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Eine wahrhaft kaiserliche Zuflucht
Wie eine Statue gegen ein Marmorgesimse gedrückt, auf einem Bein balancierend, die stählernen Fingerspitzen gegen die kalte Steinoberfläche gepreßt, starrte Alar eine Stunde später durch ein Fenster.
Die Frau war etwa in seinem Alter, und sie trug ein weißes Abendkleid von wunderbar weicher Pracht. Das lange blauschwarze Haar fiel ihr, mit dezenten Goldnetzen geschmückt, in einem breiten Band über die linke Brust herab.
Ihr Kopf schien unnatürlich groß zu sein, darin ähnelte er dem seinen, mit großen schwarzen Augen, die ihn eingehend musterten.
Die geschickt bemalten Lippen bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu den bleichen, völlig ausdruckslosen Wangen. Sie stand nicht aufrecht da, sondern ihr linkes Bein war leicht abgewinkelt, so daß sich linke Hüfte und linkes Knie deutlich unter dem Kleid abzeichneten.
Sie machte ganz den Eindruck wachsamer Würde.
Alar war sich einer wachsenden, undefinierbaren, frohen Erregung bewußt. Er glitt lautlos auf den Boden hinab, stellte sich neben das Fenster, wo er vom Hof aus nicht zu sehen war, und wandte ihr erneut das Gesicht zu. In diesem Augenblick blitzte etwas an seinem Gesicht vorbei und blieb in der Wandverkleidung neben seinem Ohr stecken.
Er erstarrte.
„Ich bin froh, daß Sie logisch reagieren“, erwiderte sie ruhig. „Das erspart einem Zeit. Sind Sie der flüchtige Dieb?“ Er bemerkte das Funkeln in ihren Augen und schätzte rasch ihren Charakter ab: in sich verschlossen und gefährlich.
Er antwortete nicht.
Die Frau machte rasch mehrere Schritte auf ihn zu und hob gleichzeitig den rechten Arm. Bei der Bewegung spannte sich ihr weißes Kleid vorn über ihrer Figur und ließ die Kurven hervortreten. In der erhobenen Hand hielt sie ein zweites Messer. Im gedämpften Licht glänzte es bösartig.
„Es wird sich für Sie empfehlen, mir wahrheitsgemäß und rasch zu antworten“, meinte sie.
Er antwortete noch immer nicht. Seine Augen standen jetzt weit offen und bohrten sich in die ihren, aber diese großen Augen mit dem schwarzen inneren Feuer hielten seinem Blick völlig unbewegt und ohne zu zucken stand.
Von ihren Lippen brach unerwartet ein kurzes Gelächter. „Bilden Sie sich ein, mich niederstarren zu können?“ fragte sie. Das Messer vibrierte vielsagend über ihren Fingern. „Los, zeigen Sie mir Ihre Maske, wenn Sie der Dieb sind.“
Er lächelte ironisch und zog die Maske hervor.
„Warum haben Sie nicht den Treffpunkt der Diebe aufgesucht? Warum sind Sie hierher gekommen?“ Sie senkte den Arm, hielt aber das Messer fest im Griff.
Er starrte sie verkniffen an. „Ich habe es versucht. Alle Wege im Umkreis von Meilen sind abgesperrt. Auf dem Weg hierher, ins Kanzleramt, war die Bewachung am schwächsten. Wer sind Sie?“
Keiris ignorierte die Frage. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, musterte ihn von den weichen Schuhen bis zur schwarzen Kopfbedeckung. Dann betrachtete sie eingehend sein Gesicht, und zwischen ihren Brauen zeigte sich ein schwaches, leicht erstauntes Stirnrunzeln.
„Haben Sie mich früher schon einmal gesehen?“ fragte er. In ihrem Ausdruck lag etwas, was ihn beunruhigte. Es kam auf geheimnisvolle Weise zu der freudigen Erregung hinzu, die in ihm aufzuwallen begann.
Sie ignorierte auch diese Frage. Sie sagte: „Was soll ich mit Ihnen anfangen?“ Die Frage war im Ernst gestellt und verlangte nach einer ernsten Antwort.
