Kapitel elf

Anders als früher findet das Firmenwochenende nicht mehr in einem Schwellenangst erzeugenden Fünf-Sterne-Hotel, sondern in einem bescheideneren Etablissement statt, da die Post mittlerweile nicht mehr so mit dem Geld um sich wirft. Also ist der Schauplatz des diesjährigen Klemmigkeitsfestivals die Davenport Hall, einst eine verfallene Villa in Privatbesitz, doch inzwischen renoviert und zu einer geldbeutelschonenden Drei-Sterne-Herberge umgebaut. Am wichtigsten ist, dass es hier einen riesigen Golfplatz gibt, denn so haben die Tyrannosaurier Gelegenheit, das zu tun, weshalb sie eigentlich hier sind – nämlich auf den Fairways herumzulungern, zu fachsimpeln und auszubaldowern, wer als Nächstes seinen Hut nehmen muss. Obwohl mich die Vorstellung, zwei ganze Tage von Lily getrennt zu sein, fast umbringt, kann ich nur daran denken, dass sie danach ja vielleicht einen Dad haben wird, der darauf brennt, sie kennenzulernen. Falls die Götter mir gewogen sind.

Das Hotel ist eine Autostunde von Dublin entfernt, und ich muss zugeben, dass ich mich unterwegs wirklich über Jakes Gesellschaft freue. Was der morgige Tag auch bringen mag, ich werde den heutigen einfach genießen.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie wundervoll es ist, gemeinsam mit einem anderen Menschen anzukommen, auch wenn derjenige nicht der eigene Partner ist. Für eine chronische Eigenbrötlerin wie mich ist das eine ganz neue Erfahrung. Und das Schönste ist, sich mit einem wirklichen Freund an der Seite auf den Weg zu dem grässlichen Getümmel zu machen, das sich »geselliges Beisammensein« nennt. Gut, ich wäre zwar nicht auf die Idee gekommen, ihn einzuladen, doch nun freue ich mich schrecklich darüber, dass er hier ist.

Wie ich zugeben muss, ist es nach all den Jahren, in denen ich mich mutterseelenallein unter die Leute gemischt habe, eine unbeschreibliche Wohltat, einen Freund bei mir zu haben, der mich unterstützt. Er bleibt an meiner Seite, umsorgt mich und achtet darauf, dass ich stets etwas zu trinken habe, und wenn wir getrennt werden, schaut er immer wieder in meine Richtung und zwinkert mir verstohlen zu, wie um zu sagen: »Du machst das prima.«

Es ist bestimmt wundervoll, eine richtige Beziehung mit jemandem zu führen, der so einfühlsam ist und einen unterstützt, denke ich.

Nicht, dass ich das aus Erfahrung wüsste. Nur so eine Vermutung.

Und eins muss ich Jake lassen. Ihn kann nichts aus der Ruhe bringen. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt, als man uns ein Doppelzimmer zugeteilt hat. Auf meine Bitte nach einem zweiten teilte man mir mit, das Hotel sei völlig überbucht, weshalb uns nichts anderes übrig bliebe. Das Bett entpuppte sich als Doppelbett, aber Jake lachte nur über mein peinlich berührtes Schweigen und erbot sich, ganz Gentleman, auf dem Sofa zu schlafen.

Außerdem sieht Jake einfach umwerfend aus. Beim geselligen Zusammensein im Aufenthaltsraum des Hotels trägt er Chinos und ein gebügeltes blaues Hemd. Immer wieder schaue ich unwillkürlich zu ihm hinüber und bewundere ihn, wenn ich glaube, dass er es nicht bemerkt. Er ist einfach unverschämt attraktiv. Allerdings scheint er meine Blicke zu spüren, denn er erwidert sie sofort, lächelt, zwinkert und flüstert mir zu, dass alles gut ist.

Und für den Moment hat er sogar recht. Zumindest heute ist wirklich alles gut.

Nicht zu glauben, wie er fröhlich mit allen plaudert, sich unters Volk mischt, fremden Leuten die Hand schüttelt und wissend nickt, wenn sie sich vorstellen. Ich kann buchstäblich sehen, wie in seinen Augen Erkennen aufleuchtet und er den Namen mit den Hintergrundinformationen verknüpft, die ich ihm über jeden der Anwesenden gegeben habe.

So, als hätte er schon immer in diesen Kreisen verkehrt.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass er ein millionenschwerer Geschäftsmann ist, der die Rezession auf wundersame Weise überstanden hat. Er könnte auch ein wohlhabender und erfolgreicher Hedgefonds-Manager sein, der sich ein wohlverdientes erholsames Wochenende gönnt. Nie und nimmer würde man auch nur im Entferntesten vermuten, dass dieser Mann erst vor wenigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde und nur auf Bewährung auf freiem Fuß ist.

Ich habe den Überblick verloren, wie viele Leute mich inzwischen darauf angesprochen haben, wie sympathisch sie meinen neuen Partner finden. Meine Einwände (»Tja, wir sind eigentlich nur gut befreundet …«) werden abgetan. Die Gerüchteküche brodelt auf Hochtouren. Die Ergebnisse erreichen mich wie eigentlich immer mit der üblichen Verzögerung von etwa dreißig Minuten.

Sie sind ja so ein hübsches Paar … Und sein Einfluss auf Eloise Elliot ist wirklich erstaunlich … seit einiger Zeit ist sie wie ausgewechselt … so viel lockerer … gar nicht mehr die Sklaventreiberin von früher … und schau sie dir nur an! Sie trägt doch tatsächlich Jeans, anstatt wie sonst in einem ihrer immer gleichen einschüchternden Businesskostümen herumzulaufen … schade, dass sie diesen Jake nicht schon vor ein paar Jahren kennengelernt hat … uns wäre einiges erspart geblieben, das kann ich dir sagen …

Und da ist noch etwas, warum ich heute Nachmittag so gute Laune habe. Ich war noch nie im Leben beliebt, aber das hat sich jetzt schlagartig geändert. Es fängt mit Adele Turner an, Robbies Frau, die sich mir gegenüber normalerweise herablassend und kühl verhält. Nun kommt sie tatsächlich auf mich zu und umarmt mich! Sie drückt mich so fest, dass mir fast die Luft wegbleibt, und ich weiß, dass es von Herzen ist. Dann bedankt sie sich wortreich dafür, dass ich Robbie freigegeben habe, damit er bei der Firmung ihrer Tochter dabei sein konnte. Es habe ihnen den Tag gerettet, und sie sei mir so dankbar. Danach fragt sie mich, ob ich Robbie wirklich persönlich vertreten hätte, was ich abtue und mich stattdessen erkundige, wie die Firmung selbst so gelaufen sei.

Die Nächste ist Jenny Wilson aus der Buchhaltung – auch keine Anhängerin von mir, seit ich im Zuge der letzten Kündigungswelle ihre Stelle auf drei Tage zusammenstreichen musste. Sie lächelt, ist sehr gesprächig und sagt, sie habe gehört, was ich für die arme Rachel getan hätte, die außerdem ihre beste Freundin sei. Sie habe sie vor Kurzem zu Hause besucht, und es gehe ihr schon viel besser.

