Kapitel vier

Anfangs hat sich Helen tapfer erboten, mir die Detektivarbeit abzunehmen. Doch ich habe ihr erklärt, dass das überflüssig sei. Erstens funktionieren die Dinge nur, wenn man sie selbst in die Hand nimmt, wie Ihnen jeder Zwangsneurotiker, der etwas auf sich hält, bestätigen wird. Und zweitens gibt es eine todsichere Methode, wenn man aufs Geratewohl vertrauliche Informationen am Telefon erfragen will. Der Zauberspruch lautet: »Hallo, ich bin die Chefredakteurin der Post und rufe in folgender Sache an …«

Das wirkt jedes Mal. Wenn die Leute, insbesondere Iren, erkennen, dass man von der Presse ist, öffnen sie ihre Herzen und erzählen einem absolut alles, nur damit ihr Name in der Zeitung erscheint. Oder noch besser, ihr Foto. In Farbe. Damit Mutti und alle Freunde es sehen.

Der erste Schritt ist erstaunlich einfach. Am nächsten Tag in der Redaktion schließe ich meine Bürotür und telefoniere. Dabei senke ich die Stimme und bemühe mich um einen diskreten, ruhigen und sachlichen Tonfall.

»Hallo, Reilly Institute, an wen kann ich Sie weiterverbinden?«

Die Stimme der Frau klingt knapp und sachlich. Also erkläre ich ihr die Situation und sage, ich müsste dringend meine Patientenakte von vor vier Jahren einsehen. Es tut mir schrecklich leid, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen, doch ich fürchte, solche Informationen können wir nicht weitergeben. Zufällig aber habe ich dieses bürokratische Gelaber vorhergesehen und bin bereit.

Ja, das sei mir bewusst, erwidere ich, doch die Situation sei recht außergewöhnlich. Ich säße nämlich gerade an einem Artikel über Fruchtbarkeitskliniken in und um Dublin und müsse dafür recherchieren. Natürlich werde der Artikel auf meinen persönlichen Erfahrungen basieren. Ich füge sogar hinzu, wobei mich meine unverfrorene Lüge selbst erstaunt, dass ich vorhätte, ein Farbfoto vom Reilly Institute mit allen Schikanen zu bringen.

Komisch, wie einem der kreative Umgang mit der Wahrheit in Fleisch und Blut übergeht, wenn man lange genug bei der Post arbeitet.

Und es ist tatsächlich ein Kinderspiel. Eine kurze, zögerliche Pause, dann wird ein Vorgesetzter ans Telefon geholt. Das Gespräch wird, einschließlich Bestechungsversuch, wörtlich wiederholt, und schon sind wir im Geschäft.

Meine Akte wird wieder geöffnet, und zwar mit folgendem Ergebnis: Sein Name ist, sage und schreibe, William Goldsmith.

Natürlich heißt er William, denke ich ein wenig selbstzufrieden, lehne mich in meinem Bürostuhl zurück und blicke träumerisch aus dem Fenster, ein Luxus, den ich mir nur selten gönne. Der Name William hat mir schon immer gut gefallen. Sportliche, schneidige, kultivierte Männer haben immer Namen wie William. Plötzlich steht mir das Bild von Prinz William an seinem Hochzeitstag vor Augen. In seiner scharlachroten Uniformjacke mit den vielen Orden auf der durchtrainierten Brust sah er einfach hinreißend aus.

Das Beste ist, dass er, zumindest zum Zeitpunkt, als er im Reilly Institute das Formular ausgefüllt hat, Doktorand am Trinity College war. Es folgen einige Einzelheiten, die ich bereits kannte und an die ich mich noch gut erinnere. Er ist genauso alt wie ich, eins fünfundachtzig groß, blond und blauäugig. Natürlich steht keine Adresse dabei, doch das ist die geringste Herausforderung.

Herrje, warum habe ich das nicht schon vor Jahren getan?

Es ist nicht nur, dass Lily ihn kennenlernen will. Inzwischen kriege ich auch Lust dazu.

Also gut. Nächste Haltestelle: Trinity College.

Bevor ich wieder Zeit für mich und den Schritt zwei habe, muss ich erst mal zwei Redaktionssitzungen erdulden. Mittlerweile kauere ich auf der Stuhlkante und kann es kaum erwarten, mich wieder in mein Büro zu flüchten. Wieder knalle ich die Tür hinter mir zu, rufe das Trinity College an und lasse mich mit der Studentenkanzlei verbinden. Ich stelle Nachforschungen über einen Doktoranden namens William Goldsmith an, verkünde ich selbstbewusst. Haben Sie Kontaktdaten oder vielleicht eine Adresse?

Während ich eine Ewigkeit in der Warteschleife hänge, kann ich weiter in meinen Phantasien schwelgen. Ich wette, William hat eine tolle Wohnung in der Innenstadt, bequemerweise nur einen Katzensprung vom College entfernt und mit malerischem Blick auf die Stadt, wo er elegante Abendgesellschaften und Dinnerpartys veranstaltet, bei denen alle über den Niedergang unserer Wirtschaft und den Wertverlust ihrer Häuser sprechen. Hallo, schön, dich zu sehen! Wie laufen denn deine Vorlesungen? Hey, ich bin heute Abend bei William eingeladen. Du kennst doch William, William Goldsmith? Natürlich tust du das, jeder kennt ihn. Er ist gerade vom Literarischen und Historischen Debattierclub zum beliebtesten Redner aller Zeiten gewählt worden. Kommst du auch? Die Partys bei William sind immer die besten …

Ob er eine Frau oder Freundin hat? Möglich. Vielleicht sogar andere Kinder.

Aber mein nach jahrelanger Fron im Bergwerk des Journalismus geschärftes Bauchgefühl sagt Nein. Denn wir wollen doch mal ehrlich sein: Sperma an eine Samenbank zu spenden ist nicht unbedingt die typische Freizeitbeschäftigung von Männern, die in einer festen Beziehung leben. Falls meine Antennen nicht total verstellt sind, also eher nicht. Nein, wahrscheinlich hielt es jemand, der so klug und zweifellos begabt ist wie William (es ist so schön, den Namen immer wieder auszusprechen; ich bin machtlos dagegen, William, William, William), für einen selbstlosen humanitären Akt, ein wenig von sich mit seinen Mitmenschen zu teilen. Denn ein Genpool, der so selten und exquisit ist wie der von William, muss sich doch einfach weiterverbreiten.

»Verzeihung, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigt sich die freundliche Dame, die schließlich wieder an den Apparat kommt.

»Keine Ursache.« Ich lächle, fest überzeugt, dass William vermutlich mit einer Bestnote abgeschlossen hat und womöglich inzwischen sogar dem Lehrkörper angehört. Wer weiß?

»Allerdings fürchte ich, dass wir hier ein kleines Problem haben.«

»Oh?«

»Es tut mir schrecklich leid, aber offenbar hatten wir unter unseren Doktoranden keinen William Goldsmith, zumindest nicht in den letzten vier Jahren. Laut unseren Unterlagen hat nie jemand dieses Namens hier studiert.«

Mist, Mist, Mist. Was wird hier gespielt?

»Sind Sie ganz sicher? Eine Verwechslung vielleicht?«

»Auf gar keinen Fall, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe unsere Computerdateien aus diesem Zeitraum zweimal durchgeschaut. Bei uns hat niemals ein William Goldsmith studiert. Bedaure, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«

Sehr seltsam. Warum gibt es keine Aufzeichnungen über ihn im Computer? Doch ich fasse mich rasch wieder. Okay, eine Sackgasse, denke ich. Mehr nicht. Ein kleiner Verwaltungsfehler, eine Hürde, die es zu überwinden gilt, weiter nichts. Ich bedanke mich höflich, lege auf und lasse mich sofort von der Zentrale des Trinity College mit dem Sicherheitsdienst verbinden. Schließlich muss jeder Student einen Ausweis haben, und ich weiß aus meiner eigenen Studentenzeit, dass man ohne Ausweis weder hinein- noch hinauskommt.

