Kapitel 3

 

Gemessenen Schrittes spazierte Aaron am Ufer entlang, die Hände auf dem Rücken, einen Knöchel der rechten Hand gegen das Steißbein gepresst. Er hatte die Schuhe anbehalten, und die Kiesel unter seinen Füßen raschelten mehr, als dass sie knirschten. Sechs oder sieben Meter vom Ufer entfernt fielen die Wellenkämme mit einer Behäbigkeit zusammen, die an Selbstgefälligkeit grenzte. Im Westen waren Wolken aufgekommen, ihren Umrissen und ihrer Massigkeit nach erinnerten sie an Kontinente. Sie hingen tief am Horizont, als fragten sie sich, ob es klug wäre, sich auf die offene See vorzuwagen. Möwen glitten lautlos hin und her, vertrauten darauf, dass die Luft sie trug, genossen ihre Geschicklichkeit, mit der sie den Himmel beherrschten und ihnen gefällige Winde nutzten. Zu Aarons Rechten ragte himmelhoch die Sandsteinklippe auf – mehr rostfarben als sandsteinrot –, oben schauten Grasbüschel über den Rand und wankten in schwindelnder Höhe im Wind, beunruhigt, so über dem Abgrund und den Gesteinstrümmern zu schweben.

Ein gewaltiger Felsbrocken von den Ausmaßen eines Stadtbusses versperrte Aaron den Weg. Offensichtlich hatte er sich an der Klippe nicht länger halten können und war in einem Stück hinuntergerutscht in ein weniger gefährdetes Dasein am Gestade des Meeres. Aaron musste daran denken, was seine Tante vor ein paar Jahren in einem Brief mitgeteilt hatte. Ihr wäre bewusst, dass früher oder später das Familiengrundstück, oder ein Teil davon, aller Wahrscheinlichkeit nach ins Meer stürzen würde. In späteren Briefen war nicht mehr die Rede davon, abgesehen von einer Nebenbemerkung in Klammern, dass sie mit dem Gedanken spiele, die Immobilie zu verkaufen, solange noch genug davon vorhanden sei, um einen anständigen Preis dafür zu erzielen. Sie erwog, sie einem ahnungslosen Engländer anzudrehen, einem »Untertan der Krone«, wie sie zu sagen pflegte. Mit unverhüllter Schadenfreude hatte sie vor zwei Jahren einen Anwalt erwähnt, der für British Petroleum tätig war. Doch seither hatte er nichts mehr von der Sache gehört.

Da lag nun also der Fels und machte deutlich, dass das Vordringen der See eine Realität war; zwar würde es langsam geschehen und zur Zeit noch keine Bedrohung darstellen, doch seiner Tante immerhin eine stete Mahnung sein, sich um den einen oder anderen von Ihrer Majestät Untertanen erneut mit verlockenden Angeboten zu bemühen, bevor ihr Landbesitz auf so rohe und gewalttätige Weise weiter dezimiert wurde.

Gegenwärtig jedoch wurde nicht seine Tante, sondern er selbst zu einer Entscheidung gedrängt. Er konnte sich entweder zwischen dem Felsblock und dem Kliff durchzwängen oder die Schuhe ausziehen, die noch vom Morgentau im Gras nass waren, durch die sanfte Brandung waten und so das Hindernis umrunden. Natürlich hätte er auch hochklettern können und auf der anderen Seite wieder herunter, doch lag ihm daran, sich vom Gleichmaß seiner Schritte nicht durch einen unerwarteten Ausflug abbringen zu lassen. Auch hätte er einfach umkehren können. Er beschloss, die Stiefel anzubehalten und die Route durchs Wasser zu nehmen. Dabei wollte er sich nicht einmal die Mühe machen, die Hosenbeine aufzukrempeln. Was nass wurde, würde auch wieder trocknen. Die Unannehmlichkeit, die daraus entstand, wollte er lediglich als eine Veränderung der Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen. Sobald er an dem Geröllblock vorbei war, gedachte er, sich wieder in seine Meditation über Phila Rambeaux zu versenken, die sich ihm versagt hatte.

Das Wasser strudelte um seine Knöchel, dann um die Schienbeine, schließlich die Knie. Der Sog beim Zurückweichen der Wellen war stärker, als er erwartet hatte. Aaron musste sich mit der Hand am Felsen stützen, um nicht den Halt zu verlieren. Ehe er noch ganz um den Findling herum war, stieg ihm das Wasser bis zum Schritt, es war kalt und kam ihm – aus welchem Grund auch immer – nässer vor, als er sich vorgestellt hatte. Er überlegte, sollte er zurückgehen, vielleicht wäre es das Beste.

Doch dann hatte er es geschafft, war auf der anderen Seite des Hindernisses und somit wieder sicher auf dem Uferstreifen. Er würde weitergehen. Das Wasser reichte jetzt bis an die Klippe, plätscherte gegen die Steilwand. Die Flut hatte eingesetzt. Danach kam unweigerlich die Ebbe. Der Strand würde wieder zum Vorschein kommen. Er war finster entschlossen, seine Wanderung nicht zu unterbrechen.

Als Zugeständnis an den Gezeitenwechsel zog er jedoch die Stiefel und die Socken aus, stopfte die Socken in die Stiefel, band die Schnürsenkel mit einem Kreuzknoten zusammen und hängte sich die Schuhe über die Schulter. Die Hosenbeine rollte er bis zum Knie auf. Derart präpariert, zog er weiter. Den wechselnden Druck der Strandkiesel gegen seine bloßen Fußsohlen empfand er als angenehm, die Flut respektierte die Wasserlinie, die er mit dem hochgerollten Wulst der Hosenbeine gezogen hatte.

Endlich konnte er an Phila denken. Doch andere Gedanken kamen ihm in die Quere. Seine Tante hatte nicht die Polizei gerufen. Während das Schwein sich weiter auf der Weidefläche umtat, hatten sie, das heißt er gemeinsam mit seiner Tante, den Rest des Skeletts freigelegt. Für die ersten wenigen Spatenstiche hatte Aaron einen Spaten aus dem Schuppen benutzen dürfen. Der Rest musste mit den Händen erledigt werden, damit nichts beschädigt wurde, was von dem Mann, der dort lag, übrig war. Sorgsam wurde die Erde beiseite geschoben; die Hände seiner Tante waren unaufhörlich in Bewegung; Handvoll um Handvoll, als ob sie Wasser schöpfte und nicht Erde entfernte. Sobald Aaron zu schnell grub, stieß ihn seine Tante an, womit sie ihn mahnte, mit größerer Ehrfurcht vorzugehen. Sie hatten ja nicht die Aufgabe, ein Menschenleben zu retten. Und so bestand keine Notwendigkeit, sich zu beeilen. (Dennoch hatten sie in stillschweigendem Einvernehmen zunächst das Gesicht und den Kopf und dann erst den übrigen Körper von der Erdschicht befreit.)

