13. Kapitel
Harry’s Bar and Grill« lag an einer Einkaufsmeile und wurde auf einer Seite von einem Tätowierstudio und auf der anderen von einer Münzwäscherei flankiert.
Als Annalise am Donnerstag um Viertel vor sechs aus dem Wagen stieg, empfing sie ein Duftgemisch aus gerösteten Zwiebeln und Weichspüler.
Sie hatte sich schon den ganzen Tag auf das Treffen gefreut. Während sie mit Sammy über Stoffe diskutiert und die Meinung der anderen über die Farben eingeholt hatte, hatte sie sich damit getröstet, dass sie den Abend mit Tyler verbringen würde, ganz gleich, wie stressig der Tag auch gewesen war.
Im Harry’s war es dunkel und verraucht, und als sich Annalise umsah, erkannte sie, dass sich hier offensichtlich überwiegend Polizisten trafen, die gerade dienstfrei hatten.
Befangen blieb sie an der Tür stehen. Eine vollbusige, blonde Kellnerin kam auf sie zu. »Hey, Schätzchen, suchen Sie jemanden? Ich kenne Sie nicht, und für eine Stammkundin sehen Sie viel zu vornehm aus.«
»Ich suche Detective King.«
»Ah, Tyler. Er hat um das private Speisezimmer gebeten. Er ist schon dort.« Sie bedeutete Annalise, ihr zu folgen.
Das »private Speisezimmer« bestand aus einem Kartentisch, der in einem der hinteren Lagerbereiche aufgestellt war. Als Annalise eintrat, erhob sich Tyler, und sein Lächeln war so warm, dass er allein mit seinem Blick hätte Kerzen entzünden können.
»Das hier ist nicht gerade das Ritz«, setzte er an.
Sie schmiegte sich in seine Arme und küsste ihn, entwand sich ihm aber rasch wieder, bevor er sie festhalten und den Begrüßungskuss in etwas völlig anderes verwandeln konnte. »Schon gut«, versicherte sie. »Ich freue mich, dass du Zeit für unser Treffen hast.«
Er rückte den Stuhl für sie zurecht, und sie setzte sich und wartete, bis er ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Du siehst müde aus«, sagte sie leise.
Er nickte. »Ich bin auch erschöpft, aber du siehst großartig aus.«
»Danke.« Einen Augenblick lang wusste sie nichts zu sagen. Unter normalen Bedingungen hätte sie ihn jetzt nach seiner Arbeit gefragt, nach den Fällen, die schuld an den Ringen unter seinen Augen waren und die die Falten in seinem Gesicht stärker hervortreten ließen. Doch er hatte ihr mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben, dass Gespräche über seine Arbeit tabu waren.
Ihr wurde bewusst, dass er sie, während sie ihn musterte, ebenfalls angesehen hatte. Sie wurde rot und lachte. »Entschuldige – ich glaube, ich habe dich angestarrt.«
»Ich dich auch«, antwortete er unbefangen. »Wenn ich dich nur ansehe, geht’s mir gleich gut. Erzähl mir von deinem Tag. Berichte ruhig von gewöhnlichen Dingen, damit ich in der wirklichen Welt wieder Fuß fassen kann.«
Annalise erzählte ihm von ihrer neuen Puppe und von den einzelnen Teilen, die nötig waren, um ein neues Produkt auf den Markt zu bringen. Sie teilte mit ihm den Stress der rückläufigen Verkaufszahlen und den Druck, das Ruder herumzureißen. Schließlich berichtete sie von ihrem Mittagessen im Park am Tag zuvor und von Charlies letztem Anruf bei ihr.
Sie unterbrach sich erst, als die Kellnerin kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Als sie wieder gegangen war, sprachen sie über ihre Kindheit.
Beim Essen vertraute Tyler ihr einige seiner Erinnerungen an die Zeit seines Heranwachsens an, und sie musste sich eingestehen, dass das Bild, das er zeichnete, ihren Neid weckte. Es war nicht zu überhören, dass seine Eltern ihn liebten und als Kind verwöhnt hatten.
Annalise war mit dem Empfinden aufgewachsen, hart um die Liebe ihrer Mutter kämpfen zu müssen, als hinge Lillians Zuneigung von Annalises Verhalten ab. Das Fehlen des Vaters hatte ihr ganz sicher nicht das Gefühl gegeben, geliebt oder geschätzt zu werden.
»Wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben, möchte ich dich gern mit meinen Eltern bekannt machen«, sagte Tyler. »Ich glaube, du wirst sie mögen, und ich weiß, dass sie dich mögen werden.«
»Sie müssen großartige Menschen sein, denn sie haben einen großartigen Sohn herangezogen.«
Zwar hatte ihre gemeinsame Mahlzeit nicht lange gedauert, doch sie hatte trotzdem das Gefühl, Tyler besser kennengelernt zu haben. Sie glaubten an die gleichen Dinge und teilten die gleichen, recht traditionellen Werte. Es war beinahe beängstigend, wie sehr sie ihn mochte.
»Ich bin ein bisschen beunruhigt wegen Danika«, sagte sie, als sie gemeinsam das Lokal verließen. »Hast du sie zufällig kürzlich gesehen?«
»Nein, aber ich war auch nur selten zu Hause. Warum machst du dir Sorgen?«
Sie blieben vor Annalises Wagen stehen, und sie kramte die Schlüssel aus ihrer Handtasche. »Ich habe seit letzter Woche nichts mehr von ihr gehört, und das ist wirklich ungewöhnlich. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie meldet sich nicht.«
»War alles in Ordnung, als du sie zuletzt gesehen hast?«, fragte er.
Annalise runzelte die Stirn und erinnerte sich, dass bei ihrem letzten Gespräch mit Danika ein leicht gereizter Unterton mitgeschwungen hatte. »Wir waren beide ein bisschen genervt, aber das ist im Grunde nichts Neues, und ich dachte, alles wäre wieder in Ordnung, als wir uns trennten.«
»Wenn es dich beruhigt, halte ich heute Abend auf dem Heimweg kurz bei ihr an und sehe nach.« Er zog sie in seine Arme. »Was hättest du sonst davon, mit einem Bullen auszugehen, wenn er nicht mal deine verschwundene Freundin für dich aufspüren kann?«
Sie lachte, und ihr Puls beschleunigte sich in seiner Nähe. »Verschwunden ist sie ganz bestimmt nicht. Vielleicht hat sie sich doch viel schlimmer über mich geärgert, als ich angenommen habe.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich über dich ärgern könnte«, sagte er leise, bevor er ihre Lippen suchte und ihr einen Kuss gab, der nicht nur Verlangen weckte, sondern in dem etwas viel Tiefergehendes mitschwang.
Sie schmiegte sich an ihn und wünschte sich, mit ihm zusammen an einem anderen Ort zu sein, wo sie allein waren. Es erstaunte sie, wie sehr sie sich danach sehnte, mit ihm zu schlafen.
Nur äußerst widerwillig ließ er sie los. »Es ist verrückt. Wir haben uns erst ein paarmal getroffen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dich schon ewig lange zu kennen.«
Ihr erging es nicht anders. Seit dem Abend ihrer ersten Verabredung empfand sie in seiner Nähe etwas ganz anderes als für irgendeinen Mann zuvor in ihrem Leben. »Es macht mir ein bisschen Angst«, gestand sie.
»Mir auch. Meine Partnerin ist überzeugt davon, dass ich zu gegebener Zeit doch wieder alles versaue.«
Annalise lachte. »Komisch. Danika behauptet das Gleiche von mir.«
Er hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. »Kommt Zeit, kommt Rat. Irgendwann wissen wir, ob sie recht haben. Danke, dass du meinetwegen hergekommen bist.«
»Tyler, glaub mir eines: Ich habe Verständnis für die Anforderungen deines Berufs. Ich weiß, was Engagement und Verpflichtung bedeuten, schließlich kämpfe ich gegen die gleichen Dämonen.« Sie schloss den Wagen auf, drehte sich aber noch einmal zu Tyler um. »Ruf mich an, wenn du Zeit hast.«
»Ich werde mir die Zeit nehmen«, antwortete er.
Als sie nach Hause fuhr, überfiel sie das altbekannte Gefühl, das sie vom Fahrstuhlfahren kannte: eine Enge in der Brust und die Angst, ersticken zu müssen.
Sie wusste, woher das kam. Es war die Angst, dass alles zu schnell ging, dass Tyler ihr zu nahe kam. Es war die unterschwellig existierende, psychologische Last, die ihr Vater ihr auferlegt hatte, als er sie verließ. Danika würde frohlocken, wenn sie jetzt bei ihr wäre und wüsste, wie es in Annalises Herz aussah.
»Du bist albern«, schalt sie sich laut. Immerhin war bislang weder von Liebe noch von einer Bindung die Rede gewesen. Im Augenblick hatten sie lediglich ein wenig Spaß zusammen und freuten sich, einander so oft wie möglich zu sehen.
