17. Kapitel
Die Puppen sind mir in den letzten Wochen anonym zugestellt worden. Braut-Belinda war die erste.« Annalises Stimme zitterte. Sie hatte das Gefühl, in eine fremde Wirklichkeit gestoßen worden zu sein.
Tylers Züge waren hart und unnachgiebig, als er sie unverwandt anstarrte. Während sie noch versuchte zu verarbeiten, was er ihr gerade mitgeteilt hatte, wäre sie am liebsten ins Bad zurückgerannt und hätte sich übergeben.
Ermordete junge Mädchen, angezogen wie ihre Puppen? Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit, und ihre Kopfschmerzen meldeten sich mit aller Macht zurück. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken, weil sie befürchtete, ihre zitternden Beine könnten unter ihr nachgeben.
»Was soll das heißen, sie wurden dir anonym zugestellt?«, fragte Tyler.
»Die Schachtel mit der Brautpuppe stand eines Tages plötzlich im Laden auf dem Tresen. Ich habe einfach vermutet, dass ein unzufriedener Kunde sie zurückgegeben hatte. Aber merkwürdig war es schon – und dann war da noch dieser Zettel.«
»Ein Zettel?«
Sie nickte, kramte in dem Seidenpapier und holte den zusammengefalteten Zettel hervor. Sie sah zu, wie Tyler ihn auseinanderfaltete und die Botschaft las. An seinem Kiefer pochte eine Ader. »Und wie war das mit der zweiten?«
»Die Fanny-Flapper, deren Schachtel wurde vor der Ladentür abgestellt. Kimono-Kim ebenfalls. Ich habe sie erst heute Morgen gefunden.«
Herrgott, war es erst heute Morgen gewesen? Es schien Jahre zurückzuliegen, dass sie und Charlie im Laden gearbeitet und dann gemütlich im Joey’s gegessen hatten. »Bei den anderen lagen auch Zettel dabei.« Sie fischte die Zettel aus den Schachteln und reichte sie Tyler. Erst jetzt setzte er sich zu ihr an den Tisch.
Ihr entschlüpfte ein Laut, der halb Lachen, halb Weinen war. »Ich dachte, es gäbe einen neuen Puppenmacher in der Stadt, der mich auf diese alberne Weise herausfordern wollte.«
Als er sie jetzt ansah, war sein Blick ein wenig milder geworden. »Ich muss meine Partnerin anrufen. Wir werden noch mal alle Einzelheiten mit dir durchgehen müssen. Angesichts der intimen Art unserer Beziehung macht es keinen guten Eindruck, wenn ich das Protokoll allein aufnehme.«
»Der intimen Art? Vor zwei Sekunden hast du mich noch für eine Serienmörderin gehalten.« Sie biss sich auf die Unterlippe, um das Zittern zu unterdrücken.
Sein Gesichtsausdruck wurde ein wenig weicher. »Ich kann mich nur dafür entschuldigen, dass ich wie ein Polizist auf das Beweismaterial vor meinen Augen reagiert habe«, sagte er sanft.
Sie nickte und sah, dass er sein Handy aus der Tasche zog. »Jennifer«, sagte er, als die Verbindung hergestellt war, »du musst bitte sofort zum Blakely Dollhouse in Riverfront kommen und bring die Akten mit. Wir haben einen bedeutenden Durchbruch im Kostüm-Mörder-Fall zu verzeichnen.«
»Kostüm-Mörder?«, fragte Annalise, als er aufgelegt hatte.
»Der Name stammt von uns. Wir dachten, der Täter könnte ein perverser Kostümierungsfetischist sein.« Er blickte wieder auf die Zettel und verzog das Gesicht. Die Ader an seinem Kiefer pochte heftiger. »Jetzt wissen wir, dass er sich selbst Puppenmacher nennt. Bitte koch uns doch eine Kanne Kaffee und zieh dich an. Uns steht eine lange Nacht bevor.«
Annalise erhob sich, froh, etwas zu tun zu haben. Von den Erkenntnissen der letzten zehn Minuten wurde ihr schwindelig. Die Vorstellung, dass jemand Frauen umbrachte und sie wie ihre Puppen kleidete, war einfach zu grauenhaft.
Wer mochte der Täter sein? Wer, um alles in der Welt, tat so etwas? Warum kleidete er die Toten wie ihre Puppen? Tyler musste sich einfach irren. Doch sie wusste, dass dem nicht so war. Sie hatte die Überzeugung in seinen Augen gesehen.