Er hätte beinahe scherzend gesagt: „Rufen Sie die kaiserliche Polizei, die wird schon wissen, was zu tun ist.“ Statt dessen sagte er schlicht: „Helfen Sie mir.“
„Ich muß weg“, überlegte sie. „Dennoch kann ich Sie nicht im Stich lassen. Man wird diese Räumlichkeiten durchsuchen, ehe noch die Stunde um ist.“
„Dann helfen Sie mir also?“ Er kam sich wegen seiner Worte sofort dumm vor. Gewöhnlich stand er dem Unerwarteten mit völliger Selbstbeherrschung gegenüber – es störte ihn, daß ihn diese Frau aus der Ruhe bringen konnte. Um sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, fügte er rasch hinzu: „Vielleicht kann ich mit Ihnen kommen?“
„Ich muß mich auf dem Ball zeigen“, erklärte sie.
„Ball?“ Der Dieb überlegte sich rasch die Möglichkeiten, denn er rechnete nun schon fest mit ihrer Hilfe. „Warum kann ich nicht mitkommen? Ich kann Sie sogar begleiten.“
Sie musterte ihn neugierig. Ihre rot geschminkten Lippen hatten sich gerade soweit geöffnet, daß er das Weiß ihrer Zähne sehen konnte. „Es handelt sich um einen Maskenball.“
„Wie wär’s damit?“ Er zog sich kühl die Diebsmaske über.
Ihre Augen weiteten sich unmerklich. „Ich nehme Ihre Einladung an.“
Wenn ihm nicht vor einer knappen Stunde jeder Sinn für Wahrscheinlichkeit und Proportion verlorengegangen wäre, hätte er vielleicht kurz mit Worten wie phantastisch’, ‚lächerlich’ und verrückt’ herumgespielt und sich gefragt, wann ihn das Pfeifen der Kaffeekanne aufwecken würde.
Er verbeugte sich ironisch.
„Es ist mir ein Vergnügen.“
Sie fuhr ganz im Ernst fort. „Sie beabsichtigen natürlich, die Festsäle bei der erstbesten Gelegenheit zu verlassen. Ich versichere Ihnen, das wäre höchst gefährlich. Es ist bekannt, daß Sie sich irgendwo in der Nähe aufhalten, und das Palastgelände wimmelt von Polizei.“
„Na und?“
„Spazieren Sie eine Zeitlang durch den Ball- und Empfangssaal, und dann werden wir versuchen, Ihre Bucht zu bewerkstelligen.“
„Wir?“ fragte er mit gespieltem Argwohn.
Sie mußte darüber lächeln und verzog den Mundwinkel gerade so viel, daß es auf ihn besonders herausfordernd wirken mußte. „Die Gesellschaft natürlich. Wer denn sonst?“ Sie blickte zu ihm hinunter und legte das Messer auf ein kleines Stelltischchen. Ihre Wimpern waren, das fiel ihm jetzt auf, wie ihr Haar lang und schwarz und betonten die ungewöhnliche Blässe ihrer Wangen. Ihm fiel auf, daß es ihn Anstrengung kostete, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Machte sie sich über ihn lustig?
„So, so. Sie sind also die schöne Diebesspionin in den Palastmauern!“ Sein eigener Mund spiegelte ihr Lächeln.
„Keineswegs.“ Sie war plötzlich vorsichtig geworden, und ihr Lächeln erstarb. „Werden Sie sich an meine Anweisungen halten?“
Er hatte keine andere Wahl und nickte. „Sagen Sie mir“, meinte er, „was berichten die Nachrichtensendungen von der Angelegenheit im M-Flügel?“
Zum ersten Mal zögerte sie. „Dr. Haven konnte entkommen.“
Er zog die Luft ein. „Und die Mutanten?“
„Wurden verkauft.“
Er lehnte sich müde an die Wand, und allmählich wurde ihm bewußt, daß ihm der Schweiß in störenden Rinnsalen die Beine hinunterfloß. Die Armhöhlen waren durchnäßt, von Gesicht und Armen stach ihm ein stark riechendes Gemisch von Schweiß und Ruß in die Nase.
