18. Kapitel
Schneeflockenjagd
Ella und Richie duckten sich und huschten durch den Garten der Millers. Das Grundstück führte zu einem kleinen Waldgebiet zwischen den Nachbargärten. Die Scouts liefen um umgefallene Baumstämme und Äste herum und hielten auf einer Lichtung an. Dort sahen sie sich um. In den umliegenden Häusern waren die Lichter bereits erloschen. Die Scouts waren beruhigt, dass niemand sie sehen konnte, und wandten ihre Aufmerksamkeit den Bäumen zu.
«Ich sehe gar keine», meinte Ella.
«Ich auch nicht», sagte Richie. Er rückte seine Brille zurecht, die Ella ihm zurückgegeben hatte.
Um sie herum fielen ein paar Schneeflocken.
«Sind sie überhaupt da?»
Richie zuckte die Schultern. «Tameron hat doch gesagt, um zehn Uhr, oder?»
Sie nickte. Bei Tamerons Namen musste sie an die Descender denken. Sie fragte sich, ob diese sie von ihren Posten im Zoo aus sehen konnten, entschied aber, dass das nicht möglich war.
Sie wanderten ein bisschen herum und hielten dabei den Blick nach oben gerichtet. Die Zweige über ihnen bewegten sich nicht. Richie hockte sich neben einen hohlen Baumstamm und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Schulterzuckend richtete er sich auf. Nichts.
«Wir müssen rauf», sagte Ella.
«Wo rauf?»
Ella deutete in die Bäume. «Da rauf.»
«Niemals.»
«Komm schon, das dauert doch nur eine Sekunde. Ich will diese kleinen Tierchen sehen.»
«Du weißt doch, wie ich klettere.»
Ella packte Richie an der Hand und zog ihn zu einem Baum. Sie kniete sich hin und verschränkte die Hände für Richie zu einer Räuberleiter. «So. Der erste Schritt ist immer der schwierigste.»
«Und der zweite und der dritte und …»
«Richie!»
Er murmelte etwas vor sich hin, dann stellte er den Fuß in ihre Hände. Er drückte sich ab und platzierte den anderen Fuß in einer Astgabel. Als er sich hochziehen wollte, verlor er das Gleichgewicht und kippte zur Seite, sodass er mit seinem hinteren Ende Ellas Kopf berührte.
«Igitt!», stöhnte Ella. «Dein Hintern ist in meinem Gesicht!»
Richie fand sein Gleichgewicht wieder und kletterte in den Baum. Ella richtete sich wieder auf, verzog das Gesicht und schüttelte die Hände aus. «Iiieeh», sagte sie. «Total iiiieeh, iiieeh, iiieeh!»
Sie lief zu einem anderen Baum, sprang hinauf und kletterte mit den langen, anmutigen Bewegungen einer Turnerin nach oben. Richie dagegen kämpfte sich nur mühsam voran, brach Zweige ab und musste sich immer wieder am Stamm festklammern. Nach etwa sechs Metern hielt Ella an und wartete auf Richie. Ein paar Minuten später war er mit ihr auf einer Höhe.
«Siehst du was?», fragte Ella.
«Nein. Aber ich habe auch die Augen zu.»
Ella sah hinüber und stellte fest, dass er die Wahrheit sagte. «Richie!»
Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und schaute sich um. «Nein, keine Koboldmakis. Ich glaube, die sind gar nicht da.»
Ella dachte nach. Das ergab keinen Sinn. Dies hier war sicherlich das bewaldetste Gebiet in der ganzen Nachbarschaft. Würde die Geheime Gesellschaft hier nicht besonders viele Wachen abstellen?
Eine Schneeflocke landete in ihrem Auge und ließ die Welt für einen Moment verschwimmen. Sie wischte sie fort und spähte nach oben. Die Flocken wurden dichter. Sie fielen vom Himmel wie silberne Münzen. Wenn sie sich auf Ella niederließen, behielten sie noch eine Sekunde lang ihre Form, dann schmolzen sie.
«Es hört sich an wie …»
Sie unterbrach sich und lauschte. Sie hörte etwas. Ein leises Quieken.
«Was ist los?», fragte Richie. «Hast du …?»
Ella hob die Hand in ihrem rosa Handschuh. Dann trat sie vorsichtig auf einen neuen Ast.
Iiiiep. Wieder dieses Geräusch.
Sie beugte sich vor und entdeckte etwas. War es eine Beule im Ast? Nein. Sie legte den Kopf zur Seite und erkannte ein kleines, pelziges Tier mit aufgestellten Ohren und runden, hervortretenden Augen. Ein Koboldmaki. Er sah sie direkt an.