Der Anblick, der sich ihnen bot, war gar nicht mal gruselig. Fleisch war nicht mehr vorhanden; nur Fetzen, die wie Pergament aussahen, hafteten an den Wangen- und Kieferknochen, als ob der Mann sich beim Rasieren geschnitten und mit abgerissenem Toilettenpapier das Blut gestillt hatte. Die Knochen waren von der Erde braun verfärbt, aber die Zähne, nachdem Kitty mit den Fingerspitzen darübergefahren war, strahlten weiß. Sie saßen als lückenlose Reihe noch fest im Kiefer und boten sich als klassisches Demonstrationsobjekt dafür dar, was Zahnseide und Fluorzahnpasta bewirken konnten. Mit geringerer Sorgfalt rieb Kitty die Stirn und die Schläfen sauber, machte sich auch nicht die Mühe, die Augenhöhlen auszuwischen oder den Schmutz aus den Nasenlöchern zu holen. Anders verfuhr sie mit den Händen. Sie nahm jeden Knochen einzeln in die Hand, kratzte sacht Erde und Sand ab, säuberte die Ritzen zwischen den Knöcheln, rieb die äußersten Enden gegen ihre Handfläche und betrieb Maniküre, soweit es irgend ging, wenn man davon absah, dass die Fingernägel selbst verschwunden waren. Einen Moment schien es, als wolle sie sich die Hand an die Lippen drücken, hielt sie aber lediglich fest, schaute lange darauf und legte sie dem Mann wieder an die Seite, wo sie bislang gelegen hatte.

Stieß sie auf einen Engerling oder eine andere wurmähnliche Kreatur, die sich ihren Weg durch die Erde oder an einem Knochen entlang und durch Kleidungsstücke gewunden hatte, dann nahm sie sie und warf sie auf den Haufen, der neben der Grube entstand. Ein flacher Stein, Teil eines harten Feuersteins, lag im Brustkorb, und neben dem Schädel befand sich ein gerundetes Felsstück, wie ein verrutschtes Kissen. An diesen beiden rieb und schabte seine Tante herum, bis sie völlig gereinigt waren, als ob auch sie Teile des Skeletts wären und besondere Sorgfalt verdienten. Dann setzte sie den runden Stein auf den flachen und legte beide ans Kopfende des Grabs. Weitere Steine kamen dazu, zwei wurden aus der Beuge des linken Arms genommen, einer aus dem Becken, zwei vom rechten Oberschenkel, andere aus den Falten und Knittern der von Würmern zerfressenen Kleidung. Als schließlich der ganze Körper freigelegt war, hatte sie einen kleinen Steinhügel aufgeschichtet, der die Stelle markierte, wo man den Mann bestattet hatte.

Auf dem Kopf saß eine Baseballkappe, auch musste er seinen Sonntagsstaat angehabt haben, einen Anzug aus dunklem Wollstoff. Marineblau wahrscheinlich, dazu die Purpursocken und die derben, an den Hacken ziemlich abgelaufenen Schuhe. Sein Hemd, von dem nur noch längliche Fetzen übrig waren, mochte weiß gewesen sein und vielleicht sogar gestärkt. Der Hemdkragen drückte immer noch in den Unterkiefer. An seinem Hals hing wie eine angebissene Nuss etwas, das einmal der Knoten einer Krawatte war, von der nur noch ein paar Strähnen dunkler Seide bis zum ersten Knopf des Jacketts reichten. Man hatte vergessen, sie ihm ordentlich einzustecken. Der zerschlissene Stoff, die Löcher, durch die die Knochen schimmerten, die aufgegangenen Nähte, all das legte nahe, dass die Zersetzung unter der Erde sich nicht von der oben unterschied. Wenn die Kleidung auch nicht mehr viel hermachte, so ließ sich doch sagen, dass sie sich, nachdem sie ihren harten und widrigen Dienst getan hatte und die Welt und das Wetter das Ihrige dazu beigetragen hatten, in einem Zustand befand, wie er nicht anders sein konnte. Mal hatte sie einen Schlitz hier bekommen, bald einen Riss da, dann war ein Loch entstanden, an anderer Stelle etwas aufgeplatzt, bis schließlich das Sonntagskleid aussah wie ein Anzug für den Arbeitsalltag mit seiner nicht enden wollenden Plackerei. Es war der Preis für das Privileg, auf dem Rücken eines tüchtigen Mannes getragen zu werden.

Am Ende der Ausgrabungsarbeit hockte sich Kitty hin und sprach erstmals wieder, seit sie Aaron angewiesen hatte, mit den Händen anstelle des Spatens zu graben. »Das ist Declan Tovey«, sagte sie. »Ich erkenne ihn an der Kappe, am Anzug, an den Schuhen und der Krawatte. Den Knopf da habe ich selber angenäht.« Sie beugte sich vor und berührte den zweiten Knopf am Jackett. Der löste sich und rollte zur Seite. »Nichts hält ewig, so ist das nun mal.« Sie zog die Hand zurück und legte sie in den Schoß. »Wir alle dachten, der sei wieder einmal abgehauen, wie schon so oft, und keiner weiß wohin. Und dabei hat er die ganze Zeit hier gelegen.« Wieder streckte sie den Arm aus und nahm von seinem Ärmel einen Klumpen Erde weg. Sie tat ihn auf den Haufen an ihrer Seite, entfernte dann einen Klumpen von seinem Hosenbein und einen weiteren von seiner Brust. Sie machte das beiläufig, als ob sie Baumwolle zupfte, und redete dabei ununterbrochen. »Alles, was er brauchte, um ein Haus zu bauen, waren vier Bretter und ein paar Steine für den Schornstein, und das Dach hat er aus Schilf gemacht, vom Moor hat er das geholt, gar nicht weit von hier. Keiner machte ihm das nach. Der reinste Troubadour war er, singen konnte er nicht, aber starke Hände hatte er. Ein Wanderbursche, den es nirgends lange hielt und der immer zurückkam. Und zugepackt hat er da, wo’s keinen Mann gab, der sich hätte kümmern können. Den Schuppen da hat er gebaut, den Lolly McKeevers Schwein jetzt in Trümmer gelegt hat. Und Lolly McKeever war es, die den armen Mann hierher geschafft hat, und deshalb ist es ganz in Ordnung, dass Lolly McKeevers Schwein ihn ausgebuddelt hat. Hier hat sie ihn verscharrt, damit man mir die Schuld zuschiebt, ich wäre diejenige, die ihn ermordet hat. Und wie sie ihn beerdigt hat! Einfach da hingelegt und Erde auf ihn geworfen, keinen Meter tief; kein Wunder, dass ein Schwein ihn finden konnte.«

