ANKUNFT
Riten der Einkehr. Ich merke, daß ich diese lächerlich altmodischen Worte vor mich hinmurmele. Manchmal sind die Worte noch vor dem Gedanken da, oder zumindest scheint es so. Und natürlich, alles tut sich zusammen, um diesen Gedanken heraufzubeschwören, der Ort, an dem ich mich gerade befinde, die Landschaft tief unter mir, das verlassene Zisterzienserkloster, auf das ich schaue, der eiskalte Februarwind, der an meinen Kleidern zerrt, der jahrhundertealte Eisenbeschlag an dem Tor, durch das ich gleich eintreten werde. Katalonien, Monasterio Santes Creus, zum soundsovielten Mal habe ich mich durch einen Namen, ein Wort vom vorgenommenen Weg abbringen lassen. Ich hatte doch vorgehabt, zum Kloster Veruela zu fahren, wo ich einst, vor gut zehn Jahren, den ersten all dieser Umwege begann? Nach Santiago wollte ich fahren, aber die Wege teilten sich wie die Stränge eines reißenden Taus, ein Jahr kam zum anderen, ich entfernte mich immer weiter von meinem Ziel, ließ mich immer tiefer in ein Spanien hineinziehen, das sich veränderte, und in eine Landschaft, die sich nicht veränderte.
Einkehr – könnte das auch bedeuten, daß man sich immer weiter in etwas hineinbewegt, daß man, selbst wenn die Wege nach Süden oder Westen führen, das Gefühl hat, immer tiefer in die Seele eines Landes einzudringen, und daß sich dort etwas befindet, das man in keinem anderen Land, so viele man auch schon bereist hat, je antreffen konnte? Vierzig Jahre geht das nun schon so, es ist, neben dem Schreiben, die konstanteste Linie in meinem Leben. Und ein Jahr ohne die Leere dieses Landes, ohne die Farben der Erde und Felsen, ist ein verlorenes Jahr.
Vor zehn Jahren wollte ich nach Santiago fahren, und natürlich bin ich dort angelangt, nicht nur einmal, sondern mehrere Male, und gleichzeitig war ich nicht dort gewesen, weil ich nicht darüber geschrieben hatte. Immer hatte es etwas anderes gegeben, worüber geschrieben oder nachgedacht werden mußte, ein Schriftsteller oder ein Maler, eine Landschaft, ein Weg, ein Kloster, und doch schien es, als wiesen all diese Landschaften, all diese Geschichten von Mauren und Königen und Pilgern, oder alle eigenen Erinnerungen sowie die geschriebenen Erinnerungen anderer in eine Richtung, auf den Landstrich, wo Spanien und der ozeanische Westen einander berühren und die Stadt liegt, die bei all ihrer galicischen Abgeschiedenheit die eigentliche Hauptstadt Spaniens ist.
Noch ein Mal will ich diese Reise nun machen, und auch jetzt weiß ich, daß ich die direkte Linie nicht einhalten werde, daß Weg für mich nie etwas anderes bedeuten kann als Umweg, das ewige, selbstgeschaffene Labyrinth des Reisenden, der sich immer wieder von einem Seitenweg und von einem Seitenweg dieses Seitenwegs verleiten läßt, von dem Geheimnis des unbekannten Namens auf einem Wegweiser, von der Silhouette des Kastells in der Ferne, zu dem kaum ein Weg führt, von dem, was vielleicht hinter dem nächsten Hügel oder Bergrücken zu sehen sein wird.
Vielleicht ähnelt dies noch am ehesten einer Liebesgeschichte, samt all dem Unerfindlichen und Unerklärlichen, das dazu gehört. Und diese Geliebte verläßt einen nicht, das ist der Unterschied. Was tue ich, wenn ich hier bin? Ich suche dieselben Empfindungen wie vor dreißig und zehn Jahren und weiß, daß ich sie finden werde. Was sich verändert hat, sieht man zumeist an den Städten: Sie sind voller, moderner geworden, das Land leerer. Natürlich sieht man auch dort Zeichen der neuen Zeit, doch außerhalb der Dörfer liegen die Ebenen, die Tafelberge, die Täler unverändert. Jetzt bin ich noch in Katalonien, heute abend in Aragonien, und je weiter ich mich von der Küste entferne, um so weiter, offener wird sich die Landschaft ausdehnen, sie wird trockener, immer weniger auf sich ertragen, bis der Reisende ein einsamer Schwimmer in einem Meer von Erde wird, das sich bis an den Horizont erstreckt, und diese Erde wird die Farben von Gebeinen, Sand, zerbröckelten Muscheln, rostigem Eisen, vermodertem Holz haben, doch sogar über den dunkelsten Farben wird ein Licht liegen, das in der Ferne zu einem Schleier wird, als müsse das Auge vor so viel Weite und Licht geschützt werden. Und in der Ferne liegen Kirchen und Klöster, die der sichtbaren Unendlichkeit entsprechen, die etwas über ein undenkbares Früher erzählen wollen, das die heißen und kalten Lüfte eines extremen Klimas für denjenigen bewahrt hat, der es sucht. Irgendwann, als mir diese Dinge noch nicht bewußt waren, müssen diese Landschaften in mich eingedrungen sein, Antwort auf eine Sehnsucht nach Unendlichkeit, die außerhalb des Meeres oder der echten Wüste nirgends mehr zu finden ist. Ich weiß, daß diese Ausdrucksweise nicht mehr in diese Zeit gehört, aber das kümmert mich nicht, in diesem Punkt will ich gern falsch verstanden werden. Denn zu wem sollte man sonst von Erfüllung oder Erleuchtung sprechen? Pedro Laín Entralgo versucht in seinem Buch A qué llamamos España (Was nennen wir Spanien), Antwort auf die Frage zu geben, welche Auswirkung die Farbe der kastilischen Landschaft auf denjenigen hat, der sie andächtig betrachtet, und Ortega y Gasset (Notas de andar y ver, Notizen beim Reisen und Sehen) spricht von der Geometrie der Ebene, einer »sentimentalen Geometrie für die Menschen Kastiliens und Léons«, in der die Pappel das vertikale Element ist und der Windhund des Jägers das horizontale, und sofort sieht man, ausgespart in der Leere, horizontale und vertikale Demarkationen, die dem Auge Halt bieten sollen, weil es sich sonst in dieser Unendlichkeit verlieren würde.
