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Die Tür zu Wohnung Nummer 1514 wurde von einer Afroamerikanerin Mitte dreißig geöffnet. Ihre schulterlangen Haare waren geglättet, und sie hatte ein Pflegeprodukt verwendet, das ihnen seidigen Glanz verlieh. Sie trug einen Bademantel in Babyrosa und Flipflops. Ihre Fuß- und Fingernägel waren leuchtend zitronengelb lackiert. Sie wirkte mitgenommen. Im Hintergrund spielte ein etwa vierjähriges Mädchen mit einer Puppe.

»Sind Sie Ms Lewis?«, erkundigte sich Hunter. »Rashana Lewis?«

Sie musterte Hunter eine Zeitlang, ehe sie nickte.

»Ich bin Detective Robert Hunter vom LAPD.« Er zeigte ihr seine Marke.

»Ist es wegen der Sache mit Helen?«, fragte sie. »Miguel, der Hausmeister, sagte, sie hätte Selbstmord begangen.« Sie klang fassungslos.

»Ja, es geht um Ms Webster«, bestätigte Hunter.

Rashana nickte. »Kommen Sie doch rein.«

In der Wohnung roch es nach frisch gekochtem Essen – gebratene Zwiebeln, Speck, ein Hauch Knoblauch und verschiedene Gewürze. Das Wohnzimmer war deutlich kleiner als das in Helen Websters Wohnung und wurde von zwei Tischleuchten erhellt, die an gegenüberliegenden Seiten des Raums standen und mehr Schatten als Licht spendeten. Über das Zweisitzersofa vor dem kleinen Fernsehgerät war eine Decke gebreitet, die früher einmal rot gewesen, durch unzählige Wäschen jedoch zu einem hellen Pinkton verblasst war. Darüber hinaus gab es noch einen Sessel, auf dem eine Decke in derselben Farbe lag.

»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte Rashana und deutete auf das Sofa. Sie selbst nahm im Sessel Platz.

Das kleine Mädchen hielt in ihrem Spiel inne und musterte den Neuankömmling.

»Hallo«, sagte sie und winkte mit ihrer kleinen Hand.

»Hallo«, grüßte Hunter freundlich lächelnd zurück.

»Wie heißt du?«, wollte das Mädchen wissen.

»Robert. Und du?«

»Ich bin Rachelle, und das ist Lenita.« Die Kleine zeigte Hunter ihre nackte Puppe.

»Rachelle, Mäuschen«, schaltete Rashana sich in die Unterhaltung ein. »Magst du nicht in deinem Zimmer weiterspielen? Mommy muss sich kurz mit dem netten Polizisten unterhalten.«

Das kleine Mädchen machte ein kritisches Gesicht. »Das ist doch kein Polizist, Mommy, er hat ja keine Uniform an.«

»Ich bin kein normaler Polizist, Rachelle«, erklärte Hunter. Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Sondern ein geheimer.«

Das Mädchen machte große Augen. »Ein Geheimpolizist. Cooool.«

Hunter legte einen Finger an die Lippen und wisperte: »Ja, aber denk dran: Es ist ein Geheimnis.«

Rachelle nickte eifrig, bevor sie sich zu ihrer Mutter umdrehte und sie mit strenger Miene ansah. »Kriegst du Ärger mit der Polizei, Mommy?«

Hunter schmunzelte. »Nein, Rachelle, deine Mommy will der Polizei helfen.«

»Wie cooool.«

»Okay, Schätzchen. Und jetzt ab in dein Zimmer.« Ra­shana zeigte auf eine Tür.

Das Mädchen verschwand, aufgeregt mit ihrer Puppe tuschelnd.

Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte sich Rashana wieder Hunter zu.

»Ich will Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen«, begann dieser. »Mr Valdez, der Hausmeister, sagte mir, dass Sie mit Ms Webster befreundet waren.«

»Ja, wir kannten uns«, antwortete Rashana. »Man könnte wohl sagen, dass wir befreundet waren. Sie war eine meiner Kundinnen, aber wir haben uns wirklich gut verstanden. Ich kann gar nicht glauben, dass sie sich umgebracht hat.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

»Vor drei Tagen. Am Montagnachmittag. Sie hatte eine Komplettbehandlung gebucht – Haare, Maniküre und Fußpflege. Sie hat mir erzählt, dass sie möglicherweise einen neuen Kunden an Land gezogen hätte – einen sehr reichen. Sie hatte am Dienstag einen Termin mit ihm und wollte unbedingt einen guten Eindruck machen. Das mit dem Selbstmord ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Hunter notierte sich etwas.

»Hat sie irgendwie bedrückt gewirkt?«, fragte er weiter.