Aaron hatte auf eine Pause gelauert, in der er vielleicht irgendwie seiner Verwunderung Ausdruck geben oder eine Frage stellen konnte, die sich ihm aufdrängte, doch er begriff schnell, das war vergebliches Hoffen. Der Monolog, das Selbstgespräch, die ausufernde, von wilder Leidenschaft angefeuerte Rede war, wie er wusste, eine irische Erfindung, eine von den bemerkenswerteren Beiträgen des Landes, um die gebildete Welt zu foppen. Die Griechen hatten diese Art des Redeflusses zwar schon mal »angedacht«, zur höchsten Blüte jedoch kam sie letzten Endes bei Shakespeare, der, wie allgemein bekannt, irischer Abstammung war. Seine Verwendung von Selbstgesprächen ist der eindeutige Beweis dafür – wenn man denn beweisen muss, was offen zutage liegt.

»Natürlich wollte er nicht bei ihr bleiben«, redete seine Tante weiter. »Diese Schreckschraube, mit all den Schweinen, die sein Leben ausfüllten und ihn in Trab hielten. Und auf Trab hat sie ihn ständig gehalten. Musste ihn immer um sich und auf sich haben, zu jeder Stunde, Tag und Nacht. Konnte nicht genug davon bekommen, wie er sie zärtlich rief, jeden Zoll ihres Fleisches mit seinem herrlichen Mund aufsaugte, gleich wo immer das Fleisch gerade war. Er suchte sich die Stellen und machte sich drüber her. Mal wie ein wildes Tier, mal zart wie ein Lamm. Und warum musste er gehen? Warum konnte er nicht bleiben? Gehörte nicht alles und jedes, was sie hatte, auch ihm? Er hätte doch zurückkommen können, sie mit seinem Leib bedecken, mit seinen Händen, seinem Mund und dem Gewicht seiner Brust, die Arme um sie schlingen, mit den Zehen ihre Haut kitzeln und mit seinem großen Aufbäumen nach dem schürfen, was weit kostbarer ist als Gold. Aber bleiben wollte er nicht, er nicht. Er musste fort. Ihre Zeit war abgelaufen. Er schwang sich das schwarze Felleisen mit den Werkzeugen auf den Rücken, über die Schulter, und dazu die Socken und den warmen Sweater und die Kappe, die er jetzt aufhat, und wollte los. Nichts blieb ihr als ihr Verlangen nach ihm. Sie konnte nicht anders, musste ihn mit einem Hieb auf den Kopf niederstrecken, die habgierige Schlampe, die mit ihrem Abgeknutsche und Gestöhne Tag und Nacht.«

Aaron wollte seiner Tante Einhalt gebieten, sich noch weiter auszulassen, doch sie war nicht zu bremsen. Jetzt wischte sie die Erde von den Wangen und der Stirn, drehte dabei den Schädel von einer Seite zur anderen. »Nicht mal bis zur Tür hat sie ihn gehen lassen, hat ihm gleich eins übergebraten. Und dann lag er mausetot da. Was hat sie gemacht? Hat ihn hergeschleppt, wo meine Kohlköpfe wachsen sollten. Und sieh dir das an! Nicht mal ein Laken hat sie ihm gegönnt, um ihn zuzudecken, die geizige Schlampe. Stinksauer war die auf ihn.«

Kitty hatte die linke Hand aufgenommen und pulte den Dreck aus den Gelenken, mit kurzen Atemstößen blies sie auf die Knochen, um auch den letzten Krümel zu entfernen. »Also, so können wir ihn nicht liegenlassen, nicht in dem Zustand. Ein anständiges Grab ist das nicht, wo jedes Schwein, das vorbeikommt, mit der Schnauze an seinem Gemächt herumschnüffeln kann. Los, komm! Du musst mir helfen!« Sie ließ die Hand auf den Oberschenkel fallen und stand auf. Als Aaron sich aus seiner knienden Position erhob, stieß er mit dem Fuß gegen einen Kohlkopf, der ins Grab rollte, genau in das eben von seiner Tante erwähnte Gemächt.

»Hol den Kohlkopf hoch«, sagte sie mit leichterstickter Stimme. »Der reicht uns zum Mittagessen.« Sie eilte ins Haus. Die Fliegentür schlug hinter ihr zu.

Aaron kniete sich wieder hin und beugte sich ins Grab, um den Kohl herauszuangeln. Die Erde unter seinen Knien begann nachzugeben. Er suchte Halt an dem Haufen, den sie aufgeworfen hatten, doch wie sollte er aufstehen, ohne auf das Skelett zu fallen? Während er noch grübelte, entschloss sich die Erde, ihre Rutschpartie fortzusetzen. So landete er mit dem Gesicht auf dem Kohlkopf, und die Knie berührten die Schuhe des Toten. Eine Raupe tat sich an einem Kohlblatt gütlich. Aaron zog seinen linken Arm vor und stützte sich mit der Hand neben Declan Toveys Ellbogen ab. Die rechte Hand setzte er neben den anderen Ellbogen des Mannes und begann dann, sich ruckweise hochzuarbeiten. Damit brachte er wenigstens seine Nase aus dem Kohl und etwas weg von der Raupe.

Er hörte die Fliegentür abermals klappen. Und schon stand seine Tante neben der Grube. »Was machst du denn da? Was ist in dich gefahren? Hast du sonderbare Anwandlungen, oder was? Schluss damit jetzt, steh auf und hilf mir.«

Aaron ließ die Stirn auf den Kohlkopf sinken, entspannte die Arme und wollte eine Minute Kraft schöpfen, ehe er den nächsten Versuch unternahm. Seine Knie waren jetzt auf Toveys Schienbeinen, die Skelettfinger berührten seine Oberschenkel. Die Raupe hatte ihr Blatt verlassen und krabbelte an Aarons Nase entlang. Er schob sie beiseite, doch sie blieb an seinem Finger haften. Er wischte den Finger am Anzug des Toten ab, unterhalb der Schulter. Kaum, dass er ihn berührte, riss der Stoff ein, und so entstand ein wie für die Raupe geschaffenes Loch, in das sie sich verkriechen sollte.

