Kapitel 8

 

Selbst unter günstigsten Umständen kann ein Vorhaben misslingen, wenn einer der Mitwirkenden sich nicht kooperativ verhält. In diesem Fall verbündete sich jeder (Aaron ausgenommen) mit jedem, um die Polizei auf Abstand zu halten, bis Declan wieder beiseitegeschafft werden konnte, auf welche sich anbietende Weise auch immer. Als die Polizisten sich der Küchentür näherten, gerieten alle in so hektische Bewegung, dass, ehe Aaron es noch völlig begriffen hatte, er und Lolly mit Declan allein waren, freilich mit der Maßgabe, dessen Beschlagnahme abzuwenden.

Eigentlich war es Aarons Absicht, die Polizei hereinzubitten, ihnen die leidlich sortierten Überreste Declans vorzuweisen und damit die Angelegenheit ein für alle Mal zu Ende zu bringen. Dass er damit vielleicht seine Tante oder Lolly verriet oder sogar Sweeney, der ihm das Leben gerettet hatte, durfte seinen Durst nach Gerechtigkeit nicht löschen. Ihr Verhalten hatte ihn ungemein vergrätzt. Sie hatten ihm übel mitgespielt. Sie hatten seine Gutmütigkeit ausgenutzt. Sie hatten seinen pietätvollen Umgang mit ihrem Freund nicht zu würdigen gewusst. Schon für jedes einzelne dieser Vergehen hätten sie aus seiner Sicht verdient, gehängt zu werden, und alle Schändlichkeiten zusammengenommen hätten mehr als ausgereicht, Justitia die Binde von den Augen zu nehmen und sie zu heißen, flugs ihr schreckliches Schwert zu schwingen. Außerdem waren sie daran schuld, dass der Gestank seinen Körper durchdrungen und üble Ausdünstungen ihn fast erstickt hatten. Der Pest hatte man ihn ausgesetzt, und was ihn noch unmittelbarer berührte, unausrottbare Pilzbakterien waren bereits dabei – davon war er fest überzeugt –, zwischen seinen Zehen Hefen und Schimmel zu produzieren, die seine Füße für immer von jedweder Zuneigung disqualifizierten, die eine etwaige Busenfreundin in ihrer Verzückung versucht sein könnte, ihnen angedeihen zu lassen. Mitleid war ganz offensichtlich fehl am Platze. Die Gerechtigkeit sollte ihren Lauf nehmen, den die Tiefe seines Verletztseins vorgab und den die Erhabenheit seines Grolls bestimmte.

Doch der allgemeine Aufruhr im Haus beraubte ihn seiner kleinen gehässigen Vergnügungen. Die Wandverkleidung war zugeschlagen worden, die Tür zur Priesterstube, in der sich Aaron und Lolly befanden, wurde zugezogen, in der Küche begrüßte man sich, Kitty stellte den Polizisten frei, das Haus nach einem Flüchtigen zu durchsuchen – der Flüchtige war ein Mann, den man festgenommen hatte, weil er die Springmaus seiner Freundin totgebissen hatte, und dessen Fahrrad man im Dickicht unten an der Straße gefunden hatte – und so, wie man zuvor Sweeneys Schritte wahrgenommen hatte, hörte man nun Stiefel im Oberstock umhertrampeln.

Aaron überließ es Lolly, die Wand an den mutmaßlichen Stellen abzuklopfen, um die Öffnung zu finden. Nachdem sie es zweimal versucht hatte, gab sie zu, vergessen zu haben, wo genau die Stelle war. Aaron tat, als versuchte er es jetzt. Ihn überraschte, dass sich Lolly in ihrer Verzweiflung völlig anders verhielt. Sie war hilflos; fühlte sich in die Enge getrieben; sie verließ sich darauf, dass er einen Ausweg fand. Falls es eines Beweises bedurfte, dass es in ihrem Interesse lag, dass man das Skelett nicht entdeckte, so wurde ihm der jetzt rückhaltlos geliefert, wobei das Wort »Scheiß« reichlich Verwendung fand, die Hände gerungen, die Augen verdreht wurden – die nun in ihrer Not in tiefstem Blau strahlten –, ein Flehen, nicht den brutalen Kerlen ausgeliefert zu werden, die über ihren Köpfen dröhnend gegen die Wände schlugen. Die Stiefeltritte waren jetzt oben im Flur, näherten sich der Treppe. Eine geschlossene Tür – die Tür zur Priesterstube – würde den Eindringlingen sofort auffallen, wenn sie herunterkamen.

»Oh, Declan«, sagte Lolly, » Ärger hast du immer gemacht. Aber das jetzt musste nicht sein.«

Aaron blieb keine andere Wahl, er musste ihr hilfreich zur Seite stehen. Sie war in äußerster Not. Sie brauchte ihn. Er unternahm einen gänzlich sinnlosen Versuch, ging zum Fenster und wollte die Fensterläden öffnen. Vielleicht konnten sie die sterblichen Reste draußen abwerfen und sie später wieder hereinholen, wenn die Polizei die Umgebung absuchte.

Schon trampelten die Stiefel die Treppe herunter. Kitty, die selten eine liebenswürdige Gastgeberin war, lachte. Trotz aller Mühen wollten Aarons Fingerspitzen nicht in den Spalt zwischen den Läden passen; beinahe hätte er aus Wut mit der Faust gegen das Holz gedroschen, doch ein Klack hinter ihm hielt ihn davon ab. Das Abenteuer war zu Ende. Die Gerechtigkeit stand schon hinter der Tür. Jeden Moment würde die Polizei eindringen, würde Declan entdecken. Man würde höchst erstaunt sein, Fragen stellen, stammelnde Antworten erhalten, sich weiter wundern und etwas unternehmen, was noch nicht vorstellbar war. Ob jemand anders statt Declan gepackt und fortgeschafft würde, war völlig offen. Aaron hatte nicht die mindeste Ahnung, welche Anklagen man erheben, welche Alibis die Betroffenen erfinden, welche Beteuerungen sie vorbringen würden. Einer Sache jedoch war er sich sicher: Ein endloses Gerede würde einsetzen, bei dem nur Declan der Mühe enthoben war, seinen Beitrag zu leisten. Und dann – so stand es ihm vor Augen – würde das Durcheinander ein Ende haben. Lolly McKeever würde unumwunden ihr Verbrechen gestehen. Keiner würde sich rühren. Keiner würde etwas sagen. Irgendwer würde weinen. Er vermutete, er selbst würde es sein.