„Tut mir leid, Dieb.“
Er schaute sie an und bemerkte, daß sie es ernst meinte. „Dann ist es also vorbei“, sagte er schwer, trat zum Toilettentisch hin und blickte in den Spiegel. „Ich brauche eine Dusche und ein Enthaarungsmittel. Können Sie das für mich auftreiben? Und vergessen Sie auch einen Säbel nicht.“
„Ich kann alles besorgen. Dort ist das Badezimmer.“
Fünfzehn Minuten später ergriff sie seinen rechten Arm, und gemeinsam gingen sie würdig durch den Saal auf die breiten Stiegen zu, die sich mit wunderbarem Schwung zum großen Empfangssaal hinunterschlängelten. Alar zupfte nervös an seiner Maske herum und betrachtete die prächtigen Gobelins und Gemälde, mit denen die kalten Marmorwände bedeckt waren.
Alles war von erlesenem Geschmack, aber er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich um den gediegenen Geschmack eines Raumausstatters handelte – daß die Menschen, die ihre brillanten, unsicheren Tage in diesen Räumen verbrachten, schon vor langer Zeit die Fähigkeit zur Würdigung der subtilen Lichteffekte eines Renoir oder der ungestümen Farbausbrüche eines van Gogh verloren hatten.
„Lassen Sie Ihre Maske in Ruhe“, flüsterte seine Begleiterin. „Sie sehen passabel aus.“
Sie gingen jetzt die Stiegen hinunter. Er konnte nicht das ganze Bild erfassen – lediglich vereinzelte Fetzen. Das war ein Leben in einem Maßstab, wie er ihn nie zu erleben erwartet hätte. Stiegengeländer aus reinem Gold. Teppiche mit einem Flor, der bis zu den Knöcheln zu reichen schien. Feinst gearbeitete Geländersäulen aus Carrara-Marmor. Überall strahlendes Alabasterlicht. Der Anblick des Empfangssaales, der zu ihnen heraufblitzte. An die tausend unbekannte Männer und Frauen.
Es war alles höchst merkwürdig, aber er hatte das Gefühl, daß er das schon immer gekannt hatte, daß er hierher gehörte.
Und plötzlich befanden sie sich am Fuß der Stiegen, und der Empfangschef verbeugte sich tief und begrüßte sie:
„Guten Abend, Madame.“
„Guten Abend, Jules.“
Jules betrachtete Alar mit bedauernder Neugier. „Ich fürchte, Euer Exzellenz …“
Der Dieb murmelte kalt: „Dr. Hallmarck.“
Jules verbeugte sich erneut. „Natürlich, Sir.“ Er griff nach dem Mikrophon und rief gewandt: „Dr. Hallmarck, in Begleitung von Madame Haze-Gaunt.“
Keiris beachtete den schockierten Blick nicht, den ihr der Dieb zuwarf.
„Sie brauchen die Maske nicht die ganze Zeit über zu tragen“, regte sie an. „Nur wenn Sie bemerken, daß jemand argwöhnisch zu Ihnen hinschaut. Kommen Sie mit; ich stelle Sie ein paar Leuten vor.
Stürzen Sie sich ins Gespräch, und niemand wird Sie beachten. Ich lasse Sie mit Senator Donnan allein. Er ist schrecklich laut, aber ganz harmlos.“
Senator Donnan streckte seine tonnenförmige Brust auf beeindruckende Weise heraus. „Ich gebe eine unabhängige Zeitung heraus, Dr. Hallmarck“, sagte er zu Alar. „Ich sage, was ich will. Ich glaube, daß selbst Haze-Gaunt davor zurückscheut, mich mundtot zu machen. Ich falle den Leuten auf die Nerven. Ich werde gelesen, ob sie es wollen oder nicht.“
Alar betrachtete ihn neugierig. Die Geschichten, die er von dem Senator gehört hatte, hatten in ihm nicht den Eindruck erweckt, daß er ein Anwalt der Unterdrückten sei. „Wirklich?“ sagte er höflich.