»Das war wirklich rücksichtsvoll von dir, Eloise«, verkündet sie mit aufrichtigem Blick. »Du hättest das nicht tun müssen. Die meisten Vorgesetzten wären nicht so einfühlsam gewesen. Rachel war sehr gerührt, das kann ich dir sagen. Und wir anderen auch, als es sich herumgesprochen hat.« Natürlich winke ich bescheiden ab.

Doch ich muss zugeben, dass es mir runtergeht wie Öl.

Bei grauenhaft langweiligen Veranstaltungen wie diesen werde ich normalerweise von einem der Tyrannosaurier in die Ecke gedrängt und bis zum Erbrechen mit seinem Golfhandicap zugetextet. Ansonsten stehe ich, einen Drink in der Hand, allein am Rand, ohne mit jemandem zu reden, sehe zu, wie die anderen Spaß haben, und spüre, wie blanker Hass mir entgegenschlägt. Oh, und ich schaue alle paar Minuten auf mein iPhone, damit es nicht den Eindruck macht, als würde es mich stören, dass sich niemand mit mir abgibt.

Und jetzt ist alles anders. Zum ersten Mal im Leben finde ich mich mitten in einer großen Gruppe von Kollegen wieder, die sich alle angeregt mit mir unterhalten, mich in ihre Anspielungen einschließen und mir das Gefühl vermitteln, dass ich wirklich dazugehöre. Und ich genieße es. Es ist ein wundervolles Gefühl, und zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass mir bis jetzt gar nicht klar war, was für tolle Kollegen ich habe.

Und das Beste ist, dass ich aus den Augenwinkeln einen Blick auf Jake erhasche, der gerade mit Shania, der Frau von Sir Gavin Hume, in ein Gespräch vertieft ist. Ich hatte ihm im Vorfeld schon eingebläut, dass sie darauf besteht, mit Lady Hume angesprochen zu werden. Hin und wieder schaut er zu mir hinüber, um sich zu vergewissern, dass es mir gut geht. Ich finde, dass es gar nicht mehr besser werden kann.

Und wie sich herausstellt, behalte ich recht.

Der Totalabsturz steht nämlich unmittelbar bevor.

Den ganzen Nachmittag lang sonne ich mich in meiner so völlig neuen Beliebtheit, bis wir alle, fröhlich und ein wenig beschwipst, die gewaltige Steintreppe hinauf in unsere Zimmer gehen, um uns zum Essen umzuziehen. Ich hatte zwar nur etwa zweieinhalb Gläser Champagner, habe aber kaum etwas gegessen, da ich so mit Reden und Lachen beschäftigt war. Die Folge ist, dass ich nun leicht betrunken und aufgekratzt bin und mein Glück kaum fassen kann, weil alles bis jetzt so unglaublich gut gelaufen ist.

Wie immer der perfekte Gentleman, gibt Jake mir im Bad den Vortritt. Ich ziehe mich um und klatsche mir großzügig Make-up ins Gesicht, während wir uns durch den Türspalt unterhalten.

»Du scheinst ja in deinem Element zu sein«, verkünde ich stolz, schäle mich dabei aus der hautengen Jeans und meinem Oberteil und schlüpfe in ein langes, mit silbernen Pailletten besticktes Cocktailkleid. Dabei halte ich mich mit einer Hand am Handtuchhalter fest, so beschwipst bin ich. Nachdem ich die hauchdünnen Träger hochgeschoben habe, ziehe ich den Reißverschluss so weit zu, wie ich es allein schaffe, und trete dann zurück, um mich im bodenlangen Spiegel zu betrachten, der praktischerweise neben der Badewanne hängt.

Gar nicht schlecht, sage ich mir, während ich um die eigene Achse wirble, um mich von allen Seiten zu begutachten. Das Kleid umschmeichelt erotisch meine Figur, schimmert selbst in der schauderhaften Neonbeleuchtung und verwandelt mich auf eine Art, die dafür sorgt, dass ich mich wunderschön fühle.

Außerdem stelle ich fest, dass meine dunklen Augenringe ein wenig verblasst sind, weil ich in letzter Zeit so oft mit Lily draußen bin. Auch meine Wangen sind rosig wie nie zuvor, was ich wahrscheinlich der Tatsache zu verdanken habe, dass Jake ein Talent darin hat, mich zum Essen zu zwingen. Da ist eindeutig ein Strahlen, das bis jetzt gefehlt hat und das ich nur auf einen Faktor zurückführen kann … ich bin nicht mehr allein.

»Was ist denn mit dieser Shania, Lady Leckmich, los?«, fragt Jake durch die Badezimmertür. »Jemandem wie ihr bin ich, glaube ich, noch nie begegnet.«

»Was meinst du damit?«, rufe ich zurück und versuche, das Gesicht praktisch an den Spiegel über dem Waschbecken gepresst, mich zu schminken. Das ist schwieriger, als es sich anhört, wenn man es nur sehr selten tut.

»Nun, es ist echt komisch. Sie redet zwar mit einem und scheint Interesse an einem einigermaßen normalen Gespräch zu haben, tippt aber die ganze Zeit auf ihrem Telefon herum und twittert pausenlos.«

Ich verdrehe die Augen.

»Stimmt. Ich habe das schon tausendmal erlebt. Sie muss jede Sekunde ihres Lebens dokumentieren. Ich nenne das das ZVI-Syndrom.«

»Und das bedeutet?«

»Zu viele Informationen. Menschen, die twittern müssen, was es bei ihnen zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen gab. Das ist sicher eine ziemlich langweilige Lektüre.«

»Eine richtige Blenderin, oder?«

Schmunzelnd sammle ich feuchte Handtücher ein und hänge sie zum Trocknen auf.

»Und was ist mit deinem Kulturredakteur, diesem Marc?«, spricht Jake weiter. »Der ist doch schwul, oder?«

»Ende des Monats heiratet er«, antworte ich. »Eine eingetragene Partnerschaft mit einem Typen, der in der Anzeigenabteilung der Post arbeitet. Und was noch interessanter ist, er hat es mir heute Nachmittag nicht nur erzählt, sondern mich sogar zur Hochzeit eingeladen. Ist das zu fassen?«

»Warum sollte er das nicht tun?«

»Nun, ich kenne ihn jetzt schon seit so vielen Jahren und bin automatisch davon ausgegangen, dass er mich nicht mag. Er und ich liegen uns doch nur ständig in den Haaren.«

»Warum sollte er dich nicht mögen? Herrje, du hättest dich heute Nachmittag sehen sollen. Die Leute sind dir auf Schritt und Tritt gefolgt. Und offenbar wollten sie sich nicht nur bei dir einschleimen, weil du ihre Chefin bist. Sie schienen richtig Spaß mit dir zu haben.«

»Findest du wirklich?«

Das heißt, ich hatte eigentlich auch diesen Eindruck, aber es ist spitze, von einem unbeteiligten Beobachter eine Zweitmeinung einholen zu können.