Aaron wandte sich von den geschlossenen Fensterläden ab, bereit, jede Eventualität zu akzeptieren. Doch die Tür war nur ein wenig geöffnet worden, und Lolly schob ihr Gesicht in den Spalt. Sie hatte die oberen Knöpfe ihrer Bluse geöffnet, die sie nun mit einer Hand zusammenzuhalten suchte. Die Schuhe hatte sie abgestreift, das Haar mutwillig zerzaust.

»Bitte«, hauchte sie. »Gewährt uns ein paar Minuten Zeit. Gewährt ihm die Chance, sich wenigstens etwas herzurichten.«

Eine barsche, verlegen klingende Stimme antwortete. »Das Fahrrad von dem Flüchtigen haben wir unten an der Straße hinter der Steinmauer gefunden. Und irgendwo im Haus hier gibt’s eine geheime Kammer, das ist bekannt.«

Man hörte Kitty lachen. »Ach, die alte Geschichte – und Sie glauben daran?«

»Ob wir dran glauben oder nicht, jedenfalls könnte sich der Mann da verstecken, und Sie würden es nicht mal merken. Aber wir finden ihn. Können sich drauf verlassen.«

Lolly zog ihre Bluse noch energischer zusammen. »Seid so nett, schaut euch erst in den anderen Zimmern um, Tom McTygue und du, Jim Collins, wie es sich für gute Freunde gehört. Und dann kommt zurück, ginge doch auch, nicht? Ich für meine Person schäme mich schon genug, aber ich würde mich zu Tode schämen, wenn ihr ihn in dem Zustand seht, in dem er jetzt ist, von mir will ich da gar nicht reden.«

»Lolly McKeever? Du?«, fragte eine heisere Stimme.

»Bitte, Tom. Bitte, Jim. Gebt uns einen Moment noch, ich bitte euch. Mir ist das alles so peinlich. Und ich verspreche euch hoch und heilig: Springmaus-Mörder gibt’s hier keine. Bei meiner Ehre!«

»Na, gut. Zieht euch was über und reißt euch zusammen. Wir machen hier unseren Job und gehen dann.«

Lolly nickte, zog sich von der Tür zurück und schloss sie schnell. Sie eilte zum Bett, schnappte sich von der gegenüberliegenden Seite das Laken an den beiden Zipfeln und dann die anderen Zipfel auf ihrer Seite. Die Stoffbahnen falteten sich nach innen, die Knochen – nicht zum ersten Mal – klackten gegeneinander. »Heben Sie die Matratze an«, flüsterte sie. »Schnell, Sie Döskopp.«

Aaron hob die Matratze an. Lolly legte das Lakenbündel über die breiten Latten und schlug es auseinander. Mit eiliger Hand, die jede dem Toten gebührende Rücksichtnahme vermissen ließ, verteilte sie die Kochen, so gleichmäßig es eben ging, nahm sich nur die Zeit, die Kappe über den Schädel zu schieben, als ob sie das Gesicht vor dem schützen wollte, was da kommen würde. »Und jetzt die Matratze drauf. Nun machen Sie schon!« Aaron legte die Matratze auf die Knochenschicht. Lolly zerwühlte das Bettzeug noch stärker, als es ohnehin schon war. Drückte die Delle im Kissen tiefer als Declans Schädel sie hinterlassen hatte. Kaum war das erledigt, setzte sie sich auf die Bettkante. Aaron war, als hörte er einen Knochen knacken. Er schloss die Augen in der Hoffnung, sich dadurch taub stellen zu können.

»Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich. Ganz dicht ran. Und machen Sie ein Schafsgesicht«, zischelte sie. Sie öffnete einen weiteren Knopf ihrer Bluse, fuhr sich mit den Fingerspitzen kräftig durchs Haar, legte die Hände in den Schoß und senkte den Kopf. Aaron setzte sich neben sie, es knirschte unter ihnen. »Ihr Hemd sieht richtig echt aus mit all den abgerissenen Knöpfen«, tuschelte sie. »Und jetzt nehmen Sie meine Hand, als ob wir uns den Teufel drum scheren.« Sie saßen mit ineinander verschränkten Händen da, die Lolly auf seinen Oberschenkel drückte, mehr mit einem ordentlichen Knuff als mit sanftem Druck. »Sie halten den Kopf gesenkt. Ich mime die Forsche.«

Es wurde sacht an die Tür geklopft. »Herein, Tom. Herein, Jim«, sagte sie leise und quetschte rasch Aarons Hand. Langsam ging die Tür auf. Lolly hob ein wenig das Kinn, obwohl das nicht vorgesehen war, senkte wieder den Kopf und schaute in ihren Schoß. »Aaron«, sagte sie, »das ist Tom.« Tom trat über die Schwelle und blieb stehen. »Tom, das ist Aaron, Kittys Neffe, wir sind Freunde, schon von Kindheit an.« Tom nickte. »Und Aaron, das ist Jim.« Jim kam herein und stellte sich vor Tom. »Jim, das ist Aaron. Aus Amerika.«

Jim nickte nicht. »Aus Amerika kommen Sie?«

»New York«, stellte Aaron richtig.

Nun nickte auch Jim, als ob Aaron damit alles geklärt hätte. Lolly presste die ineinander verschränkten Hände mit Nachdruck auf Aarons Oberschenkel. »Wir werden heiraten«, sagte sie. »Aaron ist mein Verlobter. Hast du bestimmt schon erraten, wenn du uns beide hier so sitzen siehst. Deshalb ist er rübergekommen. Aus New York.«

Aaron sah keinen Grund, die dümmliche Miene, die er zur Schau trug, zu ändern, doch als Lolly ihn auf die Wange küsste, glaubte er, dieses unerwartete Bekenntnis einer eventuellen Zuneigung gutheißen zu müssen. Er hob den Kopf, lächelte und hoffte, das Lächeln würde nicht zu einem hämischen Grinsen geraten.

»Verheiratet also seid ihr«, stellte Jim fest.