»Komm raus da. Ich weiß gar nicht, was du da suchst.«

»Ich bin abgerutscht.«

»Ich versteh dich nicht. Sprich deutlich. Steh endlich auf und komm hoch.«

Aaron tat, wie ihm geheißen, mit Hilfe seiner Tante. Das eine Bein musste er beiseiteschieben, und wenn seine Tante ihn nicht mit kräftiger Hand gepackt hätte, wäre er wieder hinabgeglitten und hätte möglicherweise das Schienbein zerbrochen, auf dem er mit dem Knie gelegen hatte. »Bin einfach abgerutscht«, wiederholte er.

»Bitte! Hör auf damit!«

»Ehrlich, so war’s.«

»Hm! Hm, hm.«

Kitty hatte in ihrer anderen Hand etwas, das wie ein zusammengefaltetes Tischtuch mit einem Muster aus Narzissen aussah. Als sie es ausbreitete und vor sich aufbauschte, sah er, dass es ein Bettlaken war, großzügig bemessen und in leuchtenden Farben von Gelb und Grün. Eine Blumenwiese, die zum Hineinlegen einlud. Aaron vermutete, dass seine Tante die Leiche mit dem Laken zudecken wollte, um sie neugierigen Blicken zu entziehen, während sie auf die gardaí, die Polizei, warteten. Doch weit gefehlt!

Zuerst holte seine Tante ohne jede Schwierigkeit den Kohlkopf aus dem Grab und legte ihn an den Fuß des Steinhügels. Dann wurde mit einigem Hin- und Hergezerre das Laken unter das Skelett geschoben, wobei die Knochen erst zu seiner Seite bewegt wurden und danach zu ihrer. Sie fassten das Laken an den Zipfeln, er auf einer Seite, sie auf der anderen, zählten bis drei, richteten sich auf (ohne jeden Zwischenfall) und hoben das Knochensammelsurium an. Der Schädel ruhte jetzt auf der Brust, eine Hand hatte sich völlig vom Arm getrennt, die Baseballkappe saß tief auf der Stirn, das linke Hosenbein war über die Purpursocke hochgerutscht, so dass man den blanken Knochen sah, den die Hosen vor Schmutz und Schlamm bewahrt hatten. Sie schafften das Gerippe ins Haus und legten es auf das Bett in einem Raum, der die »Priesterstube« genannt wurde und sich unten gegenüber der Küche befand. Das war der Raum, den Aaron als Kind nie hatte betreten dürfen. Er musste sich heimlich hineinschleichen, was er auch tat, allerdings nicht sehr oft. Der Name »Priesterstube« stützte die Legende, dass man vor vielen Jahren das Haus gebaut hatte, um Priester zu verbergen, die vor den Engländern auf der Flucht waren. Es wurde auch von einem Geheimgang gemunkelt, einem richtigen Tunnel unter dem Haus, der hinunter zum Strand führte, wo stets ein Boot bereitlag. Selbstverständlich hatte Aaron als Ferienkind immer wieder nach diesem Geheimgang gesucht, nicht nur im Haus, sondern auch unten am Fuß der Klippe, war hinter die Felsbrocken gekrochen und in die kleinste Aushöhlung der Steilwand. Aber er hatte nie etwas gefunden. Wenn man den Tunnel zugemauert hatte, wenn die Erde ihn sich wieder einverleibt und verfüllt hatte und daher die Eingänge seit langem verschüttet waren, hätte es ihn eigentlich gefreut, und es wäre ihm eine Beruhigung gewesen. Er hatte sich überlegt, wenn der Tunnel vom Haus ans Meer führte, müsste er auch vom Meer ins Haus führen. Ungeheuer aus der Tiefe, die nicht nur wie Grendel gestaltet waren, sondern noch wie Grendels Mutter dazu, hatte er in Kindertagen mehr als einmal gehört, wenn er im Bett lag und sie langsam näher rückten und zu ihm gelangen wollten. Ihre mit Schuppen besetzten Leiber schabten an den Tunnelwänden entlang; wie das heisere Röcheln hungriger Ungetüme hatte es sich angehört. In solchen Momenten gewann er den Glauben wieder, den er zeitweilig in jenen Tagen als Junge verloren hatte. Er betete, bat flehentlich um Gnade, versprach Besserung. Und um zu beweisen, dass sein Glaube nicht von solch extremen Notfällen herrührte, hielt er daran fest bis zur Mittagszeit am nächsten Tag. War dann der Magen gefüllt und der Durst gelöscht, spottete er wieder über abergläubische Vorstellungen, gab sich über Hierarchien erhaben und bot jeglicher Gottesfurcht kühn die Stirn. Sein Abfall vom Glauben hielt ohne weiteres an, bis Grendels Schuppen das nächste Mal an den Wänden der Priesterkatakomben entlangschleiften, weil er die Witterung eines aufsässigen und ungläubigen Jungen aufgenommen hatte.

Die Stube selbst war zweckmäßig eingerichtet. Das Bett war schmal, die Matratze dünn, die Bettdecke nicht üppig – aus verblichenem Patchwork zusammengesetzt. Nur das Kopfkissen war ein Zugeständnis an ein letztes bisschen Behaglichkeit, bevor die Reise begann – oder das Ende nahte.

Anstelle einer Frisierkommode gab es ein Schränkchen mit einer Schublade. Das Möbel hatte einst auch einem Spiegel Halt geboten. Die geschwungenen Halterungen mit der Querstrebe dazwischen erinnerten an eine Harfe ohne Saiten, deren Gesang längst verstummt war; ihre Melodien hatte der Wind um die Schornsteine der Städte ringsum getragen. Ein Stuhl mit Sprossen in der Lehne, von denen eine heller war als die übrigen, stand neben dem Schränkchen, und an der Wand gegenüber dem Bett befand sich eine hölzerne Bank, ähnlich unbequem wie eine Kirchenbank; fast protestantisch wirkte sie in ihrer Strenge. Auf ihrer Rückseite hatte jemand den Buchstaben I eingeritzt und den Anfang eines weiteren Buchstaben, der ein H hätte werden können, wenn man den Künstler nicht mitten in seiner Tätigkeit unterbrochen und zum Galgen geschleppt hätte. Ferner gab es einen Tisch mit Beinen, die so dünn und zerbrechlich waren, dass es gewagt, wenn nicht tollkühn gewesen wäre, mehr als die grob gewebte Leinenstola daraufzulegen, die sauber und gestärkt dort ausgebreitet war. Damals, als er den Erzählungen seiner Großtante lauschte, hatte Aaron mehr befürchtet als in Frage gestellt, dass eben dieser Tisch sogar als Altar diente, auf dem der Priester in seiner Verzweiflung die Messe zelebrierte, wobei die schwächlichen Beine nicht nur die Bibel und die Kerzen zu tragen hatten, sondern auch den Kelch mit dem Wein und die Schale mit den Hostien sowie das Kruzifix, das sich immer noch dicht an der Tischkante hielt.