»Soll das ein Witz sein? Alle waren begeistert von dir und haben dich umschwärmt wie Wespen ein Marmeladenglas. Jeder wollte mit dir reden, ich auch. Nur dass es unmöglich war, diese Frau abzuschütteln. Ach, du meine Güte, die ist wirklich die Härte. Ich meine Shania, Lady Leckmich.«

»Oh Jake«, erwidere ich schuldbewusst. »Es tut mir ja so leid, dass ich dich nicht gerettet habe … ich war nur einfach so damit beschäftigt, mit anderen Leuten zu reden … immer wenn ich zu dir wollte, hat mich wieder jemand abgefangen.«

»Kein Problem«, meint er nachsichtig. »Es war toll mitzuerleben, wie du dich amüsierst.«

»Vielen Dank. Hoffentlich hast du dich nicht zu Tode gelangweilt.«

»Überhaupt nicht. Ich sage es zwar nur ungern, Eloise«, fährt er im Plauderton fort, »doch die Sache war viel interessanter, als ich nach deiner Schilderung angenommen habe. Mir hat nämlich furchtbar davor gegraut. Aber ich muss zugeben … ich habe dich, seit ich dich kenne, noch nie so lebendig gesehen wie gerade eben. Das hat mich wirklich gefreut.«

Tief gerührt halte ich inne. Was für ein Schatz, denke ich und weiche vom Spiegel zurück, wo ich versucht habe, einen geraden Lidstrich zu ziehen. Nicht viele Männer würden die Geduld aufbringen, sich so etwas anzutun. Zumindest meiner Erfahrung nach.

Kurz schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Soll ich es ihm jetzt sagen? Betrunken genug bin ich ja, und der Zeitpunkt scheint der richtige zu sein … doch ich verwerfe die Idee. Nicht vor dem großen Abendessen heute. Halt dich an deinen Plan, Eloise. Morgen. Nach dem Frühstück. Draußen im Garten, wo uns niemand stört. Hab Geduld. Ein Geständnis, das vielleicht sein Leben verändern wird, ist es wert, dass man den richtigen Augenblick dafür wählt, oder? Außerdem habe ich schon so lange gewartet, und es ist im Moment so schön …

Als ich in meinem silbernen Kleid aus dem Bad komme, ernte ich einen langen Pfiff von Jake, den ich errötend abtue. Inzwischen liegt er, an einen Kissenberg gelehnt, auf dem Bett, hat die Schuhe ausgezogen und das Hemd aufgeknöpft.

Und sieht unverschämt sexy aus, wie ich plötzlich denke.

Herrje, wie komme ich denn darauf?

Ich nehme mir fest vor, für den restlichen Abend dem Alkohol zu entsagen. Ab jetzt gibt es nur noch Wasser.

Offenbar bin ich um einiges betrunkener, als ich geglaubt habe.

»Du siehst wundervoll aus«, meint er leise und mustert mich von Kopf bis Fuß. So bin ich schon seit Jahren nicht mehr angeschaut worden. Oder sogar seit Jahrzehnten.

»Jetzt mach mal halblang«, kichere ich und laufe feuerrot an. »Das bin nicht ich, sondern nur das Kleid. Außerdem bist du mich ja nur im schwarzen Witwengewand gewohnt.«

»Du siehst trotzdem wundervoll aus«, wiederholt er langsam, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und betrachtet mich so voller Bewunderung, dass es mich allmählich ein wenig aus dem Konzept bringt.

»Eins muss ich dir lassen«, fährt Jake träge fort. »Bis jetzt war mir gar nicht klar, dass du unter deinen immer gleichen schwarzen Businesskostümen so einen tollen Körper versteckst.«

»Jake?!«

»Schau dich doch nur an. Du hast wirklich eine phantastische Figur. Nur, dass es dir nie jemand sagt. Ich fand schon immer, dass du zu wenig Komplimente bekommst und ständig nur mit irgendwelchem Mist belästigt wirst. Also glaub mir, heute Abend bist du ein wahr gewordener Männertraum. Schade, dass du die Einzige bist, die es nicht bemerkt. Und für mich bist du die anziehendste, hinreißendste und schönste Frau hier.«

Nach unserem scherzhaften Geplänkel entsteht plötzlich verlegenes Schweigen. Wir betrachten einander und ahnen, dass unsere Freundschaft kurz davor ist, eine wichtige Grenze zu überschreiten.

Aber wohin wird das führen?

Es ist mucksmäuschenstill. Unser fröhliches Geplauder ist verstummt. Die Luft im Raum scheint sich nicht mehr zu bewegen.

»Dein Kleid ist offen«, murmelt er schließlich und deutet auf den Reißverschluss.

»Oh Mist, ja, ich komme da nicht hin«, erwidere ich und starre ihn verdattert an.

»Darf ich?«

»Oh, äh … danke.«

Ich gehe zum Bett, setze mich vorsichtig auf die Kante, kehre ihm den Rücken zu und halte mein Haar hoch. Im nächsten Moment spüre ich, wie er mit seinen warmen Händen den Reißverschluss zuzieht. Ich bekomme am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Um Himmels willen, schießt es mir durch den Kopf. Wünsche ich es mir wirklich so sehr, von einem anderen Menschen berührt zu werden? Und schon so lange?

Seine Hände liegen auf meinem Nacken und fangen dann an, langsam mit einer meiner Haarsträhnen zu spielen. Vor Sehnsucht krampft es mir den Magen zusammen … ganz gleich, was auch passiert, ich will nicht, dass er aufhört …

Gut, inzwischen fühle ich mich schwindelig, als ich mich unwillkürlich zu ihm umdrehe. Er umfasst mein Gesicht und liebkost es langsam mit seinen Fingern.

»Ist das in Ordnung?«, flüstert er so leise, dass ich ihn kaum höre.

Meine Vernunft rät mir, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten, aufzustehen, solange ich noch kann, eine schlagfertige Bemerkung zu machen und mich wieder nach unten zu den anderen zu gesellen. Denn ich bin gerne mit Jake befreundet. Eine Freundschaft ist doch eine viel sicherere und dauerhaftere Angelegenheit, oder? Ganz zu schweigen von der Bombe, die ich morgen platzen lassen werde … warum also riskiere ich das alles, indem ich mich ihm zuwende, leise aufseufze und mir nichts sehnlicher wünsche, als in seinen Armen zu liegen und seine Lippen auf meinen zu spüren … sicher hört er, wie mein Herz klopft, das muss er einfach …

Ich brauche nicht lange zu warten. Eine Sekunde später hat er mich neben sich aufs Bett gezogen und drückt mich an sich. Er raunt mir etwas ins Ohr und schlingt die kräftigen Arme um meine Taille, dass ich ihm nicht mehr entkommen kann. Nicht, dass ich das möchte. Im Moment habe ich keine Ahnung, was ich will – ganz zu schweigen, was ich da eigentlich tue.

»Weißt du, wie wundervoll du bist?«, murmelt er mir ins Haar, und ich spüre, wie seine Zunge sanft mein Ohr streift. »Ich bin noch nie einem so unglaublichen Menschen wie dir begegnet.«

Wieder erröte ich, worauf er lächelt.

»Ich sehe so gern, wie du rot wirst. Es passt so gar nicht zu dir, und du bist dann so hübsch.«

Ich weiche ein kleines Stück zurück und schaue ihm ins Gesicht.

»Jake …«

»Mmmm …«, brummt er und zieht mich wieder an sich.