»Verlobt sind sie«, berichtigte Tom und kam einen Schritt nach vorn. »Kittys Neffe. Aus New York.«

Aaron nickte zur Bestätigung und nahm dann wieder den dümmlichen Gesichtsausdruck an, ein Vor-sich-hin-Starren, das mehr betrunken als gleichgültig und mehr aufgeschreckt als freudig bewegt wirkte. Natürlich fühlte er sich geehrt, plötzlich der Auserkorene zu sein, machte sich aber sogleich klar, dass es sich lediglich um ein Vernunftverlöbnis handelte. Lolly würde die Verlobung auflösen, sowie Wachtmeister Tom und Wachtmeister Jim ihre Mission erfüllt und sich aus der Priesterstube zurückgezogen hatten. Bis dahin würde er die Hand der Frau halten, den Kopf senken und nicht einmal versuchen, sich vorzustellen, wie die Sache ausgehen könnte. Nach Lage der Dinge war er jetzt ein am Mord Mitschuldiger.

Inzwischen hatten sich Kitty und Sweeney hereingestohlen und sich unauffällig zur Wand mit der geheimen Öffnung geschoben. Beide taten so, als müssten sie gegen eine Versteifung im Genick ankämpfen, drehten den Kopf hin und her, warfen Blicke unter die Bettstatt, stierten zur Decke, suchten zu ergründen, wohin ihr verstorbener Freund entschwunden war. Seine Abwesenheit flößte ihnen ehrfurchtsvolle Scheu ein, und sie rückten näher an die Wandverkleidung heran. Schließlich sagte Kitty mit honigsüßer Stimme, wie sie nur in der Kehle derjenigen entsteht, die darauf hinweisen wollen, am Ende ihrer Geduld zu sein, das aber mit einer vorgetäuschten Höflichkeit tun, die ihrem eigentlichen Wesen völlig fremd ist. »Nun, was ist? Sehen Sie hier irgendwelche entflohenen Gefangenen? Ist hier jemand, der eine Springmaus gebissen hat? Wenn nicht, hätten Sie, meine Herren, vielleicht die Güte, Ihre Nachforschungen andernorts fortzusetzen.«

Leicht verwundert, woher die Stimme gekommen war, drehte sich Jim nach ihr um. »Wir tun, was unser Job verlangt«, sagte er. Tom, der seine Augen nur schweren Herzens von dem glücklichen, auf dem Bett sitzenden Paar reißen konnte, ließ seinen Blick flüchtig durch die Stube wandern. Instinktiv machten Aaron und Lilly die Beine ein wenig breit in der Hoffnung, Teile oder Stücke von Declan abzuschirmen, die möglicherweise irgendwo hervorlugten, und die Gesetzeshüter davon abzuhalten, unters Bett zu schauen. Die Bewegung jedoch ließ Tom aufmerken, der seinen eigenen Instinkten Folge leistete, sich bückte und unters Bett guckte. Um ihn nicht in seiner Amtsausübung zu behindern, schickten sich Aaron und Lolly in das, was auch immer kommen mochte, schlossen nicht nur die Schenkel, sondern drückten sie enger aneinander, er an ihren, sie an seinen. Tom richtete sich auf. Lollys Bein wollte sich schon um eine Winzigkeit wegbewegen, blieb dann aber, wo es war, schmiegte sich noch enger an.

Inzwischen beschäftigte sich Jim damit, die Tür des Schränkchens zu öffnen und zu schließen, selber vorschriftsgemäß unters Bett zu spähen und auf den Dielenbrettern herumzuspringen, immer abwechselnd auf jeweils einem Fuß. Tom stieß mit einem Stock, der ihm wunderbarerweise von irgendwoher in die Hand geraten war, gegen die Zimmerdecke. Er nickte ehrfürchtig beim Vorbeigehen dem Kruzifix zu und untersuchte noch einmal den Schrank. Dabei ging er sorgfältiger vor als sein Partner, klopfte mit den Knöcheln die Innenwände ab und prüfte, ob die Scharniere funktionierten. Inspiriert von Tom, wie er das Schränkchen abklopfte, fing Jim an, mit der Faust gegen die Wand am Bett zu schlagen. Ohne recht zu lauschen, ob eine Resonanz einen Hohlraum hinter den Brettern verriet, pochte er immer weiter; seine Faust hatte sichtlichen Spaß daran, die Täfelung zu bearbeiten.

Kitty bemerkte als erste den Stift, den Nagel vom Kruzifix, der noch in der Wand war, wo Sweeney ihn hineingesteckt hatte. Aaron entging nicht, dass seine Tante plötzlich zusammenzuckte. Er folgte ihrem Blick und sah den Nagel. Jim hämmerte unaufhörlich weiter, Tom gesellte sich zu ihm und machte mit, beide gleichermaßen darauf erpicht, zu zeigen, wie gründlich sie ihren Dienst versahen.

Schließlich war es Jim, dessen Faust die richtige Stelle traf. Die Wandverkleidung öffnete sich knarrend und zwang Kitty und Sweeney, zur Seite zu hüpfen. Lolly, geistesgegenwärtig wie immer, schrie auf: »Seht bloß! Eine Geheimtür im Paneel!«

»Jesus, Maria und Joseph«, entfuhr es Tom.

Jim, im ersten Moment sprachlos, brachte dann heraus: »Wonach stinkt das? Verfaulen da Kohlköpfe?«

Tom griff sich mit der Hand ans Kinn, Jim hielt sich den Mund zu und rülpste tierisch. Kitty und Sweeney fuhren zurück, wie um ihr Erstaunen noch stärker zum Ausdruck zu bringen. Lolly presste ihren Schenkel fester an Arons, zog beider verschränkte Hände an die Lippen und nagte an Aarons Knöcheln.

»Komm raus! Los, mach schon, lass uns nicht lange warten!«, schrie Tom.