Nachdem sie die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, ging sie in ihr Schlafzimmer, nahm eine Yogahose und ein T-Shirt aus dem Schrank und ging ins Bad weiter, um sich dort umzuziehen.
Während sie ihr Negligé und das Nachthemd auszog, versuchte sie, nicht daran zu denken, was in ihrem Leben vor sich ging. Seit Wochen schon verfolgte sie diese Vorahnung von Unheil, die Angst, dass etwas Schreckliches passieren würde. Sie hatte geglaubt, es wäre nur Einbildung, doch jetzt wusste sie es besser, und sie hatte das beängstigende Gefühl, dass es noch viel schlimmer kommen würde.
Als sie das Bad verließ, saß Tyler noch immer am Tisch, die drei Zettel vor sich ausgebreitet. Er blickte auf, als sie näher kam, und lächelte sie verkrampft an.
»Ich sitze hier und wundere mich über die Ironie des Schicksals. Seit Wochen reiße ich mir schon ein Bein aus, um zwei scheußliche Morde aufzuklären, und dabei bin ich die ganze Zeit mit einer Frau zusammen, die womöglich der Schlüssel zu des Rätsels Lösung ist.«
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. »Wie kann ich der Schlüssel sein? Ich kenne niemanden, der solcher Taten fähig wäre.«
»Aber er kennt dich. Diese Botschaften und die Puppen sind der Beweis dafür«, erwiderte er.
Die bloße Vorstellung jagte ihr einen Schauder über den Rücken, und ihre Unterlippe begann erneut zu zittern
»Hast du einen Katalog, in dem sämtliche Puppen deiner Kollektion abgebildet sind?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Katalog, aber unten im Laden sind die Puppen ausgestellt, und im Internet kann man sich Fotos ansehen.«
»Ich muss sie sehen.« Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und stand auf. »Können wir bitte nach unten gehen?«
»Natürlich.« Als sie aufstand, griff er nach ihr und zog sie in seine Arme.
»Entschuldige, dass ich so gemein war«, sagte er in ihr Haar. Sie schmiegte sich an ihn, suchte bei ihm die Kraft, die sie benötigen würde, um das Bevorstehende zu ertragen. Sie wusste, dass es, was immer es auch sein mochte, auf jeden Fall schlimm war.
»Schon gut. Ich verstehe dich ja.« Das entsprach der Wahrheit. Was hätte er denn sonst denken sollen, als er die Puppen auf dem Tisch sah, wenn nicht, dass sie irgendwie in die Mordfälle verwickelt war? Er wäre kein guter Polizist, wenn er diese Schlussfolgerung nicht in Betracht gezogen hätte.
»Warum hast du nicht die Polizei gerufen, nachdem du die Puppen erhalten hast?«, fragte er und machte keinerlei Anstalten, sie aus seiner Umarmung zu entlassen.
»Wie ich schon sagte, ich dachte, es handelte sich um so einen seltsamen Konkurrenten, der mir beruflich den Fehdehandschuh hinwerfen wollte. Die Botschaften an sich klangen nicht bedrohlich, zumal ich ja von den ermordeten Frauen keine Ahnung hatte.«
»Bis gestern ist es uns gelungen, der Presse Einzelheiten über die Kostümierungen vorzuenthalten. Unglücklicherweise wurde die letzte Leiche von einem Reporter gefunden.« Er berichtete ihr von Reuben und dem Anruf des Täters.
Während er noch sprach, schmiegte sie sich fester in seine Arme, auf der Suche nach seiner Körperwärme, die die eisige Kälte in ihrem Inneren vertreiben sollte.
Viel zu schnell ließ er sie los, und gemeinsam stiegen sie die Treppe zum Laden hinunter. Sie schaltete alle Lichter an, und er staunte, als er die Vitrinen mit den vielen Blakely-Puppen sah, die im Lauf der Jahre entstanden waren.
»Wie viele gibt es?«, fragte er und trat näher an die Vitrinen heran.
»Sechzig.« Sie stellte sich neben ihn und betrachtete die Puppen, die so sehr Teil ihres Lebens waren, ob sie es nun wollte oder nicht.