Ich komme nicht aus Kastilien und nicht aus León. Man sucht sich sein Geburtsland nicht aus, und ich weiß nicht, welcher Mensch ich geworden wäre, wenn ich hier geboren wäre. Auch das Land, aus dem ich komme, kennt an den Stellen, wo noch nicht diese Fülle herrscht, den geometrischen Absolutismus, die Fläche des Polders und darüber das Rechteck des Himmels, Mondriaan konnte nirgendwo sonst geboren sein. Keine Verlockungen, keine Ablenkung, extreme Sichtbarkeit. Dies sind die Berührungsflächen des Calvinismus mit einigen Formen des spanischen Katholizismus. Doch die Niederlande haben ihren Raum verloren und damit, merkwürdigerweise, ihre Zeit; wenn ich jetzt dorthin komme, spüre ich eine Flüchtigkeit, eine neurotische Unbeständigkeit, als bemühte sich jeder und alles, sich möglichst schnell von der eigenen Geschichte zu befreien und so etwas anderes zu sein oder zu werden. Spanische Freunde empfinden das gleiche in bezug auf ihr eigenes Land seit Francos Tod, sie sprechen von transición und movida, und ich wäre ein armseliger Reisender, wenn ich den Unterschied zu früher nicht sähe, manchmal ist er so kraß, daß ich fast vergessen könnte, hier auch schon in den Tagen des Franco-Regimes gelebt zu haben und gereist zu sein, der Zeit der Zensur und der Bigotterie, der Falange-Uniformen, der Todesurteile und Exekutionen, der Messen der Blauen Division, der verbannten Schriftsteller, der verbitterten Abkapselung jener, die auf der Verliererseite gekämpft hatten. Das alles ist weg, verschwunden, außer vielleicht aus den Köpfen jener, die darunter gelitten haben – manchmal hat es den Anschein, als habe dieses riesige Land alles aufgesaugt, in seiner Trockenheit verdunsten und verschwinden lassen, samt den Erinnerungen und dem Blut, ein paar Narben mehr in der gegerbten Stierhaut, Kratzer in einer Geschichte, die einfach nicht enden wollte, der Sage von Römern und Mauren und Juden und Goten, von fremden Invasionen und der langsamen Rückeroberung, von Entdeckung und Kolonisierung, Unterwerfung und Bürgerkrieg. Er wird wohl nicht haltbar sein, denke ich, der Bezug, den ich zwischen Raum und Zeit herstellen will, und dennoch scheint es, als habe sich in diesem immer noch leersten Land Europas auch eine andere Form von Zeit bewahrt, als habe alles Aktuelle, so laut es sich hier stets gebärdet, weniger Gültigkeit und gehe in einem unendlich langsameren Maß auf. Vielleicht sind es die Gegenden, die ich aufsuche, das wird es wohl sein. Denn das ist es, was ich will, Verlangsamung, und, gleich welches Gesetz hier regieren mag, ich finde, was ich suche. In einer Landschaft, in der ein einzelner Baum kilometerweit zu sehen ist, wird die Zeit anders gemessen. Und dieses Maß ist es, das mich nach Spanien lockt.