Der Senator fuhr fort. „Ich bin dafür, die Sklaven so zu behandeln, als wären sie einst Menschen wie wir selbst gewesen. Sie haben auch ihre Rechte, müssen Sie wissen. Wenn man sie schlecht behandelt, sterben sie einem weg. Die Sklaven in meinen Druckereien pflegten sich über den Lärm zu beschweren. Ich habe ihnen Erleichterung verschafft.“
„Ich habe davon gehört, Senator. Sehr menschlich gehandelt. Sie haben ihnen die Trommelfelle herausoperieren lassen, nicht wahr?“
„Stimmt. Jetzt gibt es keine Beschwerden mehr, über gar nichts. Ha! Dort ist der alte Perkins, der internationale Bankier. Hallo, Perk! Darf ich Ihnen Professor Hallmarck vorstellen.“
Alar verbeugte sich, und Perkins nickte säuerlich.
Donnan lachte. „Ich habe sein Gesetz über den Uniformzwang von Sklaven im Sklavenkomitee des Senats zu Fall gebracht. Der alte Perk ist unrealistisch.“
„Die meisten von uns hielten Ihre Sklavengesetzvorlage für geradezu sensationell“, meinte Alar freundlich. „Die Regelung bezüglich der Verurteilung und des Verkaufs von säumigen Schuldnern interessierte mich besonders.“
„Ein vernünftiger Paragraph, Sir. Er würde die Straßen von Müßiggängern säubern.“
Donnan gluckste.
„Das will ich meinen. Perk kontrolliert mehr als achtzig Prozent der Kreditfinanzierung im Reich. Wenn so ein armer Teufel in den Ratenzahlungen um ein paar Unitas zurückbleibt: peng – und Perk hat einen Sklaven, der ein paar tausend Unitas wert ist, beinahe umsonst erhalten.“
Der Mund des Finanzmannes zog sich zusammen. „Ihre Behauptung, Senator, ist übertrieben. Allein schon die Rechtsgebühren …“ Er entfernte sich grollend.
Donnan schien aufs höchste amüsiert zu sein. „Heute sind alle möglichen Leute anwesend, Professor. Ach, jetzt wird es interessant. Juana-Maria, die Imperatrix, in ihrem Motorsessel, ihr rechts und links zur Seite Shimatsu, der Botschafter des Ostbundes, und Talbot, der toynbeeistische Historiker.“
Beim Näherkommen der drei schloß sich Alar der Gruppe mit einer tiefen Verbeugung an und betrachtete neugierig die nominelle Herrscherin der westlichen Welthälfte. Die Kaiserin war eine alte Frau mit kleinem und verwachsenem Körper, aber ihre Augen funkelten, und ihr Gesicht war trotz seiner Faltenlast quicklebendig und anziehend.
Es liefen Gerüchte um, daß Haze-Gaunt die Bombe in der kaiserlichen Kutsche hatte legen lassen, die den Kaiser und dessen drei Söhnen das Leben gekostet und die Imperatrix jahrelang ans Bett gefesselt und demzufolge unfähig gemacht hatte, gegen seine Kanzlerschaft ihr Veto einzulegen. Bis sie wieder imstande war, sich im Motorstuhl fortzubewegen, waren die Zügel des Imperiums ganz vom Hause Chatham-Perze in die verhärteten Handflächen des Bern Haze-Gaunt übergegangen.
„Guten Abend, meine Herren“, sagte Juana-Maria. „Wir haben heute Glück.“
„Wir sind immer beglückt, wenn wir in Eurer Nähe sein dürfen, Madame“, sagte Donnan mit ehrlichem Respekt.
„Ach, sei doch kein Dummkopf, Herbert. Ein wichtiger und gefährlicher Dieb, ein Professor Alar von der Universität – können Sie sich das vorstellen? – ist aus einer starken Polizeifalle entkommen, und seine Spuren führen geradewegs hierher in den Palast.
General Thurmond bringt die Sache auf seine ruhige Art zum Sieden, und er hat gewaltige Sicherheitskräfte um das Gebiet zusammengezogen und läßt den ganzen Palast durchkämmen. Ist das nicht aufregend?“ Ihre Stimme klang trocken und spöttisch.
