7. Kapitel Frostige Stimmung

Am Nachmittag traf sich Noah mit Ella und Richie neben dem Springbrunnen hinter dem Zooeingang. Das Wetter war für Oktober überraschend kalt. Ella trug puschelige rosa Ohrenschützer, die aussahen wie große Zuckerwattebälle. Richie trug seine Lieblingswintermütze, eine Mütze mit geripptem Aufschlag und einem dicken roten Bommel an der Spitze. Der Bommel wackelte bei jeder Bewegung, die Richie machte.

«Seid ihr bereit?», fragte Noah.

Ella zwinkerte ihm lächelnd zu, während Richie nickte – sein Bommel nickte ebenfalls.

«Lass uns noch mal auf den Zettel gucken», sagte Ella. «Auf den, den du von den Vögeln bekommen hast.»

Sie fanden einen versteckt gelegenen Platz unter einem Baum. Noah glättete das zerknitterte Stück Papier, und die drei Kinder betrachteten die Seite. Die Schrift begann mitten in einem Satz und mitten in einem Gedanken, genauso wie der Zettel, den Mr Tall Tail Noah gegeben hatte.

zu viel passiert, was ich nicht verstehe. Ich bin total verwirrt! Ich habe die Unterwassertunnel vom Eisbärenpool in der Polarstadt untersucht. Die Wärterin, die da arbeitet, beobachtet mich immer so misstrauisch, als hätte sie irgendeinen Verdacht. Total gruselig! Und immer fragt sie mich, ob meine Eltern auch hier sind, und ich sage immer ja.

Ella blickte Noah an. «Hast du gewusst, dass sie ständig hierhergekommen ist?»

«Nein!»

«Diese Klavierstunden bei Ms Courtney – weißt du noch? Die sie im Sommer genommen hat –, ich wette, sie hat das nur gesagt, damit sie hier –» Ella unterbrach sich, als sie merkte, dass sie Megan gerade als Lügnerin bezeichnete.

Doch Noah beendete ihren Gedanken. «Ich wette, sie kann nicht mal den Flohwalzer spielen.»

Sie wechselten einen wissenden Blick und wandten sich dann wieder Megans Zettel zu.

***

Jedenfalls muss ich jetzt nach Hause. Noah ist vermutlich schon längst da, und ich sollte auch da sein. Ich werde ihm und den anderen Scouts bald davon erzählen. Aber noch würden sie mich vermutlich für verrückt halten.

Das war’s für heute.

Megan

PS: Beinahe hätte ich es vergessen! Ich muss daran denken, die Eisbären zu beobachten, wenn der Zoo schließt. Dann werden sie nämlich richtig aktiv. Am besten kann man sie aus dem Glastunnel sehen – besonders, wo er um die Kurven vom Eisbärenpool führt. Ich weiß genau, dass ich ein Licht geseh–

Hier endete die Notiz. Noah drehte den Zettel um. Die zweite Seite war zu verschmiert, um mit Ausnahme von ein paar Zeilen irgendwas zu erkennen.

bloß zwei Eisbären, Frosty und Blizzard. Aber wenn ich wirklich gesehen habe, was ich glaube gesehen zu haben, dann wird das Ganze hier langsam richtig verrückt.

Einen Augenblick lang habe ich drei Bären gesehen! Ist das wirklich möglich? Ich habe

Und das war das Ende der Seite.

«Wartet mal …», sagte Richie. «Der Zoo hat doch bloß zwei Eisbären.»

«Ja», sagte Noah. «Und er hat auch eigentlich bloß fünfzig Vögel – nicht tausend.»

Die Scouts standen eine Weile schweigend da. Der Wind blies gegen Megans Zettel und ließ ihn in Noahs Hand flattern.

«Das passiert wirklich, oder?», fragte Ella.

«Ja», sagte Noah. «Das passiert alles ganz wirklich.»

«Kommt», sagte Richie und rückte seinen Bommel gerade. Seine Stimme klang ungewöhnlich entschlossen. «Lasst uns zum Tunnel gehen und nachsehen, wie viele Bären wir finden.»

Und mit diesen Worten machten die drei sich auf den Weg.

 

Die Polarstadt war so angelegt wie eine kalte Nordpollandschaft. Vom Eingangshäuschen bis zu den WCs sahen alle Gebäude aus wie Iglus. Eiszapfen aus Plastik hingen von jedem Dach, Eisflächen aus Plastik lagen auf dem Boden, und Schilder warnten vor «vereisten Wegen». Im Winter wirkte das alles cool, im Sommer war es allerdings nicht besonders überzeugend. Wie sollten die Kinder glauben, dass es hier kalt war, wenn die Eiskugeln in ihren Waffeln schmolzen?