Jim brüllte noch lauter. »Jetzt haben wir dich! Rette deine Haut, kriech raus, sei vernünftig!« Zur Bekräftigung dessen, was er sagte, fuchtelte er mit der Hand. Tom bewegte sich nicht weg von der Öffnung und fragte, mehr zu Kitty gewandt: »Wo führt das hin? Gibt es einen Weg wieder raus?«

»Woher soll ich das wissen? Nie im Leben habe ich das hier gesehen.«

»Aber die alte Geschichte besagt doch, ein Tunnel ginge runter zur See«, griff Jim ein. »Und das hier muss er sein. Wir haben ihn gefunden.«

»Man möchte es nicht glauben«, wunderte sich Kitty. »Nicht auszudenken!«

»Komm raus! Mach schon!«, brüllte Tom noch einmal.

»Da ist keiner drin«, sagte Sweeney. »Nur ein Idiot würde seinen Fuß in so was von Gestank setzen.«

Aaron wollte schon den Kopf heben und protestieren, besann sich aber und schwieg. Lolly hatte ihre ineinandergefügten Hände wieder auf seinen Oberschenkel gelegt, gab sich ganz locker und deutete damit an, dass die Polizei auf der falschen Fährte war. Kitty verstand den Wink, nahm die Taschenlampe von der Kommode und verkündete: »Kommen Sie mit! Ich geh voran. Wenn da einer drin ist, kann das nur ein Geist sein, und den tät ich mir gerne anschauen.«

Tom und Jim sahen einander fragend an. Kitty bückte sich und wollte in den Tunnel steigen. »Du machst das doch nicht wirklich?«, fragte Sweeney und zwang sich, nicht die Hände zu ringen – ihm war Lollys Signal entgangen. »Ich meine, du weißt doch nicht, was dich da drin erwartet. Bitte. Überleg’s dir.«

Ohne sich aufzurichten, meinte Kitty: »Was immer da drin ist, ist eben drin. Ich will einfach die Sache hier hinter mich bringen und wieder mein normales Leben führen.« Sie knipste die Lampe an und hielt den Lichtstrahl ins Dunkel.

Lolly holte tief Luft, atmete aus und erklärte: »Ihr werdet da nichts finden. Das kann ich euch versichern.«

»Ah so?«, fragte Tom.

»Du scheinst dir ja schrecklich sicher«, sagte Jim. »Wieso eigentlich?«

Lolly zuckte die Achseln. »Ich weiß das eben, einfach so.« Sie schaute Sweeney durchdringend an. Er erwiderte ihren Blick, wandte sich dann an die immer noch gebückt stehende Kitty. »Ich geh da rein«, sagte er. »Das ist nichts für eine Frau, egal, was sich da offenbart.« Das hören und reagieren, war für Tom und Jim eins. Wie Bühnenarbeiter, die mit ihrem Scheinwerfer beim Stichwort etwas hinterherhinken, schauten sie Sweeney groß an. »Wir sind diejenigen, die reingehen«, sagte Jim, »wenn überhaupt wer reingeht.« Kitty schnaubte verächtlich und stieg in die Öffnung.

Tom und Jim berieten sich im stummen Blickwechsel, beide Männer bückten sich und machten sich bereit, ihr zu folgen. Jim steckte den Kopf hinein, zog ihn zurück, spuckte aus und ging dann doch weiter. Stolpernd stieg Tom hinterher. Aus dem Dunkel hörte man nur das Wort »Autsch«, es kam von Jim.

Lolly löste rasch ihre Hand von Aarons, schüttelte sie dreimal, als wollte sie die Berührung mit ihm ungeschehen machen. Ihr Oberschenkel rückte ab von seinem, und mit flinken Fingern begann sie, ihre Bluse zuzuknöpfen. »Meine Schweine warten auf mich, ich muss mich kümmern«, sagte sie und stand auf. Sie ging zu der Öffnung, Aaron hinterher. Beide schauten hinein, lauschten, ob sich die Geräusche entfernten. Zweimal war Jims »Ooch!« zu hören, einmal Toms »Drängel nicht so«. Aus der Ferne klang Kittys Stimme: »Lassen Sie mich wissen, meine Herren, wenn es Ihnen reicht.«

Sweeney ging zum Bett und ließ sich auf der Matratze nieder. »Was habt ihr mit Declan gemacht?«, flüsterte er. Als er eine Handbreit auf der Matratze weiterrutschte, knackte und knirschte es. Lolly und Aaron drehten sich mit großen Augen zu ihm um.

»Oh! Ach, Herrje!«, sagte Sweeney.

»Steh auf, Sweeney«, zischelte Lolly, »ehe du ihm noch mehr antust, als du bereits getan hast. Und Sie, Aaron, helfen mir, ihn rauszuschaffen, bevor die alle zurückkommen.«

»Rausschaffen?«, fragte Aaron.

»Wir schnüren ihn zu einem Bündel, und zu Hause richte ich ihn wieder her.«

»Sie wollen ihn mitnehmen, zu sich nach Hause?«

»Wir können ihn doch nicht hierlassen.«

Sweeney stemmte sich mit den Handflächen auf die Matratze. »Ich bin eigens hergekommen, um ihn mitzunehmen. Der geht mit mir.«

Aaron überlegte ob er Tom und Jim hinterherrufen sollte, kommt schnell, ich kann euch was zeigen. Irgendetwas in der Art, um ihr Wortgeplänkel zu stoppen. Dass Lolly ihn weiterhin benötigte, hatte sich erledigt, und er hegte keine Zweifel, dass Lolly McKeever die Mörderin war. Ihr frenetisches Bemühen, das Skelett zu verbergen, kam einem Schuldbekenntnis so nahe, wie man es sich nur wünschen konnte. Und wie unverschämt sie ihn, Aaron, benutzt hatte. Zwar war das in manchen Momenten auch nicht ohne gewesen, aber in der Rückschau war sie schamlos, skrupellos und, was noch schlimmer war, unaufrichtig gewesen. Er wusste, dass ihr Handergreifen, Schenkeldrücken und Beknabbern seines Fingerknöchels gekonnte Schauspielerei war, doch sie hatte das so überzeugend hingekriegt, dass er schon begonnen hatte, sich Hoffnungen zu machen, zu glauben, sie hätte in ihrer Not erkannt, wie anziehend seine körperliche Nähe war, wie unwiderstehlich seine Hand, sein Schenkel, sein Knöchel waren. Aber zu schnell hatte sie sich von seiner Seite gelöst, hatte seine Hand fahren lassen, hatte ihren Oberschenkel von seinem abgerückt. Er fühlte sich erniedrigt zu dem, wofür sie ihn hielt: ein notwendiges, aber nur zeitweilig gebrauchtes Requisit. Er verlangte keine Dankbarkeit von ihr. Er wollte lediglich eine irgendwie spürbare Bestätigung, dass seine Nähe sie erregt hatte. Dass sie sich ein bisschen verwirrt fühlte, war alles, was er verlangte, eine verschämte Andeutung, dass sie ihre gewohnte Beherrschung verloren hatte, nun aber um einen kurzen Aufschub bat, ihre Gefühle wieder zu ordnen nach dem, was ihr in seiner hautnahen Gegenwart widerfahren sei.