„Ich bin froh, das zu hören“, bemerkte Donnan mit ehrlicher Überzeugung. „Diese Gauner haben erst letzte Woche meinen persönlichen Safe ausgeraubt. Ich mußte vierzig Menschen freilassen, um meinen Besitz zurückzubekommen. Es ist höchste Zeit, daß die Rädelsführer gefaßt werden.“
Alar schluckte unbehaglich hinter seiner Maske und sah sich verstohlen um. Von Thurmond war noch keine Spur zu erblicken, aber mehrere Männer, die sein geübtes Auge als kaiserliche Polizei in Zivil ausmachte, mischten sich langsam und aufmerksam unter die Versammlung. Einer von ihnen betrachtete ihn ruhig aus ein paar Metern Entfernung. Schließlich ging er weiter.
„Warum unternehmen Sie nichts gegen die Diebe, Eure Majestät?“ forderte Donnan. „Sie richten Euer Reich zugrunde.“
Juana-Maria lächelte. „Wirklich? Was liegt daran, wenn sie es tun? – Was ich übrigens bezweifle! Warum sollte ich etwas dagegen unternehmen? Ich tue, was mir Spaß macht. Mein Vater war Politiker und Soldat. Es sagte ihm zu, die beiden Amerika während des Dritten Weltkrieges zu einem Reich zusammenzuschließen. Wenn unsere Zivilisation noch ein paar hundert weitere Jahre überlebt, wird er sicher seinen Platz in der Geschichte als großer Staatsmann einnehmen.
Ich jedoch gebe mich mit dem Beobachten und Verstehen zufrieden. Ich bin nichts weiter als ein Student der Geschichte – ein Amateur-Toynbeeist. Ich sehe zu, wie mein Reichsschiff strandet. Wäre ich mein Vater, würde ich die Segel flicken, die Taue ausbessern und in klarere Gewässer hinaussteuern. Da ich jedoch nur ich bin, muß ich mich mit dem Zusehen und dem Abgeben von Voraussagen begnügen.“
„Sagen Sie den Untergang voraus, Eure Majestät?“ fragte Shimatsu mit zusammengekniffenen Augen.
„Untergang von was?“ fragte Juana-Maria. „Die Seele ist unvergänglich, und das ist alles, was für eine alte Frau zählt. Und ob mein Kanzler alles übrige zerstören will …“ Sie zuckte mit den zarten Schultern.
Shimatsu verbeugte sich und murmelte dann: „Falls Eure neue supergeheime Bombe so gut ist, wie unsere Agenten behaupten, haben wir keine Verteidigung dagegen. Und wenn wir keine Abwehr haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als dem Angriff des Haze-Gaunt mit unserem eigenen zuvorzukommen, solange wir dazu noch imstande sind. Und wir haben zwei Vorteile gegenüber dem Imperium.
Sie alle sind sich so sicher, daß Sie uns kräftemäßig haushoch überlegen sind, daß Sie sich nie die Mühe gemacht haben, einen Gedanken an die Waffen zu verschwenden, die gegen Sie eingesetzt werden mögen. Sie nehmen ferner an, daß wir höflich abwarten, bis Ihnen der Zeitpunkt genehm ist. Darf ich die Andeutung wagen, Eure Majestät und meine Herren, daß das Kaiserreich nicht von dem berühmten ‚Wolfsrudel’, sondern von leichtgläubigen Kindern geführt wird?“
Donnan lachte schallend. „Das trifft den Kern!“ rief er. „Leichtgläubige Kinder!“
Shimatsu griff nach dem Bärenmantel, den er über dem Arm getragen hatte und warf ihn sich mit einer Gebärde der Endgültigkeit um die Schultern. „Jetzt lachen Sie. Bereiten Sie sich aber auf einen Schock vor, wenn die Stunde des Losschlagens näherrückt.“ Er verbeugte sich tief und ging.
Alar wußte, daß der Mann eine tödliche Warnung ausgesprochen hatte.
„Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?“ bemerkte Juana-Maria. „Erst vor ein paar Minuten hat Dr. Talbot zu mir gesagt, daß sich das Reich gegenwärtig an demselben Punkt befindet wie das Reich der Assyrer im Jahre sechshundertvierzehn vor Christus. Vielleicht weiß Shimatsu, wovon er spricht.“
„Was geschah im Jahre 614 vor Christus, Dr. Talbot?“ fragte Alar.
„Die herrschende Kultur der Welt wurde in Stücke geblasen“, erwiderte der Toynbeeist und strich sich gedankenschwer über den Spitzbart. „Das ist eine tolle Geschichte. Zweitausend Jahre lang hatten die Assyrer darum gekämpft, die Welt nach Gutdünken zu regieren. Um sechshundertvierzehn beherrschte das Ethos der Assyrer ein Gebiet, das sich von Jerusalem bis Lydien erstreckte. Vier Jahre später blieb keine einzige Assyrerstadt mehr übrig. Die Zerstörung war so vollständig, daß, als Xenophon zweihundert Jahre später seine Griechen an den Ruinen von Nineveh und Calah vorbeiführte, ihm niemand sagen konnte, wer in ihnen gewohnt hatte.“
„Das war sicher ein totaler Knockout, Dr. Talbot“, stimmte Alar zu. „Aber welche Parallele ziehen Sie zwischen Assyrien und dem Kaiserreich Amerika?“
„Es gibt gewisse untrügliche Anzeichen. In der Terminologie Toynbees heißen sie ‚Verfall der Selbstbestimmung’, Zerrissenheit der Gesellschaft’, Zerrissenheit der Seele’. Diese Phasen folgen natürlich alle den Zeiten ‚Unrast’ des ‚Weltstaates’ und des Weltfriedens’. Letztere zwei kennzeichnen paradoxerweise jede Kultur als dem Tode geweiht, wenn sie am mächtigsten zu sein scheint.“
Donnan grunzte zweifelnd. „Die Vereinigte Kerntechnik stand heute morgen bei fünfhundertsechs. Wenn ihr Toynbeeisten euch einbildet, das Reich sei ins Schlittern geraten, so seid ihr die einzigen.“
Dr. Talbot lächelte. „Wir Toynbeeisten stimmen Ihnen zu. Dennoch versuchen wir, der Öffentlichkeit unsere Meinung aus zwei Gründen nicht aufzudrängen. Erstens einmal studieren die Toynbeeisten die Geschichte nur – wir machen sie nicht. Zweitens kann niemand eine Lawine aufhalten.“
Donnan ließ sich nicht überzeugen. „Ihr langhaarigen Burschen verliert euch immer in den Ereignissen des Altertums. Das ist aber das Hier und Jetzt – im Kaiserreich Amerika, am 6. Juni zweitausendeinhundertsiebenundsiebzig. Wir haben der Welt unseren Stempel aufgedrückt.“
Dr. Talbot seufzte. „Ich hoffe bei Gott, daß Sie recht haben, Senator.“
Juana-Maria warf ein, „wenn ich unterbrechen darf …“
Die Gruppe verbeugte sich.
„Es mag den Senator interessieren zu erfahren, daß sich die Toynbeeisten in den vergangenen acht Monaten nur einem einzigen Projekt gewidmet haben – der Überprüfung ihrer Hauptthese, daß alle Kulturen dem gleichen unausweichlichen Schema folgen. Habe ich recht, Dr. Talbot?“
„Jawohl, Eure Majestät. Wie andere Menschen auch, möchten wir gerne recht behalten. Aber im Herzen hoffen wir ziemlich verzweifelt, daß sich unsere Ansichten als falsch erweisen. Wir klammern uns an jeden Strohhalm. Wir studieren die Vergangenheit, um herauszufinden, ob es nicht einige Fälle gab, in denen auf den Universalstaat nicht der Untergang folgte.
Wir suchen nach Beispielen von Kulturen, die trotz geistiger Stratifikation bestehen blieben. Wir betrachten die Geschichte der Sklaverei, um herauszufinden, ob die Sklavenhaltergesellschaft je der Vergeltung entkam.