Also noch einmal dasselbe Spiel. Ich setze zu einem »Hallo, ich bin die Chefredakteurin von …« an. Allerdings öffnet sich diesmal nicht plötzlich die Geheimtür in der Wand. Weit gefehlt. Stattdessen wird sie mir so schwungvoll vor der Nase zugeknallt, dass es sich wirklich wie eine Ohrfeige anfühlt.

»Tut mir leid, meine Liebe«, erwidert ein gelangweilt klingender Mensch, der offenbar zwanzig Zigaretten am Tag raucht. »Das sind vertrauliche Informationen.«

»Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz«, versuche ich es noch mal und unterdrücke dabei meinen flehentlichen Tonfall. »Ich rufe von der Post an. Wir planen einen Artikel …«

»Hören Sie, meine Liebe. Und wenn Sie aus dem Weißen Haus anrufen würden, würde es mich auch nicht sonderlich interessieren. Ich darf keine persönlichen Daten ehemaliger Studenten herausgeben. Dazu ist mir mein Job zu wichtig.«

Okay. Aus meinen Tagen als kleine Anfängerin weiß ich noch, wie man solche Situationen meistert. Zugegeben, es ist nicht ganz koscher, aber manchmal … nur manchmal knackt man so den Jackpot, wenn man bloß nicht die Nerven verliert und die Ruhe bewahrt.

»Wissen Sie«, entgegne ich, während ich rasch im Computer nachschaue, welche Revuen, Veranstaltungen, Filmpremieren in nächster Zeit in Dublin stattfinden. Irgendetwas Schickes und Elegantes, alles, was gerade angesagt ist, »natürlich würde ich nie von Ihnen verlangen, dass Sie etwas tun, womit Sie nicht leben können«, fahre ich in meinem besten einschmeichelnden Tonfall fort. »Aber wenn Sie mir diesen gewaltigen Gefallen täten, würde ich mich natürlich revanchieren. Quidproquo sozusagen.«

»Quidprowas?«

»Wenn Sie zum Beispiel …« Ich scrolle den Computerbildschirm hinunter. Bingo, genau, was ich gesucht habe. »Wenn Sie zum Beispiel ein Fan von U2 wären? Wir werden hier bei der Post mit Freikarten geradezu bombardiert. Falls Sie also jemanden kennen, der auch ein Fan ist, könnte ich Ihnen sicher zwei Stück beschaffen.«

Ich weiß, dass ich mit schmutzigen Tricks arbeite. Doch der Journalismus ist eben auch ein schmutziges Geschäft. Ich verstumme, hole tief Luft und warte ab.

Noch immer keine Antwort.

»Natürlich für das erste Konzert«, füge ich voller Hoffnung hinzu. »Selbstverständlich VIP-Karten. Dass Sie anschließend die Band kennenlernen, versteht sich von selbst. Backstage.«

Doch ich ernte nur ein gelangweiltes Gähnen vom anderen Ende der Leitung.

»Diese Idioten würde ich mir nicht antun, und wenn sie in meinem Garten auftreten würden.«

Ach, verdammt!

Und was nun?

Aber nach einer weiteren endlosen Pause wird mir ein Rettungsseil zugeworfen.

»Mal ein Vorschlag meinerseits, meine Liebe. Wenn Sie mit zwei Karten für die Liveshow von X Factor in London rüberkommen würden, dann könnte ich … dann könnte ich vielleicht etwas für Sie tun. Natürlich streng vertraulich, verstehen Sie? Das muss unbedingt unter uns bleiben. Falls mir jemand draufkommt, bin ich nämlich meinen Job los.«

»Natürlich ist es streng vertraulich und, ja, ich besorge Ihnen so viele Karten für X Factor, wie Sie wollen.«

Wie ich das in Gottes Namen anstellen soll, weiß ich nicht, aber darüber zerbreche ich mir später den Kopf.

»Also gut. Geben Sie mir Ihre Nummer. Ich rufe Sie an.«

Ich gehorche, hänge erleichtert auf und gehe in die nächste Besprechung.

Es wird fünf Uhr, und immer noch keine Antwort. Halb sechs, und weiterhin nichts. Mein Telefon ist zwar auf stumm geschaltet, aber das verhindert trotzdem nicht, dass ich alle fünf Minuten verstohlen einen Blick darauf werfe.

Warum hat er sich noch nicht bei mir gemeldet? Wie kann so eine einfache Sache derart lange dauern?

Es ist schon weit nach halb sieben, als der Anruf endlich kommt. Ich bin unten in der Druckerei und begutachte den ersten Entwurf des morgigen Layouts, als mein Handy läutet und die Nummer des Trinity College angezeigt wird.

»Verzeihung, ich muss rangehen«, teile ich dem Chef vom Dienst mit, sehe mich verzweifelt nach einem ruhigen Eckchen um, wo ich den Anruf ungestört entgegennehmen kann, und entdecke es am Fuße einer zum Glück menschenleeren Treppe.

»Und?«, zische ich wie in einem Spionagefilm. »Was haben Sie für mich?«

»Sie werden sich kaputtlachen, meine Liebe. Ich habe mich nicht mehr eingekriegt.«

»Sagen Sie es mir einfach!«

»Ja, wie sich herausgestellt hat, hatten Sie recht. Hier im Trinity hat einmal ein William Goldsmith gearbeitet, allerdings nicht lang, nur etwa ein halbes Jahr.«

Er hat dort gearbeitet?, denke ich, und meine Gedanken überschlagen sich. Als was? Dozent?

»Ich habe zwar keine Telefonnummer, aber eine Adresse.«

»Wunderbar, mehr brauche ich nicht.«

»Aber eines muss ich Ihnen noch sagen, meine Liebe. Falls der Mann Ihnen weisgemacht hat, dass er hier Student war, hat er Ihnen ganz schönen Mist erzählt.«

»Verzeihung, was soll das heißen?«

»Der William Goldsmith, den wir in den Akten haben, war beim Reinigungsdienst drüben in den Studentenwohnheimen tätig.«

»Was?«

»Er hat hier geputzt.«

Alles ist gut, alles ist in Ordnung. Kein Weltuntergang. Meinetwegen, dann hat William eben einen unterqualifizierten Job gemacht, um sich seine Brötchen zu verdienen. Was ist daran so schlimm? Schließlich habe ich als Studentin auch gekellnert, ohne dass es mir geschadet hätte. Dann hat er eben nie offiziell am Trinity College studiert. Doch er fühlte sich offenbar zur akademischen Welt hingezogen. Ob er sich die Studiengebühren nicht leisten konnte?

Plötzlich werde ich von heftigem Mitleid mit William ergriffen und habe deutlich das Bild von Matt Damon in Good Will Hunting vor Augen. Ein kluger Mann mit hohem IQ und ohne das Geld für ein Studium, der sich verzweifelt an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Dass mich seine falschen Angaben auf dem Formular des Reilly Institute ein wenig ärgern, schiebe ich beiseite. Immerhin nehmen es viele Leute in diesen Dingen mit der Wahrheit nicht so genau. Und es liegt auf der Hand, dass es auf einem Antragsformular einer Samenbank besser aussieht, sich als Doktorand auszugeben, anstatt dazu zu stehen, dass man Toiletten schrubbt.

Bis jetzt kann ich ihm noch verzeihen und seine Beweggründe verstehen.

Bis jetzt.

Das Glück ist mir hold, denn laut Adresse wohnt er nicht weit von der Redaktion entfernt. Pearce Square 24, gleich hinter dem Trinity College, Wohnung Nummer 2. Also nur zehn Minuten Fußweg von hier. Eine Stunde später sitze ich wieder oben in meinem Büro, gebe den morgigen Leitartikel frei und rede gleichzeitig mit Robbie aus dem Auslandsressort. Allerdings schaffe ich es einfach nicht, mich auf eine dieser beiden Tätigkeiten zu konzentrieren. Oder wie sonst Multitasking zu betreiben.

Inzwischen ist es kurz nach halb sieben. Ich habe bis zur nächsten Sitzung ein Zeitfenster von genau dreißig Minuten.

Das würde doch klappen, oder? Ich könnte mich für eine halbe Stunde davonschleichen und zum Pearce Square eilen. Dann wäre ich rechtzeitig zurück, und niemand würde es bemerken. Da bin ich sicher.