Sweeney holte erschrocken tief Luft und flüsterte verstört: »Das Schwein ist im Grab!« Wild mit den Armen fuchtelnd, stürzte er aus der Stube, nicht ohne gegen den Türrahmen zu schlagen. Er überquerte den Gang, verschonte mit seinen Hieben nicht die Küchentür und drosch noch einmal gegen die Tür, die sich zum Hof öffnete. Die Fliegentür knallte zu, und durch die Gaze konnte Aaron sehen, dass Sweeney wie ein verrückt gewordener Tänzer zu dem Loch hastete, in dem Declan gelegen hatte. Der Rücken des Schweins war sichtbar, die rosige Rundung glitt von einer Seite zur anderen. Selbst einem Stadtmenschen wie Aaron ging auf, das Schwein hatte sich eine Suhle geschaffen, hatte tief genug gewühlt, so dass der Grund des Grabes moddrig wurde, und genoss nun die Früchte seiner Mühen. Wenn Aaron richtig hörte, gab Sweeney zischende Laute von sich, mit denen man vielleicht eine Gans verscheuchen konnte, aber gewiss kein Schwein. Er umkreiste das Grab, die rosige Rundung glitt eher erregter hin und her; dem Schwein schien der Schamanentanz eines Mannes mit um sich schlagenden Armen und von Geistern beflügelten Stiefeln noch größere Befriedigung zu verschaffen.

Ob Aaron oder Lolly davon abgehalten werden sollten, sich dort draußen einzumischen oder auch nur bei dem urtümlichen Ritual zuzuschauen, bleibt dahingestellt, jedenfalls schlug ein plötzlicher Luftzug die Tür zur Priesterstube zu. Aaron stand neben der Tür. Lolly stand neben dem Bett. Sie waren allein.

Beide sagten kein Wort, waren im Schwebezustand zwischen dem, was sich ereignet hatte, und dem, was jetzt passieren würde. Aaron rührte sich nicht, Lolly aber, um anzudeuten, dass man sich sehr wohl bewegen durfte, ließ sich auf das Bett nieder. Es knackte und knirschte wie zuvor, doch sie kümmerte das nicht weiter. Sie legte die Hände in den Schoß und starrte auf die geschlossene Tür. Aaron ging nach kurzem Zögern zu dem Stuhl neben dem Schränkchen und setzte sich. Er legte die Hände auf die Oberschenkel und starrte auf die Öffnung im Paneel. Etwa eine Minute lang verharrten sie reglos. Dann erhob sich Lolly und ging hinüber zu dem mit den Läden verschlossenen Fenster. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über den Spalt zwischen Fensterladen und Fensterbank, zog einmal kurz, und der Fensterladen kam ihr entgegen. Sie machte es auf der anderen Seite genauso, und auch der Fensterladen ging auf und schwenkte in die Stube hinein. Dann drückte sie leicht von unten auf den Fensterrahmen und schob ihn hoch. Einen Moment stand sie und blickte verdutzt auf die Landschaft, schließlich ging sie zu der glaubensstrengen protestantischen Bank, nahm steif darauf Platz und schaute stumpfsinnig vor sich hin.

Eine sanfte Brise mit dem Geruch von Äpfeln, deren Reifezeit allerdings noch in weiter Ferne lag, wehte in den Raum. Von seiner Position aus hatte Aaron eine ausgedehnte Wiesenfläche im Blickfeld. Die hohen Grashalme neigten sich zur See, was eigentlich nicht sein konnte, denn alle Winde kamen aus West. Doch anstatt dieses Phänomen in seine Verwirrung der Gefühle einzuordnen, stellte er innerlich fest – im Grunde genommen war es mehr ein Seufzer –, wie anmutig sich das Gras dem Wind ergab. Auch ein einsamer Baum stand da, eine Eiche, wie er wusste. Oft hatten sie in ihrem Schatten gepicknickt; das war, bevor die Zeit und das Meer sie so gefährlich nahe an den Rand der Klippe gerückt hatten. Weiter hinten erstreckte sich ein breites Wasserband, das das Ende des Festlands vom Beginn des Himmels trennte. Nur ein einsames Boot, ein curragh, war zu sehen, und selbst das konnte genauso gut der Kamm einer Woge sein, die sich davor hütete, auf die Küste zuzurollen. Große Massen schneeweißer Wolken, die sich wie ehrwürdige Königreiche majestätisch aus der See erhoben, hingen unbeweglich am Himmel im Norden, davon überzeugt, den ihnen zustehenden Platz im Kosmos gefunden zu haben und dort zu bleiben, wo sie waren, bis ans Ende aller Reiche der Welt. Der Wind fuhr durch die Blätter der Eiche, aber das Gras war nicht bereit, sich noch tiefer zu neigen. Hinten am Horizont war das Boot verschwunden, eine sich aufbäumende Welle war gebrochen, oder das Boot war gesunken und für immer dahin.

