Schiefer Haussegen

Falls Du es nicht weißt, du Idiot, ich bin die Tochter unserer Eltern. Hast Du denn alles vergessen? Wie stellst Du Dir das nun vor mit uns beiden? Du beschuldigst mich, ich würde mich in der Nachlassfrage nicht korrekt verhalten, Du sagst, ich soll das wieder in Ordnung bringen, aber was mischst Du Dich da ein? Ich will diese Kommode. Es ist Papas Kommode. Maman hat versprochen, dass ich sie bekomme. Es gibt keinen Grund, dass Du sie hast. Du hast sie nicht verdient, Du hast keinen Schimmer von dieser Kommode. Und Deine Frau hasse ich.

 

Ich bitte Dich, beruhige Dich und lass Solange aus unseren Streitereien heraus. Die Arme kann nichts dafür, sie maßt sich überhaupt nichts an, sie spielt lediglich die Rolle der stillen Beobachterin. Aus Dir spricht offenbar die Wut, und ich sage Dir noch einmal, was ich auch in meinem vorhergehenden Schreiben gesagt habe: Du verhältst Dich in der Nachlassfrage unmöglich. Schon bei Papas Tod habe ich die Art und Weise kaum gutheißen können, wie Du seinen Schrank geleert und Mamans Trauer ausgenutzt hast, um sie zu berauben. Ich habe nichts gesagt, ich wollte sie nicht mit irgendwelchen Geschichten verletzen, aber Du bist nicht befugt, Dich zu bedienen. Mitnichten, glaub mir! Du bist traurig, das verstehe ich – und ich erlaube mir hinzuzufügen, dass auch ich es bin –, aber das entschuldigt Dein schlechtes Benehmen nicht. Du führst Dich auf wie eine Xanthippe und brauchst gar nicht mehr darauf zu hoffen, diese Kommode zu bekommen, die ihren Platz neben dem Schrank in meinem Wohnzimmer finden wird, wie Maman es wollte. Nebenbei weise ich Dich darauf hin, dass Du nicht vergessen wurdest. Du hast doch ein Konsoltischchen bekommen. Sei zufrieden und hör auf, Dich bei Deinem Bruder zu beklagen, der immer weniger Wert darauf legt, dies zu sein. Treibe mich nicht dazu, Dir unangenehme Dinge zu sagen. Du würdest es bereuen. Nichts ist mehr, wie es einmal war.

 

Du konntest noch nie Briefe schreiben, nicht mal einen Aufsatz, immer habe ich Dir dabei geholfen, habe Dir Ratschläge gegeben und bin Dir zur Seite gestanden. Ich weiß genau, dass Solange Dir diese widerwärtigen Worte diktiert hat. Du wirst wohl nie aufhören, mich zu schikanieren. Lass mich diese Kommode wenigstens öffnen und Dir das Schreiben zeigen, das Maman dort ganz sicher heimlich hinterlegt hat, damit ich das Stück erbe – falls Deine Hochstaplerin es nicht längst entfernt hat. Ich glaube kein Wort von dem, was Du über die notarielle Aufstellung des Nachlasses erzählst. Ich weiß, dass Du lügst. Die Möbel waren gekennzeichnet. Und ganz zufällig haben sich diese Etiketten nun von selbst verflüchtigt! Wie konntest Du Dich nur so verändern? Du warst ein Lausbub, aber böse warst Du nicht. Ich will meine Kommode – in der Papa seinen Plattenspieler und seine Lieblingsplatten aufbewahrt hat und die Dir immer vollkommen egal gewesen ist. Ich will sie und ich werde sie bekommen, selbst wenn sie kaputt ist, selbst wenn nur noch die Bretter übrig sind. Hast du verstanden?

 

Hör auf, derartig Krach zu schlagen. Wir kriegen auch so alles mit, und wir sind alle entsetzt, Deine Neffen inbegriffen, das kann ich Dir sagen, wir sind schockiert über den Unsinn, den Du daherredest. Wir werden Dich aus der Familie ausstoßen, man könnte fast meinen, Du willst es nicht anders, und Du ahnst ja nicht, wie sehr Du es verdienst!

 

Wie kannst Du es nur wagen, unsere Kindheit so schlechtzumachen? Gib mir meine Kommode zurück! Diese Kommode ist mein Leben! Sie symbolisiert Papa und Maman als Paar.

 

Du hast den Sekretär bekommen.

 

Papa hat immer schon gesagt, dass Du mich mit Deinen Tricks fertigmachen wirst.

 

Wir waren zehn Jahre alt. Bring nicht alles durcheinander. Und was Papa angeht, bist Du besser still!

 

Du hast mir gar nichts zu befehlen. Ich bringe nichts durcheinander, und wenn, dann bringe ich durcheinander, was ich will.

 

Zum letzten Mal: Sieh es endlich ein: Deine Reaktion ist dumm und bedauerlich. Du siehst eine Gemeinheit, wo es keine gibt. Ich habe lediglich Mamans Anweisungen buchstabengetreu befolgt. Es ist unwürdig, dass Du gegen ihr Testament aufbegehrst. Nimm Dich ein wenig zusammen und ehre ihr Andenken. Dein Mann ist weg. Langsam begreife ich, was ihn in den Groll getrieben und in die Flucht geschlagen hat.