Verdammt noch mal. Hör auf zu grübeln und es zu zerpflücken. Schluss mit den Zweifeln. Tu es. Denk an Lily. Vergiss nicht, dass du es ihr schuldig bist.

Die Entscheidung ist gefallen. Ich schnappe mir Tasche und Mantel und husche aus dem Büro zum Aufzug. Da alle auf ihre Computerbildschirme starren, hebt niemand den Kopf oder würdigt mich auch nur eines Blickes. So weit, so gut. Schließlich werde ich nicht lange wegbleiben. Ich will ja nur Antworten auf eine Handvoll einfacher Fragen. Wer ist er? Woher kommt er? Warum hat er dem Trinity College so bald den Rücken gekehrt, und was hat er anschließend gemacht? Und vor allem: Wo ist er jetzt?

Gut, das sind vielleicht mehr als eine Handvoll Fragen, doch das ist der alte Journalistentrick. »Darf ich Sie nur ganz schnell etwas fragen?« Und dann schmuggelt man die anderen fünfzehn Fragen dazwischen und hofft, dass das Gegenüber es nicht merkt.

Eines steht jedenfalls fest: Die Antwort ist nur einen Katzensprung entfernt, und ich kenne mich selbst. Solange ich keine Lösung gefunden habe, werde ich nicht lockerlassen können. Meine Gedanken überschlagen sich, und mein Herz klopft, als ich in meinen Regenmantel schlüpfe. Gerade habe ich die Sicherheitskontrolle am Eingang des Redaktionsgebäudes hinter mir und strecke die Hand nach der Drehtür aus, als mich jemand von hinten anspricht.

»Eloise, Sie wollen uns doch nicht schon so früh verlassen?«

Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es ist. Es gibt nur einen einzigen Menschen, der mit diesem nasalen, aufgesetzt westbritischen Akzent spricht.

Natürlich, Seth Coleman, der mich wie immer von Kopf bis Fuß mustert. Seinen starren Eidechsenaugen entgeht nichts.

»Natürlich verlasse ich Sie nicht, Seth.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich gehe nur rasch mal vor die Tür …«

»Sie gehen raus?«, entsetzt sich Seth, wobei er das letzte Wort absichtlich betont. »Aus dem Gebäude? Warum, um Himmels willen?«

Äh, gute Frage. Um mir einen Kaffee zu holen, kann ich nicht sagen, denn wir haben eine Starbucks-Filiale im Haus. Und wenn ich persönliche Gründe angebe, wird er hundertprozentig verbreiten, dass ich einen Nervenzusammenbruch hatte und mich heimlich zum Psychiater schleiche.

Überleg dir was …

»Streng vertraulich«, erwidere ich schließlich gekünstelt fröhlich. »Den Namen der Person, mit der ich mich treffe, darf ich nicht nennen. Aus Sicherheitsgründen müssen wir uns auf neutralem Gebiet sehen.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz«, näselt Seth. »Hätten Sie damit nicht einen der Dutzenden von Reportern beauftragen können, die sich noch im Gebäude aufhalten und sich über eine neue Story freuen würden?«, bohrt er nach und zieht die Augenbrauen – ich könnte schwören, dass er sie zupft – in Richtung Himmel. »Als Chefredakteurin hat man doch nicht die Zeit, jedem Hinweis nachzugehen, der hier eintrudelt. Ihre Talente wären anderswo besser eingesetzt, finden Sie nicht?«

»Danke für Ihre Besorgnis«, fauche ich ihn an und spare mir die Mühe, meine Gereiztheit zu verbergen. »Doch mein Informant wollte mich nur persönlich treffen, und ich habe offen gestanden keine Lust, die Angelegenheit weiter mit Ihnen zu erörtern.«

Neugieriger Schleimer. Für wen hält der sich eigentlich? Will er mir etwa sagen, wie ich meine Arbeit machen soll?

»Tja, dann sehen wir uns in einer halben Stunde bei der Redaktionssitzung«, entgegnet er, offenbar noch immer nicht überzeugt, während ich auf dem Absatz kehrtmache und verschwinde.

Nicht auszudenken, was passiert, wenn ein Typ wie der zu einer Samenbank gehen würde, sage ich mir erbost, als ich den Gürtel meines Regenmantels fester zusammenziehe und die Straße entlangmarschiere. Mein Gott, und dann bringt irgendeine arme, ahnungslose Frau ein Kind von ihm auf die Welt? So etwas darf ich mir nicht einmal vorstellen. Es ist eiskalt, scheußlich und windig. Zum Pearce Square, der von der geschäftigen Pearce Street abgeht, brauche ich etwa zehn Minuten. Der Berufsverkehr lässt gerade nach. Nummer 24 ist nicht schwer zu finden. Ein kleines zweistöckiges Reihenhaus, roter Backstein, nichts Besonderes, in einer Häuserzeile, die genauso aussieht. Kein schmückendes Beiwerk weit und breit. Weder Blumenbeete noch Blumenkästen, nichts.

Ich klingle und warte. Und warte. Klingle noch einmal, wieder nichts. Also warte ich noch ein wenig, schaue dann besorgt auf die Uhr und komme zu dem Schluss, dass ich hier nur meine Zeit verschwende und besser wieder in die Redaktion gehen sollte, bevor mich jemand vermisst. Aber dann nähert sich eine alte Frau mit Kopftuch. Sie stemmt sich gegen den Wind und zieht eine dieser karierten Einkaufstaschen auf Rädern hinter sich her, die alte Damen so lieben. Als sie mich bemerkt, bleibt sie ruckartig stehen.

»Wollen Sie zu Michelle, meine Liebe?«, fragt sie. Sie scheint meinetwegen wirklich besorgt, da ich mit meinem schwarzen Businesskostüm und dem Aktenkoffer nicht unbedingt in diese Reihenhaussiedlung passe.

Offenbar glaubt sie, dass ich hier bin, um einen Kreditvertrag zu kündigen.

»Verzeihung, haben Sie Michelle gesagt?«, erwidere ich. Michelle? Vielleicht Williams Freundin?

»Ja, das ist die Besitzerin von Nummer 24. Sie vermietet Zimmer, um sich etwas dazuzuverdienen. Nur Bargeld, aber das wissen Sie ja bestimmt.« Im nächsten Moment schlägt sie die Hand vor den Mund, als wäre ihr die Tragweite ihrer Worte eben erst bewusst geworden und als wolle sie sie nun unbedingt wieder zurücknehmen.

»Äh … Sie sind nicht zufällig vom Finanzamt?«

»Nein, bin ich nicht …«

»Denn als ich gesagt habe, dass sie nur Bargeld nimmt, habe ich es nicht so gemeint … ich wollte wirklich nicht …«

»Alles in Ordnung«, versichere ich ihr. Sie ist so starr vor Angst, dass ich mir ein Lächeln verkneifen muss. »Ich schwöre, dass ich nicht vom Finanzamt bin. Ich möchte nur jemanden finden, der früher einmal hier gewohnt hat oder vielleicht noch immer hier wohnt.«

»Hier geben sich die Mieter die Klinke in die Hand, gute Frau.«

»Ja, schon, aber ich suche jemand Bestimmten.«

»Dann sprechen Sie am besten mit Michelle. Doch um diese Uhrzeit ist sie nie zu Hause.«

»Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«

»Natürlich, meine Liebe. Inzwischen sicher bei der Arbeit. Sie geht immer früher hin, etwa um diese Zeit. Dort müssten Sie sie antreffen.«

»Und wo arbeitet sie?«

»Im Pub Widow Maguire. Das ist nur zehn Minuten von hier. Ihr Nachname ist Hughes.«

»Vielen Dank, Sie waren mir eine große Hilfe.«

»Kein Problem.«

Wie auf ein Stichwort öffnet im nächsten Moment der Himmel seine Schleusen. Natürlich kann ich kein Taxi erwischen, weshalb ich aussehe wie eine getaufte Maus, als ich mich endlich aus dem Platzregen in den Pub flüchten kann. Obwohl es Dienstagabend ist, ist ziemlich viel los. Allerdings sind die Gäste mehrheitlich männlich und haben einen Altersdurchschnitt von etwa fünfundsiebzig.