»Werden Sie bleiben, bis der Fingerhut blüht?«, fragte Lolly leise. »Und die wilden Heckenrosen, die brauchen nicht mehr lange. Die müssten Sie auch sehen.« Sie lächelte, hielt die Augenlider leicht gesenkt, als sähe sie schon die Blumen, deren Zeit noch nicht gekommen war. Als Aaron nichts erwiderte, schaute sie ihn mit großen Augen an, immer noch mit einem verhaltenen Lächeln. »Natürlich hat man jetzt den Hahnenfuß und die Sternmiere, die sind auch sehr hübsch; aber den Fingerhut, den müssten Sie unbedingt sehen.«

»Würde ich gern«, sagte Aaron. »Aber ich bin mir noch nicht schlüssig, wie lange ich bleibe.«

»Sie sind von so weit her gekommen. Da sollten Sie nicht zu schnell wieder abreisen.« Ihr Lächeln wurde wehmütig bei dem Gedanken, dass ihm so vieles entgehen könnte. Und ihre Stimme klang jetzt fast weich. Aaron blickte aus dem Fenster. Ein brauner Vogel hüpfte im Gras umher, kam wieder hoch, flatterte hierhin und dahin, als ob er etwas suchte, das er liegengelassen hatte. »Was für ein Vogel ist das?«

»Der da? Das ist eine Rohrammer. Ein närrischer Vogel. Sitzt am liebsten auf Telefondrähten, kaum woanders.«

»Scheint ihm zu gefallen, da zwischen den Gräsern.«

»Vielleicht hat er da ein Nest und findet es nicht mehr, der Ärmste.«

»Ein Jammer, dass man keine Vogelnamen kennt.«

»Aber ein paar kennen Sie bestimmt.«

»Ein paar schon, doch viel zu wenige.«

»Haben Sie einen Lieblingsvogel?«

»Hab nie drüber nachgedacht. Könnte aber sein.«

»Welcher wäre es denn?«

»Einer, den ich nie gesehen habe. Ein Blaukehlchen vielleicht oder eine Nachtigall oder ein Adler.«

»Sie haben noch nie einen Adler gesehen?«

»Nein. Nie.«

»Merkwürdig. Das müssen Sie nachholen.«

»Ja.« Aaron lächelte flüchtig und schaute wieder hinaus. »Mein Lieblingsvogel ist wohl der Kormoran. Ich hab sogar einen gesehen, gestern bei den Klippen.«

»Das ist Ihr Lieblingsvogel?« Es klang mehr verwundert als überrascht. »So ein gefräßiges Biest?«

»Der Name ist’s, ›Kormoran‹. Dieser Klang, der hat mir schon als Junge gefallen, wie man den im Mund formt, wie er einem über die Lippen geht: ›Kormoran.‹«

»Da haben Sie einen.« Lolly nickte zum Fenster hin.

Wie gerufen war er da, der geschmähte Fischjäger, unbekümmert um die ihm von der Welt entgegengebrachte Verachtung, segelte über den Klippen, ließ sich von der Luft tragen, breitete selbstvergessen die Schwingen aus. »Tatsächlich. Ein Kormoran. Ich hatte schon vergessen, dass mir der besonders gefiel.« Der Vogel schoss hinunter, entschwand ihren Blicken, stieg wieder auf, als wäre er auf einer Persenning gelandet und plötzlich hochkatapultiert worden. Er wandte sich gen Süden und flog davon, befriedigt, dass er die durch die Nennung seines Namens geforderte Vorführung beendet hatte.

»Kormoran«, sagte Lolly.

»Ja. Ein hübsches Wort. Egal, an was man dabei denkt.«

»Ja. Ein hübsches Wort. Das werde ich mir merken.« Wieder lächelte sie so ganz nach innen gekehrt, im Vorgefühl eines zukünftigen Augenblicks, wenn ihr das Wort einfallen und sie es halblaut vor sich her sagen und dabei an den Moment denken würde, da sie es sich als neuen Begriff eingeprägt hatte. Aaron beobachtete, wie das Lächeln langsam schwand und Lolly erneut die in ihrem Schoß gefalteten Hände betrachtete.

Er lauschte, ob es Geräusche aus der Öffnung in der Wand gab. Konnte der Tunnel ein Labyrinth sein und sie sich darin verirrt haben? Hatte sich wirklich jemand dort versteckt? Er horchte noch gespannter, hörte aber nichts, nur das Gezwitscher eines anderen Vogels, dessen Namen er nicht kannte. Die Stille war ihm willkommen, Lollys ungezwungene, unaufdringliche Gegenwart empfand er als so natürlich, dass sie ihm nicht verwunderlich erschien. Er schaute zu, wie sie die Daumen wieder und wieder kreuzte, den Zeigefinger streckte, ihn beugte und auf den Daumen legte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf ihre Brüste. Sie waren entspannt und füllig, weder fordernd noch aufreizend, verströmten Behaglichkeit. Sein Blick musste wohl länger auf ihnen geruht haben, als ihm bewusst war. Er hob die Augen und sah, dass Lolly ihn anlächelte. Aaron lächelte ebenfalls, ihn durchrieselte es warm bei dem Gedanken, dass sie ihrerseits sein Wohlgefallen bemerkt hatte und als annehmbar guthieß, vielleicht sogar erwartet hatte, dass es nun aber beiderseits keines weiteren Kommentars oder weiterer Gesten bedurfte.

Im Gegenzug schien sie jetzt seine Nase einer Betrachtung zu unterziehen, vielleicht waren es auch mehr die Ohren, die sie interessierten. Als Antwort darauf zwinkerte er mit den Augen, denn lieber hätte er die im Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung gehabt. Als sie sich klar geworden war, dass es ihr vor allem sein Gesicht angetan hatte – in erster Linie seine Ohren – beugte sie sich zu der Öffnung im Wandpaneel, nicht ängstlich ungeduldig, lediglich prüfend, wie Aaron es zuvor getan hatte. Doch zu hören war immer noch nichts. Sie richtete sich auf und wollte schon den Kopf an die Wand lehnen, entschloss sich aber, nicht auf Aaron, sondern einfach aus dem Fenster zu schauen, das sie so mühelos geöffnet hatte.

Abermals zog ein Lufthauch durch den Raum, diesmal roch er mehr nach Dung als nach Äpfeln – obwohl kein Vieh in der Nähe war und Äpfel schon gar nicht unter der Dachtraufe lagerten. Aaron blickte auf seine khakifarbenen Shorts, sein Hemd und seine schlammverkrusteten Füße. Hatte die Brise, die an ihm vorbeistrich, ihm seinen eigenen Geruch in die Nase geweht? Er hatte bereits vergessen, dass die ihm von seinem Schwimmabenteuer anhaftenden Ablagerungen und der penetrante Gestank im Tunnel unmittelbarer Bestandteil seiner Kleidung geworden waren, ihm in alle Poren gedrungen waren, selbst bis in die Follikel seiner Haare auf dem Kopf, der Brust, den Armen und Beinen und sonstwo. Dass es lediglich Dung war, was man roch, müsste ihm zum Vorteil gereichen.