»Was machen wir da? Sind wir wirklich sicher?«

»Ich bin mir noch nie sicherer gewesen.«

»Aber was ist mit deiner Freundin? The Girl from Ipanema … entschuldige, ich meine … wie heißt sie noch mal … Monique?«

»Nichts.« Er schenkt mir ein spöttisches Grinsen. »Da ist nichts. Wir sind nur befreundet und waren einmal zusammen im Kino, mehr nicht. Das habe ich dir doch schon erzählt.«

»Ja, aber ich habe mich gefragt …«

»Ach, Liebling.« Er lächelt und zeichnet mit Küssen die Konturen meines Schlüsselbeins nach. »Ich habe sie nur erwähnt, weil du letzte Woche beim Abendessen so nervös warst. Ich dachte wirklich, du würdest mir jetzt eröffnen, dass du verheiratet bist oder in einer festen Beziehung lebst. Also wollte ich dich beruhigen und den Druck von dir nehmen, indem ich dir von Monique erzähle. Erinnerst du dich nicht, dass ich gesagt habe, wir würden uns nur rein freundschaftlich treffen …«

Jetzt. Der richtige Moment ist gekommen.

»Jake, ich wollte dir an diesem Abend etwas sagen … und hatte keine Gelegenheit dazu …«

»Pst. Merkst du denn nicht, dass ich dich gerne küssen möchte?«

Mit diesen Worten umfasst er meine Taille und zieht mich an sich, sodass nur noch wenige Zentimeter unsere Gesichter trennen und ich nicht anders kann, als zu vergessen, was ich sagen wollte, und in seine wunderschönen großen blauen Augen zu schauen. Ich will, dass er mich küsst … und als er es endlich tut, ist es ein endloser Kuss, so weich und innig und erotisch, dass ich unwillkürlich aufstöhne. Er streichelt meinen Körper … und es wird heißer und heißer. Ich will nicht, dass er aufhört. Dieser Moment darf nie vorübergehen. Ich will, dass er sich in mein Gedächtnis einprägt, damit ich ihn später noch einmal durchleben kann …

Es kostet mich alle Willenskraft, mich loszumachen. Aber irgendwie gelingt es mir.

»Bitte nicht, Jake, zuerst muss ich mit dir reden …«

»Was ist, Liebling?«

Im nächsten Moment läutet das Telefon.

Ich erschrecke so, dass ich fast wieder nüchtern werde.

»Lass es klingeln und erzähl mir, was los ist«, sagt er mit belegter Stimme und schließt fest die Arme um mich.

Aber das geht nicht. Es könnte ja Helen oder Lily sein. Vielleicht ist zu Hause etwas passiert. Also befreie ich mich, rutsche in Richtung Nachttisch und hebe ab.

»Hallo?«

»Eloise, wo zum Teufel steckst du?«

Ruth O’Connell, die noch beschwipster klingt, als ich mich gerade fühle.

»Hallo, Ruth, alles in Ordnung?«

»Los, die Party hat schon angefangen, und du bist zu spät dran! Wir warten alle auf dich. Also beweg deinen Hintern! Und bring deinen tollen Typen mit! Steve aus der Buchhaltung baggert mich schon wieder an, und ich muss unbedingt von Frau zu Frau mit dir reden!«

Schmunzelnd lege ich auf und drehe mich zu Jake um.

»Die Party läuft schon«, teile ich ihm mit. »Wir müssen.«

Jetzt kann ich es ihm nicht beichten. Doch zum ersten Mal in dieser Woche habe ich die Hoffnung, dass alles gut wird, wenn ich es tue.

»Das Beste kommt erst noch.« Er grinst breit. »Warte nur, bis wir beide wieder hier oben sind. Das wird dann die richtige Party.«

Fünf Minuten später schreiten wir Arm in Arm die Steintreppe hinunter und steuern auf die Bibliothek zu, wo vor dem Abendessen die Aperitifs serviert werden. Jake hält mir die Tür auf, zwinkert mir zu und streichelt mir dann sanft über den nackten Rücken, als ich an ihm vorbeirausche. Es ist so aufregend und sexy, als ich ihn verführerisch anlächle und nur an später denken kann.

Ich brauche nur bis später zu warten. In wenigen Stunden ist diese dienstliche Veranstaltung abgehakt, und dann sind wir beide allein. Ich werde ihm alles beichten, und mit ein wenig Glück können wir dann dort weitermachen, wo wir vorher aufgehört haben. Offenbar bereut er auch nicht, was gerade passiert ist. Bei jeder Gelegenheit streift er mich, legt mir den Arm um die Schulter und verkündet der Welt, dass wir zusammengehören. Das haben zwar ohnehin alle angenommen, aber trotzdem.

Während Jake uns an der Bar etwas zu trinken holt, verdrücke ich mich in eine ruhige Ecke, um zu Hause anzurufen und Lily Gute Nacht zu sagen. Ich schmatze Küsse ins Telefon, bis sie kichert, und verspreche ihr, dass ich morgen Abend rechtzeitig zu Hause sein werde. Zufrieden trollt sie sich, und Helen übernimmt.

»Und wie läuft es?«, fragt sie mich aufgeregt. »Kannst du reden?«

»Sehr gut«, zische ich. »Ich habe dir eine Menge zu erzählen. Ich glaube … es wird alles klappen … er wird sicher kein Problem damit haben, wenn ich es ihm erzähle … Ich habe zum ersten Mal im Leben wirklich das Gefühl, dass alles gut wird …«

Im nächsten Moment stelle ich fest, dass Jake mit zwei Gläsern Weißwein von der Bar zurückkommt.

»Ich muss jetzt Schluss machen. Bis später«, sage ich und beende das Gespräch.

Später, später, später. Jake und ich müssen nur bis später warten. Auf die Fortsetzung …

Heute gestatte ich mir das, was mir nur so selten vergönnt ist … Spaß. Und vielleicht sogar noch Sex, obwohl man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Alles läuft bislang so unbeschreiblich gut. Weshalb also sollte diese wunderbare Glückssträhne nicht anhalten?, denke ich mir selbstzufrieden.

Alle machen Fotos mit ihren Mobiltelefonen, während ich Jake anlächle und mich leichter fühle als Luft. Als er sich herunterbeugt und mir einen Kuss auf die Lippen haucht, werden wir fotografiert. Ich spüre den Blitz im Gesicht und fahre erschrocken zurück. Im nächsten Moment fangen wir beide zu lachen an.

Es ist zwar schwer zu glauben, doch das ist der letzte Augenblick der Normalität zwischen uns.

Natürlich ist es Seth Coleman, der den Stein ins Rollen bringt. Wahrscheinlich ist er als Einziger noch einigermaßen nüchtern. Sobald uns dieser Schleimer erspäht, schlängelt er sich zu Jake durch und lotst ihn unauffällig von mir weg, damit ich ihr Gespräch nicht belauschen kann.

Er ist wirklich geschickt: Sie sind gerade so außer Hörweite, dass ich nur Wortfetzen verstehe. Und das, was ich aufschnappe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Denn er verhört Jake geradezu.

Noch schlimmer ist, dass ich unterdessen in die Fänge von Lady Hume geraten bin, die schon einige Gläser intus hat. Das erkenne ich daran, dass sie mich drängt, sie doch Shania zu nennen. Die gesellschaftliche Rangordnung schlägt sie nämlich nur dann in den Wind, wenn sie sturzbetrunken ist. Ausnahmsweise hat sie ihr Telefon weggesteckt, aber ich weiß nicht, was schlimmer ist: Eine halbherzige Unterhaltung mit ihr, während sie unhöflicherweise herumtwittert, oder eine richtige, ohne Telefon und Twitter.