Es ist wie in einem Western. Sobald ich hereinkomme, klatschnass und eine durchweichte Ausgabe der heutigen Post als Schirmersatz in der Hand, wenden sich mir alle Blicke zu. Und wenn mich nicht alles täuscht, lässt auch der Geräuschpegel nach. Raue Stimmen senken sich zu einem Flüstern, als mich alle begutachten. Offenbar falle ich wirklich unangenehm auf.

Wohl wissend, dass die Zeit läuft und ich auf schnellstem Wege zurück in die Redaktion muss, gehe ich auf die vollbusige Frau mittleren Alters mit der hochgegelten Igelfrisur zu, die hinter dem Tresen demonstrativ Biergläser poliert und mich dabei vom Scheitel bis zur Sohle mustert.

»Verzeihung, sind Sie zufällig Michelle Hughes?«

»Wer will das wissen?«, entgegnet sie abweisend. Sie beäugt mich argwöhnisch und verschränkt die Arme. Offenbar rechnet sie mit Schwierigkeiten.

Wieder spule ich mein Sprüchlein ab, ich sei von der Post und suche nur nach einem Mieter, der anscheinend bei ihr gewohnt hat. Einem gewissen William Goldsmith. Dabei lasse ich zwischen den Zeilen durchklingen, dass ich absolut gar nichts mit dem Finanzamt zu tun habe und mich auch nicht im Geringsten für die geschäftlichen Transaktionen unter ihrem Dach interessiere.

»William wer? Nein, definitiv nicht. Nie von ihm gehört«, entgegnet sie patzig, als sei das Gespräch für sie damit beendet, und wendet sich wieder ihren Gläsern zu.

»Ach, kommen Sie schon. An irgendwas müssen Sie sich doch noch erinnern. Alles wäre hilfreich. Ein großer Typ? Vermutlich blond? Blauäugig? Hat hier gleich um die Ecke im Trinity gearbeitet?«, flehe ich sie an. Nur für den Fall, dass sie davor zurückscheut, sich mir anzuvertrauen, füge ich hinzu: »Ich bin nicht von irgendeiner Behörde, und es steckt auch niemand in Schwierigkeiten. Ich muss ihn einfach nur finden, mehr nicht. Bitte. Jede Kleinigkeit würde mich weiterbringen.«

Dass sie sich nun halb abwendet, weckt in mir den Verdacht, dass ich auf der richtigen Spur bin.

»Tja, wenn ich es mir genau überlege, hatte ein Typ, der so ähnlich aussah, vor zwei oder drei Jahren bei mir ein Zimmer gemietet«, sagt sie. »Der ist längst über alle Berge, aber ich erinnere mich an ihn. Sehr zurückhaltend, ein Eigenbrötler, hatte immer die Nase in irgendeinem Buch.«

»Ja, ich bin sicher, dass er es ist«, erwidere ich aufgeregt. Ich habe keine Ahnung, warum, aber ich habe mir William immer als Bücherwurm vorgestellt. Lily ist ganz sicher einer, und sie kann noch nicht einmal richtig lesen.

»Doch der Name stimmt nicht.«

»Verzeihung?«

»William … wie soll er noch mal geheißen haben?«

»Goldsmith.«

»Nein«, sagt sie, wirft sich das Geschirrtuch über die breite Schulter und überlegt. »So hat er sich wenigstens hier nicht genannt. Der Typ, an den ich denke, hieß anders … Billy, Billy irgendwas …«

»Du meinst Billy O’Casey«, mischt der Barmann sich von hinten in unser Gespräch ein. Er trägt einen Schnurrbart, ist Mitte fünfzig und unglaublich sonnengebräunt.

»Genau, danke!«, sagt Michelle und versetzt ihm einen spielerischen Klaps mit ihrem Geschirrtuch. »Billy O’Casey. Mein Gott, wie konnte ich diesen Namen vergessen? Und ich erzähl Ihnen noch etwas. Jetzt fällt es mir wieder ein. Der Dreckskerl ist einfach abgehauen, ohne die letzte Monatsmiete zu bezahlen.«

»Und das ist noch nicht alles«, ergänzt der Barmann. »Muss ich dich an die Höhe der Zeche erinnern, die er hier geprellt hat?«

Im nächsten Moment kehrt ein Dicker, der aussieht, als hätte er zwei Hintern, vom Rauchen zurück und setzt sich wieder an den Tresen.

»Redet ihr über Billy O’Casey?«, will er wissen. »Wenn der mir noch mal unter die Augen kommt, mach ich ihn einen Kopf kürzer.«

»Wie viel schuldet er dir denn?«, erkundigt sich Michelle, die inzwischen ganz Ohr ist.

»Fast zweihundert Euro, mein Schatz. Seit ich das Geld beim Dartsturnier hier gewonnen habe und er mich gebeten hat, es ihm zu leihen. Das war etwa um die Zeit, in der er sich in Luft aufgelöst hat. Hab nie mehr wieder was von ihm gehört.«

»So ein Schwein.«

»Ein richtiges Arschloch.«

»Miese Drecksau.«

»Falls der sich jemals wieder hier blicken lässt, kriegt er einen Tritt, dass er wieder in Darndale landet …«

»Ich helfe dir gern dabei.«

Da das noch eine Weile so weitergehen würde, unterbreche ich die drei.

»Verzeihung, aber ich bin ein bisschen in Eile. Wissen Sie vielleicht, wo er jetzt sein könnte?«

»Sind Sie wahnsinnig?«, empört sich der Mann am Tresen. »Wenn ich das wüsste, würde ich mir doch sofort mein Geld von ihm zurückholen, richtig? Und dann würde ich ihn ordentlich vermöbeln. In dieser Reihenfolge.«

Gut, improvisiere ich, während ich durch den Regen in die Redaktion haste, um noch pünktlich zu meiner Sitzung zu kommen. Also ist er kein unverstandenes Genie, das Pech im Leben gehabt und im Trinity College niedere Arbeiten verrichtet hat, um Universitätsluft zu schnuppern.

Nein, er ist ein Luftikus, der verschwindet, ohne seine Miete zu bezahlen, die Zeche prellt und sich Geld leiht, das er nicht zurückgibt. Und außerdem hat er noch die ärgerliche Angewohnheit, unter falschem Namen aufzutreten.

Soll ich Ihnen etwas verraten? Je mehr ich über Lilys Vater höre, desto weniger faszinierend finde ich ihn und umso dringender will ich ihn aufspüren. Ich muss feststellen, mit wem ich es hier zu tun habe. Und da ich nun einmal gern alles im Griff habe, möchte ich sehen, ob ich eventuellen Problemen möglicherweise vorbeugen kann, bevor es zu spät ist.

Denn Helen hat zweifellos recht. Wenn ich jetzt nichts unternehme, wird Lily es eines Tages tun. Und es würde mich umbringen, wenn sie erführe, dass ihr Dad womöglich ein Junkie auf Methadon ist, der in Hauseingängen und auf Parkbänken übernachtet. Offen gestanden habe ich nämlich den Verdacht, dass diese moderne griechische Tragödie genau darauf hinausläuft.

Darndale … der Barmann hat doch Darndale erwähnt …

Am Mittwoch habe ich etwa fünfzehn Suchanfragen nach einem Billy oder Bill O’Casey aus Darndale gestartet. Die Datenbank, die wir in der Redaktion verwenden – eine ähnliche, wie auch die Polizei sie benutzt –, liefert mir sage und schreibe neunundfünfzig Männer dieses Namens, alle wohnhaft in Darndale. Keine heiße Spur, aber besser als nichts. Ich enge den Kreis ein wenig ein, indem ich sein Alter eingebe. Und plötzlich habe ich überschaubare drei Personen vor mir. Einer ist ein Friseur, der schon seit fünfzehn Jahren einen Salon in der Coolock Lane betreibt, weshalb ich ihn sofort ausschließe.

Also bleiben nur noch zwei übrig.

