EIN RÄTSEL FÜR KREON

Eine Gruppe von Männern und Frauen bei einem Begräbnis. Das sind meist Bilder von relativer Einfachheit: Der Tod wird durch den Sarg verkörpert. Ein Sarg ohne einen Toten ist das Symbol des Todes, das sieht man heutzutage gelegentlich bei Demonstrationen. Liegt dagegen ein Toter darin, so geht es, könnte man sagen, eher um den Tod selbst. In dem Sarg, von dem ich spreche, liegt jemand, und doch geht es nicht nur um ein Begräbnis, sondern auch um eine Demonstration. Beweisen läßt es sich vielleicht nicht, daß eine Leiche darin liegt, aber es gibt Anzeichen dafür. Der Sarg ruht auf den Schultern mehrerer Menschen, er ist zwar nicht schwer, aber trotzdem. Und dann die Gesichter der Umstehenden. Nein, Umstehende ist nicht das richtige Wort, auch wenn sie dort herumstehen. Sie haben nicht das Zufällige von Umstehenden, sie gehören dazu. Sie sind, in gewissem Sinne, Familie. Man kann sich seine Familie auch aussuchen.

Die Männer sind nicht dem Anlaß gemäß gekleidet. Sie haben hellfarbige Schuhe an, wie Jogger sie tragen, mit dicken, geriffelten Sohlen. Hemden mit kurzen oder aufgekrempelten Ärmeln, die über die Hose hängen. Die Frauen, die man auf dem Foto sieht, sind meist älter, Deux-pièces, geblümte Kleider oder so etwas Ähnliches, Handtaschen, die ein wenig verrutscht sind, weil sie die Arme mit geballter Faust erhoben haben. Meine Mutter würde sie als Damen bezeichnen. Bei manchen ist es die rechte, bei anderen die linke Faust. Ansonsten das übliche Beiwerk: Pflaster, ein Baum, ein Fabrikschornstein, ein paar kunterbunte Gebäude.

Die Täuschung von Fotos liegt in ihrem Stillstand, was geschah, als sich dieses Foto zu bewegen begann, lese ich in der Zeitung. Der Tote in dem Sarg ist/war Rafael Etxebeste. Sein Gesicht ist daneben abgebildet. Ein Mann in den Dreißigern, kahl werdend, mehr Haare seitlich als oben. Die Seitenhaare, schwarz, gehen nahtlos in einen schwarzen Bart ohne Mund über, aber eine Nuance im Schwarz zeigt die Form des fehlenden Mundes an, starr, mit herabgezogenen Mundwinkeln. Seltsam, wie ein Foto einen nach dem Tod noch ausliefert. Große Augen, ebenfalls schwarz. Hohe weiße Stirn. Ein Gesicht, das nicht aufhört zu schauen. Gestern habe ich es auch schon im Fernsehen gesehen, zusammen mit Bildern eines versengten, verkohlten, verformten, ausgebrannten Autos. Der Tod von Dingen hat seinen eigenen Schrecken. Etxebeste war zusammen mit María Teresa Pérez Geber in diesem Auto unterwegs, als die schwere Bombe, die sie transportierten, wahrscheinlich, um irgendwo einen Mordanschlag zu verüben, explodierte. Beide waren mit einem Schlag tot, dem Schlag, der nach Ansicht mancher eine Ewigkeit dauert. Sie waren vor kurzem aus Frankreich, wo sie sich illegal aufgehalten hatten, für die Sommeroffensive der ETA Militar über die Grenze gekommen. Der Polizei zufolge waren sie in diesem Sommer bereits an drei Morden beteiligt gewesen. Sie nannten das anders, Worte kann man an- und ausziehen wie Kleider.