Nein, das alles habe ich mir nicht in dem schneidenden Wind draußen vor der Klosterpforte überlegt. Sonne im Klosterhof, Schutz, die Toten, die hier schon fast tausend Jahre liegen, wissen das besser als ich. Wenn ich stehenbleibe, ätzt das Licht meinen Schatten auf die Mauer zwischen die vielbogigen gotischen Bögen, wenn ich gehe, messen meine Schritte den Abstand zwischen Grab und Grab, zwischen Ramón d’Alemany und Guillem de Claramunt, beide während der Eroberung Mallorcas im Jahr 1230 gefallen. Durch die Stille höre ich eine spanische Frauenstimme, die von einem »englischen Bildhauer« erzählt, der sich hier niederließ, aber als die Hand, die zu dieser Stimme gehört, dann auf die Kapitelle im Kreuzgang zeigt, wird mir klar, daß sie nicht jetzt meint, sondern einst, damals, die Zeit des es war einmal, und aus dieser Zeit blicken die unversehrten Sandsteinfiguren uns an, der Löwe mit dem Sonnenkopf, die Bilder der Schöpfung, Eva aus Adams Rippe, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, Ungeheuer und Spötter und Kain, der Ackersmann, und Abel, der Hirte, das ewige Panoptikum, für das unsere Unwissenheit uns allmählich blind macht, die immer schnelleren Mutationen des Fortschritts haben den Gedanken hinter diesen Bildern entkräftet, bis nichts mehr davon übrigblieb als eine Fabel, die man kennt oder nicht kennt. Er ist nicht neu, dieser Gedanke, und doch muß er auf dieser Reise immer wieder von neuem gedacht werden. Das soll nicht als Pflichtübung in Heimweh verstanden werden, aber bei diesen Konfrontationen passiert nun einmal etwas, zwei Dinge prallen aufeinander, das endgültig Vergangene ist noch in Stein gegenwärtig, es hat allein schon durch sein Alter ein Übergewicht. Doch was ist etwas, wenn es seine Bedeutung verloren hat, wenn es nicht mehr bedeutet, was es bedeutet hat? Nur noch Kunst, zugänglich und unzugänglich zugleich? Oder gerade das, die Konfrontation, der Augenblick, in dem man den Gedanken seiner eigenen Spezies nicht mehr erkennt, was es als sicher erscheinen läßt, daß auch der eigene Gedanke eines Tages nicht mehr erkannt werden wird? Aber was habe ich dann auf all diesen Reisen gesucht? Vielleicht dies: den Schauer, der zu diesen Überlegungen gehört, den Teppich, der unter einem weggezogen wird, die verzweifelte Zweizeitigkeit von Menschen, die sich weiter in die Vergangenheit hineinwagen, als gut für sie ist, nicht, weil sie sie zurückhaben und eine ewige Gegenwart daraus machen wollen wie die Traditionalisten, nein, das gerade nicht, sondern weil sie, wie Ortega y Gasset sagt, »die Vergangenheit als Vergangenheit lieben, das, was abgeschlossen ist und doch nie abgeschlossen sein kann, weil es bis ins Heute hinein fortwirkt«.
Romanischer Bogen über gotischem Tor, so betrete ich die Kirche. »Bei Landschaften ist es genauso wie bei der Natur«, schrieb Unamuno, »Nacktheit ist das letzte, das man lieben lernt.« Leer ist es da drinnen, karg, hell, hohe schmucklose Mauern, die Art von Raum, in dem man selbst zum mathematischen Punkt wird, als würden in einem fort Linien aus der eigenen, sich bewegenden Anwesenheit zu den Flächen, Rechtecken, Lichtquellen ringsum gezogen. Erst im zwanzigsten Jahrhundert, bei Architekten wie Loos, kehrt diese funktionale Kargheit des Zisterzienserstils wieder, und auch wenn die Funktionen andere geworden sind, das Ideal ist das gleiche geblieben: Abkehr vom Nichtwesentlichen. Es läuft sich gut in dieser Kargheit, vor allem, weil niemand sonst zugegen ist. Aragonesische Könige liegen hier, Peter der Große (Pere el Gran) und Jakob der Gerechte ( Jaume el Just) mit seiner Gemahlin Blanche (Blanca) von Anjou, der große König aus dem dreizehnten Jahrhundert in seinem nie geschändeten Porphyrgrab, Eroberer Siziliens, vom Papst exkommuniziert, weil dieser lieber einen Valois in Sizilien gesehen hätte. Still ruhen sie hier, der Tanz der Dynastien ausgetanzt, Sizilien, Korsika, Sardinien, Mallorca gewonnen, verloren und wieder gewonnen, Könige über ein Reich von achthunderttausend Menschen. Die Klosterkirche ist die Fortsetzung ihrer Grabmale, die Paladine schlafen neben ihnen im Boden, Namen und Titel in den Quaderstein gemeißelt, und daneben die orientalischen Marmorlöwen, die den Königssarg tragen. Wenn sie die Steindeckel ihrer Schlafstätte beiseite schieben, erkennen sie alles wieder, mit Ausnahme von mir.
Draußen Orangenbäume, ein bemooster Springbrunnen in einem steinernen Brunnenhäuschen, Wassergeflüster, die leeren Weinkeller mit den großen Fässern, die verlassene Bibliothek, die Gräber der Äbte im Boden des Kapitelsaals, Namen und Jahre. 1830 war es vorbei, da wurden die Klöster von der liberalen Regierung enteignet, die Mönche zogen davon, der Verfall, der jetzt, äußerst langsam, wieder ungeschehen gemacht wird, konnte einsetzen. Von hier oben blicke ich auf die Landschaft, die Straße, die nach Norden schwenkt, nach Huesca, und die verschneiten Pyrenäengipfel dahinter.