In kürzester Zeit hatten die Scouts den Eisbärenpool erreicht, der sich durch das Gehege schlängelte. Enge Stufen führten etwa vier Meter in die Tiefe und zu einem Unterwassertunnel mit Glaswänden, der durch die Mitte des Pools führte.

«Gehen wir», sagte Noah.

Sie eilten die Treppe hinunter und betraten einen gläsernen Raum, der in den Pool hineinführte. Durch die Wände hatte man einen tollen Blick, aber die größere Attraktion war der Tunnel selbst. Er schlängelte sich durch das Wasser und führte in einen zweiten Raum, den man von hier aus kaum sehen konnte. Es war wie der Plastiktunnel in einem Hamsterkäfig, nur tausendmal länger.

Die Scouts wanderten durch den Tunnel; es fühlte sich an, als würden sie direkt in den Pool spazieren. Im Tunnel trafen sie eine Gruppe von Kindern, die Blizzard beobachteten. Der Eisbär versuchte gerade, ein orangefarbenes Fass mit seinen dicken Beinen unter Wasser zu drücken. Es war ein riesiger Bär. Nach einer Weile begann Frosty mit Blizzard zu rangeln. Ein paar Minuten vergingen, dann schwamm Blizzard über den Tunnel und warf seinen Schatten auf die unter ihm stehenden Besucher. Er stützte sich direkt über Richie mit der Pfote auf dem Tunnel ab. Die Pfote war größer als Richies Kopf.

Die Scouts beobachteten den Pool und hofften darauf, irgendetwas Ungewöhnliches zu entdecken – vielleicht einen dritten Bären – doch sie fanden nichts. Noah vermutete, dass es noch zu früh am Tag war. Um sich die Zeit zu vertreiben, beschlossen sie, den Tunnel zu verlassen und sich an einem der Iglu-Stände etwas zu essen zu kaufen.

Auf dem Weg tat Richie so, als würde er auf einer der Plastik-Eisflächen auf dem Weg ausrutschen.

«Hey, Leute!», rief er. «Uuaaaaahh!»

Er ruderte mit den Armen, und der Bommel auf seiner Mütze wackelte wild hin und her.

Und dann verlor er tatsächlich das Gleichgewicht und landete auf seinen vier Buchstaben.

«Richie!», sagte Ella. «Wenn du nicht damit aufhörst, müssen wir dich zu den Affen sperren.»

Richie kam mühsam auf die Beine und rieb sich seinen Hintern.

Nachdem sie eine Stunde rumgebracht hatten, kehrten sie zum Eisbärenpool zurück, betraten erneut den Tunnel und warteten angespannt darauf, dass etwas passierte. Bald schon gab eine Frauenstimme durch die Lautsprecher bekannt, dass der Zoo in fünfzehn Minuten schließen würde. Eltern sammelten ihre Kinder ein und machten sich auf den Weg zum Ausgang. Innerhalb weniger Minuten waren die Action Scouts allein im Tunnel.

«Megan hat geschrieben, dass es spät passiert ist», sagte Noah. «Und genau das habe ich ja auch bei den Vögeln erlebt.»

«Ja», sagte Ella.

Frosty und Blizzard schwammen zum einen Ende des Teiches hinüber. Ihre riesigen Pfoten schoben das Wasser mit kräftigen Zügen zur Seite.

«Seht ihr irgendwas Ungewöhnliches?», fragte Noah.

«Nein», antwortete Richie.

Die drei Kinder drückten ihre Gesichter an die Tunnelwand, sodass das Glas von ihrem Atem beschlug. Die Stille hing schwer in der Luft, während die Zeit verging.

«Ich kenne einen Witz», sagte Richie plötzlich aus dem Nichts heraus.

«Was?», stöhnte Ella.

«Einen Witz! Ich kenne einen Witz.»

Ohne den Blick vom Pool zu wenden, sagte Noah: «Dann erzähl ihn doch.»

«Seid ihr bereit?», fragte Richie.

«Himmel noch mal», sagte Ella, «er wird nicht witziger, wenn du ihn noch länger hinauszögerst.»

Richie räusperte sich und sagte: «Was ist weiß und pelzig und hat die Form eines Zahns?»

«Was ist was?»

«Was ist weiß … und pelzig … und hat die Form eines Zahns?»

«Keine Ahnung», sagte Noah. «Was ist es?»