»Bedrückt?« Rashana stieß die Luft aus. »Kein bisschen. Ich weiß, dass sie manchmal scheinbar grundlos depressiv war. Sie hat mir mal gesagt, dass sie eine bipolare Störung hat, aber am Montag war sie völlig normal.«

»Wissen Sie, ob Sie sich wegen irgendwas oder irgendjemandem Sorgen gemacht hat oder sich bedroht fühlte?«

Rashana schwieg und kniff sich in die Unterlippe. Sie schien über etwas nachzudenken.

»Sie war ein bisschen beunruhigt wegen ihrem Ex«, gab sie schließlich preis. »Dieser elende Versager.«

»Ihr Ex?« Interessant, dachte Hunter. »Wieso war sie seinetwegen beunruhigt?«

»Na ja, sie hatte vor ungefähr zwei Wochen mit ihm Schluss gemacht. Kurz nach dem Valentinstag. War längst überfällig, wenn Sie mich fragen.«

»Hat Ms Webster Ihnen gesagt, wie es dazu kam?«

»Und ob.« Rashana verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie waren eines Abends zusammen unterwegs, und er hat einen über den Durst getrunken – wieder mal. Wie’s aussieht, war er einer von denen, die einfach keinen Alkohol vertragen – Sie kennen die Sorte. Er betrinkt sich, und dann fängt er an zu pöbeln. Helen sagte, sie wären in einer Cocktail-Lounge irgendwo in Long Beach gewesen. Sie hatte sich gerade mit einem alten Bekannten unterhalten – einem Mann. Na ja, Jake hatte wohl einen Cocktail zu viel intus, und es kam, wie es kommen musste. Er hat den Bekannten zu Boden gestoßen und Helen wie ein Neandertaler aus der Bar geschleift. Er hat sie als nichtsnutzige Schlampe und dreckige Nutte und noch Schlimmeres beschimpft.« Rashana schüttelte angewidert den Kopf.

»Wissen Sie zufällig, ob es davor schon mal zu solchen Vorfällen gekommen war?«

»Ja.« Rashana nickte. »Kurz vor dem Valentinstag. Sie müssen wissen, die beiden waren noch nicht lange zusammen, und man kennt das ja, am Anfang zeigt sich jeder von seiner besten Seite.«

»Die Schonzeit«, sagte Hunter.

»Genau.« Rashana nickte. »Wir Frauen wissen, dass diese Phase etwa drei Monate anhält, danach fangen die Männer langsam an, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Und ­Jakes wahres Gesicht war hässlich, das können Sie mir glauben. Aber nach der Sache in Long Beach hat sie den Widerling endgültig an die Luft gesetzt.«

Erneut machte sich Hunter eine Notiz. »Sie sagten vorhin, sie sei seinetwegen beunruhigt gewesen?«

»Ja. Nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, stand ihr Telefon nicht mehr still. Sie hat mir erzählt, dass er vier- bis fünfmal am Tag bei ihr angerufen hat. Er hat ihr gesagt, wie leid es ihm tue, dass der Alkohol schuld an seinem Benehmen gewesen sei … die übliche Leier eben. Aber Helen hat sich nicht rumkriegen lassen. Das war die richtige Entscheidung. Kein Mann ist es wert, dass man sich von ihm so behandeln lässt.« Rashana verzog das Gesicht. »Aber Helen machte sich Sorgen, weil sie ihm einen Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben hatte.«

Auch das schrieb Hunter sich auf.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll die Schlösser auswechseln lassen«, fügte Rashana hinzu.

Hunter wusste, dass Helen dem Rat ihrer Freundin nicht gefolgt war. Er hatte sich die Türschlösser in der Wohnung gründlich angesehen. Sie waren nicht neu.

»Ist Ihnen bekannt, ob ihr Exfreund sie mal bedroht hat?«, fragte er als Nächstes.

»Falls ja, hat Helen es mir gegenüber nie erwähnt«, antwortete Rashana. »Aber der Typ war völlig unberechenbar. Ein paar Drinks, und er wurde zum Tier. Glauben Sie mir, ich kenne die Sorte Mann.«

Hunter machte sich noch einige abschließende Notizen und klappte dann seinen Block zu.

»Haben Sie vielen Dank, Ms Lewis.« Er stand auf. »Sie waren wirklich eine große Hilfe.«

Rashana begleitete ihn zur Tür. Als sie am Durchgang zur Küche vorbeikamen, fiel Hunter etwas ins Auge, und er blieb einen Moment lang stehen.

Rückblende.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils flogen seine Gedanken von A nach Z.

»Ist was?«, erkundigte sich Rashana.

»Nein, gar nichts.« Hunter lächelte.