Abbildung

Um Punkt 19 Uhr (man ist hier präzise, auch wenn die Bomben manchmal zu früh hochgehen) trifft der Sarg in Rentería ein. Das liegt nahe der französischen Grenze, dieser Krieg ist nicht sehr weit weg. Das Holz ist in die ikurrina eingeschlagen, die heilige baskische Fahne und Anagramm der ETA. Ich bezeichne diese Fahne nicht als heilig, das tun die Menschen, die bereit sind, dafür zu sterben und zu töten, oder die, wie in den letzten Tagen in San Sebastían und Bilbao, von blinder Wut gepackt werden, wenn sie nicht als einzige, das heißt ohne die spanische Fahne, auf den Balkons der öffentlichen Gebäude gehißt wird. La guerra de las banderas, der Krieg der Fahnen, sagt man dazu, und dieser Krieg wäre komisch, wenn nicht der Tod mit im Spiel wäre. Der Bürgermeister von San Sebastían beschloß, gar keine Fahne hissen zu lassen, der Provinzgouverneur, der die Zentralregierung in Madrid vertritt, ordnete das Hissen aller drei Fahnen an: Provinz, Baskenland und Staat. Für den Gouverneur war der Bürgermeister ein »Feigling«, für den Bürgermeister ist der Gouverneur einer mit antibaskischer Einstellung, der die Bewohner seiner Provinz »haßt«. Hissen und Einholen der Fahnen sind von erbitterten Straßenkämpfen begleitet.

Zurück zum Sarg. Die politische Partei, die eng mit der Terrororganisation ETA verbunden ist, aber trotzdem Vertreter in Gemeinderäten, Regionalparlamenten und sogar im Europaparlament hat (wo ihr Vertreter als einziger ganz Europas eine Resolution gegen den Terrorismus nicht unterstützte), heißt Herri Batasuna. Wenn ein Terrorist beerdigt wird, ist Herri Batasuna immer dabei. Hier wird die Gespaltenheit der spanischen Politik, ihre giftige, zwielichtige Schizophrenie, erst richtig deutlich. Was beerdigt wird, ist meist der Körper eines Menschen, der nach den Gesetzen des spanischen Staates ein Mörder ist. Als Legalist darf man in manchen Fällen auch potentieller Mörder sagen. Und doch läßt der Staat zu (muß der Staat zulassen?), daß es ein Ehrenbegräbnis gibt, von dem sich die potentiellen Opfer möglichst weit fernzuhalten haben. Das sind die Angehörigen der Guardia Civil. Es wäre auch schwer zu ertragen, sich anhören zu müssen, was da gesagt wird.

Bei dem Begräbnis, von dem hier die Rede ist, rühmte der Spitzenkandidat der Herri Batasuna in Rentería das Verhalten der beiden toten Aktivisten und sagte, daß »sie tapferer als alle anderen waren, denn sie hatten getan, was andere nicht wagen würden«. Danach tanzte ein dreizehnjähriger Junge die aurresku vor dem Sarg. Die aurresku steht in der Zeitung, die für ganz Spanien bestimmt ist. Offensichtlich wird sie so häufig getanzt, daß jeder weiß, was das ist. Die Zeremonie erhält dadurch einen mythischreligiösen Anstrich, wir kennen das von anderen Bewegungen. Die Eusko Gudariak wird gesungen (auch hier der bestimmte Artikel), gora ETA gerufen. Nationalismus als Religion.