Das Fenster war mit Fensterläden verschlossen, die nur an den Tagen geöffnet wurden, wenn eine rituelle Durchlüftung erfolgte. Sonst blieben sie immer geschlossen, denn man konnte nie wissen, wann sich ein geächteter Priester mit Klopfzeichen an der Tür bemerkbar machte. Hätte man erst dann die Läden geschlossen, wäre das ein untrügliches Zeichen für die Verfolger gewesen. Geschlossene Läden mussten also nicht unbedingt die Anwesenheit eines Priesters verraten, und geöffnete Läden konnten den Schluss zulassen, dass sich kein Priester im Haus verbarg. Deshalb hielt man es für besser, die Läden immer und ewig geschlossen zu halten, dann konnte, wer sie in diesem stets unveränderten Zustand sah, vermuten, was er wollte.

 

Sie hatten das Skelett des Declan Tovey auf das Bett gelegt. Einige der Knochen hatten sich mittlerweile voneinander gelöst und waren durcheinandergeraten. Doch sobald sie das Laken ausgebreitet und straff gezogen hatten, machte sich seine Tante daran – in der Art, wie sie Gedecke auf einer Festtafel arrangieren würde –, den Mann in etwa so zusammenzusetzen, wie sie ihn bei ihrer Ausgrabung vorgefunden hatten. Die Baseballkappe – das Wort »Brewers« war nun lesbar – wurde weiter hinten aufgesetzt, damit der Schirm nicht die Stirn verschattete. Die Hände wurden zuerst auf die Brust gelegt, wie es sich bei einer Aufbahrung gehörte. Dann wurde die Anordnung verändert, sie kamen an die Seite. Schließlich lag eine Hand – die rechte – auf der Brust, und die andere durfte zwanglos auf dem Hüftknochen ruhen. Der letzte verbliebene Knopf an dem Jackett war abgegangen und auf das Laken geglitten, wodurch eine der Narzissen die Verwandlung in eine Schwarzäugige Susanne erfuhr. Seine Tante machte sich nicht die Mühe, den Knopf wieder dahin zu legen, wo er hingehörte, sie ließ der Natur ihren Lauf.

Die größte Schwierigkeit bereiteten die Füße. Sie fielen immer auseinander, jeder zu einer Seite, als wollten sie die Grundstellung eines Balletttänzers nachahmen. Lehnte man die Schuhspitzen gegeneinander, sah das aus, als ginge der Mann mit einwärts gerichteten Zehen. »Geh und hol ein paar Kissen vom Sofa«, sagte Kitty. »Wir stützen damit die Füße. So bescheuert darf er doch nicht aussehen.«

»Werden die von der Polizei nicht meckern, weil wir ihn nicht gelassen haben, wo er war?«

»Wieso Polizei?« Sie versuchte, die Füße über Kreuz zu legen, doch sie flappten wieder seitwärts.

»Die gardaí meine ich. Wenn du sie holst. Wenn die kommen, und …«

»Wer will denn die gardaí hier haben?« Die erste Versuchsanordnung wurde wiederholt, fiel jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit aus. »Los, bring die Kissen. Und achte drauf, dass sie von der gleichen Sorte sind. Die blauen, meine ich, die mit den grünen Streifen. Sehen ein bisschen düster aus, schadet aber auch nichts.«

»Du willst also nicht die Polizisten holen?«

»Warum sollte ich so was Verrücktes tun?«

»Der Mann ist immerhin ermordet worden.«

»Diese Schlampe.« Sie presste die Schuhe mit den Händen zusammen, damit sie ihre Widerborstigkeit aufgaben.

Aaron zog das Laken neben dem Kissen glatt. »Man muss doch die Gendarmen informieren.«

»Worüber, bitte?«

»Na, dass wir dieses Skelett da …«

»Die erfahren überhaupt nichts von der Sache.«

»Aber…«

Sie ließ die Füße zur Seite kippen. »Sollen die etwa kommen und ihn wegkarren?«

»Aber das hier ist doch Beweismaterial, eindeutiger geht’s gar nicht.«

»Das hier ist Declan Tovey. Und ihn zu ›Beweismaterial‹ zu degradieren, lehn ich glatt ab.«

»Ein Verbrechen ist begangen worden.«

»Diese Schlampe!«

»Du … wir … wir machen uns strafbar, wenn wir …«

»Was ist schon dabei, wenn man sich mal ein bisschen strafbar macht. Schaffst du jetzt die Kissen her, oder muss ich selber gehen?«

»Ich geh ja schon.«

»Die blauen, denk dran!«

Aaron ging um das Bett herum, vorbei an seiner Tante, quetschte sich zwischen Schrank und Fußende durch. An der Tür blieb er stehen, drehte sich aber nicht um. »Dann kommt diese Frau – diese Lolly – mit dem Mord ungeschoren davon?«

»O nein. Ich werd sie mir vornehmen.«

Nun wandte er sich doch um. »Was soll das heißen?«

»Genau das, was ich gesagt habe.«

»Und was genau hast du vor?«

»Das ist meine Sache, du wirst schon sehen.« Die ganze Zeit hantierte sie mit den Füßen, hielt sie fest, ließ sie wieder los, sah sie zur Seite sinken, probierte, ob sie immer genau dieselbe Position einnahmen. Dreimal ertrug Aaron den Anblick, dann ging er die Kissen holen.

Das Wohnzimmer war geräumig, hatte aber eine niedrige Decke, um die Wärme nicht nur in die Höhe steigen zu lassen. In die Nordwand war der mit Feldsteinen ummauerte Kamin eingelassen, ein buntes Gemisch von Rost-, Schwarz- und Brauntönen, die an das gescheckte Fell einer Hauskatze erinnerten. Sein Inneres war von schwarzem Ruß überzogen, an dem graue, sich den Schornstein hochziehende Flocken hafteten – zu noch feinerer Asche gebrannter Ruß. Die Feuerböcke hatten die Form von Läufern aus einem übergroßen Schachspiel. Sie hielten zwischen sich einen einzigen langen Kloben, an dessen Enden Reste von Birkenrinde zu erkennen waren; in der Mitte war er fast durchgebrannt und wirkte wie eine Brücke, die jeden Moment einstürzen konnte. Durch die Fenster, es gab zwei davon, blickte man auf einen Unkrautstreifen; dahinter war die Straße, und jenseits davon zogen sich Weideflächen den Berg hinauf, der die von Osten blasenden Winde abhielt.

