Hemmungslosigkeit, die sich überall auf sanktionierte Weise Bahn brachen und manchmal auf grauenerregende.

Sich hinter einer schönen Stimme verbargen.

Die Stimme. Sie ahnte jetzt, wer der Polizist war.

Nein. Sie wusste es.


Dann das Breisacher Münster, das sich wenige Kilometer vor ihr dunkel auf der anderen Rheinseite erhob, und sie dachte plötzlich, dass sie Ben Liebermann dieses schöne Land zwischen Schwarzwald und Vogesen gern einmal gezeigt hätte. So sollte es doch sein, das andere Leben, mit einem Menschen wie ihm die schönen Dinge ansehen, ohne dahinter immer auch die hässliche Kehrseite zu erkennen. Ihr fiel ein, dass Ben Liebermann ein ums andere Mal von Krieg, Politik und Zerstörung gesprochen hatte, wenn er ihr in Kroatien eine Stadt, eine Landschaft gezeigt hatte. Vielleicht hatten sie das gemeinsam. Sahen im Schönen immer auch die Fratze.

Vielleicht hatte er auch nur vor ihr begriffen, dass sie ein Teil dieser Fratze waren, weil sie ein Teil dieser Gesellschaft waren.


Zwanzig Minuten später rief Alfons Hoffmann an.

»Wo bist du?«

»Kurz vor Freiburg.«

»Haberle hatte eine Wohnung in Oberrimsingen.«

Alfons Hoffmann hatte herumtelefoniert, war eher zufällig darauf gestoßen. Eine Grundsteuerabbuchung von einem Konto, ein Grundbucheintrag, Erbe des vor vier Jahren verstorbenen Vaters. Louise dachte an das Gespräch mit Brigitte Haberle, die gesagt hatte, ihr Mann habe die Wohnung verkauft.

Ein Doppelleben, jahrelang.

»Bist du sicher?«

»Bin ich.«

Oberrimsingen, vermute ich, hatte Josepha Ettinger gesagt.

Von Oberrimsingen nach Grezhausen waren es zwei, drei Kilometer. Eine schmale, auf beiden Seiten von Maisfeldern eingerahmte Straße, die die Landesstraße kreuzte, wenn sie sich richtig erinnerte. Nadine musste sich durch die Felder geschleppt, die Landesstraße überquert haben. Noch ein Maisfeld, dann ein paar Häuser, die Möhlin, zweihundert Meter weiter der brachliegende Acker der Ettingers mit der Scheune. Sonntagmittag oder früher Nachmittag, ein nacktes Mädchen, das in eine rote Decke gehüllt war und sich höchstwahrscheinlich kaum hatte aufrecht halten können. Niemand hatte das Mädchen gesehen. Vielleicht hatte es die hohen Maisfelder genutzt, um sich zu verstecken. Vielleicht weil drei Männer hinter ihm hergewesen waren.

»War schon jemand dort?«

»Nein. Ich treib den Hausmeister auf, wenn du willst.«

»Und schick mir Illi und besorg mir eine Durchsuchungsanordnung von Andrele.«

»Wird erledigt. Meldest du dich noch mal? Ich hab noch mehr.«

Sie fuhr in Freiburg-St. Georgen ab, kreuzte die Bundesstraße, fuhr wieder auf den Autobahnzubringer Süd.

Ein paar Minuten Aufschub für den Kollegen.


»Rolf war hier«, sagte Alfons Hoffmann kurz darauf. »Mein Gott, du hast sie gefunden.«

»Ja.«

»Offiziell?«

»Offiziell. Wir haben sie gefunden, sie lebt, sie hat die Täter beschrieben, jetzt ist sie mit ihrem Vater zu einem unbekannten Ort unterwegs. Wir müssen sie aus der Schusslinie nehmen, Alfons. Graeve und der Staatsanwalt sollen eine Pressekonferenz abhalten, und zwar …«

»Sie sollen?«

»Richtig.«

Sie hörte Alfons Hoffmann aufgeregt kichern. »Gut, sie sollen.«

»Und zwar so schnell wie möglich.«

»Dann wird es eng für den … den Kollegen.«

»Ja.«

»Du weißt nicht zufällig inzwischen, wer es ist?«

»Es gibt ein paar, die in Frage kommen.«

Alfons Hoffmann schwieg. Sie wusste, was er dachte: Rauswinden passte nicht zu ihr.

»Hat Nadine ihn beschrieben?«

»Hat sie. Gibt’s bei dir noch was Neues?«

Alfons Hoffmann grummelte beleidigt. Es klang wie »Ja«.

Die Computerleute hatten Haberles Laptop geknackt. Nichts Verwerfliches darauf, pornographische Filme etwa oder Ähnliches, nur Steuerunterlagen, Adressen, Termine, Urlaubsfotos, Betriebskostenübersichten, Ausgabenlisten und so weiter. Und Hunderte Fotos seiner Tochter. Kein einziges, das sie als Baby oder Kleinkind zeigte. Auf allen war sie mindestens acht oder neun. »Als wär er in sie verliebt gewesen oder so was«, sagte Alfons Hoffmann.

Louise nickte. Sie hatte mit Kinderpornos gerechnet, aber vielleicht hätte das nicht zu Haberle gepasst. Ein manischer Kontrolleur, der auch seinen krankhaften Drang kontrolliert hatte, indem er ihn auf ein einziges Objekt gelenkt hatte.