Die einzige Parallele, die ich in der modernen Zeit kenne, sind die schaurigen Heldenbestattungen der IRA, bei denen maskierte Männer (ich weiß, weshalb sie maskiert sind, aber trotzdem suggeriert das Fehlen des Gesichts, daß dies nicht die wirkliche Welt ist) über dem Sarg Salut schießen. Aber es gibt antike Parallelen, die das Dilemma des spanischen Staates besser illustrieren. Jeder tote Etarra ist ein Polyneikes, die Familienangehörigen und Kampfgefährten sind immer Antigone, und der Staat muß Kreon sein. Seit Sophokles es schrieb, hat jedermann sich mit dem Inhalt dieses Dramas befaßt, die Exegesen – rein philosophisch oder in Gestalt von Gedichten, Dramen, Opern – türmten sich zu einer Kathedrale von Schriften und Kommentaren auf, von einander folgenden und widersprechenden Kreons und Antigonen. Legalisten, Staatsgläubige, Anarchisten, alte und neue Christen, Hegel, Kierkegaard, Brecht, Espriu, Anouilh, Hölderlin, Honegger, Gide, Maurras, Heidegger, sie alle haben aus diesem kaum mehr als dreißig Seiten langen Text aus dem fünften Jahrhundert vor Christus ihre eigenen Schlüsse gezogen, und diese Schlüsse wandeln sich mit den Zeiten und Geistern.

Die Geschichte: Die Söhne des Oidipus (die dieser mit seiner eigenen Mutter Iokaste zeugte), Eteokles und Polyneikes, haben ihren blinden Vater (der sich die Augen ausstach, als er entdeckte, daß er seinen eigenen Vater ermordet und seine Mutter zur Frau genommen hatte) aus Theben verjagt. Daraufhin verflucht Oidipus seine Söhne, die beschlossen haben, die Stadt gemeinsam zu regieren. Sie bekommen Streit, Polyneikes sucht Hilfe von außen und greift seine eigene Stadt an. Im Kampf töten die Brüder sich gegenseitig. Ihr Onkel Kreon, der Bruder von Iokaste, die Selbstmord verübt hat, wird König von Theben. Weil Polyneikes es war, der die Stadt angegriffen hat, verbietet Kreon, seine Leiche zu bestatten. Polyneikes ist ein Landesverräter, sein Leichnam soll liegenbleiben und von Hunden und Geiern gefressen werden. Kreon verkörpert den Staat, sein Befehl ist Gesetz. Dem stellt Antigone, die Tochter des Oidipus, die ihrem Vater auch schon während dessen Verbannung nach Kolonos beigestanden hatte, ein anderes Gesetz gegenüber, das der Religion und der »Natur«, das besagt, daß man den Toten die letzte Ehre erweisen und ihnen eine Ruhestätte unter der Erde geben muß, weil sie sonst bis in alle Ewigkeit umherirren und niemals Ruhe finden. Kreon hat für die Übertretung seines Verbots die Todesstrafe angedroht, Antigone hat angekündigt, daß sie das Verbot mißachten wird. Beide sind in ihren Positionen gefangen, beide werden daran zugrunde gehen.

Ist es nun unsinnig, dies alles im Zusammenhang mit der ETA in Erinnerung zu rufen? Auf den ersten Blick ja, denn der spanische Staat scheint beschlossen zu haben, Kreon die Züge von Pilatus zu geben, er sieht weg und wäscht seine Hände in Unschuld. Oder doch nicht? Es ist schwer, einem Staat hinter die Stirn zu schauen. Womöglich ist es purer Säkularismus, der sich über die religiösen Aspekte der ETA-Begräbnisse hinwegsetzt. Wir befinden uns schließlich im zwanzigsten Jahrhundert. Oder, noch kühler, machiavellistischer: Diese Etarras sind schließlich tot, Leichen können nichts mehr anrichten. So simpel könnte es für einen Staat sein, nicht jedoch für die Bürger. Die ETA tränkt diese Begräbnisse nicht umsonst in diesem antiken Zeremoniell. Sie sind auch als Provokation gedacht. Auch diejenigen, die einmal entführt worden sind, auch die Geschäftsleute, von denen die ETA regelmäßig Gelder eintreibt, auch die Angehörigen von Ermordeten oder Geiseln, die Eltern, Frauen und Kinder von Opfern sehen diese Rituale.