Um halb acht war sie zurück in ihrer Wohnung und hatte eine Nachricht von Charlie auf ihrem Anrufbeantworter. »Hallo, Schwesterherz. Ich bin’s, dein Bruder Charlie. Ich wollte nur gern wissen, wann ich dich mal wieder besuchen kann. Mom hat gesagt, ich soll nicht aufdringlich sein und dir nicht zur Last fallen, aber ich habe ihr gesagt, das ginge schon in Ordnung. Ist doch alles cool, oder? Oder falle ich dir zur Last?« Es folgte eine lange Pause. »Na ja, ruf mich mal an, wenn du Zeit hast, okay?« Dann hatte er aufgelegt.
Auch dieses Mal rührte Charlies Bedürfnis nach ihrer Zuneigung etwas tief in ihrem Inneren an, etwas, von dem sie sich geschworen hatte, dass es niemals wieder von jemandem berührt werden durfte.
Sie schlüpfte in ihren Pyjama, griff dann nach dem Telefon und rief ihren Bruder zurück. Da sie wusste, wie stark sie in der Woche ausgelastet sein würde, schlug sie ihm vor, am nächsten Wochenende bei ihr zu übernachten.
Er freute sich maßlos, und nachdem sie die Erlaubnis ihres Vaters eingeholt hatten, legte sie auf. Sie hatte gerade beschlossen, zu Bett zu gehen, als an der Tür geklingelt wurde.
Annalise lief eilig die Treppen hinab und entdeckte Danika, die an die Ladentür klopfte. Der Anblick ihrer Freundin erleichterte sie auf merkwürdige Weise, und erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, wie sehr sie sich um sie gesorgt hatte.
Sie öffnete die Tür und zog sie ins Haus. »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«
Danika streckte eine Hand aus, um nicht nur einen wunderschönen Verlobungsring, sondern auch einen Ehering vorzuzeigen. »Wir haben geheiratet!«
»Was?«
»Wir sind nach Las Vegas durchgebrannt, haben geheiratet und dann herrliche Flitterwochen verlebt.« Danika drehte sich um die eigene Achse, war wie berauscht von ihrem Glück. Nach drei Umdrehungen hielt sie inne und umarmte Annalise herzlich. »Freu dich mit mir, Annalise.«
»Natürlich freue ich mich für dich«, erwiderte sie und drückte Danika fest an sich, bevor sie sie wieder losließ. »Aber als ich das letzte Mal mit dir gesprochen habe, sagtest du, alles ginge dir viel zu schnell, und du wolltest dir lieber mehr Zeit lassen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Danika griff nach Annalises Arm. »Komm, lass uns nach oben gehen, dann erzähle ich dir alles. Ich hatte mir eingeredet, dass Danny und ich uns mehr Zeit lassen müssten, aber wenn der Zeitpunkt erreicht ist, wo alles stimmt, dann soll es so sein. Und da habe ich mich gefragt, warum noch länger Zeit vergeuden?«
Sie stiegen die Treppe hinauf, und Danika schwatzte ohne Punkt und Komma, als sie die kitschige Trauungszeremonie schilderte, die sie in einer der Hochzeitskapellen in Las Vegas abgehalten hatten.
»Wo ist Danny jetzt?«, fragte Annalise, als sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten.
»In meiner Wohnung. Wir verkaufen sein Haus und behalten meines. Ich habe ihm gesagt, ich könnte nicht eine Minute länger warten, endlich meiner besten Freundin zu erzählen, dass ich geheiratet habe. Er wollte mitkommen und dich kennenlernen, aber ich war der Meinung, es wäre besser, wenn ich heute Abend allein zu dir gehe.« Danika runzelte die Stirn. »Bist du sauer auf mich?«
Annalise sah sie überrascht an. »Warum sollte ich sauer auf dich sein?«
»Weil wir uns in der Grundschule gegenseitig versprochen haben, dass wir, wenn wir heiraten, unsere Brautjungfern sein wollen.«
»Ach, Danika, ich könnte nie sauer auf dich sein.« Annalise nahm sie noch einmal in die Arme. »Ich hoffe nur, dass ich zu eurer goldenen Hochzeit eingeladen werde.«
Sie unterhielten sich noch bis tief in die Nacht hinein, und es war wie eine Abschieds-Pyjamaparty. Um elf Uhr bereitete Annalise Popcorn zu, und sie setzten sich an den Küchentisch, tranken Limo, aßen das Popcorn und sprachen über die Vorzüge des Ehestands und über Annalises Entwürfe für die neue Puppe.
Während sie am Tisch saßen, rief Danika fünfmal bei Danny an und kicherte jedes Mal wie ein Schulmädchen, als sie ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte. Als sie nach Mitternacht schließlich nach Hause fuhr, wurde Annalise bewusst, dass ihre Freundschaft mit Danika nie wieder so sein würde wie früher.