»Zwei von den dreien, die mir zurückgegeben wurden, sind ältere Modelle.« Sie wies auf Belinda und Fanny. »Ich fand es zu dem Zeitpunkt merkwürdig, dass ausgerechnet diese Puppen zurückgegeben wurden, denn sie sind Sammlerstücke und inzwischen ziemlich viel wert. Die Kimono-Kim war die erste Puppe, die ich nach dem Tod meiner Mutter selbst entworfen habe.«
Tyler presste die Kiefer zusammen. »Sechzig«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Annalise. »Das heißt, wir müssen noch mit siebenundfünfzig weiteren potenziellen Opfern rechnen.«
»Das ist ein abscheulicher Gedanke«, flüsterte Annalise.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Überlegungen. Eine hochgewachsene Frau mit kräftigen Gesichtszügen und kurzen, dunklen Haaren spähte in den Laden hinein. »Das ist meine Partnerin«, sagte Tyler und ging zur Tür, um sie einzulassen. »Annalise, das ist Jennifer Tompkins. Jennifer, darf ich dir Annalise Blakely vorstellen, die Frau, mit der ich zusammen bin und die vermutlich eine Schüsselrolle in den Mordfällen spielt.«
Jennifer nickte Annalise zu. »Also, dann erzähl mal, was passiert ist.«
Während Tyler sie rasch über die Puppen und die Botschaften, die Annalise erhalten hatte, informierte, musterte Jennifer Annalise unverhohlen skeptisch.
Als er seine Ausführungen beendet hatte, stieß Jennifer einen Seufzer aus. »Na, wenn das nicht alles ein riesiger Haufen Mist ist«, meinte sie. »Der Hauptermittler ist mit einer potenziellen Verdächtigen zusammen, und das im Fall einer Mordserie, die gerade in den Zeitungen publik gemacht wird.«
Tyler kniff die Augen zusammen. »Was redest du da?«
»Der kleine Scheißkerl Reuben hat die Katze aus dem Sack gelassen.« Jennifer klopfte auf ihren schwarzen Aktenkoffer. »Ich habe alles in meinem Zauberkoffer dabei: Plastikbeutel für das Beweismaterial, die Akten und ein Exemplar der Abendzeitung.« Sie sah die beiden erwartungsvoll an.
»Gehen wir hinauf in die Wohnung. Wir holen die Puppen und machen uns an die Arbeit«, sagte Tyler kurz angebunden.
Jennifer entschied sich für den Aufzug, Tyler und Annalise stiegen die zwei Treppen hinauf.
Annalise hatte das Gefühl, in einem schrecklichen Alptraum gefangen zu sein, ohne die Hoffnung auf ein baldiges Aufwachen. Tyler schwieg auf dem Weg zur Wohnung, und sie wusste, dass er jetzt nur noch der Polizist war und dass die bevorstehenden Stunden schwierig werden würden.
Jennifer wartete vor der Tür auf sie. Der Blick, mit dem sie Annalise bedachte, wirkte noch immer unterschwellig feindselig. In der Wohnung öffnete Jennifer ihren Koffer und entnahm ihm die Plastikbeutel. Die Puppen mitsamt ihren Schachteln wurden eingetütet, die Zettel wanderten in kleinere Tüten, auf denen vermerkt wurde, welcher Zettel zu welcher Puppe gehörte.
Als der Tisch abgeräumt war, schenkte Annalise für sie alle Kaffee ein, und sie setzten sich. Vor Tyler stapelten sich mehrere dicke braune Akten.
»Kerry Albright. Margie Francis. Sulee Hwang. Sagen dir diese Namen etwas?«, fragte Tyler.
Annalise schüttelte den Kopf. »Ich habe sie noch nie gehört. Sind das die Namen der Opfer?« Die Namen zu hören, ließ alles noch viel realer erscheinen. Sie waren real existierende Menschen gewesen, Frauen mit Hoffnungen und Träumen.
»Ja. Ich muss dir ein paar Fotos zeigen und wissen, ob du die Frauen erkennst.«
Annalise wappnete sich, als er mehrere Papiere aus den Akten zog und sie ihr vorlegte. Erleichtert stellte sie fest, dass es sich lediglich um Farbkopien der Führerscheine handelte. Sie betrachtete die Gesichter, doch keines von ihnen kam ihr auch nur annähernd bekannt vor.
»Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie noch nie gesehen habe.« Sie schob die Papiere über den Tisch zurück. »Sie sehen meinen Puppen nicht einmal ähnlich.« Ihr war klar, dass sie nach jedem Strohhalm griff, aber sie brauchte etwas, irgendetwas, das sie von all dem Grauen ablenkte.