Ich kann den Geist Hegels nicht beschwören, um zu schauen, ob seine Rezeptur noch stimmt: Er nannte Kreon eine »sittliche Macht« und Sophokles’ Drama das absolute »Exemplum« dessen, was Tragödie ist: die gegenseitige Vernichtung treibender Kräfte, Folge einer unvermeidlichen dialektischen Kollision zwischen den beiden höchsten moralischen Imperativen, dem Staat einerseits und der »Familie« andererseits. Wie eine Familie sahen die Beerdigungsteilnehmer auf dem Foto ja aus. Familie als Ansammlung von Individuen, die einander ausgesucht haben. Hat das Individuum das Recht, dem Gesetz und dem Recht des Staates zuwiderhandelnd seinem eigenen Gewissen zu folgen, wenn es sich dabei – sei es im Namen einer Gruppe oder für sich – auf ein »Naturgesetz« beruft, das es über die Gesetze des Staates stellt?

In der Studie, die George Steiner über Antigone verfaßt hat, einem frappierenden Katalog unterschiedlicher Denkweisen, die ein und dasselbe Thema zum Ausgangspunkt haben (Die Antigonen, München 1988), wird das Dilemma hundertmal schärfer ausgeleuchtet, als ich es hier tun kann. Die letzte Antigone, die ich – auch schon wieder vor Jahren – sah, war die von Anouilh. Hans Croiset spielte den Kreon, und ich erinnere mich daran, daß ich mich ganz mit der glänzenden Antigone von José Ruiter identifizierte. Doch sie ist eine »andere« Antigone als die des Sophokles, und sie sieht sich einem subtilen, »politischen« Kreon gegenüber, der sogar die Zensur der deutschen Besatzer (die Premiere fand 1942 statt) passierte. Auch für Hegel ist Kreon kein verblendeter Tyrann, sondern der Staat, der nicht anders handeln kann, als er tut, ebensowenig wie Antigone es kann. Steiner beschreibt luzide ihre Positionen, wie Hegel sie sieht. Es gibt Situationen, in denen der Staat (Kreon) nicht bereit ist, auf seine Gewalt über die Toten zu verzichten. Es gibt Umstände – politische, militärische, symbolische (oder alle drei zugleich, wie in Spanien) –, unter denen die Gesetze der Polis Anspruch auf den Körper des Toten erheben können, für ein Staatsbegräbnis wie für dessen Gegenteil, das Verschwindenlassen der Leiche. Das Zerstreuen der Asche der in Nürnberg Gehenkten (sie blieben buchstäblich nirgends) und die Freigabe der Leiche von Rudolf Heß mit all ihren trüben Folgen sind Beispiele der jüngeren Zeit für das gleiche Dilemma, der Mythos zeigt noch keine Mottenlöcher.

Doch wir wollen bei Spanien bleiben. Hegel als étatiste ist keine neue Entdeckung. Aber er »versteht« auch Antigone. Sie ist nicht, wie Oidipus, ein Opfer des unentrinnbaren Schicksals, sie handelt, entscheidet sich, stellt sich den Gesetzen des Staates entgegen. Und doch ist ihre Tat nicht politisch, sie beruft sich auf Gesetze, die ihrer Ansicht nach eine höhere Macht repräsentieren als die des jeweiligen Staates. Kreon hat die Bestattung aus politischen Gründen verboten. Für Antigone (und dem Anschein nach auch für den spanischen Staat) hört die Politik mit dem Tod auf. Für die Toten können keine weltlichen Gesetze mehr gelten, sie weilen in anderen Regionen. Antigone, die Schwester, muß dafür Sorge tragen, daß es Polyneikes dort wohl ergeht. Sie darf ihn nicht wie einen Haufen Dreck auf der Straße liegenlassen. Sie ignoriert Kreons Verbot. Ihre Tat, die an sich nicht politisch ist, wird es damit. In Sophokles’ Drama verurteilt Kreon Antigone dazu, bei lebendigem Leibe eingemauert zu werden. Als er später sein eigenes Urteil ungeschehen machen will, ist es bereits zu spät. Auch sein Untergang ist nun unabwendbar. Zwei Ideen, zwei Menschen haben sich gegenseitig vernichtet. Für Hegel ist es damit noch nicht zu Ende. Der Konflikt ist auf die denkbar schärfste Weise zutage getreten und trägt dadurch zur Erkenntnis bei, die die Welt über sich selbst hat. Darüber mag man denken, wie man will, und das haben auch alle getan. Mitunter ist das überraschend, nimmt man zum Beispiel zwei Schriftsteller, die man, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, doch mehr oder weniger mit dem (einem) Staat identifiziert, wie Goethe und Brecht. Beide waren radikal gegen Kreon. Für Goethe war, was Kreon tat, ein »Staatsverbrechen«: Man läßt keine Leiche auf der Straße verwesen mit allen daraus resultierenden Gefahren für die Gesundheit der Stadt. Hier spricht eher der Verwaltungsbeamte als der Staatsmann. Ganz anders Brecht. Der Mensch, ungeheuer groß im Unterwerfen der Natur, wird zum großen Ungeheuer, wenn er (wie Kreon es mit Antigone tat) andere Menschen unterwirft. Die DDR ist vielleicht der hegelianischste Staat, den es gibt, aber Brecht schrieb es dennoch so nieder.