Iiiiep.
Ella stieg vorsichtig auf einen anderen Ast. «Hey, Junge.»
Der Koboldmaki kroch dicht an Ella heran. Er war winzig – kaum größer als ein Hamster. Aus der Nähe konnte Ella sehen, dass er lange, dünne Finger mit Verdickungen an den Spitzen hatte. Seine känguruartigen Hinterbeine waren angezogen.
Ohne Vorwarnung sprang das winzige Tier vom Ast ab und landete auf Ellas Schulter, direkt neben ihrer Wange. Wie aus dem Nichts hüpfte ein zweiter auf ihre andere Schulter. Die Tiere tauschten Iiiieps aus und machten es sich gemütlich.
«Ihr seid echt cool.»
«Ella!», rief Richie. «Siehst du was?»
«Das kannst du wohl sagen.» Sie schwang sich um den Baumstamm herum und zeigte Richie ihre Entdeckung.
«Oh mein Gott!» Richie riss die Augen auf, bis sie doppelt so groß waren wie sonst. «Du hast sie gefunden! Sind sie friedlich?»
«Scheint so. Hast du keine gesehen?»
«Nein. Ich glaube, mein Baum ist leer. Ich klettere jetzt runter.»
Als Richie den Abstieg begann, stellte Ella fest, dass auf seinem Rücken drei seltsame Beulen zu sehen waren.
«Richie, du bist bedeckt mit Koboldmakis!»
«Hä? Was redest du?»
«Dein Rücken – da sitzen drei Koboldmakis drauf.»
Richie rührte sich nicht mehr vom Fleck. «Was soll ich jetzt machen?»
«Jedenfalls nicht das, was du sonst immer machst, also schreien und vom Baum fallen. Deinetwegen ist es mir egal, aber die Koboldmakis sind irgendwie niedlich.
Richie sah über seine Schulter und versuchte, etwas auf seinem Rücken zu erkennen. «Was machen sie da?»
«Es sieht so aus, als würden sie sich bereit machen, dir gleich in die Backe zu beißen.»
Richie bekam Angst.
Ella schüttelte den Kopf. «Dussel. Wir treffen uns unten auf dem Boden.»
Sie kletterte hinunter und wartete neben Richies Baum. Die Koboldmakis auf ihren Schultern reckten die Hälse. Richie navigierte erfolgreich auf einen neuen Ast, dann zu einem zweiten. Als er den Fuß auf einen dritten stellen wollte, rutschte er ab, fiel beinahe vom Baum und fluchte vor sich hin. Die Koboldmakis drehten sich mit besorgtem Blick zu Ella um.
«Keine Angst», beruhigte Ella sie. «Er macht es eigentlich ganz gut. Normalerweise wäre er schon längst runtergefallen.»
Richie gelangte schließlich auf den Boden und drehte Ella den Rücken zu. «Was machen sie jetzt?», fragte er mit sorgenvoller Stimme.
«Sie sitzen da und sehen süß aus.» Ella streckte den Arm aus, und ein Koboldmaki hüpfte darauf wie ein Papagei. Sie schob Richie das Tier hin. «Hier, nimm ihn mal.»
«Beim letzten Mal, als ich das gemacht habe, wurde mir beinahe der Kopf abgebissen.»
«Na, dieser hier sieht nicht hungrig aus. Jetzt streck schon deinen Arm aus.»
Wie ein Frosch sprang der Koboldmaki durch die Luft, landete auf Richies Unterarm und warf ihm einen wilden Blick zu. Er piepte einmal. Während Richie ihn noch nervös betrachtete, griff Ella hinter ihm nach dem anderen Koboldmaki.
«Stimmt schon, dass sie niedlich sind», sagte Richie. «Wenn man den ersten Schock verwunden hat, meine ich.»
Ella hielt ihm erneut den Arm hin. «Hier», sagte sie. «Nimm noch einen.»
Der Winzling sprang vorn auf Richies Jacke, kletterte in eine seiner Taschen und steckte den Kopf heraus. Die beiden Scouts lachten.
«Wie lustig!», sagte Ella. «Er sieht aus wie …»
Sie unterbrach sich, denn der Koboldmaki auf ihrer linken Schulter sprang über einen Meter hoch in die Luft. Er fing eine Schneeflocke, dann landete er mit aufgerissenen Augen wieder auf ihrer Schulter.