»Aber sie sahen ihnen ähnlich, als der Mörder mit ihnen fertig war«, sagte Jennifer barsch.
Tyler zögerte einen Augenblick, dann entnahm er einer Akte ein weiteres Foto und legte es Annalise vor. Sie schnappte nach Luft beim Anblick des Fotos von Kerry Albright. Sie war in eine Puppenbraut verwandelt worden. Nicht nur das Kleid war eine erstaunlich ähnliche Nachbildung, auch die Frisur der Frau war praktisch identisch mit den Locken der Puppe, ebenso das Make-up, das ihre Aufmachung unterstrich.
Bevor Annalise wirklich begreifen konnte, was sie da sah, lag schon ein anderes Foto vor ihr. Auf Margies Führerscheinfoto trug sie das Haar noch schulterlang und glatt. Auf dem zweiten Foto war sie wie die Flapper-Fanny gekleidet, und ihr Haar war entsprechend gekürzt worden und lockte sich.
Tyler wollte ihr ein drittes Foto vorlegen, doch sie hob abwehrend die Hand. Tränen trübten ihren Blick. »Bitte, lass es genug sein.« Die Vorstellung, dass diese Frauen ihrer Puppen wegen hatten sterben müssen, erschütterte sie zutiefst.
Sie war dankbar, als Tyler ihr einen Moment Zeit ließ, um sich zu fassen.
»Okay, fangen wir von vorn an«, sagte er und holte einen Block aus der Aktentasche. »Wann genau hast du die erste Puppe bekommen?«
Annalise gab das Datum und die ungefähre Uhrzeit der drei Puppenlieferungen an. Tyler machte sich Notizen, und Jennifer hörte nicht auf, Annalise mit kühlem Blick zu mustern. Es war verrückt – Annalise war sich keiner Schuld bewusst, und doch gab Jennifers Verhalten ihr das Gefühl, schuldig zu sein.
»Wir brauchen eine Liste von allen Angestellten«, sagte Tyler jetzt.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass einer von meinen Leuten der Täter ist?«, protestierte sie.
»An diesem Punkt der Ermittlungen ist jeder verdächtig«, bemerkte Jennifer. Sie stand auf und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Besitzen Sie eine Liste der Leute, die Ihre Puppen gekauft haben?«
»Ich habe eine Adresskartei, aber die kann man weiß Gott nicht als vollständige Liste von Käufern bezeichnen«, sagte sie. »Meine Mutter hatte sie noch nicht geführt, als sie in die Branche einstieg. Erst ein paar Jahre vor ihrem Tod hat sie angefangen, die Namen und Adressen von Kunden aufzuzeichnen. Jeder, der in den Laden kam, konnte sich in unseren Verteiler aufnehmen lassen, ob er etwas kaufte oder nicht. Es sind mehr als sechstausend Namen.«
Jennifer pfiff leise durch die Zähne. »Lässt sich irgendwie nachverfolgen, wer diese drei Puppen gekauft haben könnte?«
Annalise schüttelte den Kopf. »Es kann nicht mehr jeder einzelne Verkauf nachvollzogen werden, ich habe nur Informationen über die Kunden aus unserem Verteiler.«
»Das sind aber nicht die Namen sämtlicher Kunden, oder?«, fragte Tyler.
»Genau. So ziemlich jeder, der jemals einen Scheck für einen Kauf ausgestellt hat, ist im System verzeichnet, aber Bar- und Kreditkartenzahlungen werden nicht zwangsläufig vermerkt. Einige Kunden wollten gern in den Verteiler aufgenommen werden, andere nicht.«
Und so verging die Nacht, mit Fragen über Fragen zu ihren Angestellten, zu ihren Kunden und zu allen möglichen Menschen, die einen Platz in ihrem Leben hatten.
Sie fuhr ihren Computer hoch und druckte die Personalakten und die Kundendaten aus, bevor sie ihnen erklärte, dass alles, was mehr als zehn Jahre zurücklag, nicht im Computer erfasst war, sondern in Kisten im ersten Stock lagerte.
Gegen halb drei Uhr morgens hatte Annalise das Gefühl, keine einzige Frage mehr beantworten zu können. Ihre Kopfschmerzen waren wieder stärker geworden, doch die Erschöpfung, die sie quälte, war nicht körperlich, sondern vielmehr eine Art von seelischer Müdigkeit.