Das Sofa war mit grauem Kordsamt bezogen und sah aus wie ein großer, aus Sand und Erde zusammengematschter Kuchen. Verziert war er mit aufgeschlagenen Büchern, einem Kaffeebecher, einem Teller mit den Resten eines Spiegeleies – die Gabel steckte zwischen zwei dicken Kissen –, einem Vogue-Magazin und einer New York Review of Books, wobei die Vogue mehr Eselsohren hatte als die New York Review. Der Couchtisch davor war eine robuste Konstruktion aus auf Walnuss gebeiztem Fichtenholz und stand auf vier kräftigen Beinen, vermutlich die Reste von dicken Mangelhölzern. Auf dem Tisch lagen verstreut einige CDs, eine davon mit einem Konterfei von Bach mit rot eingefärbter Perücke. Ein dicker brauner Strickpullover war unter einen Schuh geknautscht, dem die Schnürsenkel fehlten. Hinzu kamen ein kippliger Bücherstapel, die Irish Times (zerknüllt, eine Spalte auf der Titelseite herausgerissen), eine weiße Porzellanschale, in deren Mitte etwas lag, das wie ein Pfirsichkern aussah, eine Fernbedienung vom Fernseher und ein Kerzenständer aus Messing, in dem aber keine Kerze, sondern eine Knoblauchknolle steckte.

Aaron nahm das blaue Kissen an sich, das gegen die Sofalehne gedrückt war, und schaute sich nach dem Gegenstück um. Er fand es unter dem Sessel, daneben einen weiteren Teller, der völlig sauber war bis auf einen ausgehärteten Klecks von etwas Grünem. Er hob das Kissen auf. Die Unterseite wies einen Fleck auf mit derselben Grünschattierung wie auf dem Teller. Aaron vermutete, es handelte sich in beiden Fällen um Pesto.

Ehe er zur Tür und über den Korridor zurück in die Priesterstube ging, bemerkte er zu seiner Linken Bücherregale, die die Wand vom Fußboden bis zur Decke einnahmen. Die Bücherrücken waren ausgeblichen, die Beschriftung kaum noch lesbar. Dort standen die gesammelten Werke von Jane Austen und George Eliot, die Schriften von allen drei Brontë-Schwestern und von Thomas Hardy, der ihnen Gesellschaft leistete. Dieses waren die Quellen, die seiner Tante Anregung für ihre höchst erfolgreichen Romane boten, die sie »mit einer Regelmäßigkeit absonderte« – wie ein Kritiker schrieb –, »die die meisten Menschen einer anderen Körperfunktion vorbehalten.«

Die Stimme seiner Tante erscholl. »Ich warte auf die Kissen. Bist du in den Treppenschacht gefallen, oder was ist los?«

Aaron hatte das Bedürfnis, noch länger zu verweilen. »Ich suche gerade nach dem zweiten.« Er ging zurück und sank in den Sessel, die Kissen fest an die Brust gedrückt. Seine Tante hatte ihren Liebhaber ermordet. Allzu lebhaft hatte sie die Nöte und Sehnsüchte der anderen Frau beschrieben, hatte dem Gefühl, verraten und im Stich gelassen zu werden, so eindringlich Ausdruck verliehen und sich dabei derart in Rage geredet, dass Aaron keinerlei Zweifel hegte, sie hatte von niemand anderem als von sich selbst gesprochen. Sie war es, die dem Mann den tödlichen Hieb versetzt hatte, der ihn zu Boden streckte. Sie war es, die ihn im Garten beerdigt hatte. Aaron war sich nicht sicher, ob sie seine sterblichen Überreste in der Priesterstube aufzubewahren gedachte, um sie dort jederzeit betrachten zu können, oder ob sie ihn der Erde in gebührlicherer Tiefe zurückgeben wollte. Wie sollte er sich weiterhin verhalten? Ganze zwei Minuten lang quälte er sich ergebnislos mit der Frage, dann rief er: »Ich hab’s gefunden« und schaffte die Kissen zur Priesterstube.

Tante Kitty hatte die Stirn auf Declan Toveys Schuhspitzen gesenkt. Die Schuhe umklammerte sie mit den Händen. Aaron wartete, doch sie rührte sich nicht. »Ich habe es gefunden. Das andere Kissen. Hier«, sagte er leise.

»Leg sie hin, neben jeden Fuß eins, dann entwürdigt ihn die alberne Stellung der Füße nicht.«

Aaron tat, was sie wollte, rollte jedes Kissen leicht zusammen, damit es den haltlosen Füßen eine Stütze war. Seine Tante hatte den Kopf immer noch nicht erhoben.

»Kann ich sonst noch etwas tun?«

»Ruf Lolly McKeever an und sag ihr, sie soll herkommen und sich ihr Schwein holen.«

»Sie anrufen? Jetzt gleich?«, fragte Aaron.

»Jetzt gleich.« Kittys Stimme klang gedämpft.

 

Eine einsame Möwe zog hoch über Aarons Kopf ihre Kreise, bewegte kaum merklich die Fittiche, um sich den wechselnden Winden anzupassen, die von der See her wehten. Plötzlich schlug der Vogel heftig mit den Flügeln, geradezu verzweifelt, als ob aller Halt verloren sei und nur diese gewaltige Anstrengung ihn davor bewahrte, ins Wasser zu fallen. Die Möwe entschwand über der Klippe, Aaron hörte sie dann kreischend und schreiend die Elemente beschimpfen, die sie so schnöde betrogen hatten. Das Wasser war bis über seine aufgerollten Hosenbeine gestiegen. Die Flut war nicht am Zurückgehen, sie setzte erst ein. Seufzend machte Aaron kehrt und steuerte auf den Trampelpfad zu, der im Zickzack nach oben auf die Klippe führte. Das Wasser wurde kalt, kalt genug, um jedes Gefühl aus den Füßen zu treiben, wenn er sich nicht schneller bewegte. Er bewegte sich schneller.