Dann, bei Nadine, hatte er die Kontrolle aufgegeben. Hatte sich gehenlassen. Weil andere, Gleichgesinnte, dabei gewesen waren?

»Weiter«, sagte Alfons Hoffmann, noch immer grummelnd. »Markus, Bert, Micha.« In Haberles Adressdatei gab es mehrere Männer mit diesen Vornamen. Wenn die Nachnamen korrekt waren, war keiner von ihnen bei der Kripo.

»Vergiss sie«, sagte Louise.

»Kein Markus, Bert, Micha?«

»Halte ich für unwahrscheinlich.«

»Für unwahrscheinlich, Louise?«

»Ja. War Illi in Haberles Praxis?«

Ein enttäuschtes Grummeln, war er. Und er hatte dort einen Kalender gefunden. Bei Samstag stand: »Micha«. Sie hatten die Michas aus der Adressdatei durchtelefoniert. Ein Michael Engele hatte am Samstagabend seinen Junggesellenabschied gefeiert, und er sagte, Haberle sei dort gewesen, Haberle und etwa fünfundzwanzig andere Freunde, ausschließlich Männer natürlich. »Sandy und Andi Bruckner sind gerade bei ihm. Ich meine, bei Michael Engele.«

»Der Skatabend.«

»Ja.«

»Wir brauchen eine Liste aller Gäste. Dann haben wir sie. Beide.«

Bad Krozingen, sie verließ die Autobahn, Hausen an der Möhlin, diesmal fuhr sie nicht nach links in Richtung Grezhausen, sondern nach rechts in Richtung Oberrimsingen. Und wieder der Blick auf den Tuniberg, den Kaiserstuhl, weit im Westen die Vogesen. Sie fragte sich, was der Mann, dem es in Colmar beinahe gelungen war, Nadine zu töten, in diesem Moment sah. Wo er war. Was er vorhatte.

Die Franzosen hatten nicht angerufen. Also hatten sie ihn nicht gefasst.

Er hatte Eddie getötet, weil der möglicherweise zu viel gesehen oder gewusst hatte. Er hatte Dietmar Haberle getötet, weil der offenbar zur Gefahr geworden war. Er hatte versucht, Nadine zu töten, um sie am Sprechen zu hindern. Hatte er jetzt vor, den Polizisten zu töten, bevor der gefasst wurde? Oder Michael Engele, der ihn vermutlich eingeladen hatte?

»Louise?«

»Entschuldige.«

Alfons Hoffmann räusperte sich. »Wer ist es?«

Sie seufzte. Und wenn sie es ihm sagte, und irgendwann später ging die Tür auf, und der Kollege stand da? Wie, Alfons, würdest du reagieren?

»O je«, murmelte Alfons Hoffmann.

»Siehst du. Hast du Illi erreicht?«

»Geht nicht ans Telefon. Soll ich dir jemand anders schicken?«

»Nein.«

Sie legte auf.

Ein Junggesellenabend.

Mick hatte seinen Junggesellenabschied gefeiert. Rolf Bermann, wenn sie sich richtig entsann, ebenfalls. Andere Kollegen und Bekannte. Fragte man nach, erhielt man zumeist ein Grinsen zur Antwort. Vermeintlich wilde und doch nur lächerliche Erinnerungen, die bis ans Lebensende blieben – Männer unter sich. Alkohol, die einschlägigen Witze, oft genug halbnackte Frauen. Tänzerinnen, Stripperinnen, Nutten. Sie hatte von Pornonächten, Massenselbstbefriedigung, auch von Vergewaltigung gehört. Aus Kostengründen wurden viele Junggesellenabende inzwischen nach Osteuropa verlegt. Bratislava, Prag, Budapest. Das Bier und die Frauen waren dort billiger.

Die Krone der Schöpfung, saufend und grölend unter ihresgleichen, den Schwanz in der Hand.

Manche Traditionen würde sie nie verstehen.


Alles in Ordnung drüben im Elsass, sie waren vor wenigen Minuten aufgebrochen, Ben Liebermann und Claus Rohmueller in einem Auto, die drei alten Frauen und Nadine im zweiten, die beiden französischen Kollegen im dritten, ein kleiner Konvoi auf dem Weg in die Berge. Wieder fragte sie sich, ob es falsch gewesen war, Ben Liebermann hineinzuziehen und womöglich in Gefahr zu bringen. Claus Rohmueller hatte gewollt, dass er in Colmar blieb und später mitkam nach Gérardmer, eine Art persönlicher Leibwächter, und Ben Liebermann fühlte sich endlich wieder gebraucht, aber darauf konnte sie sich nicht hinausreden. Sie hatte ihn hineingezogen.

»Pass auf dich auf, Ben.«

»Und du auf dich.«

»Ich brauch dich noch.«

»Und ich dich.«

»Sag mal, hattest du einen Junggesellenabschied, bevor du geheiratet hast?«

Ben Liebermann lachte leise. »Nein.«

Es gab ja, dachte sie, zum Glück auch andere.

Es gab Ben Liebermann, der in diesem Moment auf dem Weg zu ihrer Familie war, die Onkels und Tanten in Gérardmer kennenlernen würde. Ein seltsames Gefühl, dass da jetzt wieder jemand war. Fast ein wenig tröstlich.

Wenn da nicht die Sorge gewesen wäre, dass sich auch hinter seinem Gesicht eine Fratze verbarg, die sich ihr irgendwann, irgendwie offenbaren würde, wenn sie es am wenigsten erwartete.

Jäger in der Nacht: Kriminalroman
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