Deine Ausdrucksweise ist albern. Ich erinnere Dich daran, dass Du gerade mal die Hauptschule geschafft hast – also überlass den Groll jenen, die ihn auch im Satz zu platzieren wissen, und dazu zählt ganz bestimmt nicht diese ewige Jasagerin Solange. Und wenn Du es genau wissen willst: Ich habe meinem Mann gezeigt, wo die Tür ist, und zumindest hat er sich nicht erlaubt, meine Sachen mitzunehmen. Meine Liebesbeziehungen haben mit unserer Angelegenheit überhaupt nichts zu tun. Du hast Dich ja schon immer über meine Freunde lustig gemacht, sicherlich aus Deinem Besitzdenken heraus, aber keiner von ihnen hat mich je bestohlen. Denk an Papas Aufrichtigkeit und sieh Dich im Spiegel an und dann frag Dich, ob Du wirklich dem Sohn gleichst, den er verdient hat.

 

Besitzdenken? Ich? Deine Geschichten sind mir piepegal. Wie hat Papa immer gesagt? – Deine Freunde werden den Männern der Familie nie das Wasser reichen können. Ich muss zugeben, dass uns dieser Schwarm Trottel immer sehr amüsiert hat, und wir verdanken Dir unzählige Lachanfälle. Wie gern denke ich an die Sonntage zurück, wenn wir alle beim Tee zusammensaßen und auf den neuen Esel warteten, der rot wurde und sich zu unser aller Vergnügen auf den Teller Makronen stürzte, die Maman gemacht hatte. Und Du hast jedes Mal gestrahlt, als wäre es der Mann fürs Leben. Deine Schminke war zu dick aufgetragen, schon damals warst Du hässlich! Egal, jetzt ist es raus. Mehr konnte man nicht erhoffen. Du bist eine alte Kuh geworden. Dein Mann war vielleicht noch der Beste von allen und wahrscheinlich nicht mal der Dümmste, deshalb ist er auch abgehauen.

Du bist abscheulich. Du bist ja krank vor Eifersucht! Wenn mir etwas zustößt, bist Du schuld, das kann ich Dir sagen. Doch bis es so weit ist, gib mir meine Kommode zurück.

 

Erpressung! Darauf haben wir ja nur gewartet! Madame stirbt! Das sollen wir jetzt wohl auch noch glauben! Aber das läuft nicht mehr. Wenn Madame sich den Kopf wegpusten will, bitte; das interessiert niemanden, Du hast den Teufel schon zu oft an die Wand gemalt. Zu oft hast Du uns genötigt, völlig aufgelöst in Deine Bude zu stürmen, wo Du im triefenden Morgenrock rumgeflennt hast. Wir hatten Angst, Du bringst Dich um. Unsere arme Mutter kam fast um vor Sorge. Sei jetzt still und lass uns in Frieden. Und sieh Dir die Fotos an, die wir Dir geschickt haben. Vielleicht findest Du eines von Dir aus jener Zeit, und wenn Du Deine Visage siehst, verstehst Du sicher, warum wir die Nase voll haben.

 

Schreib bitte nicht »wir«, wenn Du »ich« meinst. Du verwechselst immer alles. Wir hatten geglaubt, Deine Legasthenie sei geheilt, aber man hat vergessen, Dein Gehirn zu heilen. Es ist so hohl wie eine Suppenschüssel. Das hat Papa doch immer gesagt, nicht wahr? Er war geduldig mit Dir, nie hat er seine Enttäuschung gezeigt, doch mir hat er seine Zweifel über Deine Zukunftsaussichten und Deine Erfolgschancen anvertraut. Heute weiß ich, dass Du auch noch an Gedächtnisschwund leidest, sonst würdest Du Dich erinnern, wie oft ich Dir geholfen und Dich gedeckt habe, und Du würdest Dich erkenntlich zeigen, wie es zwischen normalen Menschen üblich ist. Ja, ich habe Dich gedeckt. Bei Solange, bei anderen. Aus Rücksicht sage ich nicht noch mehr, denn ich kann mir denken, dass sie diesen Brief laut liest, direkt hinter Deiner Schulter, auf die sie sich stützt, damit Du ihr Schecks ausstellst. Gib mir meine Kommode zurück, und wir reden nicht mehr darüber.

 

Sinnlos, die Sache weiterzuverfolgen. Ich habe die Füße Deiner Kommode abgesägt und mir Stelzen gebaut, damit ich würdevoll auf Dich herabsehen kann. Aber ich habe Dir eine Schublade übrig gelassen, die sollst Du unbedingt bekommen. Wenn Du ein Brett über die Öffnung nagelst und an beiden Seiten Griffe anbringst, wirst Du leicht herausfinden, was Du damit anfangen kannst. Meine Solange kümmert sich um die Kränze.

 

Dein großer Bruder

 

PS:

Ich füge diesem Schreiben eine Mitteilung bei, die Dir von Rechts wegen zusteht. Als ich die Kommode zersägt habe, habe ich ein Geheimfach entdeckt, ein Brief ist herausgefallen. Er ist von Maman und an mich adressiert. Ich hatte ja versprochen, Dir Einsicht in die Papiere zu gewähren. Dieses Dokument stelle ich Dir nun mit Freude zu.

 

 

Gérard, mein Schatz,

ich weiß, dass Du informiert bist. Danke, dass Du mir keine Vorwürfe machst. Deine Schwester hat mich nie wegen ihrer blauen Augen gefragt. Diese Augen, die mir den Kopf verdreht haben, während Dein Vater auf Dienstreise war. Du warst wunderbar, Ihr wart wunderbar. Dein Vater hat sie behandelt wie seine eigene Tochter, und Du sollst sein Andenken ehren, indem Du schweigst. Sag Deiner Schwester nichts, sie hat schon genügend Sorgen mit ihren Männergeschichten.

Ich küsse Dich, mein Schatz, und von dort, wo ich nun bin, sehe ich Dich und liebe Dich,

 

Deine Maman