Als die Scouts lachten, sprang der Koboldmaki von Richies Rücken ebenfalls ab, fing eine Schneeflocke aus der Luft und landete auf Ellas Arm.
«Wie cool!», sagte Ella. Sie trat auf die Lichtung, wo die Schneeflocken ungehindert fallen konnten, blickte hoch und sah, wie sie aus dem Nichts der Nacht herunterrieselten. Mittlerweile waren sie größer als Münzen. «Richie, komm her!», rief sie.
Richie ging zu Ella und blieb etwa zehn Schritte vor ihr stehen. Ein Koboldmaki schnellte von Ellas Arm und schoss in die Luft. Mitten im Flug schnappte er eine Schneeflocke und landete dann auf Richies Bein. Der Koboldmaki auf Richies Schulter kam als Nächster dran. Er segelte durch die Luft, wobei die langen Beine unter ihm baumelten, und fing eine Schneeflocke, bevor er auf Ella landete, wo ein dritter Koboldmaki absprang und zu Richie flog.
«Wie viel Kraft die haben!», sagte Ella bewundernd.
Die seltsamen kleinen Tiere sprangen nacheinander zwischen Ella und Richie hin und her. Sie schnappten sich die Schneeflocken und schluckten sie herunter. Ella wusste nicht, ob sie glaubten, die eisigen Kristalle seien Käfer, oder ob sie einfach nur Spaß hatten. Vielleicht war es beides. Oder sie wollten einfach nur mit den Scouts spielen.
Ein Koboldmaki landete auf Richies Kopf, fiel über den Bommel und landete auf seinem Rücken. Ella bekam einen Lachanfall. Sekunden später verfehlte ein Koboldmaki um Haaresbreite Ellas Kopf. Er landete auf einem nahen Ast und sprang schnell zurück, wobei er einen ihrer Ohrenschützer verschob.
Eine Wolke entlud eine neue Ladung Schneeflocken. Sie segelten groß, weiß und geduldig zur Erde und legten sich auf den Boden. Richie wurde immer weißer. Durch den fallenden Schnee wurden alle Geräusche gedämpft: das Rascheln der Blätter unter Ellas Füßen, das Gepiepe der Tiere, Richies Gelächter.
Voller Energie sprangen die Koboldmakis hin und her. Sie stießen sich von Ella und Richie ab, und jedes Mal, wenn sie auf Ella landeten, sah sie, wie die Tiere den Schnee wegblinzelten. Die Flocken schmolzen auf ihren Körpern und verklebten ihr Fell.
Innerhalb weniger Minuten wurde der Schneefall schwächer. Und ebenso erging es den Koboldmakis. Sie ließen sich auf den Scouts nieder, drei auf Ella und zwei auf Richie. Ella spürte ihre zitternden Atemzüge.
«Wir sollten jetzt lieber gehen», sagte Ella. «Wir hätten schon längst zu Hause sein sollen.»
Richie nickte, und die zwei eilten zu einem Baum. Dort kletterten die Koboldmakis auf die Zweige und duckten sich. Plötzlich schienen sie erschöpft zu sein.
«Bis bald, Leute», sagte Ella. Dann drehte sie sich um und führte Richie aus dem Wald.
Als sie die Straße erreichten, hatte der Schneefall bereits aufgehört. Das meiste, was noch auf dem Boden lag, würde am Morgen wohl schon geschmolzen sein. Im Gehen sah Ella noch einmal in die Bäume hinauf. Irgendwo dadrin hockten Hunderte von Koboldmakis auf den Ästen, bewegungslos und versteckt. Sie stellte sich ihre glupschigen Augen vor, die auf sie hinabstarrten. Auf sie und Richie. Sie wussten bestimmt, was gerade passiert war.
«Wir sind beobachtet worden», sagte Ella. «Schon unser ganzes Leben lang. Jede Nacht.»
«Ja», meinte Richie. «Und vielleicht nicht nur von den Koboldmakis.»
Ella drehte sich zu ihm um. «Was meinst du damit?»
Richie hob die Augenbrauen. «DeGraff.»
Bei all ihren Sorgen um die Yetis hatte Ella den Schattigen beinahe vergessen. Sie ließ den Blick über die Gärten schweifen. Büsche, Schuppen, Ecken. War er irgendwo hier draußen? Beobachtete er sie gerade?
Ella schauderte.
«Komm, Richie, lass uns von hier verschwinden.»
Unter den wachsamen Augen der Koboldmakis rannten die zwei die Straße hinab, fort von den Verstecken in den Gärten.