«Ein Beißbär!»

Niemand lachte. Noah und Ella starrten einfach weiterhin ins Wasser.

«Ein Beißbär», wiederholte Richie. «Versteht ihr nicht?»

«Natürlich verstehen wir das», sagte Ella. «Wir sind nur keine Babys mehr.»

«Mann», sagte Richie. «Ich glaube –»

«Ruhe!», sagte Noah. «Ich sehe was!»

«Was? Wo?», fragte Richie.

«Licht! Ich sehe Licht!»

Noah hatte einen Lichtstrahl im Pool ausgemacht, aber er kam aus den Tiefen des Wassers.

«Ich sehe nichts», sagte Ella. «Wo denn?»

«Er war da, aber bloß ganz kurz. Ein Lichtstrahl – genau wie Megan geschrieben hat!», sagte Noah.

«Bist du sicher, dass er nicht von oben gekommen ist?», fragte Richie.

«Ganz sicher!»

Im nächsten Augenblick hörten die Scouts einen hohen Ton aus dem Raum hinter ihnen – dem Raum, aus dem sie in den Tunnel getreten waren. Es klang, als würde sich eine große Metalltür öffnen. Sie drehten sich um.

«Was war das?», flüsterte Ella.

«Ich weiß nicht», antwortete Noah. «Vielleicht jemand, der hier arbeitet.»

Sie lösten sich von der Tunnelwand und versuchten sich ganz unauffällig zu verhalten. Ella zog sich ihren Pferdeschwanz zurecht, Richie zupfte an seinem Bommel herum. Ein weiterer hoher Ton war zu hören, gefolgt von einem Geräusch, als ob eine Tür zuschlug.

«Das ist aber zu laut für eine normale Tür», flüsterte Richie.

Und dann sahen die Scouts durch den gläsernen, gewundenen Tunnel hindurch eine Bewegung. Etwas hatte den Raum betreten. Etwas Großes. Weißes.

Von ihrem Platz aus konnte Ella um die Kurve sehen. Und sie erbleichte.

«Äh … Leute?»

Ein neues Geräusch ließ die Glaswände erzittern. Wwwwrrrrooooooaaaaawwwlll!

«Was ist das?», fragte Noah erschrocken.

Doch bevor Ella antworten konnte, tauchte der Kopf eines riesigen Eisbären im Eingang des Tunnels auf. Er knurrte, schwang den Kopf von einer Seite zur anderen und fixierte dann die Scouts mit seinen schwarzen Augen.

Noah versuchte etwas zu sagen, doch er bekam nur ein «Unnnnhhh …» heraus.

Der Bär warf den Kopf zurück und brüllte. Seine Zunge sah wie ein riesiges Stück Fleisch aus, und seine weißen Zähne wirkten rasiermesserscharf.

Noah warf einen schnellen Blick in den Teich. Nur ein Bär war dort zu sehen. Es war Frosty, der kleinere Bär, was bedeutete, dass dieser hier Blizzard sein musste. Irgendwie war Blizzard in den Tunnel gelangt!

Wie angewurzelt standen die Scouts an ihrem Platz. Noahs Freunde sahen aus wie seltsam bemützte Statuen – die eine mit puscheligen Ohrenschützern, die andere mit einer Bommelmütze.

Schließlich durchbrach Ella flüsternd die Stille. «Hey, Richie, hast du jetzt nicht noch einen guten Witz auf Lager, den wir dem Bären erzählen könnten?»

«Bewegt euch nicht», warnte Noah. «Bleibt ganz ruhig stehen.»

Blizzard trat aus dem Raum und in den Tunnel. Wasser troff von seinem Pelz und hinterließ große Pfützen auf dem Boden. Er näherte sich den Kindern bis auf etwa drei Meter und rollte mit seinem gewaltigen Kopf.

«Der Raum hinter uns … hat auch einen Ausgang», bekam Noah heraus.

«Richie, können wir schneller rennen als dieses Ding da?», flüsterte Ella.

«Ich weiß es nicht», antwortete er.

Blizzard schwang den Kopf zu Noah herum und knurrte. Noah blickte den Bären an. Und plötzlich durchströmte ihn eine seltsame Ruhe.

«Wartet mal.» Er trat vor und sagte: «Blizzard? Ähm … hallo.»

Der Bär trat einen weiteren Schritt vor.

«Was machst du denn da?», fragte Ella.

Noah streckte eine zitternde Hand aus. «Pssst! Alles in Ordnung», sagte er.