Aber noch einmal. Kirchen, Landschaften, Nostalgie, Ruinensucht. Ich wurde einmal gefragt, weshalb ich die Landschaft der Meseta so schön fände. Weil mir so schnell keine Antwort einfiel, sagte ich, »weil ich glaube, daß es in mir ebenso aussieht«, und das ist genau die Art von subjektivem Ästhetizismus, dessentwegen Goytisolo Unamuno angreift, aber auch Goytisolo wird hin und her gerissen, da er selbst sieht, daß Industrialisierung und Tourismus die Seele dieser Landschaft anfressen. Er findet keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Einerseits sagt er, daß Unamuno und in geringerem Maße Azorin an die verlassene Landschaft die Kriterien der ästhetisch-religiösen Militärkaste Kastiliens anlegten (nicht umsonst träumt Ortega in seinen Tierras de Castilla davon, daß der Cid einst zu Pferd durch dieselben Landschaften gezogen ist, durch die er selbst jetzt mit seinem Esel dahinzuckelt), andererseits aber ist ihm deutlich, daß die Einöde des Landes, sobald man jener anderen, geistigen Einöde der verdorbenen Küste entflohen ist, ihre eigene Majestät besitzt. Einst gab es Wälder in Spanien, genügend Bilder und Geschichten beweisen dies. Doch das Land wurde kahlgeschlagen, kahlgerodet, eine zweite, negative Schöpfung: ohne Bäume kein Regen, ohne Regen keine Bäume. Ich müßte darüber trauern, aber kann es nicht. Im übervollen Europa ist dies der letzte Zufluchtsort. Und tot ist dieses Land nicht. Ich sehe Herden in der Farbe des Bodens, den Raubvogel, der seine langsamen Buchstaben schreibt, bis er sich herabfallen läßt und mit einer Schlange in den Fängen abschwenkt, nur die Menschen sind verschwunden und haben ihre Häuser zurückgelassen. Rätselhaft ist das, als hätte hier ein Krieg gewütet. Zuerst glaubt man es nicht, es kann doch nicht sein, daß alle fort sind? Doch wenn man näher kommt, weiß man es, man tritt vorsichtiger auf, denkt, daß in einem dieser Häuser vielleicht noch ein Toter liegt. Dies ist im Norden, an der Straße von Boltaño nach Broto, 1957 bin ich hier gefahren, vielleicht lebte dieses Dorf damals noch. Ich gehe über einen matschigen Weg bis zu den ersten Häusern, der Wind zerrt an den lose hängenden Läden, wie Jaulen hört es sich an. Prohibido el paso, steht da, pueblo en ruina, und das stimmt, das ganze Dorf ist eine einzige Ruine, Balkons aus verrostetem Eisen, Fenster ohne Scheiben, Fassungen ohne Lampen, alles abmontiert, leergeräumt, dürres Brombeergestrüpp wuchert über Fensterbänke, von denen die Farbe abgeblättert ist, Steineichen wachsen schief in Häuser hinein, ich klettere über rutschende Steine. Traurig ist das, diese der Menschen ledige Welt, die unsinnigen, vom Zahn der Zeit zerstörten Gegenstände, Dinge, die sie nicht mehr mitnehmen wollten oder konnten. Gingen alle zusammen fort? Waren Kinder darunter oder nur noch alte Leute? Keine Stimmen, keine Schritte, lediglich das unhörbare Geräusch von etwas, das unendlich langsam in sich zerfällt, verrutscht, zerbröselt, wenn ich in hundert Jahren wieder herkomme, hat es nie existiert.