Es ist wieder einmal typisch, dass ich ausgerechnet von der Person belagert werde, mit der ich auf gar keinen Fall reden wollte. Und als ob das nicht genügen würde, teilt sie mir Einzelheiten aus ihrem Eheleben mit, die so intim sind, dass es einem peinlich wäre, sie dem eigenen Therapeuten anzuvertrauen. Ganz zu schweigen von einer Person wie mir, mit der sie bis zum heutigen Abend kaum ein Wort gewechselt hat.

»Alle hier hassen mich«, lallt sie und rückt mir dabei so auf die Pelle, dass ich wegen ihrer Fahne fast zu husten anfange. »Sogar …«, fügt sie hinzu, wobei sie gefährlich ins Schwanken gerät, »… oder insbesondere er.« Diese Worte schleudert sie mir praktisch entgegen, und als ich höflich ihrem Blick folge, wird mir klar, dass sie keinen anderen meint als Sir Gavin, ihren Mann.

»Ich bin ziemlich sicher, dass er eine Affäre hat. Sie ist erst vierunddreißig. Irgendeine Journalistenzicke. Er glaubt, ich wüsste es nicht …« – ihre Stimme senkt sich zu einem theatralischen Flüstern –, »aber ich überprüfe jeden Monat seine Telefonrechnung und seine Kreditkartenauszüge … was halten Sie davon?«

Ich nicke so mitfühlend ich kann, während ich mich hilfesuchend nach Rettung umsehe. Ich werfe einen panischen Blick zu Jake. Doch Seth monopolisiert ihn immer noch, und er ist zu weit weg, um mir zu helfen.

»Ich gebe Ihnen einen Rat, Eloise«, fährt sie fort. »Lassen Sie die Finger von den Männern. Selbst von dem tollen Typen, den Sie heute Abend mitgebracht haben. Haben Sie Ihren Spaß mit ihm, und jagen Sie ihn dann zum Teufel. Führen Sie Ihr eigenes Leben. Verstehen Sie mich?«

Ich nicke beschwichtigend und gebe mitfühlende Geräusche von mir. Zugleich spitze ich die Ohren, um herauszufinden, was Seth von Jake in Erfahrung bringen will. Das wenige, was ich verstehe, lässt mich erstarren.

»Welche Schule haben Sie denn besucht?«, bohrt Seth. »Und woher kommen Sie ursprünglich? Ich kann Ihren Akzent nicht richtig einordnen, und normalerweise bin ich ziemlich gut darin. Könnte ich Ihre Eltern oder Ihre Angehörigen kennen? Haben Sie Geschwister? Und was machen die so beruflich? Und womit haben Sie Ihre Brötchen verdient, bevor Sie bei der Sprachenschule angefangen haben? Und wo, sagten Sie, haben Sie studiert? An welchem College? Warum? Und wovon haben Sie da gelebt? Und wo?«

Seth ist stocknüchtern. Wahrscheinlich ist er der einzige Mensch im Raum, der inzwischen nicht wegen der Hitze und von zu viel Alkohol rot im Gesicht ist. Ich beuge mich so weit zurück wie möglich, um Jakes Antworten zu verstehen oder seinen Blick aufzufangen. Doch Shania hat den sechsten Sinn, mit dem Betrunkene es erspüren, wenn sich jemand von ihnen loseisen will, und packt mich jedes Mal so fest am Arm, dass ich fast blaue Flecken kriege, um mich wieder zurückzuholen.

Der Himmel weiß, was Seth alles aus dem armen Jake herausholt. Inzwischen ist Shania nicht mehr betrunken, sondern nur noch peinlich, und wenn sie erst einmal in Fahrt ist, kann sie nichts mehr aufhalten.

»Jetzt verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Eloise«, sagt sie und spuckt mich dabei an, »… dieser Typ, den Sie da dabeihaben … Jack?«

»Jake«, verbessere ich sie geistesabwesend, da ich mit meinen Grübeleien ganz weit weg bin.

»Ja … den mein ich, Jake. Sieht wirklich spitze aus, Eloise. Und Sie haben sich seitdem so verändert, das sagen alle … die ganze Party redet über Sie …«

Oh mein Gott, halt endlich den Mund. Sei still … merkst du denn nicht, wie du mich blamierst?

»Und sexy ist er auch. Der starke, zurückhaltende Typ. Den würd ich nicht von der Bettkante stoßen, wenn der Idiot, mit dem ich verheiratet bin, nicht dauernd rüberglotzen würde …«, verkündet sie in schneidendem Tonfall.

»Trinken Sie doch einen Schluck von dem erfrischenden Eiswasser«, fordere ich sie gekünstelt fröhlich auf. Alles, nur damit sie endlich mit diesem peinlichen Thema aufhört und ich wieder weiter vor mich hin grübeln kann.

»Ach, scheiß auf das Wasser!«, ruft sie aus und stößt so heftig meinen Arm weg, dass mir ein Teil davon übers Kleid schwappt.

»Und jetzt hören Sie mir mal zu, Eloise. Ich mochte Sie schon immer. Immer. Auch wenn alle anderen behauptet haben, Sie seien eine blöde Zicke, die nur für ihren Job lebt … aber ich habe Sie immer verteidigt. Das stimmt nicht, habe ich gesagt. Sie sind nicht die herrschsüchtige Sadistin, für die alle Sie gehalten haben.«

Anstelle einer Antwort zermartere ich mir das Hirn nach einem Weg, sie endlich zum Schweigen zu bringen.

Und sie redet immer weiter.

»Wollen Sie wissen, was ich gesagt habe?« Shania stupst mich so heftig an, dass ich fast vom Stuhl falle. »Mir ist es scheißegal, wie ihr über Eloise Elliot denkt. Ich bewundere es, wenn eine Frau Ehrgeiz hat …«

Sie ahnt, dass ich fliehen will, und umklammert meinen Arm.

»Sie müssen mir zuhören, Eloise, und zwar sehr gut. Lassen Sie nicht zu, dass irgendein Idiot über Ihr Leben bestimmt. Denn das machen Männer irgendwann immer. Niemals. Ich will nicht, dass Sie so enden wie ich. Denken Sie an meine Worte, Eloise. Bei Männern verliert man mehr, als man gewinnen kann. Vertrauen Sie mir … ich habe schon einiges erlebt und weiß, wovon ich rede …«

Jake, der vermutlich gerade von Seth zu Tode gelangweilt wird, wirft mir einen raschen Blick zu, der wohl »alles okay?« besagen soll.

»Wollen Sie wissen, was das Allertollste war, das Sie je in Ihrem ganzen Leben gemacht haben, Eloise?«

»Warum erzählen Sie es mir nicht später?«

Aber keine Chance.

»Das Beste, was Sie je gemacht haben, war, ein Baby zu kriegen, ohne dazu auf einen Kerl zu warten«, verkündet sie lautstark.

Mir krampft sich schmerzhaft der Magen zusammen, und ich werfe ihr einen drohenden Blick zu, als wolle ich sie gleich mit bloßen Händen erwürgen. Doch es ist zwecklos.

Vielleicht hat Jake es ja nicht verstanden … durchaus möglich … die Wahrscheinlichkeit besteht … sie ist sogar recht hoch …

Im nächsten Moment fängt Shania an, mir laut Beifall zu klatschen, nur für den Fall, dass wir nicht schon genug Aufmerksamkeit erregen.