Am Donnerstag verschaffe ich mir wieder schamlos Zugriff auf die Datenbank der Redaktion und finde prompt die Adressen. Und am Freitag habe ich eine Stunde … eine ganze Stunde, was bei mir ein kleines Wunder ist … zu meiner freien Verfügung. (Ein weiteres gnadenloses Herumschieben von Sitzungen und eine unverfrorene Lüge gegenüber Rachel am Empfang. Ich habe ihr erzählt, ich müsse
jemanden persönlich treffen und sei in einer Stunde zurück.) Bitte, lieber Gott, lass alle annehmen, dass es sich um einen superschüchternen Informanten handelt, den ich sanft dazu verleiten muss, mir streng geheime Fakten zu bestätigen. Die Story, die wir bald bringen werden, halte ich für bedeutsam, und die Mühe wird sich durch eine Vervierfachung unserer Auflage bezahlt machen.

Obwohl verhältnismäßig wenig Verkehr ist, brauche ich knapp zwanzig Minuten nach Darndale, nicht unbedingt ein teures Pflaster. Die Hauptstraße wird von Pubs und Imbissläden gesäumt … und das sind die Ladengeschäfte, deren Eingang nicht mit von Graffiti strotzenden Metallrollos verrammelt ist. Es gibt hier auch keine eleganten Eingänge, flankiert von hübschen nachgemachten viktorianischen Blumenkübeln mit Lorbeerbäumchen darin. Überteuerte Bistros mit Spezialangeboten für frühe Gäste und Autos mit Allradantrieb sucht man ebenfalls vergeblich. Es besteht kein Zweifel: Ich bin in einer anderen Welt.

Nur ein Beispiel für die rauen Sitten, die hier herrschen. Als ich von der Coolock Lane in die Hauptstraße einbiege und an einer roten Ampel halten muss, drücken zwei höchstens sieben Jahre alte Kinder in Trainingsanzügen die Nasen an der Autoscheibe platt. »Mein Gott, mach schnell! Sie hat einen Satellitennavi! Verfolgt sie!«, rufen sie.

Heilige Mutter Gottes, steh mir bei.

Die erste Adresse lautet Primrose Grove, eine riesige Sozialbausiedlung. Überall laufen Kinder herum, spielen Fußball auf der Straße, schreien mich an und schlagen mit der Faust auf meine Motorhaube, weil mir nichts anderes übrig bleibt, als im Schritttempo zwischen ihnen hindurchzufahren, um ihren Ball nicht zu überrollen. Ich sehe sogar eine hochschwangere Frau, die einen Kinderwagen schiebt und dabei an einer Zigarette zieht.

Das heißt nicht, dass ich mich leicht einschüchtern ließe. Schließlich habe ich mich als Jungreporterin in viel schlimmeren Gegenden herumtreiben müssen, das kann ich Ihnen sagen. Und ich habe es überlebt. Die Sache ist nur, dass mir plötzlich bewusst wird, wie sehr ich auffalle und wie viel Aufmerksamkeit ich in meinem neuen Wagen und meiner Arbeitsuniform, bestehend aus einem schwarzen Kostüm, schwarzen Gucci-Schuhen mit flachem Absatz, schwarzer Brille, schwarzer Bluse und schwarzer Strumpfhose, errege. Eigentlich ist alles an mir schwarz, einschließlich meiner schwarzen Seele, wenn man der Mehrheit meiner Mitarbeiter Glauben schenkt. Aber als ich mich jetzt umsehe, wird mir klar, dass es eine gute Idee gewesen wäre, mich so zu verhalten wie früher auf Recherche. Das heißt, verdeckt zu ermitteln, ein bauchfreies Oberteil und hautenge Jeans anzuziehen und, eine Zigarette in der Hand, einen Kinderwagen zu schieben. Das heißt, falls ich mich wirklich unters Volk hätte mischen wollen.

Ich suche eine Ewigkeit und muss immer wieder wenden, doch endlich finde ich das richtige Haus. Zum Glück steht vor dem Haus ein Taxi, was bedeutet, dass, mit ein wenig Glück, jemand zu Hause ist. Also springe ich aus dem Auto und läute. Und warte. Aus dem Wohnzimmerfenster neben mir dringt das Plärren eines Fernsehers. Irgendeine Verkaufssendung.

Ich läute wieder. Und warte weiter. Und plötzlich frage ich mich, was ich überhaupt sagen soll, falls er zu Hause ist und die Tür aufmacht.

Hallo, Sie kennen mich nicht, aber ich bin die Mutter Ihres Kindes? Äh, so geht das nicht. Hallo, haben Sie vielleicht vor über drei Jahren Sperma gespendet? In diesem Fall habe ich nämlich eine gute Nachricht für Sie …

Habe ich mir das wirklich gut überlegt? Ich werde nervös, und höchst ärgerlicher Angstschweiß rinnt mir den Brustkorb hinunter. Denn ich weiß über diesen Billy O’Casey nur, was ich der Datenbank entnehmen konnte: seine Sozialversicherungsnummer, dass er vier Punkte in der Verkehrssünderkartei hat und er vom Geschworenendienst befreit wurde, weil er einen alten Verwandten pflegen musste.

Und das mir, die ich dafür berüchtigt bin, dass ich immer alles perfekt durchplane. Bis ins letzte Detail. Und jetzt stehe ich vor der Tür eines wildfremden Menschen und fühle mich unwohl in meiner Haut. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich das, was ich ihm sagen will, in Worte fassen soll.

Ich weiß nur, dass das Gespräch, das wir führen werden, ein ziemlicher Schock für ihn sein wird. Gütiger Himmel, wahrscheinlich wird er glauben, dass ich Alimente und Kindesunterhalt von ihm will. Aber da ich nun schon so weit gekommen bin und nichts mehr zu verlieren habe, klopfe ich ein letztes Mal laut an die Tür. Noch immer nichts. Nur die Fernsehsendung, in der gerade eine Vase aus den Fünfzigern für sage und schreibe achtzehn Euro angeboten wird. Ich will gerade umkehren, als sich direkt über mir ein Fenster öffnet.

»Hallo? Was soll der verdammte Krach da unten?«, ruft eine Männerstimme.

Ich blicke auf und sehe einen Mann, der den Kopf aus dem Schlafzimmerfenster streckt. Er ist etwa in meinem Alter und trägt, wie ich feststelle, nicht viel mehr als ein Unterhemd.

»Äh, entschuldigen Sie die Störung«, erwidere ich. »Ich hätte nur eine Frage.«

»Muss das ausgerechnet jetzt sein? Lassen Sie uns doch in Ruhe. Ich komme gerade von der Schicht. Seit zwei Uhr heute Morgen bin ich im Taxi gesessen, Schätzchen …«

Wie mir klar ist, bleibt mir nur noch eine Sekunde, bevor er das Fenster zumacht und sich wieder ins Bett legt. Also werde ich aktiv.

»Ich suche einen Billy oder Bill O’Casey. Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?«

»Sie sprechen gerade mit ihm.«

»Verzeihung, Sie sind Bill O’Casey?«

»Ja. Warum interessiert Sie das?«

»Äh … es ist nichts. Eine Verwechslung … tja, es tut mir schrecklich leid, dass ich Sie belästigt habe. Ich fürchte, man hat mir eine falsche Adresse gegeben. Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung … ich wollte Sie wirklich nicht stören …«, stammle ich, während ich zurückweiche und auf mein Auto zusteuere.

»Heißt das, ich darf jetzt weiterschlafen?«, höhnt er.

»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie vielmals …«

Ich springe ins Auto und lege den Rückwärtsgang ein. Ich bin zwar enttäuscht, aber gebe mich nicht geschlagen. Noch nicht. Da eine SMS von Helen eintrifft, die wissen will, ob ich weitergekommen bin, rufe ich sie an.

»Nun?«, ruft sie, um Lily zu übertönen, die im Hintergrund das Klavier bearbeitet. Sobald sie bemerkt, dass Tante Helen mit mir telefoniert, höre ich, wie sie mit ihrem engelsgleichen Kinderstimmchen sagt: »Hat sie meinen Daddy schon gefunden? Kommt er mich bald besuchen?«

Es ist wie ein Messerstich in die Magengrube. Mir schießt ein unbeschreiblicher Schmerz durchs Herz, und ich frage mich, was wohl in dem armen Kind vorgehen mag.