Danika war keine alleinstehende Frau mehr, die gern auf einen Drink ausging oder gelegentlich bei ihr übernachtete. Jetzt war sie verheiratet, und ihre Loyalität galt in erster Linie Danny, wie es sich gehörte.
Irgendwie fand sie die Vorstellung ein bisschen deprimierend. Danika entwickelte sich weiter, und Annalise hatte das Gefühl, dass ihr eigenes Leben stagnierte. Sie führte das Geschäft ihrer Mutter weiter, hegte weiterhin eine Abneigung gegen ihren Vater und weigerte sich, ihr Herz einem Menschen vollständig zu öffnen.
Sie musste Tyler anrufen und ihm mitteilen, dass Danika wohlbehalten wieder aufgetaucht war. Die Vorstellung, seine Stimme zu hören, zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Die letzten Tage hatte er besonders hart gearbeitet, hatte Kleider genäht, die eine gewöhnliche Frau in eine Kimono-Kim verwandeln sollten. Während der Arbeit bemühte er sich, nicht an das offene Fenster im ersten Stock über dem Puppengeschäft zu denken. Doch der Gedanke verlockte und erregte ihn.
Bald, sagte er sich. Bald würde er Annalise holen und sein endgültiges Meisterwerk vollbringen. Und bevor er sie aus dem Haus trug, würde er es anzünden.
Flüchtig tanzten Flammen vor seinen Augen und machten es ihm unmöglich, die feine Stickerei auszuführen, an der er gerade saß.
Eine Feuersbrunst, das war es, was er sich wünschte, die totale Zerstörung von Blakely Dollhouse. Beinahe konnte er den Rauch riechen, das Knistern und Brüllen der Flammen hören, die sengende Glut im Gesicht spüren. Er schloss die Augen und durchlebte den Moment von Feuer und Ruß und der völligen Vernichtung der Puppen, die sein Leben zerstört hatten.
Schließlich schlug er die Augen wieder auf und betrachtete die schwarz-rote Seide, die er bestickte. Kimono-Kim. Seine Gedanken sollten sich allein mit ihr beschäftigen.
Er hatte seine Kim durch Zufall entdeckt, als er mit dem Wagen vor einer roten Ampel hielt und einen flüchtigen Blick in das Fahrzeug neben ihm geworfen hatte. Da war sie plötzlich. Ihr glattes schwarzes Haar glänzte in der Sonne, und ihre asiatischen Gesichtszüge waren atemberaubend schön.
Während der letzten drei Tage hatte er sie verfolgt, sich ihren Tagesablauf eingeprägt und überlegt, wie er sie sich am besten holen könnte. Sie teilte sich eine Wohnung mit zwei Freundinnen, arbeitete als Zahnarzthelferin und besuchte die Abendschule am Maple Woods Community College. Er zweifelte nicht daran, dass er eine Gelegenheit finden würde, sie zu holen. Bald, sehr bald schon würde er seine Kimono-Kim-Puppe haben.
Das Schwarze Brett bezeugte seine Genialität, dachte er und lächelte den Fotos der beiden lebensgroßen Puppen zu, die er erschaffen hatte. Doch dann erlosch sein Lächeln, und an seine Stelle trat düstere Unzufriedenheit. Was nützte es, ein Genie zu sein, wenn anscheinend niemand Notiz davon nahm?
Die Nachrichten über die Morde an den zwei Frauen, in der Zeitung wie auch im Fernsehen, waren dürftig. Nirgends wurde die kunstvolle Arbeit erwähnt, die er in Kleidung, Make-up und Haar investiert hatte.
Eines Tages werde ich berühmt sein, hatte er seiner Mutter erklärt, als er etwa zehn Jahre alt gewesen war.
Sie hatte ihn ausgelacht, was ihn innerlich zum Kochen brachte, und geschnaubt: Du bist nichts, Junge, und wenn du hundert Jahre alt wirst, bleibst du immer ein Nichts.
»Sei still«, sagte er laut. »Halt den Mund, du blöde, fette Kuh.« Es tat gut, auf diese Weise mit ihr zu sprechen, was er, als sie noch lebte, nie gewagt hätte.
Sein Blick schweifte zu dem Sessel, auf dem ein Ballen lavendelfarbener Stoff auf ihn wartete. Die Annalise-Puppe trug ein hübsches, lavendelfarbenes Kleid, und er hatte bereits mit der Arbeit daran begonnen. Er wollte auf sie vorbereitet sein.