Was würde nun passieren, wenn der spanische Staat/Kreon nicht zulassen würde, daß Herri Batasuna/Antigone die Leiche der ETA/des Polyneikes begräbt? Ich weiß es nicht. Hier zeigen sich auch die Schwächen dieser Parallele. Antigone kann nie mehr »unschuldig« sein, sie hat sich selbst gelesen. Sie weiß nun auch, daß Kreon die Folgen seines Gesetzes kennt, wenn er es durchsetzt, geht er zugrunde. Auch sie ist jetzt von der Politik berührt, sie manipuliert das Naturgesetz, und das ist eine Perversität. Kreon braucht ihr Spiel nicht mitzuspielen. Auch die ETA weiß das, sie liefert regelmäßig einen neuen Polyneikes zum Bestatten. Was soll Kreon tun? Und welcher? Hegels Kreon, Brechts Kreon? Oder vielleicht Charles Maurras’ Kreon? Für Maurras war nicht Antigone der Rebell, sondern Kreon. »Kreon hat die Götter der Religion, die grundlegenden Gesetze der Stadt, die Gefühle der lebenden Stadt gegen sich.« Das ist für Maurras der Kern des Stückes. »Was er (Sophokles) zu zeigen unternimmt, ist die Bestrafung des Tyrannen, der sich von göttlichen und menschlichen Gesetzen freizumachen suchte. Es ist Kreon, der den Untergang des Staates herbeiführt. (...) Es ist Antigone, die die genau übereinstimmenden Gesetze des Menschen, der Götter und der Stadt verkörpert. Wer übertritt und mißachtet all diese Gesetze? Kreon. Er ist der Anarchist. Er allein ist es.«

Auf diese Weise hat der spanische Staat genügend Optionen. Und wohlgemerkt – dies ist nicht nur ein Spiel. Ich nehme an, daß González und sein Innenminister Barrionuevo nicht mit Hegel und Maurras zu Bett gehen, aber sie werden sich doch entscheiden müssen, was für ein Kreon sie sein wollen, und dabei bedenken, daß jeder Kreon sich seine eigene Antigone schafft, und umgekehrt. Für den französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy ist es dagegen Antigone, die sich durch ihren Solipsismus aus der Gemeinschaft herausrückt, und der Priester-König Kreon, der den Kontakt zwischen Göttern und Menschen verteidigt. Dieser Fürst von Theben ist auch und vor allem »ein Priester«. »Und die Wahrheit ist, daß er (...) der einzige Priester des Stücks (ist), der alles Sakrale beansprucht, wie es in einer Stadt wie Theben im späten 5. Jahrhundert denkbar war. Es geht nicht um ›Gesetz‹ gegen ›Glauben‹, vielmehr ist das eine mit dem anderen verschlungen, zum ›Gesetz des Glaubens‹ verknüpft, das die griechische Religion eigentlich ist.« Mit einem sakralen Königtum wird González wenig im Sinn haben. Sollte er eines benötigen, so ist wohl jederzeit ein Bourbone zur Hand.