»Pst, Schätzchen. Lass mich kurz mit Mummy reden.« Helen beruhigt sie und gibt ihr dicke, schmatzende Küsse aufs Köpfchen.

Unter gewöhnlichen Umständen würde ich diese Geräusche auch als Messerstich empfinden. Wie ich zu meiner Schande gestehen muss, aus reiner Eifersucht. Weil jemand anderer, nicht ich, Lily in diesem Moment bemuttert, während ich wie eine Idiotin mitten im tiefsten Darndale in einer Sozialbausiedlung herumkurve und möglicherweise einer falschen Fährte folge.

Aber nicht jetzt. Nicht, wenn ich all das nur Lily zuliebe veranstalte.

Und wer weiß. Vielleicht kann ich diesem Mann ja helfen, ganz gleich, wer er auch sein mag. Ich kann ihn unterstützen, damit er sich wieder fängt. Dann wird er, wenn der Tag, an dem Lily ihn kennenlernt, unweigerlich kommt, ein Mensch sein, auf den sie stolz sein kann. Mit einem Beruf, einem Auto, einem Eigenheim und einer Kranken- und Rentenversicherung. Kein zwielichtiger Typ, der falsche Namen benutzt und seine Schulden nicht bezahlt. Bis jetzt habe ich im Leben anderen nicht viel Gutes getan. Doch es gibt keinen Grund, warum sich daran nichts ändern sollte.

Und da ist noch etwas, das mich wirklich überrascht. Denn so ermüdend, anstrengend und sogar beängstigend die Sucherei auch sein mag, sie erinnert mich an ein anderes Leben, nämlich an meine Zeit als Jungreporterin, in der ich ständig von Tür zu Tür geschickt wurde. Das heißt, lange, lange bevor ich in Rekordgeschwindigkeit in die luftigen Höhen der Chefredaktion aufgestiegen bin.

Für gewöhnlich schauen Journalisten auf Tätigkeiten wie diese herab und strafen sie mit Verachtung. Aber ganz gleich, ob es einem nun passt oder nicht, jeder muss diese Lehrzeit durchlaufen. Man muss sich erst beweisen, bevor man gemütlich an einem Schreibtisch sitzen und dort seine Artikel verfassen darf. Und das Seltsamste daran ist, dass mir gar nicht klar war, wie sehr ich diese Jahre vermisse. Rückblickend betrachtet erscheinen sie mir beinahe sorglos. Das aufregende Gefühl, wenn man einer Story auf den Fersen war und versuchte, die Leute dazu zu überreden, ihren Namen anzugeben. Dann hastete man zurück in die Redaktion, um den Artikel vor Redaktionsschluss dem zuständigen Redakteur vorzulegen. Und schließlich die Begeisterung, ihn gedruckt zu sehen. Dazu den eigenen Namen unter der Zeile »redaktionelle Mitarbeit«.

Natürlich musste ich damals wie alle anderen Anfänger in der Stadt über die endlos langen Arbeitstage jammern und klagen. Doch wenn ich jetzt zurückdenke und diese Zeit mit dem Hamsterrad vergleiche, in das sich mein Leben inzwischen verwandelt hat, sage ich mir: Mein Gott, was war das damals schön. Ich habe es nur nicht geahnt. Das Beste am Erfolg ist manchmal nicht das Ankommen, sondern der Weg dorthin.

»Nein, Schätzchen«, beschwichtigt Helen Lily am Telefon. »Schokopudding gibt es erst, wenn du deine Nudeln aufgegessen hast wie ein braves Mädchen. Eloise, bist du noch dran? Entschuldige.« Ihre Stimme klingt nun deutlicher, als sie wieder an den Apparat kommt. »Also, was tut sich bei dir? Irgendwas gefunden?«

»Keine Chance«, seufze ich. »Vergiss es.«

»Was soll das heißen? Hast du Bill O’Casey nicht aufspüren können?«

»Doch, schon. Aber es war der Falsche.«

»Woher weißt du das? Hast du ihn gefragt? Haben Alter, Größe und Augenfarbe gestimmt?«

»Oh, das Alter hätte gepasst. Aber er ist eindeutig nicht Lilys Vater.«

»Was macht dich so sicher?«

»Das war nicht so schwierig festzustellen. Er ist nämlich schwarz.«

Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Es gibt nur noch eine Spur, der ich folgen kann. Und wenn sie auch in die Irre führt … dann ist Schluss. Ich habe keinen Plan B. Nur eine weitere Adresse in einer Sozialbausiedlung in Darndale, die völlig unpassend alle Blumennamen tragen. Hier herrschen offenbar die schlimmsten Zustände, denn in den anderen Siedlungen standen wenigstens keine ausgebrannten Autos am Straßenrand. Ich muss sogar eine Matratze umrunden, die mitten auf der Straße liegt. Die Häuser sind rings um eine Grünfläche angeordnet, und ich scherze nicht, wenn ich sage, dass es dort aussieht wie auf der ultimativen Müllkippe, von der jeder Umweltsünder träumt. Von Fußball spielenden Kindern fehlt jede Spur. Vermutlich finden sogar sie es zu gefährlich.

Ich gebe Gas, denn ich will meine Mission hinter mich bringen und so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Die Häuser unterscheiden sich nur durch die Graffiti, mit denen die meisten von ihnen besprüht sind. Endlich finde ich das Richtige, halte an, parke, steige entsetzt aus und klopfe, so zartfühlend ich kann, an die Tür.

Botschaft: Vertrau mir. Ich komme weder von einem Inkassounternehmen noch möchte ich deine Möbel pfänden.

Über diesen Bill O’Casey weiß ich am wenigsten. Keine Sozialversicherungsnummer, was merkwürdig ist. Es gibt überhaupt keine Daten über ihn, so als sei er nur eine schemenhafte Gestalt, ein Geist, hinter dem ich herjage. Wer lebt den heutzutage noch ohne Sozialversicherungsnummer?

Ich muss nicht lange warten. Gott sei gelobt und gepriesen, denn ich habe Glück. Die Tür geht auf, und eine uralte Frau steht, gekrümmt von Arthritis, vor mir. Ihre Haut ist dünn wie Pergament, und ihr Haar hat die Farbe von Stahlwolle. Sie wirkt so gebrechlich, dass ich sofort ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich sie an die Tür geholt habe. Am liebsten würde ich sie wieder ins Haus schieben, sie in eine kuschelige warme Decke wickeln, sie vor einer Seifenoper parken und ihr einen Kaffee machen.

»Wollen Sie den Stromzähler ablesen?«, fragt sie mit leiser Stimme.

»Nein, entschuldigen Sie die Störung …«

»Essen auf Rädern?«

»Ich fürchte, nicht. Ich suche einen gewissen Billy O’Casey. Man hat mir gesagt, dass er hier wohnt. Sie wissen nicht vielleicht zufällig, wo ich ihn finde?«

»Können Sie lauter sprechen?«

»Verzeihung … wissen Sie zufällig, wo ich Bill O’Casey finde?«

»Wen, sagten Sie?«

»Bill O’Casey.«

Eine Pause entsteht, während sie überlegt. Ihre hellgrauen Augen mustern mich für den Bruchteil einer Sekunde. Offenbar fragt sie sich, ob man mir trauen kann.

Und kommt zu dem Schluss, dass das nicht der Fall ist. Langsam schüttelt sie den Kopf.

»Nein, nein, tut mir leid, meine Liebe. Sie haben sich sicher in der Adresse geirrt.«

Als sie die Tür schließen will, halte ich sie zurück.

»Bitte, ich muss dringend mit ihm sprechen. Ich schwöre, dass er nicht in Schwierigkeiten steckt. Ich möchte ihm nur ein paar Fragen …«

»Hier gibt es keinen Bill O’Casey, meine Liebe, und es gab auch nie einen …«

»Haben Sie vielleicht eine Nachsendeadresse oder, noch besser, eine Telefonnummer?«

»Ich muss jetzt wieder reingehen.«

Die Tür fällt ins Schloss. Gespräch zu Ende.