»Meine Schweine werden mich vermissen«, sagte Lolly; sie klang bekümmert wegen der Sorgen, die sich ihre Pflegebefohlenen um sie machten. Aaron hatte keine Mühe zu erraten, warum sie gerade jetzt darauf kam. Er nickte, schaute aber nicht auf. »Meine Schweine sind die einzigen, die nach Kleie riechen«, fügte sie hinzu. »Und dabei füttere ich sie gar nicht mit Kleie. Aber so riechen sie eben. Nach Kleie.« Aaron nickte noch einmal. »Die werden mich vermissen.« Wieder klang sie ganz bekümmert, aber auch belustigt, weil sie sich über ihren eigenen Gemütszustand amüsierte.

Aaron beschloss, diesmal nicht zu nicken; konnte ja sein, die Wiederholung langweilte sie. Statt dessen teilte er mit: »Kohl habe ich nicht ausstehen können, bis ich vierzehn war. Dann habe ich Geschmack dran gefunden.«

Jetzt nickte Lolly. Sie wartete einen Moment, ehe sie erwiderte: »Wirklich, kommen Sie mal vorbei und schauen Sie sich die Schweine an. Dann verstehen Sie, was ich meine. Nach Kleie riechen sie.«

Ehe Aaron sich wieder auf das Kopfnicken verlegen konnte, drang lauter werdendes Gemurmel aus der geöffneten Wand. In dem Maße, wie es näher kam, schwoll es zu einem Stimmengewirr an, dann ließen sich einzelne Stimmen unterscheiden – drei, genau genommen – die, wie konnte es anders sein, sich über etwas stritten. Worüber, war noch nicht zu verstehen, obwohl sie gespannt lauschten. Dann, als das halblaute Reden deutlicher wurde, konnten sie das Wort »Finger« ausmachen, wahrscheinlich Jims Stimme, »das glaubst du« vernahmen sie in Toms Tonfall, und »atmen« rief Kitty. Schließlich war das Kauderwelsch greifbar nahe. Auf »Halten Sie die Lampe hoch« folgte »Geh weiter«, dann »Ob es das ist, was ich denke?« und »Ich kriege keine Luft«, schließlich hieß es, »Fängst wohl an, Souvenirs zu sammeln.« Das Letzte, was sie hörten, war: »Aber das ist ein Stück Knochen. Ich fühle das, es ist ein Knochen!«

»Declans Finger«, murmelte Aaron. »Sie haben ihn gefunden.« Der Strahl der Lampe traf die Decke, glitt von da zur gegenüberliegenden Wand, und so, wie man die Tunnelstufen hochstieg, wanderte der Lichtstrahl abwärts. Lolly stand auf und glättete rasch die Bettdecke, fuhr mit der Hand an der Matratze entlang, um sicherzugehen, dass Declan ordentlich verstaut war. Sie schüttelte ihre Haarpracht, als wollte sie damit abschütteln, was mit Aaron allein in der Stube hätte passieren oder hätte gesagt werden können.

Kitty steckte den Kopf aus der Öffnung. Ihr ging der Strahl der Taschenlampe voran, der nun blass wirkte gegen das Tageslicht vom offenen Fenster. Doch bevor sie durch die Wandtäfelung klettern konnte, wurde sie von Jim beiseitegestoßen, der in die Stube stolperte und zum Fenster rannte. Er hielt hoch, was wie ein kleines Schmuckstück aussah, drehte es um und um, wollte herausfinden, was es bei Licht besehen darstellte. »Es ist ein Knochen! Sieht aus wie ein Fingerknöchel«, sagte er. Kitty gelang es, in die Stube zu steigen. Tom folgte ihr. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und rieb sich mit der Taschenlampe die Wange. »Was für ein grässlicher Gestank ist das hier?«, fragte sie.

Tom gesellte sich zu Jim ans Fenster, und die beiden betrachteten ehrfürchtig ihr Fundstück, das augenscheinlich der Fingerknöchel von Declan Tovey war. Tom wollte ihn Jim aus der Hand nehmen, aber Jim streckte den Arm weit weg, wartete, bis Tom die Hand gesenkt hatte, und hielt den Knochen erneut ins Licht. »Eine Reliquie«, flüsterte Jim. »Eine heilige Reliquie. Von einem zum Märtyrer gewordenen Priester. Stell dir die Segnungen vor, die mir zuteilwerden.«

»Eine Fischgräte, nichts weiter«, sagte Tom.

»Weil nicht du ihn gefunden hast.«

»Trotzdem ist das immer noch eine Fischgräte.«

»Dir fehlt der Glaube.«

»Der Glaube an Fischgräten fehlt mir, wenn du das meinst.«

Die Fliegentür schlug laut zu. Sweeney kam hereingestürzt, die vehement aufgerissene Stubentür stieß Kitty gegen die Wand. »Das Schwein«, keuchte er. »Das Schwein sielt sich im Grab!«

Unfähig einzugreifen, erstarrten Lolly und Aaron zur Salzsäule. Kitty, die zwischen Tür und Wand eingeklemmt war, erging es vermutlich nicht anders. Sweeney begriff augenblicks, welchen Fehler er mit seinem Ausruf begangen hatte, kratzte sich die Brust, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stieß mühsam hervor: »Ich meine …«. Er konnte seine Richtigstellung nicht zu Ende bringen, denn Jim, den Toms Ketzereien aufgebracht hatten, fuchtelte mit dem Knochen seinem Kollegen vorm Gesicht herum. »Wir werden schon sehen, was Pater Colavin dazu sagt. Ich zeig ihm das hier und erzähle ihm die ganze Geschichte, und dann werden wir schon sehen …« Er stutzte, hielt inne und wandte sich langsam nach Sweeney um. Auch Tom drehte den Kopf, wenn möglich, noch langsamer.

»Was für ein Schwein?«, fragte Jim.

»Und welches Grab?«, fragte Tom.

»Nein, nein, nichts von beiden. Kein Schwein. Kein Grab«, stammelte Sweeney.