»Hut ab, Eloise, das muss ich sagen. Sie haben die Sache selbst in die Hand genommen. Wer braucht heutzutage denn noch einen Typen, um ein Kind zu bekommen?«

»Pst, Shania, bitte!« Ich bin kurz davor, sie anzuschreien.

»Ich lasse mir von Ihnen nicht den Mund verbieten! Sie sollten auf meinen guten Rat hören!«

Und um das Maß vollzumachen, haben inzwischen die Reden angefangen. Jimmy Doorley, unser Finanzchef, leiert durch ein vor Rückkopplungen pfeifendes Mikrofon die Gewinnzahlen des letzten Jahres herunter und fügt hinzu, unsere Gewinnerwartung werde in diesem Jahr um fünf Prozent sinken, bla, bla, bla …

Währenddessen signalisiere ich Shania panisch, dass wir unbedingt zuhören müssen. Obwohl es in mir tobt, versuche ich, mich so zu benehmen wie immer.

Doch alle meine Bemühungen sind vergeblich.

Inzwischen ist sie so blau, dass sie nicht mehr zu bremsen ist.

»Im Jahr 2011 ist unser Nettogewinn nach Steuern im Vergleich zum letzten Geschäftsjahr bedauerlicherweise um fünf Prozent gesunken …«, dringt Jimmys Stimme knisternd aus dem defekten Mikrofon.

Obwohl es still im Raum geworden ist und alle wenigstens so tun, als würden sie aufmerksam lauschen, ist Höflichkeit für Shania kein Thema.

»Natürlich erinnere ich mich noch gut an die Gerüchte, die damals über Sie im Umlauf waren.« Sie versetzt mir einen kräftigen Rippenstoß.

»Pst … wir stören sonst die Rede«, zische ich ihr zu.

»Ach, machen Sie sich doch nicht lächerlich!« Inzwischen ist ihr Tonfall gehässig. »Welcher vernünftige Mensch hört sich denn freiwillig den öden alten Jimmy Doorley an?«

Die ärgerlichen Blicke um uns herum nimmt sie nicht zur Kenntnis.

»Oh, die Leute haben damals viel über Sie geredet. Die Frage, wer wohl der Daddy von Eloises Baby ist, war das große Partygespräch … aber wollen Sie wissen, was ich gesagt habe? Schert euch zum Teufel, hab ich gesagt. Ich würde jede Frau bewundern, die den Mumm hat, so etwas zu tun. Denn alleinerziehend zu sein ist ziemlich schwer. Und Sie waren diejenige, die zuletzt gelacht hat. Jetzt haben Sie ein reizendes Kind … Junge oder Mädchen? Das habe ich vergessen … es muss inzwischen etwa drei sein, richtig?«

»Pst, bitte!« Ich sehe sie strafend an und packe sie fest am Arm. Sinnlos.

Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass Jake nichts mitgekriegt hat. Doch das ist unmöglich festzustellen. Stocksteif steht er da, starrt geradeaus und fixiert das Podium mit einem bohrenden Blick.

»… als dann die Wahrheit herauskam, haben alle ihren Ohren nicht getraut! Künstliche Befruchtung … genial! Hut ab, habe ich gesagt. Wozu braucht eine moderne Frau heutzutage noch einen Partner, um schwanger zu werden? Wozu sich von einem Kerl Vorschriften bei der Kindererziehung machen lassen? Sie hatten ganz recht, Eloise. Hören Sie mir auch zu? Schauen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede! Ich wollte Ihnen sagen, dass es die beste Idee war, die Sie je hatten, zur Samenbank zu gehen. Ich glaube, ich kann mir denken, in welcher Klinik Sie waren. Reilly irgendwas … Reilly Institute … irgendwo in Sandyford … richtig? Den Namen hab ich mir gemerkt, weil eine Freundin sich dort wegen ihrer Wechseljahresprobleme behandeln lässt. Das ist der einzige Laden in der Stadt, der künstliche … wie nennt man das noch mal … aber Sie wissen ja, was ich meine. Stimmt es also? Eloise, antworten Sie, verdammt!«

Mittlerweile schlägt sie tatsächlich auf den Tisch, so wütend ist sie, weil ich nicht auf sie achte und sie am liebsten wegretuschieren würde. Schließlich starrt der halbe Raum auf uns.

»So, Shania, ich glaube, ich gehe jetzt mit Ihnen raus, frische Luft schnappen. Jetzt gleich … kommen Sie …«

Verzweifelt sehe ich mich nach jemandem um, der mir zur Hilfe eilen könnte, doch niemand rührt sich. Nicht einmal Jake, der meinem Blick ausweicht. Also versuche ich, sie allein vom Stuhl hochzuziehen. Mittlerweile beobachtet auch die andere Hälfte des Raums die kleine Szene. Aber Shania macht sich schwer und rührt sich nicht.

»Finger weg. Ich gehe nirgendwohin!«, kreischt sie und schlägt kräftig nach mir. »Ich will noch einen Drink!«

»Verzeihung, gibt es irgendein Problem?«, erkundigt Jimmy sich höflich durchs Mikrofon.

»Nein, äh … überhaupt nicht! Alles bestens!«, rufe ich gekünstelt fröhlich und lächle so verkrampft, dass ich Muskelzuckungen bekomme.

Inzwischen bemerke ich zu meiner großen Verlegenheit, dass sämtliche Augen im Raum auf Shania und mich gerichtet sind. Nur Jake blickt schweigend und reglos geradeaus, als ginge ihn das alles nichts an.

Jake, der bisher den ganzen Abend damit verbracht hat, nach mir zu schauen, auf mich zu achten, mir aufmunternde Worte zuzuflüstern und den Arm um mich zu legen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Und nun ist diese unsichtbare Brücke zwischen uns plötzlich zerbrochen.

»Verdammte Scheiße, Eloise, lassen Sie mich los!«, schreit Shania. »Ich wollte Ihnen nur ein Kompliment machen, Sie dumme Pute!«

Vor Erleichterung werden mir fast die Knie weich, als ich Robbie sehe, der aufspringt, um mir zu helfen, sie hinauszubringen.

»Ich will Ihnen nur sagen«, zetert Shania, als wir sie gewaltsam nach draußen zerren, »dass ich es genauso machen würde wie Sie, wenn ich noch eine zweite Chance hätte! Ich würde mich nicht mehr mit einem Kerl abgeben, sondern einfach zu einer Samenbank gehen, und damit basta. Lassen Sie mich jetzt endlich los, verdammt!«

Unterdessen schaut Seth zwischen Jake und mir hin und her, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, der wohl »der Abend verspricht, interessant zu werden« besagen soll.

»Sie wissen ja, in vino veritas, wie es so schön heißt«, verkündet er seinem Umfeld, während Robbie und ich Shania weiter hinausbugsieren.

Es kostet mich meine gesamte Selbstbeherrschung, nicht umzukehren, ein Glas Rotwein zu nehmen und es Seth über den schmierigen Kopf zu kippen.

Ein richtig lautstarker Streit, bei dem die Fetzen fliegen, wäre mir lieber. Damit würde ich klarkommen. Mit Zorn, Leidenschaft, aufgewühlten Gefühlen und Angst kann ich umgehen. Das wäre offen gestanden kein großer Unterschied zu meinem Arbeitsalltag bei der Post.