Meine Pfeile können nicht geradeaus fliegen, immer ist da etwas – die Verlockung einer Karte, eines Satzes, den ich gelesen habe, eines Fotos, eines Bildes, des Klangs eines Namens –, das mich vom Kurs abbringt, der später doch wie eine lange Reise aussehen wird, der Umweg als Weg. Diesmal war es alles zugleich, ein Buch (Elegía), das ich über Antonio Saura gelesen hatte, mit den Abbildungen der Deckenmalereien, die er in der Diputación (dem Haus des Provinzlandtags) von Huesca geschaffen hat. Ich muß also nach Huesca, aber auch nach Roda de Isábena, weil dort die frühen Wandmalereien zu finden sein sollen, die Saura inspiriert haben. Zwei Maler, acht Jahrhunderte, aragonesische Kontinuität. Ich suche Roda auf der Landkarte. Es liegt im Pyrenäenvorland, nur weiße Straßen führen dorthin, und es ist weit, der Weg geht quer durch die Sierra del Castillo de Lugares. Dieser Kirche wegen ist das Dorf vielleicht noch nicht verlassen, es ist dort still wie in einer Gruft. Ein alter Mann sitzt schlafend in der Sonne, zu seinen Füßen liegt ein Hund, sonst ist niemand zu sehen, die Kirche ist verschlossen. Aber wie immer an solchen Orten haben unsichtbare Augen mich belauert, die Nachricht von dem Fremden hat sich herumgeflüstert, plötzlich ist eine Frau da und läßt mich ein. Aus dem Jahr 1018 ist die Kirche, sagt sie, als hätte sie den Bau selbst miterlebt, und erzählt von Grafen und Bischöfen und Stiftern, als lebten sie noch; sie weist mich auf die Inschriften hin, die wie ein wellenförmiger Nekrolog über die Kapitelle und Mauern des Klosterhofs laufen, klare Buchstaben aus dem zwölften Jahrhundert, derjenige, der sie gemeißelt hat, ist erst gestern mit seiner Arbeit fertig geworden. Der Sarkophag von Raymundus, der hier Prior war und später heiliggesprochen wurde, ein Engel mit dem Kopf eines anderen Engels auf dem Arm, die Geschichte ohne Worte an den Seiten des steinernen Sarges, Verkündigung, Heimsuchung, Geburt, Flucht nach Ägypten, schattenhafte Wandbilder in zerfressenen Farben, die Frauenstimme, die das, was ich sehe, beschreiben will und gleichzeitig erzählt, daß das Dorf verwaist, daß es die Jugend hier nicht mehr hält. Solchen Stunden ist eine gewisse Transparenz eigen, die Inschriften, die Bilder, sie fügen sich in die lange Reihe anderer ein, der Umweg hat mich einen halben Tag gekostet, ich hätte auch wegbleiben können, die Details werde ich vergessen, verwechseln, nicht aber die Essenz, die immer mehr mit Stille zu tun hat, auch wenn ich noch nicht weiß, wo sie mich hinführt.
Es ist gegen Abend, als ich in Huesca ankomme, ein bleierner Himmel hängt über einem Park mit gequälten, bizarren Platanen, im Winter die seltsamsten Bäume, die es gibt. Überall sieht man sie, in Burgos, Logroño, San Sebastián, nackte, starre Heere, in langen Schlachtordnungen aufgestellt, nachts marschieren sie durch deine Träume. Es gibt ein Konzert in der Diputación, ich will nicht hin und frage, ob ich die Wandgemälde von Saura sehen darf, und ich darf, jemand knipst die Lichter für mich an, drei Lederliegen stehen wahrhaftig da, um die Deckengemälde betrachten zu können, und so sehe ich es, im Liegen, ein wildes planetarisches Kreisen, ein großes Schweben farbiger Körper, die ihren eigenen Konturen entschlüpft sind, in einer fernen Ecke die krakelige Signatur des Malers. Ich versuche, an ein fernes Jahrhundert, 800 Jahre später, zu denken, und jemanden, der – wie ich an diesem Nachmittag 800 Jahre zurückgeschaut habe – hier liegt und zu dieser Decke hochstarrt, aber es gelingt mir nicht, soviel Permanenz gehört nicht mehr zu uns, genausowenig wie gemeißelte Sarkophage. Wir haben es zu eilig, um so lange tot zu sein.
Torla. 1957 gab es hier nur eine einzige Unterkunft. Ich war mit dem Bus gekommen, einem uralten Bus mit Pappkartons auf dem Dach und Holzkäfigen mit Hühnern. Bauern, die Ideales rauchten, ein satter, schwerer Geruch. Forellen und Ziegenfleisch und riesige Brotlaibe. Noch ein Mal würde ich mir hier gern über den Weg laufen, aber ich würde mich selbst nicht wiedererkennen, wie ich jetzt auch das Dorf nicht wiedererkenne, Hotels, Pensionen, den Eingang zum Nationalpark Ordesa. Ich fahre bis dorthin, wo der Schnee zu hoch wird, und sehe den hohen Gipfel des Monte Perdido, des verlorenen Berges. Auf der Karte sind große Hirsche eingezeichnet, in den fünfziger Jahren gab es hier noch Bären, und mit einemmal fällt mir wieder ein, daß ich damals dachte, ich würde eines Tages einen Bären sehen, und wer weiß, vielleicht denke ich das noch immer. Ich habe den Motor abgestellt, um die Stille zu hören, und sitze auf einem Stein in der verschneiten Wiese. Ein paar Vögel sind mitten in ihrer achten Sinfonie, und als ich gut hinhöre, kann ich mit meinen früheren Ohren die Bären hören, die die Bässe spielen.