Die See verhielt sich ruhig. Die Wellen waren kaum mehr als aufeinanderfolgende leichte Schwellungen, zu niedrig, um Kämme zu bilden, zusammenzufallen und zu schäumen. Sie flachten einfach ab und spielten ihre bescheidene Rolle in der Flut, die jetzt bis an Aarons Knie reichte. Da waren keine Wogen, die gegen die Steilküste links neben Aaron donnerten, da war keine Gischt, die ihm ins Gesicht schlug und in den Augen brannte. Da war nichts als der verstohlene und neckende Anstieg des Wassers, der unmerklich Zentimeter um Zentimeter an den Körperteilen Maß nahm und nun auch sie nass werden ließ: unterhalb des Knies, am Knie, überm Knie, am unteren Oberschenkel. Aaron hielt nach der Hochwassermarke an der Klippe Ausschau, woraus er schließen konnte, wie hoch die Flut steigen würde. Die Linie, bis zu der das Wasser die Felsen eingefärbt hatte, war deutlich. Sie reichte bis zu Aarons Nase.

Und schon kam er nur noch langsam voran. Das Wasser ging ihm bis zur Mitte des Oberschenkels, und es machte ziemliche Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich da fortzubewegen, wo eben noch Strand gewesen war. Ihm war nicht erinnerlich, dass die Flut jemals eine solche Höhe erreicht und das ganze verfügbare Land am Fuße der Klippen in Beschlag genommen hatte. Zu seiner Linken sah er eine kleine Höhle, die er früher nie bemerkt hatte. Unter der abgerundeten Decke hing ein Stein, so groß wie ein Fußball, der sich gewiss bald lösen und mit fröhlichem Platschen in die steigende Flut fallen würde. War das ein versteinerter, von Menschen geschaffener Gegenstand? Das verlorengegangene und nun endlich ausgegrabene Spielzeug eines Druidenkindes? Aaron blieb keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. All seine Energien musste er auf die Beine konzentrieren, konnte sie nicht an die Synapsen verschwenden, die irrwitzig in seinem Hirn klickten.

Wiederum war es gar nicht so verkehrt, wenn der Kopf nach Ablenkungen suchte. Bei der Anstrengung, der es bedurfte, erst ein Bein zu heben und dann das andere, kamen ihm Erlebnisse aus einem Traum in den Sinn. Das langsame, mühsame Vorwärtsstreben, der irgendwie behinderte Bewegungsdrang, die Unfähigkeit der Glieder voranzukommen, und sei das Verlangen danach noch so dringend. Er hob die Arme, teils um seine Designer-Armbanduhr vor dem Nasswerden zu bewahren, teils um die Verwandlung seiner Arme in Schwingen zu beflügeln, wie er das so oft als Kind versucht hatte. Wenn die Natur das doch als eine Möglichkeit in Betracht ziehen wollte, wenn der Prozess der Evolution seinetwegen beschleunigt werden könnte, er wäre ungemein dankbar dafür. Oft genug war er im Traum geflogen. Es bedurfte nur einer geringfügigen Willensanstrengung, eines Aufschwungs der Geisteskräfte, der raschen Nutzbarmachung einer Fähigkeit, die er eigentlich besaß, aber immer wieder vergaß.

Er stapfte weiter, das eisige Wasser bedrängte das warme Blut seines Pimmels, seiner Eier, erzwang den Rückzug der bewegungsfreudigen Spermien. Zurück blieb ein zusammengeschrumpfter Fleischlappen und eine verschrumpelte Nuss, die beiden Anhängsel drohten infolge ihres Kraftverlusts und der daraus resultierenden Beschämung vollends zu verschwinden.

Unter den Füßen wurden die Kiesel spitzer, und selbst die zunehmende Fühllosigkeit seiner Fußsohlen bot keinen Schutz gegen die Piekser und Stiche scharfer Steinkanten. Die verbreitete Annahme, dass das Wasser die Kiesel abrunden und die sie stetig waschende See die Oberflächen glätten würde, so dass man leicht darüber hinweggehen konnte, erwies sich als falsch. Es waren nicht mehr die Steine am Strand, sie gehörten jetzt zum Meer. Sie waren rachsüchtig, waren vergrätzt und wollten diese Landratte, diesen auf Schlick und Schlamm hausenden Eindringling, ihren Groll mit aller Kraft fühlen lassen. Aaron war sich gewiss, dass seine Fußsohlen aus tausend Schnitten bluteten, dass er einen beträchtlichen Beitrag leistete, die Flut karmesinrot einzufärben.

Vor ihm tauchte die mögliche Rettung auf – die riesige Steinplatte, die von der Klippe gekippt war und ihm den Weg versperrte. Das war Verhöhnung und Herausforderung in einem. Das Wasser ging ihm bis zur Hüfte. Lange würde sein Kreislauf nicht mehr mitmachen. Kraft hatte er noch und genügend Energie, nur war der Felsklotz an die hundert Meter entfernt. Er fragte sich, ob er sich ausziehen sollte und ob er, derart erleichtert, den Felsen schneller erreichen würde. Durch einen sonderbaren Zirkelschluss, der ohne seine bewusste Mitwirkung zustande kam, ließ er den Gürtel fahren. Behielt aber die übrige Kleidung an – wenigstens fürs Erste. Wenn die Sachen zu schwer würden, konnte er sie unterwegs abstreifen.

Er warf sich ins Wasser; die Schuhe, die immer noch mit den Schnürsenkeln zusammengebunden über der Schulter gehangen hatten, schwammen davon in Richtung Meer. Seine Armbanduhr, die wasserdicht sein sollte, wurde einer Prüfung unterzogen – einer richtig harten. Mit jedem Ausholen des Arms, mit jedem Eintauchen der Hand, setzte er sie dem Wasser aus, wurde wütend, dass er sich ihretwegen einen Kopf gemacht hatte, so pedantisch darauf bedacht gewesen war, sie zu schonen. Zug um Zug kam er dem Fels näher, war aber nur darauf aus, seine Uhr zu bestrafen. Er dachte an nichts anderes. Da, nimm das! Und das! Und das! Derart heftig angespornt, erreichte er die Felsplatte.