Aber nicht damit. Damit nicht.

Vier endlose Stunden später sind Jake und ich wieder in unserem Zimmer. Irgendwie haben wir es geschafft, den restlichen Abend durchzustehen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Doch jetzt können wir uns nicht mehr aus dem Weg gehen. Und es ist unbeschreiblich schrecklich. So, als wäre der warmherzige, rücksichtsvolle, einfühlsame Jake, mein Freund Jake, mein Kumpel, wie ich ihn noch vor wenigen Stunden kannte, einfach verschwunden. An seine Stelle ist eine Art Avatar getreten, der zwar so aussieht und klingt wie er, aber sich mir gegenüber eiskalt und abweisend verhält und nur einsilbig mit Ja und Nein antwortet.

Noch vor ein paar Stunden hatte ich alles, was ich für mich und Lily wollte, in diesem Zimmer. Und nun, nun umkreisen wir uns steif wie Fremde. Die Anziehungskraft und Sehnsucht, die sich den ganzen Abend in seinen Augen gemalt haben, haben sich schlagartig in Luft aufgelöst. Da ich seine Miene nicht deuten kann, betrachte ich ihn und warte darauf, dass das Beil fällt. Doch es passiert nichts. Ich weiß nur, dass er wütend ist, was man, wenn man ihn nicht kennt, nie bemerken würde, so still ist er.

Sobald wir die Zimmertür hinter uns geschlossen haben und unter uns sind, fängt er an zu packen.

Verdammt.

Also versuche ich es mit Vernunft.

»Jake, es ist doch Unsinn, jetzt zu gehen. Wir haben nach Mitternacht. Du kriegst niemals ein Taxi, um nach Hause zu fahren.«

»Gut, dann laufe ich eben.«

»Ich finde, du verhältst dich kindisch.«

Sobald ich den Satz ausgesprochen habe, möchte ich ihn wieder zurücknehmen.

Seine Reaktion besteht nur aus einem langen, kalten Blick. Das zärtliche Funkeln ist aus seinen Augen verschwunden.

»Ich glaube, die Zeiten, in denen du mir sagen konntest, wie ich mein Leben zu führen habe, sind vorbei«, entgegnet er mit Bitterkeit im Ton.

»Darf ich es dir nicht erklären? Nach allem, was ich für dich getan habe, könntest du es mich dir wenigstens erklären lassen.«

»Da gibt es nichts zu erklären«, erwidert er, während er ein Hemd und eine Jacke ordentlich in seinem Koffer verstaut.

»Was mich betrifft, Eloise, brauchst du im Moment nur zu wissen, dass ich deine Gegenwart jetzt nicht aushalte.«

»Jake, du musst mir glauben. Ich wollte es dir dieses Wochenende sagen … morgen. Ich hatte alles geplant … ich habe es ja schon früher probiert. Erinnerst du dich an unser Abendessen letzte Woche? Ich war fest dazu entschlossen, es dir zu erzählen, aber …«

»Offenbar nicht entschlossen genug.«

»Lässt du nun endlich die dämliche Packerei und hörst mir zu!«

Wieder ein kalter Blick.

»Also los.«

»Jake, du hast ja keine Ahnung, wie sehr mich die Sache belastet hat. Aber du musst verstehen, dass ich dir nur deshalb nicht früher reinen Wein eingeschenkt habe, weil ich eine Todesangst hatte, dass du dann nichts mit uns zu tun haben willst. Glaube mir, ich habe es versucht, doch es ist immer etwas dazwischengekommen … zum Beispiel deine Prüfungen letzte Woche … also dachte ich …«

»Heißt das im Ernst, dass du die bescheuerten Prüfungen wichtiger gefunden hast als die Tatsache, dass ich Vater bin, dass wir ein Kind haben und dass du mich ab dem ersten Tag getäuscht hast? Herrgott, Eloise, weißt du überhaupt, was du da redest?«

»Hör zu, ich hätte früher ehrlich zu dir sein müssen …«

»Viel früher …«

»Aber abgesehen davon«, fahre ich fort, absichtlich ruhig und gelassen, »ist mein einziges Verbrechen, dass ich dir helfen wollte …«

»Du hast mich praktisch vom ersten Tag an angelogen, und zwar in allem. Soll das deine Entschuldigung sein?«

»Nun, du hast zuerst gelogen!«

»Wie soll ich dich angelogen haben?«

»Verzeihung, aber erinnerst du dich an das Aufnahmeformular, das du im Reilly Institute ausfüllen musstest? Herrgott, fast alles, was darin stand, war frei erfunden! Erstens hast du deinen Namen mit William Goldsmith angegeben.«

»Das habe ich dir ja schon erklärt.«

»Und dass du eine Doktorarbeit über den ökonomischen Untergang und den Weg zur Besserung in unserem Land geschrieben hast.«

»Jetzt geht es wieder los mit deinem fotografischen Gedächtnis.«

»… dass du konzertreif Klavier spielst.«

»Was hätte ich denn schreiben sollen? Trillerpfeife?«

»… und darf ich noch anmerken, dass du am Trinity College angeblich Goldmedaillen im Zweihundertmeterlauf gewonnen hast und Mitglied der Rudermannschaft warst?«

»Hörst du jetzt endlich auf? Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich Darts spiele?«

»Jake, ich habe all das geglaubt! Ich bin auf jeden Satz hereingefallen, und es war erstunken und erlogen.«

»Ich habe das Geld gebraucht. Also hätte ich alles Mögliche behauptet«, erwidert er kühl. »Gut, dann habe ich vor vier Jahren auf einem bescheuerten Formular in einem Krankenhaus gelogen. Meinst du, die hätten mich genommen und mich bezahlt, wenn sie gewusst hätten, wer ich wirklich bin? Außerdem, was ist mit dir? Verglichen mit dem, was du getan hast, ist das ein Klacks. Praktisch jedes Wort von dir, seit wir uns kennen, war nichts als Mist. Erst hast du mich in Wheatfield aufgespürt und mir diese Schwachsinnsgeschichte aufgetischt, du würdest für einen Artikel darüber recherchieren, was aus Sträflingen nach ihrer Entlassung wird.«

»Ich wollte dir helfen!«, beharre ich. Meine Stimme wird in direktem Verhältnis zu meiner wachsenden Verzweiflung immer höher und schriller. »Mehr wollte ich wirklich nicht. Du musst mir glauben.«

»Nur noch eine Frage, bevor ich gehe«, sagt er. Inzwischen hat er fertig gepackt, eine Hand am Türknauf und schickt sich an zu verschwinden.

»Warum, Eloise? Warum hast du das alles gemacht? Warum hast du dich mit jemandem wie mir abgegeben?«

Ich versuche, mich zusammenzunehmen, was nicht leicht ist, da ich kurz vor einer ausgewachsenen Panikattacke stehe.

»Willst du die Wahrheit hören?«

»Ja.«

Ich lasse mich auf die Bettkante fallen. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig, weil mir vor lauter Schwindel übel wird. Der Bettpfosten erscheint mir plötzlich schief.

Einen bangen Moment später weiß ich, dass ich antworten muss.