Er wird sich eher im scheiternden Kreon Alfred Döblins erkennen, und sei es allein deshalb, weil er dessen Fehler (noch) nicht gemacht hat. In Döblins Roman November 1918 ist Dr. Becker Lehrer für alte Sprachen an einem Gymnasium. Er ist aus dem Krieg zurückgekehrt, schwer verwundet, Träger des Eisernen Kreuzes, und findet eine reaktionäre Klasse vor sich, die bis auf einen Schüler auf der Seite Kreons steht. Ihr Lehrer ist anderer Meinung. Für ihn ist Antigone mutig, aber sie ist »keine Rebellin. Sie ist überhaupt das Gegenteil einer Revolutionärin. Wenn einer im Stück Umstürzler ist, so ist es – wundern Sie sich nicht – Kreon, der König. Sie haben es noch nicht bemerkt? Ja, er in seinem in der Tat tyrannischen Willen, in seinem Stolz, Sieger und endlich König zu sein, er glaubt, sich über geheiligte Traditionen, über uralte Selbstverständlichkeiten hinwegsetzen zu können«. Der Staat sei zwar eine Realität, aber der Tod sei dies nicht minder. Kreons Haltung gegenüber dem existentiellen Gewicht des Todes sei in krasser Weise unangemessen und werde die Katastrophe sowohl für ihn als auch für die Polis nach sich ziehen.

Priester, König, Rebell, Staatsmann, Anarchist, Feigling, Politiker. Aber die Frage bleibt. Wie soll die Welt der Lebenden sich gegenüber der Welt der Toten verhalten? Was soll Kreon tun, für welchen Kreon soll der spanische Staat sich entscheiden? Einstweilen hat er sich für eine neue Variante entschieden: Er gibt die Leiche des Polyneikes für das Ehrenbegräbnis frei und riskiert damit, daß das Rechtsempfinden der Opfer verletzt wird. Auch sie haben Tote zu beklagen und können sich auf Gesetze berufen, die von älterer Herkunft sind als die des Staates. Aber vielleicht wollen auch die Hinterbliebenen der Opfer nicht an das Reich des Todes rühren. Niemandsland, wer wagt es, sich dort aufzuhalten? Die Alternative wäre gewesen, die Leichen zu beschlagnahmen und an einem geheimen Ort zu verbrennen oder in der Erde zu verscharren und damit in die nächsttiefere Schicht der Verbitterung vorzustoßen.

Hegel kann González nicht helfen, das ist nicht seine Aufgabe. Er ist der Geist der Geschichte und kann nicht Partei sein. Wie ein mystischer Adler schwebt er irgendwo hoch oben und betrachtet das menschliche Natterngezücht von seiner absoluten Höhe herab und sieht die gegenseitige Vernichtung, »das unvollendete Werk, das unaufhaltsam zum Gleichgewichte beider fortschreitet«. Karger Trost des Dichters! Bis dahin müssen wir töten und begraben und warten, bis diese glänzende Abstraktion, der Weltgeist, sich selbst im Spiegel sieht und erkennt.

Ich blicke noch einmal auf das Foto. Die Frau im geblümten Kleid könnte geradewegs aus C & A kommen, ihre Faust ist schließlich nicht richtig geballt. Wenn sie allein auf dem Foto gewesen wäre, hätte es wie Winken ausgesehen. Auf Plätzen stehen immer solche Frauen herum. Sie winken der einen oder anderen Antigone und sehen nicht aus wie Staatsfeinde. Sie sind das Rätsel, das Kreon lösen muß.

1987