Zwei Flüsse umschließen das Hochplateau, auf dem Jaca liegt, der Gállego und der Aragón. Die von Norden kommenden Pilger konnten von hier aus entweder nach Jaca oder Pamplona, Aragonien beziehungsweise Navarra weiterziehen. Entschied man sich für Navarra, so kam man durch die mythischen Gefilde, in denen einst Roland von den Basken besiegt worden war, durch den Wald der blühenden Lanzen, wo 53 066 bewaffnete Mädchen für die gefallenen Soldaten Karls des Großen in die Bresche sprangen. Aber ich komme nicht aus dem Norden, die Berge, durch die die Pilger von einst unter Lebensgefahr zogen, liegen weiß und leuchtend zu meiner Rechten, ich steuere auf die niedrige, breite Form der Kathedrale von Jaca zu wie ein Seemann auf seinen Hafen, dies ist meine x-te Heimkehr. Das gibt es, Liebe zu Gebäuden, mag es auch noch so schwer sein, darüber zu sprechen, weil ich dann erklären müßte, weshalb dieses Bauwerk für den Fall, daß ich nie mehr reisen dürfte, dasjenige wäre, das ich als letztes noch einmal sehen wollte. Es war die erste romanische Kathedrale, die in Spanien erbaut wurde (1063), aber es ist nicht nur das Alter. Das ist da, aber man empfindet es nicht. Das Gebäude lebt, man zieht es an wie ein Kleidungsstück, wenn ich hineingehe, lege ich es um, als wäre es nicht aus Stein, sondern aus einem anderen, unbenennbaren Material, das sich aus Stein, Licht, Proportion, Glanz, Intimität zusammensetzt. Und auch wenn ich jahrelang nicht dort gewesen bin, ist es sofort da, das Glücksgefühl. Der Boden ist aus Holz, der Stein, aus dem Säulen und Kapitelle gemeißelt sind, stammt aus der Nähe (Castiello) und ist grau, schieferfarben. Das ist nicht meine Farbe, doch hier ist etwas damit geschehen, die Säulen scheinen zurückzuweichen, tun das aber auf eine Weise, als könnten sie diese Bewegung rückgängig machen, als könnten sie sich wieder vorbewegen, und dadurch hat man den Eindruck, als atmeten, lebten sie. Draußen gleicht die Farbe eher der von rotem Sand, die Kirche hat die Stadt wie eine natürliche Umgebung um sich drapiert. Geschäfte, ein kleiner Platz, eine Frau, die Obst und Gemüse verkauft, die dreimal wiederholte Wölbung der Apsis, die Dromedare, Löwen, Basilisken der Kranzgesimse, ferne Fabeltiere. Im Südportal wird Abraham mit dem Messer den nackten Isaak opfern und spielt David mit seinen Musikanten, der König hält sein Saiteninstrument senkrecht auf dem Knie, seine langen, schmalen Füße ruhen auf dem Wulst am Fuß der Säule, die Männer um ihn spielen auf Hörnern und Harfen und Instrumenten, deren Namen ich nicht weiß. An dem Holztor ist ein Sterbefall angeschlagen, alle paar Minuten kommt jemand vorbei, der stehenbleibt und es liest.
Der Haupteingang befindet sich auf der Westseite, ein Vorhof, ein Atrium, um dort zu stehen und zu schwätzen oder Schutz vor dem Schnee zu suchen. Über den Türen ein halbrundes Tympanon mit zwei Löwen wie aus einer mozarabischen Handschrift, unter dem einen liegen ein Mann und eine Schlange, unter dem anderen, der mit seiner rechten Pranke einen Bären in Schach hält, steht ein Basilisk. Sie flankieren ein Rad mit dem Christogramm, dem Christuszeichen, sind aber auch selbst Christus in seiner apokalyptischen Löwengestalt. Tiergeschichten! Götter als Tiere, Söhne von Göttern, Bezwinger von Monstren, wenn ich nicht aufpasse, verwandle ich mich unter diesem Steinrelieflangsam in einen Babylonier, jemanden, der die zweifache katzenähnliche Gestalt als göttliches Wesen erkennt, dann aber natürlich das warnende Latein nicht lesen kann, das unter den Löwenpranken steht:
Vivere si qveris qui mortis lege teneris
Hvc svplicando veni renvens fomenta veneni.
Cor viciis mvnda, pereas ne morte secvnda.
»Wenn du leben willst, der du den Gesetzen des Todes unterworfen bist, komme hierher und flehe, verweigere die vergiftete Nahrung der Welt, läutere dein Herz von Ungerechtigkeit, damit du nicht noch einen zweiten Tod zu sterben brauchst.«
Drinnen befindet sich der Durchgang zum Diözesanmuseum, der von einem blassen Priester bewacht wird. Er hat sich fröstelnd in einen von seiner uralten Mutter gestrickten schwarzen Schal gewickelt und zeigt das weiße, leidende Gesicht des künftigen Heiligen. Woher ich komme, will er wissen. Ah! Aus den Niederlanden! Achtzigjähriger Krieg! Und dann will er mir tatsächlich noch einmal erklären, daß die Niederländer die Spanier immer falsch verstanden hätten und daß wir deshalb noch immer böse auf sie seien, und ich sage ihm, daß ich schon lange nicht mehr böse bin, schon ein paar Jahrhunderte nicht mehr, daß ich nun aber hineinwill, zu den romanischen Fresken. Brummelnd bleibt er zurück, ganz allein mit Luther und Calvin und Alba und Egmont und Hoorne und Philipp, wohingegen ich soviel weiter weg sein will, weg von ihm und weg von seinem sechzehnten Jahrhundert, bei den blassen, zerfledderten Resten von Wandbildern – Fragmente, Hände, halb verschwundene Gesichter. Die Zeit selbst ist hier zum Künstler geworden, und zwar einem, der weiß, daß die meisten Dinge erst durch Weglassen schön werden, sie hat gekratzt, gewischt, das eine bewahrt, das andere verworfen, und so sehe ich es, eine vermengte Frau, nur die Konturen noch erkennbar, eine negative Kreuzigung, Dinge, die man an dem erkennt, was hätte dasein müssen; durch das Fehlen von Schultern, Köpfen, Haltungen sind die Darstellungen abstrakt geworden, Rätsel, Suggestionen, leere Flächen zwischen einem Volk von Heiligen, jeder mit seinem eigenen goldenen Nimbus, so daß der Eindruck entsteht, es habe einst einen Menschenschlag gegeben, der mit dieser goldenen strahlenden Scheibe am Hinterkopf geboren wurde.