»Hast du nicht eben gesagt: ›Das Schwein sielt sich im Grab‹?«

»Oh. Das. Ja. Ja, das habe ich gesagt.«

Jim schloss die Faust um den kostbaren Finger, um ihn vor jedweder Verunglimpfung, die aus dem Gerede über ein Schwein erwachsen könnte, zu bewahren. »Deshalb frage ich noch einmal, was für ein Schwein?«

»Ja«, sagte Tom, der nicht willens war, sein Urheberrecht an der von ihm gestellten Frage aufzugeben. »Was für ein Grab?«

Kitty glitt hinter der Tür hervor und rieb sich die Schulter. »Sweeney heißt er. Das wissen Sie doch. Warum hören Sie überhaupt hin, wenn der was sagt? Seine Leute wissen schließlich nie, wovon sie reden. Quatschköppe sind das, wie sie im Buch stehen, quasseln ständig was von Schweinen und Gräbern, von Schafen und Leichentüchern. So einem wie dem schenken Sie Gehör? Sind ja genauso bekloppt wie er.«

»Ich, und bekloppt?« Sweeney richtete sich auf, wuchs um mindestens einen Viertelzoll.

»Wenn du ein Sweeney bist, trifft das Wort genau auf dich zu. Aber Schluss jetzt mit Schweinen und Gräbern und all dem Blödsinn, den du da faselst.«

Sweeney brachte es fertig, irgendwo im Rückgrat oder im Nacken einen weiteren lockeren Muskelrest zu finden, um sich noch einen Viertelzoll größer zu machen. »Diese Männer haben Besseres zu tun, als auf gehässige Verleumdungen zu hören. Sie wissen, in ihrem Beruf kommt es einzig auf die Wahrheit an. Auf Fakten, auf nichts sonst. Und wie alle gebildeten Menschen wissen sie außerdem, ein Sweeney zu sein, bedeutet auch ein Dichter zu sein. Und wenn dir nicht gleich bei der ersten Zeile, die du vernimmst, der Sinn für Poesie aufgeht, dann gehörst du nicht in das Land, in dem du geboren bist. Es war ein Gedicht, das ich rezitiert habe. ›Das Schwein sielt sich im Grab.‹ Hast du nie etwas von Symbolismus gehört? Sind dir Metaphern gänzlich fremd? Hör doch nur! ›Das Schwein sielt sich im Grab.‹ Hörst du es nun? Hast du ein Ohr für die Kadenz, den Versrhythmus, oder geht das an dir vorbei?« Er wandte seinen erhabenen Blick von Kitty ab und Jim und Tom zu. »Sie können das hören, nicht wahr? Sie erkennen Poesie, sobald ihre Fittiche Sie streifen. ›Das Schwein sielt sich im Grab.‹ Überdenken Sie das, meine Herren. Überdenken Sie es. Und dann bestätigen Sie mir und allen hier Versammelten, dass ein Dichter vor Ihnen steht.«

Lolly und Aaron wagten, sich ein wenig aus ihrer Starre zu lösen. Jim schaute einen Moment Sweeney an, dachte kurz nach und sah zum Licht, das durchs Fenster einfiel. Wieder hielt er die Reliquie hoch. Tom blickte Sweeney weiter an, Nachdenken dauerte bei ihm etwas länger. Dann richtete auch er seine ganze Aufmerksamkeit auf den Finger. »Abergläubischer Quatsch.«

»Glaubensstärke«, sagte Jim. »Ich nehme den Fund mit zu Pater Colavin.«

»Bring ihn in die Gerichtsmedizin«, schlug Tom vor. »Die untersuchen das. Werden dir klarmachen, was für eine Narretei du anbeten willst.«

Aaron schaute zu Kitty, Kitty zu Sweeney, Sweeney zu Lolly und Lolly zu Aaron. Keiner sagte ein Wort. Keiner bewegte sich.

»Gerichtsmedizin!« Jim spie das Wort aus. »Nie kriegen die das in ihre Pfoten mit ihren Gummihandschuhen, die mit ihrem Kohlenstoffgehaltbestimmen und mit DNA und all dem Zeug. Was wir wissen müssen, lehrt uns der Glaube.«

»Lehrt uns, was wir über Fischgräten wissen müssen. Gräten und Glauben.«

Kitty war die Erste, die sich entspannte, dann Lolly, danach Sweeney und schließlich Aaron. Lolly fragte so unverfänglich wie möglich: »Wolltet ihr nicht nach einem entflohenen Gefangenen fahnden?«

»Tun wir doch, wir fahnden nach ihm, vielen Dank«, sagte Jim. »Und wir werden auch weiter nach ihm fahnden, wenn ihr uns jetzt entschuldigen wollt. Los, Tom, komm! Zuerst gehen wir zu Pater Colavin. Und noch ehe der Tag sich neigt, wirst du von dem in meiner Hand hier die Vergebung deiner Sünden erbitten. Aber man wird dir deine Spöttereien heimzahlen.«

Mit Schritten, denen die Autorität ihres Berufs Gewicht verlieh, stapften Jim und Tom zur Tür, über den Flur, durch die Küche und hinaus auf den Hof. Aaron beobachtete, dass sie einen kurzen Augenblick haltmachten, als sie das Schwein sahen, das sich in der Senke suhlte; es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn ihnen dabei ein flüchtiger Gedanke durch den Kopf schoss. Während sie weiter zu ihrem Auto gingen, drehte nur Tom langsam den Kopf und schaute zurück, gab sich aber plötzlich den Befehl »Augen geradeaus«, als er mit der Stoßstange hinten an ihrem Wagen kollidierte.

Schweigend schauten Aaron, Lolly, Kitty und Sweeney dem Fahrzeug hinterher. Declans Finger lag aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Armaturenbrett zum Schutz gegen alles Unheil in dieser Welt und der nächsten.

Kaum war das Auto ihren Blicken entschwunden, drehten sich die vier wie ein Mann um und sahen zum Bett, wo der sterbliche Rest von Declan Tovey lag, zerdrückt und zerquetscht unter der schäbigen Matratze, die bislang nur Priestern gedient hatte.

»Ich finde«, verkündete Kitty, »bevor wir irgendwas tun oder irgendwas sagen, sollten wir uns einen Drink genehmigen.«