Wir vergleichen unsere Zeit der Wirren – den Dritten Weltkrieg – mit den Punischen Kriegen, die den starken römischen Bauernstand zu Sklaven herabdrückten, und wir studieren den Bürgerkrieg unserer nordamerikanischen Vorfahren, der über der Sklavenfrage entbrannte. Wir überlegen uns weiterhin, wie lange das Spartanische Reich bestand, nachdem der Peloponnesische Krieg seine einst stolzen Soldaten in die Leibeigenschaft zwang.
Wir suchen in der Vergangenheit nach Vergleichen für unsere gespaltene Treuepflicht – der Ahnenverehrung, die unseren Knaben und Mädchen in den kaiserlichen Schulen gelehrt wird, und dem Monotheismus, dem die Älteren anhängen. Wir wissen, welchen Schaden ein zerrissener Jenseitsglaube den Griechen zur Zeit des Perikles, dem Römischen Weltreich, der blühenden skandinavischen Gesellschaft, den Kelten Irlands und den nestorianischen Christen zufügte.
Wir vergleichen unsere gegenwärtige politische Spaltung – Diebe gegen Regierung – mit den bitter miteinander verfeindeten, aber unrepräsentierten Minderheiten, die schließlich das Ottomanische Reich, die österreichisch-ungarische Monarchie und die spätindische Kultur ebenso wie verschiedene andere Kulturen zu Fall brachten. Aber bis jetzt haben wir keine Ausnahmen von der Regel gefunden.“
„Sie haben die Einrichtung der Sklaverei mehrmals in einem Ton erwähnt, als untergrabe sie das Reich“, warf Donnan ein. „Wie kommen Sie zu diesem Schluß?“
„Der Aufstieg der Sklaverei im Reich läuft ihrer Entstehung in Assyrien, Sparta, Rom und all den anderen sklavenhalterischen Reichen genau parallel“, erwiderte Talbot bedächtig. „Keine Gesellschaft kann mehrere Generationen lang Krieg führen, ohne daß ihr Bauernstand verarmt. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sowohl in den Ländern der Eroberer wie der Eroberten hat keinen anderen Besitz als den eigenen Körper.
Ihre reicheren Brüder saugen sie mittels Sklavereiverträgen auf. Da die Erzeugnisse ihrer Hände nicht ihnen selbst gehören, verfügen sie nicht über die Mittel, das Los ihrer zahlreichen Nachkommenschaft zu verbessern, und auf diese Weise entsteht eine permanente Sklavenklasse. Die gegenwärtige Bevölkerung des Reiches beträgt mehr als eineinhalb Milliarden. Ein Drittel dieser Seelen besteht aus Sklaven.“
„Das ist richtig“, stimmte Donnan zu, „aber ihr Los ist wirklich nicht so schwer. Sie haben genug zu essen und einen Platz zum Schlafen – etwas, was sehr viele der Freien nicht haben.“
„Das ist natürlich“, bemerkte Juana-Maria trocken, „eine gewichtige Empfehlung sowohl für das freie Unternehmertum wie für das System der Sklaverei. Um seinen hungernden Kindern Brot zu kaufen, kann sie ihr Vater immer an den Höchstbietenden versteigern. Aber wir schweifen ab. Wie sehen Ihre Beurteilungsmethoden aus, Dr. Talbot? Wie treffen Sie die Auswahl Ihrer Kulturbeispiele, und wie bewerten Sie sie?“
„Der Historiker kann seine eigene Gesellschaft nur als gewichtete Synthese ihrer mikrokosmischen Komponenten beurteilen“, gab Talbot zu und zupfte neuerlich an seinem Spitzbart. „Bestenfalls kann man eine Wahrscheinlichkeit bezüglich des Stadiums aufstellen, das sie im invarianten Schema der Kulturen erreicht hat. Wenn man jedoch Gruppierung um Gruppierung untersucht, wie ich es getan haben, von den vornehmsten Familien – Sie entschuldigen, Majestät – bis hinab zu den Banden entwichener Sklaven in den Wüstenprovinzen Texas und Arizona …“
„Haben Sie je die Diebe studiert, Dr. Talbot?“ unterbrach ihn Mar.