Jennifer verkündete schließlich, dass die Arbeit vorerst beendet war. »Hier erreichen wir heute Nacht nichts mehr«, sagte sie und stand auf. »Wir sollten lieber schlafen gehen und morgen weitermachen.«
»Ich bringe sie hinaus«, sagte Tyler zu Annalise. Als er und Jennifer den Raum verließen, schaltete Annalise im Wohnzimmer das Licht aus und ging zum Fenster, um hinauszusehen.
Heiße Tränen der Erschöpfung brannten in ihren Augen. Irgendwo da draußen zerstörte ein Perverser ihr Lebenswerk und das Lebenswerk ihrer Mutter.
Wer tat so etwas? Und warum? Was hatte das alles zu bedeuten? Sie bemühte sich verzweifelt, einen Sinn zu erkennen, kam jedoch zu dem Schluss, dass etwas Derartiges einfach keinen Sinn ergab.
Sie stand immer noch am Fenster, als Tyler zurückkam. Er trat hinter sie und nahm sie in die Arme. Sie lehnte sich an ihn, schloss die Augen und genoss einen Moment lang das Gefühl seiner Nähe.
»Es tut mir leid. Ich weiß, das war schwer für dich«, sagte er schließlich.
Sie drehte sich zu ihm um. »Es war unumgänglich. Das Ganze ist nur so beängstigend.« Wieder kämpfte sie mit den Tränen. »Tyler, warum passiert das alles? Wer tut so etwas?«
Seine Züge verhärteten sich wieder. »Ich weiß es nicht, aber wir werden ihn kriegen. Wir haben dir unseren Durchbruch in dem Fall zu verdanken. Und was du jetzt brauchst, ist Schlaf.«
Zwar war der Gedanke an Schlaf verlockend, aber die Vorstellung, allein ins Bett zu gehen, löste eine untypische Angstreaktion in ihr aus. »Was hast du noch vor?«, fragte sie zögernd.
Er sah sie lange an. »Was soll ich denn tun?«
»Bei mir bleiben. Die ganze Nacht.«
Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ist gut«, erwiderte er. »Geh und mach dich bettfertig. Ich hole rasch meine Sporttasche aus dem Wagen. Bin gleich wieder da.«
Sie brauchte nur ein paar Minuten, um ins Nachthemd zu schlüpfen und sich zu waschen. Dann legte sie noch eine neue Zahnbürste für Tyler auf dem Waschtisch bereit. Als sie das Bad verließ, sah sie Tyler am Fenster stehen und nach draußen blicken, wie sie es selbst noch vor wenigen Minuten getan hatte.
Er drehte sich zu ihr um, und seine Augen waren so dunkel wie die Nacht draußen vor dem Fenster. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass ich in den meisten meiner früheren Beziehungen durchaus über meine Arbeit oder einzelne Fälle gesprochen habe. Und jedes Mal ist irgendwann der Punkt gekommen, an dem die Frau es nicht mehr ertragen konnte und mich verließ.«
Annalise setzte sich schweigend auf das Bett, als er fortfuhr: »Deshalb hatte ich bei dir beschlossen, dich nicht mit meiner Arbeit zu behelligen.« Er setzte sich neben sie. »Ich wollte dich nicht mit all den Scheußlichkeiten belasten, und ironischerweise warst du die ganze Zeit über diejenige, mit der ich am dringendsten hätte sprechen müssen.«
»Und jetzt bin ich Teil der Scheußlichkeiten.« Bei dem Gedanken an die armen, toten Frauen kamen ihr wieder die Tränen. »Irgendwie fühle ich mich dafür verantwortlich, dass diese Frauen sterben mussten.«
»Du weißt, dass das Unsinn ist«, schalt er sie sanft und legte ihr den Arm um die Schultern. »Die Sache hat vermutlich mit dir persönlich gar nichts zu tun. Irgendein Verrückter hat in deinen Puppen ein Medium für seine Wahnideen gefunden. Wir werden ihn fassen, Annalise – und das hoffentlich, bevor er erneut zuschlägt.«
»Ja, das hoffe ich auch«, erwiderte sie voller Inbrunst.
»Und jetzt ist es Zeit für eine Mütze voll Schlaf. Morgen erwartet uns wieder ein langer, harter Tag.«
Annalise schlüpfte unter die Decke, während Tyler auf dem Weg ins Bad seine Waffe und sein Handy auf den Nachttisch legte. Als er wieder herauskam, trug er eine frische, kurze Sporthose. Er schaltete das Licht aus und stieg zu ihr ins Bett.