Es ist Freitagabend in Jaca, und hier spielt sich ab, was ich später auch in Logrofio, Burgos, Santiago sehe, eine ungestüme jugendliche Menge zieht durch die Straßen, man könnte meinen, es gäbe Hunderte von Kneipen, und alle quellen sie über. Es ist kalt und doch ist keiner daheim geblieben, ein schwindelndes Gewimmel von Spermatozoiden, die da durcheinanderwuseln. Discomusik knallt an die alten Mauern, der Kontrast zu tagsüber könnte nicht größer sein. Was suchen sie? So etwas sieht man in diesem Ausmaß in Berlin oder Amsterdam nicht, es gleicht noch am ehesten einer lachenden Verzweiflung oder einer tierischen Langeweile, sie strömen in alle Richtungen, ziehen in Kneipen und kommen wieder heraus, haken ihre Blicke ineinander, suchen, werben, trinken, schreien, formieren sich zu Ketten, die wieder auseinanderfallen, bilden Knäuel, wirken betäubt vom Lärm ihrer eigenen hohen Stimmen. Wer daheim bleibt, muß verrückt sein, wer jetzt irgendwo ein Buch liest, wird verbannt oder ausgestoßen, hier muß man jetzt sein, zwischen den ekstatischen Gesichtern mit den glänzenden Augen, der dröhnenden Musik, dem elektronischen Gejaule der Spielautomaten, dem überall wiederkehrenden blauen Schein der Fernsehschirme, zu denen jetzt niemand mehr schaut. Über all diesen Köpfen hängt ein Hauch unerfüllter oder unerfüllbarer Sehnsüchte und gleichzeitig die Ahnung einer Rechnung, die irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, präsentiert werden wird. Ich erinnere mich an eine andere Ekstase, die der Menschenmenge in Madrid, als die Sozialisten einen überdeutlichen Sieg errungen hatten und die Frauen sangen: »Felipe, capullo queremos un bijo tuyo.« (Felipe, Rosenknöpfchen, wir wollen einen Sohn von dir.) Jetzt sollte es soweit sein, Spanien, das so lange innerhalb der eigenen Wände gelebt hatte, würde sich Europa zuwenden, die Schatten der Vergangenheit vertreiben. Alles war nachzuholen, und das ist dann auch geschehen, mit einer Leidenschaft, die das Land atemlos zurückgelassen hat, die gleiche Atemlosigkeit, mit der es auf die großen Feste dieses Jahres zustürmt, ein Rausch, in dem alles in Kauf genommen wird, steigende Preise, ostentativer Materialismus, das Verschwinden von allem, wonach man später unter Mühen wird suchen müssen. Und hinter dieser Erinnerung an den Tag der Wahl sehe ich jene andere, an ein viel älteres Spanien, gefangen in anderen Widersprüchen, Paraden von Männern mit deutschen Helmen, den gleichen, die ich erst zehn Jahre davor in einem ganz anderen Kontext gesehen hatte und die für mein Gefühl so schlecht zu den spanischen Knabengesichtern paßten, aber auch eine andere Art von Menge, anders als diese hier und auch wieder anders als die vom Tag der Wahl oder die der marschierenden Soldaten: eine intime, in sich kreisende Menge, deren Anblick ich nie vergessen habe. Es war in Salamanca. Ich hatte eine Pension an der Plaza Mayor, ein Platz wie ein steinernes Wohnzimmer. 1954. Vom Balkon aus blickte ich auf das vollkommene Geviert des Platzes mit den Arkaden. Keine Gehwege, keine Ablenkung – und in dieser geometrischen Form bewegte sich eine andere Menge im Kreis, bestehend aus Studenten und Lehrern, ein Kreis vor- und zurückgehender Menschen, die miteinander sprachen. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich war wieder genauso bewegt wie damals, als ich zum ersten Mal, im selben Jahr, Exil-Katalanen in Perpignan die sardana hatte tanzen sehen, Gemeinsamkeit, die noch eine Form hatte, die des Tanzes, die des Gesprächs, das sich ebenfalls in einem sich bewegenden Kreis abspielte und für mich da oben, wo ich die einzelnen Wörter nicht unterscheiden konnte, wie ein gedehntes, unverständliches Gedicht klang. Die sardana ist ein gemäßigter Tanz, der nur dann und wann heftig auflodert und doch immer, ganz wörtlich, im Griff gehalten wird, und so war es auch mit diesem peripatetischen Gespräch unten auf dem Platz, alle Hast war ihm fremd, und ich saß da mit meinem nördlichen, autistischen Selbst auf dem Balkon und war neidisch. Ist dieses Spanien verschwunden? Ich weiß es nicht, so schnell lassen sich die Konstanten der Geschichte nun auch wieder nicht verjagen. Vielleicht hält es sich nur verborgen, bis die plötzlichen Stürme falsch verstandener Modernität sich wieder gelegt haben. Vielleicht aber bin ich auch nur hoffnungslos altmodisch und habe Heimweh nach den falschen Dingen.