Allmählich habe ich genug.

Da den restlichen Tag die Hölle los sein wird, muss ich die Suche nun abbrechen und in die Redaktion zurückkehren. Doch während der Sitzungen, die sich den ganzen Nachmittag und bis in die Nacht hinein hinziehen, geht mir immer wieder derselbe Gedanke im Kopf herum wie auf Endlosschleife.

Die alte Dame wusste eindeutig etwas und hat jemanden gedeckt. Aber warum?

Eines steht fest, sage ich mir, während ich am Schreibtisch sitze und die Rohfassung des morgigen Leitartikels heruntertippe. Im Moment habe ich nichts in der Hand. Kein Fitzelchen Informationen mehr. Fehlanzeige. Als Helen anruft und sich nach Neuigkeiten erkundigt, berichte ich ihr alles.

»Das war es also?«, fragt sie enttäuscht. »Anscheinend stecken wir fest.«

»Machst du Witze?«, entgegne ich mit Nachdruck. »Lass mich dir etwas erklären, Helen. Einer Fährte zu folgen ist stets ein von Katastrophen wimmelnder Albtraum. Ständig werden einem Türen vor der Nase zugeknallt, und man landet immer wieder in Sackgassen. Weißt du, was einen guten Reporter von der Masse abhebt?«

»Nein, was?«, erwidert sie automatisch.

»Er bohrt immer weiter, lässt sich nicht mit einem Nein abspeisen, und vor allem … fährt er schweres Geschütz auf.«

Inzwischen bin ich zu tief in die Sache verstrickt, um das Handtuch zu werfen. Sie können mich für eine Zwangsneurotikerin halten (und, glauben Sie mir, damit wären Sie nicht allein), doch ich werde Lilys Dad finden, und wenn es die letzte Tat meines Lebens ist. Ich werde ihm helfen. Gut, er mag nicht der nette Mensch sein, den ich mir in ihrer Nähe wünsche, aber Helen hat recht. Eines Tages wird der Moment kommen, an dem Lily es wissen wollen wird. Und ich wünsche mir mehr als alles andere, dass sie stolz auf ihn ist, wenn sie ihm begegnet. Und dass das auch so bleibt. Meinetwegen, der Typ hat eine zwielichtige Vergangenheit, doch ich werde ihn von seinen Lastern befreien, sobald ich ihn in die Finger gekriegt habe. Ich mache ihn zu einem anständigen Menschen, und wenn es mich umbringt.

In den kommenden Jahren wird er mir dankbar sein, weil ich ihm zu einem normalen, gesellschaftskonformen Leben verholfen habe. Eben zu einem, in dem er nicht ständig Namen, Adresse und Arbeitsplatz wechseln muss. Wer und wo du auch immer sein magst, schicke ich eine lautlose Botschaft hinaus ins Universum, du ahnst ja nicht, dass diese Phase deines Lebens nun vorbei ist. Es ist Zeit für den zweiten Akt, Baby. Und diesmal, mein Junge, bestimme ich, wo es langgeht.

Zufällig habe ich noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Es ist zwar an den Haaren herbeigezogen, könnte aber klappen. Wenn ich als Jungredakteurin mit einem Artikel kämpfte, hatte ich immer einen Plan B. Und der hieß Jimmy Kelly, ein Beschaffer von Informationen, der freiberuflich für verschiedene Zeitungen arbeitete. Seit er sich mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt hat, taucht sein Name immer wieder als »unter Mitarbeit von« bei Enthüllungsberichten im Fernsehen und Skandalsendungen auf.

Ich kenne Jimmy schon lange. Ja, jeder kennt ihn. Er ist ein faltiger alter Reporter aus der Marlboro rauchenden und am Schreibtisch Wodka trinkenden Generation, der sich seine Sporen als verdeckter Ermittler in den Kreisen des organisierten Verbrechens verdient hat. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, mehr als einen Gangsterboss unschädlich zu machen. Gerüchten zufolge hat der Chef eines wichtigen Verbrechersyndikats, der im Drogenhandel Millionen verdient hat und deshalb derzeit eine Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis verbüßt, einen Preis auf Jims Kopf ausgesetzt. Und zwar einen so besorgniserregend hohen, dass die Polizei Jimmy angeboten hat, ihn in ein Zeugenschutzprogramm aufzunehmen.

Doch unerschrocken, wie er nun einmal ist, hat er ihnen gesagt, wohin sie sich ihren Vorschlag schieben können, und arbeitet trotzdem weiter.

Sobald ich eine freie Minute habe, rufe ich ihn an und schildere ihm die Situation.

Ein langer Anfall von Raucherhusten. Dann meldet er sich keuchend wieder.

»Ich kann dir nichts versprechen«, antwortet er mit rauer, kehliger Stimme. »Aber ich tue, was ich kann.«

Dankbar gebe ich ihm die wenigen Informationen, die ich besitze. Ich höre, wie sein Stift kratzend über den Notizblock fährt, als er sich alles aufschreibt. Jimmy ist der Beste in seinem Metier. Wenn er den Kerl nicht findet, schafft es keiner.

»Da wäre noch etwas«, brummt er, bevor er auflegt.

»Ja?«

Kein weiteres Wort ist nötig, denn ich weiß, was jetzt kommen wird, und mache mich auf das Schlimmste gefasst.

»Warum? Wer ist dieser Typ? Was bedeutet er dir?«

Ich seufze auf und bemühe mich um einen lockeren Tonfall.

»Jim, sagen wir einfach, dass es persönlich ist?«

Die nächste Woche vergeht wie immer in einem Wirbel aus Sitzungen, Redaktionsschlüssen und Konferenzen, sodass ich kaum Zeit habe, an die Sache zu denken. Sie kommt mir nur wieder zu Bewusstsein, wenn ich tagsüber Lily anrufe, um ein bisschen mit ihr zu plaudern. »Mama, Mama!«, ruft sie dann in aller Unschuld. »Es ist so toll mit Tante Helen. Ich will nie wieder ein anderes Kindermädchen! Sie soll für immer bei uns wohnen!«

»Das wäre wundervoll, aber du weißt doch, dass Tante Helen bald wieder zurück nach Cork muss. Mama wird ein anderes Kindermädchen für dich suchen …«

»Nein!!! Kein anderes Kindermädchen! Ich will nur Tante Helen. Für immer!«

Ich seufze tief auf und lege das Problem in Gedanken unter »zur späteren Wiedervorlage« ab.

»Und soll ich dir noch was sagen, Mama?«

»Ja, Schatz, was ist?«

»Ich weiß jetzt, was ich anziehe, wenn ich mich mit Daddy treffe. Und ich habe heute ein neues Lied auf dem Klavier gelernt, das ich ihm vorspielen kann. Und ich habe ein Bild von uns beiden zusammen gemalt!«

»Nun, weißt du, Schatz«, antworte ich so beschwichtigend wie möglich, »wir tun unser Bestes, um ihn zu finden. Aber vielleicht wohnt er ja gar nicht mehr hier, sondern ist ins Ausland gezogen«, versuche ich verzweifelt, sie vor der Enttäuschung zu schützen. Doch sie ist ja noch nicht einmal drei und kennt die Bedeutung des Wortes Enttäuschung noch nicht.

»Du findest ihn schon, Mummy«, verkündet sie stolz. »Du kannst alles! Du bist wie Superwoman, nur besser!«

Donnerstagnachmittag, und noch immer keine Nachricht von Jim. Kein Zwischenbericht, nichts. Als ich ihm eine SMS schicke, erhalte ich eine knappe Antwort: »Lass mich in Ruhe meine Arbeit machen!«

Recht hat er. Also kneife ich brav den Schwanz ein und gehorche.

Das Wochenende kommt und geht. Noch immer nichts. Dann, ich habe die Hoffnung schon aufgegeben und frage mich, wie ich es Lily beibringen soll, ruft Jimmy mich am Montagabend aus heiterem Himmel an.

»Wo bist du?«, erkundigt er sich barsch.