Er zog sie zu sich heran, und sie kuschelte sich an ihn, brauchte seine Wärme und den Schutz seiner Nähe. »Danke, dass du geblieben bist, Tyler. Du bist genau das, was ich nach solch einem schrecklichen Abend brauche.« Sie legte eine Hand auf seine Brust, und er zog sie ganz eng an sich. »Trotz allem, was heute Nacht passiert ist, habe ich bei dir ein Gefühl der Sicherheit.«
Tyler reagierte nicht sofort. Sie spürte, dass sein Körper angespannt war und sein Atem unregelmäßig ging. Sie bewegte ihr Bein an seinem, woraufhin er leicht erstarrte, bevor er sich ihr zuwandte.
»Es gibt diese Sicherheit und jene Sicherheit. Es war eine harte Nacht für uns beide, aber wenn ich dich so nah an meinem Körper spüre, komme ich auf ganz andere Gedanken«, sagte er leise.
»Ich war mir nicht bewusst, dass ich da etwas provoziere.«
Seine Augen glänzten im blassen Mondlicht, das durch das Fenster fiel. »Jedes Mal, wenn du mich berührst, provozierst du etwas.«
»Tja, in diesem Fall …« Sie strich mit der Hand über seine Brust und fuhr zärtlich über seinen flachen Bauch.
Es war, als hätte man einen Tiger losgelassen. Mit einem Aufstöhnen zog er sie über sich, und ihre Lippen fanden sich zu einem heißen Kuss. Er schob die Hände unter ihr Nachthemd und umfasste ihre nackten Pobacken, während ihre Zungen hungrig miteinander tanzten.
Sie bewegte die Hüften an seinen, brauchte ihn … wollte sich von dem hemmungslosem Verlangen nach ihm davontragen lassen.
Eine stumme Verzweiflung beherrschte ihr kurzes Vorspiel. In den vergangenen Stunden hatten sie sich so intensiv mit dem Tod beschäftigt. Jetzt wollten sie, rasend vor Leidenschaft, miteinander das Leben spüren.
Das Wenige, das sie trugen, war rasch abgestreift, und dann nahm er sie heftig und schnell, als wüsste er genau, dass sie es so wollte. Und sie wollte es – Himmel, wie sehr sie es wollte. Sie klammerte sich an ihn, während er in sie stieß, kam ihm mit wildem Verlangen entgegen und schrie vor Wonne, als der Orgasmus sie überrollte.
Hinterher lagen sie sich in den Armen, warteten, bis sich ihre Körper abgekühlt hatten, bis aus dem Keuchen ein regelmäßiges Atmen und aus dem rasenden Puls ein normaler Herzschlag geworden war.
»Ich habe dir doch nicht weh getan, oder?«, fragte er ein paar Minuten später.
»Überhaupt nicht.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber wenn du genauso vehement an deine Fälle herangehst wie du Liebe machst, dann musst du ein höllisch guter Polizist sein.«
Er stützte sich auf einen Ellbogen und lächelte auf sie herab. Die Zärtlichkeit seines Lächelns, die sanfte Geste, mit der er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, weckten eine Sehnsucht in ihr, die nichts mit Sex zu tun hatte. Und es machte ihr Angst, wie leicht sich dieser Mann in ihr Herz stehlen konnte, wenn sie es zuließ. Die Vorstellung, sich in ihn zu verlieben, erschreckte sie zu Tode.
»Wir stehen das durch«, sagte Tyler. »Schlaf jetzt.« Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und legte den Arm um sie, und dann war er auch schon eingeschlafen.
Sie schloss die Augen und sehnte wieder einmal verzweifelt den Schlaf herbei. Nachdem ihre Erregung nun abgeebbt war, tauchten die Bilder der toten Mädchen vor ihrem inneren Auge auf.
Warum ihre Puppen? Es musste doch etwas zu bedeuten haben, dass die Opfer Blakely-Puppen darstellten. War das eine Art von perverser Nachahmung? Versuchte der Mörder, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?
Der Schlaf hatte sie beinahe übermannt, als ihr ein neuer Gedanke in den Sinn kam. Sie riss die Augen auf, und ihr wurde klar, dass es da noch etwas Wichtiges gab, das sie Tyler noch nicht gesagt hatte.
Sie hatte ihm bislang noch nicht erzählt, dass es auch eine Annalise-Puppe gab.