Er kletterte hinauf. Ohne seine Sachen auf dem Leib wäre ihm das nicht gelungen, die Haut wäre zu schlüpfrig gewesen, so aber schmiegten sich das grobe Baumwollhemd und das starke Gewebe seiner Khaki-Hosen recht gut an die Sandsteinfläche. Er fand mit den Händen Halt, hievte sich mit ein paar Klimmzügen aus dem Wasser und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf die kalte Fläche. Einige Augenblicke lag er still, er hatte es geschafft, hatte den Felsen bezwungen, war aber zu erschöpft, um sich zu einem Entschluss aufzuraffen. Natürlich warf er einen Blick auf die Uhr. Der Sekundenzeiger machte seine Runden über das Zifferblatt. Der große Zeiger stand zwischen der Sieben und der Acht, der kleine näherte sich der Drei. Demnach musste es etwa zwanzig vor drei irischer Zeit sein. Er schloss die Augen, zählte bis drei und öffnete sie. Ein paar Mal atmete er tief durch, zog den Salzgeruch des Felsens ein und dachte an längst vergangene Sommertage. Er durfte nicht länger seiner Schwäche nachgeben. Er war nicht an Land geworfen worden, hatte sich nicht von einem gestrandeten Schiff gerettet. Er war einfach ein Stück geschwommen. Nichts weiter. Er hatte kein Recht, erschöpft zu sein. Er war schließlich ein hervorragender Schwimmer, war es jedenfalls gewesen. Vor einigen Jahren hatte er sogar eine Medaille gewonnen für die erfolgreiche Teilnahme an einem Schwimmwettbewerb vor der Küste von Long Island. Was er jetzt geleistet hatte, war im Vergleich damit rein gar nichts. Er war nass geworden und fror. Bald würde er wieder trocken und ihm würde warm sein. Und dass er eben geschwommen war, hatte, wenn er es recht überlegte, seine Energien eher geweckt als geschwächt. Nachdenklich setzte er sich auf.

In der Ferne winkten ihm zwei Männer in einem Fischerboot zu, doch schon galt ihre Aufmerksamkeit der anderen Seite des Bootes. Möwen waren jetzt nicht unterwegs, nur eine Krähe kreiste in der Höhe und lachte krächzend über Aarons missliche Lage. Das Wasser schien nicht weiter zu steigen, aber die Wellen begannen Kämme zu bilden, brachen sich und sprühten ihre Gischt gegen den Felsen, enttäuscht, nicht einmal seine Zehen zu erreichen.

Es war nun wirklich an der Zeit, über Phila Rambeaux zu meditieren, einsam und verlassen auf diesem Felsblock sitzend, den Blick aufs Meer gerichtet, und über den Verlust und die Unwägbarkeiten der Liebe zu grübeln. Er wollte die Erinnerung an ihr Gesicht heraufbeschwören, an ihre Haltung, wenn sie in seinem Seminar den Oberschenkel mit der Handwurzel rieb, als gedachte sie etwas auszuradieren, das sie auf ihren grünkarierten Rock geschrieben hatte. Oder an die Geste, wenn sie mit dem Zeigefinger das Haar hinter das Ohr schob, ohne daran zu denken, dass ihr Haar zu kurz war und im gleichen Moment, da sie den Finger wegnahm, zurückfiel. Möglich wäre auch, sich abstrakteren Gedankengängen hinzugeben, einer allumfassenden Melancholie, die seinem Leid einen universelleren Anstrich verlieh, es in den allgemeinen Weltschmerz einband. Bis dato war er Phila untreu geworden. Fast ein ganzer Tag war vergangen, und er hatte so gut wie gar nicht an sie gedacht. Kein Schmerz hatte ihn durchbohrt, kein sehnsuchtsvolles Verlangen nach einer Erfüllung hatte ihn angetrieben, hatte zu einer Wanderung gedrängt, zu einer aussichtslosen Suche. Den Kummer, den er ihr schuldete, hatte er nicht ausgelebt. Es war höchste Zeit, das zu ändern.

Er schaute auf seine Uhr. Es müsste jetzt Viertel vor drei sein. Warum sollte er hier nicht sitzen und trauern, bis das Wasser zurückging und nur noch kniehoch war? Wie viel Zeit das in Anspruch nehmen könnte, wusste er nicht, wollte er auch nicht wissen. Sein Kummer konnte ohne weiteres auch noch die Ebbe überdauern. Er währte ja ewig. Er könnte sogar warten, bis die Flut wieder einsetzte und erneut abebbte, ehe er von seinen Meditationen abließ. Phila, seine große Liebe, hatte nichts Geringeres verdient.

Bloß, dann wäre er nicht bei seiner Tante, wenn Lolly McKeever kam, ihr Schwein zu holen. Er hatte mit ihr telefoniert. Sie wollte um drei dort sein. Sonderlich erpicht darauf, sich ihr Eigentum zurückzuholen, hatte sie nicht geklungen, auch hatte sie ihm kein bisschen für seine Mühen gedankt. Bei der Schilderung, wie beharrlich er dem Ausreißer nachgejagt war, hatte sie ihn nicht einmal bis auf die Hügelkuppe kommen lassen. Die Heiterkeit, mit der sie beim Zusammentreiben der Schweine vorgegangen war, schien sie nur für dergleichen Katastrophen an den Tag zu legen, nicht aber für ausgesprochene Rettungsaktionen. »Um drei also. Und füttert es nicht, bevor ich da bin.« Damit hatte sie aufgehängt, als wäre Aaron einer der unverfrorenen Burschen, die anriefen, um Spenden für eine obskure Sache zu werben. Er hatte gehofft, ihr helles Lachen zu hören, doch sie hatte überhaupt nicht gelacht.

Was, wenn diese Frau tatsächlich, wie Kitty behauptet hatte, die eifersüchtige Mörderin des Mannes im Garten war? Kitty würde die Gelegenheit von Lollys Besuch beim Schopf ergreifen, um sie mit den sterblichen Überresten zu konfrontieren und ein Geständnis zu erzwingen. Es würde zu einem erregten Wortwechsel kommen, zu Anschuldigungen, Zurückweisungen und möglicherweise Gegenbeschuldigungen. Allerdings war Kitty, wie es Aaron schien, ebenso des Mordes verdächtig wie die Frau, die sie des Verbrechens zieh. Wie der Auftritt zwischen den beiden ausgehen würde, konnte er sich schlecht vorstellen. Also musste er zugegen sein. Schließlich war er Schriftsteller. Die Austragung eines menschlichen Konflikts, in dem es um Mord und Liebe ging, durfte dem Auge des Künstlers nicht entgehen. Das war er sich und seinen Lesern schuldig, die ihm ungewöhnliche Einblicke ins Leben verdankten, ganz zu schweigen von der hochdramatischen Handlung, die er ihnen bot, und dem Vergnügen, das nur ein perfekter Mord gewährt.

Geschmeidig wie ein Seehund glitt Aaron vom Felsen ins Wasser. Er wollte bis zu dem Schlängelpfad schwimmen und auf der Landstraße bis zum Haus der Tante marschieren. Nass war er ohnehin, und an die Kälte hatte er sich inzwischen gewöhnt. Möglicherweise war Lolly McKeever noch da. Sie würde ihn sehen, wie er triefnass daherkam, als wäre er soeben wie Cuchulain in den alten Sagen dem Meer entstiegen.