»In der Redaktion.« Wo sonst?

»Kannst du dich für eine halbe Stunde loseisen? Ich muss persönlich mit dir reden.«

Ich schaue auf die Uhr. Ich rufe den heutigen Plan auf dem Computer auf, aber ich bin total ausgebucht. Ich setze schon zu der Frage an, ob ich mir einen Termin freiboxen und ihn später zurückrufen kann, doch er will nichts davon wissen.

»Ich bin in zehn Minuten in der Tiefgarage an der Abbey Street. Du solltest da sein.«

Herrgott, wenn mich jemand sieht. Irgendwie gelingt es mir, mich aus dem Büro zu schleichen und der armen verdatterten Rachel mitzuteilen, sie solle ausrichten, dass ich gleich zurück bin, falls mich jemand suchen sollte. Ihre ungläubige Miene, als sie diese noch nie da gewesenen Worte hört, spricht Bände. Es ist, als hätte ich gerade verkündet, ich hätte das Handtuch geworfen und würde von nun an die Obdachlosenzeitung an der Ecke der Tara Street verkaufen.

Durchgeschwitzt, mit rasendem Puls und einem Herzen, das so heftig klopft, dass das Rauschen des Blutes in meinen Ohren fast alle anderen Geräusche übertönt, steige ich ins Auto und schlängle mich durch den dichten Feierabendverkehr bis zur Tiefgarage in der Abbey Street.

Ganz bestimmt hat er Neuigkeiten für mich. Das muss einfach so sein …

Unterwegs läutet die ganze Zeit mein Mobiltelefon, doch ich achte nicht darauf, sondern fahre einfach weiter und konzentriere mich auf die Straße.

Mit trockenem Mund und bebender Brust komme ich endlich an. Zum Glück ist an der Einfahrt keine Schlange. Ich rolle mit dem Wagen die Rampe hinunter, ziehe eine Karte und fahre dann langsam im Kreis herum. Im nächsten Moment bleibt mir fast das Herz stehen, denn die Beifahrertür wird aufgerissen, und Jimmy springt ins Auto.

»Park da drüben und stell den Motor ab«, befiehlt er, was ich brav befolge. Allerdings gibt es nicht viele Leute, die es wagen, Jimmy zu widersprechen.

Dann kramt er in seiner Jackentasche, fördert ein abgegriffenes Notizbuch zutage, klappt es auf und fängt mit seinem Bericht an.

»Nur aus reiner Neugier, Eloise«, beginnt er, »wie bist du nur an diesen Scheißkerl geraten? Ich meine, schau dich doch an. Und die Art, wie du lebst. Ich kapiere nicht, was du von diesem Burschen willst. Was kann so ein Wichser nur mit dir zu tun haben?«

Ich sehe ihn flehentlich an.

»Ist es in Ordnung, wenn ich dich bitte, nicht weiterzufragen und es dabei zu belassen?«

Als er den Kopf schüttelt, fliegen seine Schuppen in alle Richtungen. Er greift wieder zum Notizbuch.

»Gut, also erstens ändert der Idiot ständig seinen Namen. Ich habe ihn von Darndale, wo er sich Bill oder Billy O’Casey nannte, zur DCU verfolgt …«

»DCU?«, unterbreche ich ihn. Das ist die Dublin City University. Was zieht diesen Typen nur immer zu Universitäten?

Plötzlich habe ich wider aller Vernunft Hoffnung. Ich wusste es. Mir war gleich klar, dass wir es mit einem ungeschliffenen Diamanten zu tun haben, mit jemandem, den es nach Wissen dürstet und der es in der Welt zu etwas bringen will …

»… wo er wieder seinen Namen geändert hat. Diesmal nannte er sich James Archer.«

»Tatsächlich?«

»Er hat sich für ein Seminar in kreativem Schreiben angemeldet, aber nach nur drei Wochen abgebrochen …«

»Abgebrochen? Warum?«

»Herrgott, lass mich doch endlich ausreden. Das war vor etwa zwei Jahren. Nach einer Weile ist er wieder aufgetaucht. Er hat in einer Statoil-Werkstatt in der Long Mile Road gearbeitet und mit zwei anderen Typen zusammengewohnt, die, sagen wir mal, polizeibekannt sind.«

Gut, »polizeibekannt« ist nicht unbedingt ein Wort, das man hören möchte, wenn man dabei ist, den Vater seines Kindes aufzuspüren.

»Ab diesem Punkt wurde die Suche wirklich interessant. Ich habe mich ein bisschen umgehört, Fragen gestellt und mit einigen meiner Kontaktleute gesprochen. Wie sich herausgestellt hat, hat er sich mit wirklich finsteren Gestalten eingelassen.«

»Wie … wie schlimm ist es?« Meine Stimme klingt so dünn, als käme sie aus dem Nebenzimmer.

»Sie haben alle ein ellenlanges Vorstrafenregister und waren immer wieder im Erziehungsheim, seit sie aus den Windeln sind. Nichts Schwerwiegendes, keine langen Aufenthalte. Allerdings hat die Bande, mit der dein Typ sich rumtreibt, bereits Haftstrafen wegen Einbruchs, Ladendiebstahls, Autodiebstahls und so weiter hinter sich. Also habe ich weitergesucht …«

»… und?« Inzwischen kauere ich auf der Kante des Sitzes und fürchte mich vor dem, was jetzt kommen wird.

»Und er hat wieder seinen Namen geändert, was meinen Job nicht gerade leichter macht. Er nennt sich jetzt Oscar Butler …«

»Oscar Butler?«, wiederhole ich unwillkürlich. Das klingt so erfunden, wie Lily es ausdrücken würde.

»Richtig.« Jimmy nickt zustimmend. »Wenn man sich anschaut, wo er verkehrt und mit welchen Leuten er sich umgibt, wundert es mich, dass sie ihm wegen dieses überkandidelten Namens nicht schon die Fresse poliert haben. Jedenfalls hat er nach nur wenigen Monaten bei der Autowerkstatt aufgehört. Wie ich hinzufügen muss, schuldet er vielen Arbeitskollegen Geld. Und dann wird es still um ihn. Ich habe volle zwei Tage gebraucht, um dem Dreckskerl wieder auf die Spur zu kommen. Doch ich habe erfahren, dass ein Kumpel von deinem Typen in einen Bankraub verwickelt war. Und dein Typ hat das Fluchtfahrzeug gelenkt. Nur, dass er da mittlerweile schon wieder anders hieß.«

»Ach herrje«, murmle ich und lasse den Kopf aufs Lenkrad sinken.

»Also habe ich mich an einen Kontaktmann von mir gewendet, der bei der Polizei ist. Und plötzlich – Volltreffer. Es kam etwas in Bewegung. Deshalb habe ich noch ein bisschen herumgefragt, und vor etwa einer Stunde hatte ich ein Ergebnis.«

Wortlos und voller Angst sehe ich ihn an.

»Erstens heißt er mit richtigem Namen Jake Keane.«

»Und weißt du, wo er ist?«

»Oh ja, das war das Einfachste. Zufällig kann ich dir genau sagen, wo er sich in dieser Minute aufhält.«

Oh Gott, ich glaube, ich muss gleich in eine Papiertüte atmen.

»Krieg keinen Schock, okay?«

»Sag es mir«, erwidere ich mit heiserer Stimme. »Ich muss es wissen.«

Jimmy betrachtet mich mit gütiger, ja, fast väterlicher Miene.

»Hör mir zuerst einmal zu. Ganz gleich, was da läuft, Eloise, nimm meinen Rat an und lass sofort die Finger davon. Vertrau mir, er ist es nicht wert, und wenn du die Sache weiter vorantreibst, handelst du dir nichts als Schwierigkeiten ein.«

»Bitte … bitte erzähl es mir.«

»Jake Keane ist im Gefängnis. Er hat seine zweijährige Haftstrafe fast hinter sich. Und ich denke, er sitzt nicht deshalb, weil er seine Rundfunkgebühren nicht bezahlt hat, das kann ich dir versichern.«

Als ich mich bei ihm bedanken will, bringe ich aus irgendeinem Grund keinen Ton heraus.