Blizzard presste den Kopf gegen Noahs geöffnete Hand. Sein Fell war rau, nass und kalt. Er beschnüffelte Noahs Arm, und seine kohlrabenschwarze Nase hinterließ einen feuchten Fleck auf Noahs Jacke. Noah merkte jetzt erst, wie riesig Blizzard war. Seine Beine wirkten wie Baumstämme, und sein Kopf war so groß wie ein Medizinball. Während Blizzard ihn beschnüffelte, streichelte Noah ihm die Stirn.

«Blizzard», sagte er, «weißt du, wer ich bin? Ich bin Noah.»

Blizzard knurrte leise.

«Alles in Ordnung, Leute», sagte Noah. «Er ist gekommen, um uns zu helfen – genau wie die anderen Tiere.»

«Das ist doch verrückt», sagte Ella.

Sie und Richie kamen zögernd näher. Als sie den Bären erreicht hatten, strichen sie ihm vorsichtig über das Fell.

«Was geht hier vor?», fragte Richie. «Wie kann das alles sein?»

«Ich habe keine Ahnung», gab Noah zu.

«Wie ist er hier reingekommen?»

«Es muss irgendeinen Zugang zu dem ersten Raum geben – eine Tür oder so was. Denk doch an das Geräusch, das wir gehört haben», sagte Noah.

«Das ist alles wie ein Traum», meinte Ella.

Plötzlich wurde die Eingangstür aufgerissen, und durch die Glaswände konnte Noah sehen, wie das Licht von draußen auf die Treppe fiel. Ein Mann sprach.

«… ja … ja. Okay. Ich weiß. Ich hole jetzt die …»

Noah konnte einen Angestellten des Zoos erkennen. Er hielt die Tür mit dem Fuß geöffnet, während er mit einer anderen Person sprach.

Blizzard grunzte und sah die Scouts an. Er ließ etwas aus seinem Maul fallen – einen zusammengeknüllten Zettel. Noah hob ihn auf. Er war nass von Spucke, trotzdem stopfte er ihn in die Tasche, und Blizzard polterte in den Tunnel zurück. Der Boden knarrte.

«… noch meinen Werkzeugkasten holen», sagte der Mann. «Das ist ein größeres Problem hier unten. Wir müssen …»

Blizzard hatte das Ende des Tunnels erreicht. Er bog um die Ecke und verschwand. Sekunden später hörten die Scouts das laute, hohe Geräusch von vorhin. Das war es also gewesen: Blizzard hatte das Gehege durch eine geheime Tür betreten.

«Jetzt muss ich erst mal den Tunnel schließen», fuhr der Mann fort. «Ich gehe mal schnell durch, und wir treffen uns dann auf der Plattform.»

Die Tür fiel zu. Durch das Glas sah Noah den Mann näher kommen.

«Wir sagen nichts», erklärte Noah den anderen. «Wenn Blizzard diesem Typ nicht traut, tun wir es auch nicht.»

«Genau», stimmte Ella zu.

Der Mann kam in den Tunnel. Als er die Scouts sah, winkte er sie zu sich und sagte: «Kommt, Kinder, ich muss hier schließen.»

«Ist es denn schon so spät?», fragte Noah unschuldig.

«Ja, ja, der Zoo schließt jetzt. Los, beeilt euch.»

Als die Kinder auf ihn zukamen, warf der Mann einen Blick auf den Fußboden.

«Was ist das denn?», rief er. «Der Boden ist ja völlig nass! Was habt ihr hier ausgekippt?»

Die Kinder standen schweigend da.

«Ach, vergesst es», sagte der Mann mit gerunzelter Stirn. «Los jetzt, ab mich euch!» Er begleitete sie die Treppe hinauf. Gerade als die Scouts das Gehege verlassen wollten, rief er «Halt!».

Noah drehte den Kopf. Der Mann zeigte mit dem Finger auf ihn.

«Kenne ich dich nicht?»

«Ne-nein», antwortete Noah.

«Ich bin sicher, dass ich dich schon mal gesehen habe.»

«Bestimmt nicht.»

Der Mann sah ihn prüfend an und kratzte sich das Kinn. Schließlich sagte er: «Wie auch immer – geht jetzt.»

Sie eilten davon. «Noah, er hat dich erkannt!», flüsterte Ella.

«Ja», sagte Noah. «Und ich wette, er weiß auch, wo meine Schwester ist.»

Sie liefen zum Ausgang des Zoos. Noah griff in seine Tasche, um sicherzugehen, dass der Zettel von Blizzard immer noch darin war. Es gab wieder eine Nachricht für die Scouts.