»Ich habe es nicht für dich getan, sondern für meine kleine Tochter.«

»Eine … du hast … eine Tochter?«, fragt er mit leicht zitternder Stimme.

Mir krampft es den Magen zusammen. Es ist auch seine Tochter.

Nur zwei Sekunden lang wünsche ich mir, der alte Jake würde zurückkommen. Er würde mich verstehen, mir zuhören und meine Motive erkennen. Er würde meine Gefühle instinktiv erspüren, mich fragen, wie es mir geht, und dann für Klarheit sorgen. Mit dem alten Jake könnte ich reden. Ich könnte ihm von Lily erzählen und ihm die Fotos von ihr zeigen, die ich überallhin mitnehme. Ich könnte ihm sagen, wie sehr sie ihm ähnelt, angefangen vom blonden Haar bis hin zu den großen blauen Augen. Er soll wissen, wie klug sie ist und wie schrecklich stolz ich auf sie bin. Niemand hat eine intelligentere, hübschere und wundervollere kleine Tochter als ich … als wir.

Dem alten Jake könnte ich erklären, warum ich mich vor all den Wochen auf die Suche gemacht und nahezu sämtliche Sozialbausiedlungen im Norden von Dublin abgeklappert habe. Nämlich weil ich nicht wollte, dass meine traumhafte kleine Tochter heranwächst, beschließt, ihren leiblichen Vater zu finden, und feststellen muss, dass er ein Vorstrafenregister hat, ständig den Wohnort wechselt und unter falschen Namen auftritt, um sich Schwierigkeiten zu ersparen. Und was wäre aus Jake geworden, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte? Das würde mich wirklich interessieren, denke ich, plötzlich von Empörung und Wut ergriffen.

Und vor allem könnte ich dem alten Jake sagen, dass ich, wie immer im zwischenmenschlichen Bereich, alles in den Sand gesetzt habe. Denn wenn ich es genauer betrachte, habe nicht ich ihn verändert, sondern eher umgekehrt. Als ich versuche, mich zu erinnern, wie ich vor unserer Begegnung war, versagt mein Gedächtnis.

Denn der Drache von früher ist längst einem geerdeteren und entspannteren Menschen gewichen. Und das habe ich einzig und allein Jake zu verdanken. All das und noch viel mehr möchte ich ihm sagen. Ich will, dass er mich in den Armen hält wie vorhin, um mich an seinem Hals auszuweinen. Doch als ich ihm in die Augen schaue, lässt etwas in seinem Blick mich erstarren.

»Wie heißt sie?«, fragt er und sieht mich drohend an. »Und lüg nicht, das würde ich merken.«

»Lily«, antworte ich leise. »Sie heißt Lily.«

»Oh mein Gott … das Mädchen, das im Park bei dir war?«

»Ja.«

»Und du hast trotzdem geschwiegen? Herrgott, Eloise, lügst du denn immer, wenn du den Mund aufmachst?«

»Hör auf damit … bitte. Falls du die Wahrheit hören willst …«

»Du und die Wahrheit sind ein Widerspruch in sich.«

»Beleidige mich, so viel du willst, aber die Wahrheit ist, dass ich es für Lily getan habe. Sie wollte wissen, wer ihr Vater ist, und hat nicht mehr lockergelassen … und …«

»Und sie sollte nicht erfahren, dass sie einen ehemaligen Knacki zum Vater hat«, beendet er tonlos den Satz.

Ich nicke und schaue zu Boden. Ich kann Jake nicht in die Augen sehen, da ich nicht weiß, ob ich seinen kalten und steinernen Blick aushalte.

»Und das hast du mir die ganze Zeit über nicht erzählen können? Warum hast du mir nicht vertraut? Wir waren Freunde, verdammt, beste Freunde, und es hätte noch so viel mehr daraus entstehen können. Nur, dass Freunde einander nicht so behandeln. Ist dir klar, wie schwierig es für jemanden wie mich ist, überhaupt wieder einem anderen Menschen zu vertrauen? Ich habe dir vertraut, ich Idiot …«

Genau, was Helen mir vorausgesagt hat. Wortwörtlich. Verdammtes fotografisches Gedächtnis …

»Wovor hattest du Angst, Eloise?«, spricht er weiter. Inzwischen ist er bleich vor kalter Wut. »Dass ich dich vors Familiengericht zerre und mein Umgangsrecht einklage? Oder dass ich einem kleinen Kind beibringe, wie man einbricht und Autos stiehlt, ohne erwischt zu werden? War das wirklich dein Bild von mir? Einmal Knacki, immer Knacki, dem Typen kann man nicht trauen, insbesondere nicht, wenn es um ein Kind geht …?«

»Nein, das war nicht der Grund!«, protestiere ich mit Nachdruck. Inzwischen bin ich wieder aufgestanden, denn wenn ich es ihm jetzt nicht sage, bevor er geht, habe ich vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu. »Ich wollte nur, dass Lily auf ihren Vater stolz sein kann! Und schau dich an, Jake. Schau, wie weit du es gebracht hast! Vor ein paar Monaten hast du noch befürchtet, keine Bewährung zu kriegen, und jetzt … Du bist …«

Ich schaffe es nicht, den Satz zu beenden. Wie gerne würde ich ihm sagen, wie sehr er mir ans Herz gewachsen ist und wie sehr ich mich mittlerweile auf ihn verlasse. Doch die Worte bleiben mir im Halse stecken.

»Das weiß ich«, spricht Jake gleichmütig weiter. »Du brauchst es mir also nicht unter die Nase zu reiben. Du hast mich zu einem anständigen Menschen gemacht. Ein Vater aus der Arbeiterschicht war nicht gut genug für dich, das passte nicht zu deinen bürgerlichen Vorstellungen. Stattdessen hast du mich zum mustergültigen Dad geformt. Mein Gott, Eloise, ist dir eigentlich klar, was für ein Snob du bist?«

Als er mich so mit Vorwürfen und Beleidigungen überhäuft, steigt Wut in mir auf und verleiht mir neue Kräfte.

»Es ging doch nicht nur darum, was ich wollte«, entgegne ich zitternd. »Du wolltest es doch auch. Los, Jake, so gib es schon zu. Du hast dir auch ein Leben in der Mittelschicht gewünscht. Verdammt, du bist ein erwachsener Mann. Niemand hat dich dazu gezwungen. Also ist es nicht fair, wenn du mich als Snob bezeichnest. Ich habe viel falsch gemacht, und ich bereue es wirklich. Aber bitte versteh, dass ich es aus den richtigen Gründen getan habe. Ich wollte, dass du deine Fähigkeiten nutzt. Mehr nicht, das schwöre ich dir …«

»Und du hast mich dabei die ganze Zeit nur angelogen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir einander an wie zwei Schauspieler auf der Bühne, die ihren Text vergessen haben.

Es ist ein herzzerreißender Moment, doch er ist im Nu vorbei.

»Versuche nicht noch einmal, mich zu finden, denn das wirst du nicht schaffen«, lauten seine Abschiedsworte, und ich schwöre, es fühlt sich an, als hätte mir jemand ein Messer ins Herz gestoßen.

Dann ein schnelles und kräftiges Türenknallen. Und Schluss.

Danach stehe ich lange Zeit stocksteif da. Ich kann mich nicht rühren, und das Blut rauscht in meinen Ohren.

Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, dass er wirklich fort ist.

Für immer.