Wieder flackerten Flammen vor seinen Augen. Es kribbelte ihm in den Fingern, als er sich vorstellte, wie er sie um Annalises zarten Hals legte und das Leben aus ihr herauspresste. Als die Flammen verloschen, sah er vor seinem inneren Auge das offene Fenster an ihrem Haus. Es war wie eine süße Aufforderung, sein letztes Ziel zu erreichen.
Plötzlich hatte er das dringende Bedürfnis, das Fenster wirklich zu sehen, nicht nur in seiner Vorstellung. Wie benommen stand er auf und ließ seine Arbeit liegen.
Er war von einem unkontrollierbaren Impuls getrieben, und in seinem Kopf herrschte Leere. Diese Leere blieb, bis er sich vor Annalises Haus wiederfand und zu dem offenen Fenster aufblickte.
Er stieg die ersten fünf Sprossen der Feuerleiter hinauf, nur um zu prüfen, ob er das Fenster erreichen konnte. Sein Herz raste, als es ihm gelang, sich am Fensterbrett festzuhalten. Mit einer Hand schob er das Fenster hoch, und es ließ sich geräuschlos öffnen.
Vielleicht sollte er einfach mal versuchen, ob er es schaffte, ins Haus einzudringen. Es war lächerlich einfach, ein Bein von der Feuerleiter durch das offene Fenster zu schwingen und sich dann über das Fensterbrett hineinzuhieven.
Er ließ sich hinter einem großen Stapel Kisten auf den Boden fallen und konnte es im ersten Augenblick nicht fassen, dass er tatsächlich in ihrem Haus war. Sein Hochgefühl glich einem hitzigen Fieber. Völlig reglos stand er da und lauschte, konnte aber nichts außer seinem keuchenden, erregten Atem hören.
Nur eine Treppe trennte ihn noch von ihr. Er schloss das Fenster, durch das er eingestiegen war, bis auf einen winzigen Spalt, der gerade groß genug war, damit seine Finger Halt fanden, um es wieder hochzuschieben. Von der Straße aus würde nichts zu bemerken sein.
Dankbar für das Mondlicht, das durch die Fenster fiel, huschte er hinter den Kisten hervor. Der Lagerraum war riesig, aber mit so vielen Kisten und alten Möbelstücken vollgestellt, dass das Hindurchkommen einem Hindernislauf glich. Vorsichtig suchte er sich einen Weg zur Treppe. Ich bin noch nicht bereit für sie, sagte er sich. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Trotzdem krallte sich seine Hand um den Treppenlauf, und er begann, hinaufzusteigen.
Ungeduldige, kleine Rotznase. Die Stimme seiner Mutter dröhnte in seinen Ohren und ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten.
Er umklammerte das Geländer noch fester und zwang die Stimme, mit all seiner Willenskraft, zu verstummen. Langsam stieg er die Treppe hinauf, sein Herz hämmerte in freudiger Erwartung. Oben angekommen, fand er sich in einem kleinen Flur wieder, und die Tür zu ihrem Loft lang direkt vor ihm.
Er bildete sich ein, sie riechen zu können. Der leichte Blumenduft, den sie gern trug, drang in seinen Kopf, und ihm wurde beinahe schwindelig. Jetzt schlief sie vermutlich, lag im Bett und ahnte nicht, wie nahe sie der Unsterblichkeit war.
Er trat näher an die Tür heran und legte eine Hand auf den Holzrahmen. Sie war gleich auf der anderen Seite, und er konnte ihre warme Lebensenergie spüren.
Er lehnte sich mit dem gesamten Körper an die Tür und schloss die Augen. Ihre Hitze strahlte durch die Tür und wärmte ihn. Er bekam eine steinharte Erektion.
Hol sie dir jetzt, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf. Öffne die Tür und hol sie dir. Er wich zurück, brach den Kontakt zu der einzigen Barriere zwischen ihr und ihm ab.
Seine Hand zitterte, als er über die Tür strich und den Messingknauf umfasste. Mit angehaltenem Atem drehte er ihn und empfand prickelnde Erregung, als er merkte, dass die Tür nicht verschlossen war.
Er riss die Hand zurück und atmete ein paarmal tief durch, um sein verzweifeltes Verlangen unter Kontrolle zu halten. Nicht der richtige Zeitpunkt, ermahnte er sich.
Langsam wich er zurück, geräuschlos, wie ein Schatten in der Nacht. Jetzt wusste er, wie einfach es sein würde, wenn die Zeit gekommen war. Jetzt wusste er, dass er sie ohne viel Planung holen konnte.
Sie wusste es noch nicht, aber sie gehörte ihm … seine wunderschöne Puppe.