Durch leichten Schnee gehe ich zu meinem Hotel, die Flocken liegen wie gewichtslose Blüten auf meinem Mantel, ein geschmückter Pilger. In meinem Zimmer schaue ich mir noch einmal eine der Reproduktionen an, die ich an diesem Nachmittag dem blassen Priester abgekauft habe: Adam und Eva, ein Fresko aus dem dreizehnten Jahrhundert, das natürlich in der Kirche hätte bleiben müssen, aus der man es entfernt hat, der Kirche von Urries. Anstatt des einheitlichen Goldes, das einst den Hintergrund bildete, tanzen oder stehen die beiden rosa Figuren jetzt auf einer lädierten, verkratzten Wand, wodurch die an sich schon unbeabsichtigt düstere Darstellung eine verstärkte Modernität erhält und einen unmittelbar berührt. Schräg stehen unsere Ureltern mit ihren rosa länglich-nackten Körpern da. Evas Brüste zeigen nach unten, sind von einer anderen Farbe als der Rest ihrer Haut, weiße Linien zeigen bei beiden die Rippen an, die Bäuche sind ulkig gewölbt, die Geschlechtsteile langgereckt. Sie ist im Begriff, ihm diesen elenden Apfel zu füttern und uns damit der Ewigkeit zu berauben, und ihr Lachen ist so tückisch wie das einer Zauberhexe.
Der nächste Morgen hat all diese Bilder vertrieben. Ich fahre in die Berge, zum Kloster San Juan de la Peña. Der Weg führt durch die Sierra de la Peña, Kurven, weite Ausblicke, Steineichen, in der Ferne Berge. Zwischen dem Kloster und Jaca gibt es keine Herberge, ich frage mich, wie die Pilger hier entlanggezogen sind. Das letzte Mal war ich mit einem Team des niederländischen Fernsehens hier; ich sollte durch die Sendung führen, deren Thema die Pilgerreise nach Santiago war, und war dafür eigens aus Kalifornien gekommen, wo ich damals für eine Zeitlang lebte. Doch beim Abflug auf der anderen Seite des Globus war etwas schiefgegangen; als wir in der Luft waren, konnte der Pilot das Fahrwerk nicht mehr einziehen. Wir mußten zurück, doch dafür mußten erst 140 000 Liter Kerosin aus den Tanks gepumpt werden, und so flogen wir da mit vier beängstigenden weißen Schaumfontänen herum; für einen Moment der Gedanke an den Tod, der um das Flugzeug schwebte, die Ohnmacht von Tieren, die selbst nicht fliegen können. Bei der Landung Verwirrung, ich wußte, daß das Team in Pamplona auf mich wartete, mein Koffer war verschwunden, es war Dezember und ich hatte keine Winterkleidung, und so stand ich, für mein Gefühl ohne Übergang, plötzlich in diesem verlassenen Kloster, und alles, was in den vierundzwanzig Stunden davor passiert war, von der zu natürlichen Natürlichkeit, mit der der Pilot das Unheil bekanntgegeben hatte, bis zu diesen verbissenen gipsfarbenen Wasserströmen vor meinem Fenster und den Japanern, die sich mit ihren Fotoapparaten vor mich hängten, weil man von meinem Platz aus am besten sehen konnte, das gehetzte Umsteigen und die Reise über Miami und Madrid, und dann die plötzliche Stille dieses Nests in den Bergen, die blinden Kugelaugen der Figuren an den Kapitellen im Kreuzgang, die Gräber der Könige von Aragonien, die Felswand, die bis in den Himmel zu reichen schien, das alles verlieh dem Augenblick, in dem ich da stand, eine idiotische Unwirklichkeit, als wäre ich durchscheinend geworden und als wären die Worte, die ich sprach (über das himmlische Jerusalem, das Thema eines der Kapitelle), nur Luft und könnten unmöglich von einem Mikrophon eingefangen werden. Aber auch diesmal ist etwas nicht, wie es sein soll, diese Klöster lassen sich nicht so einfach erobern. Je weiter ich komme, desto vereister ist die Straße, durch den Wechsel von Sonne und Schatten ist der Schnee mal geschmolzen, mal über froren, das Auto gerät ins Schlittern, quergestellt rutsche ich die Steigungen hinunter, mein Instinkt sagt mir, daß ich zurückfahren sollte, aber mein Dickkopf sagt nein, und als ich endlich vor dem Kloster stehe, ist es »für den Winter« geschlossen; von unten starre ich auf dieselbe Felswand, auf ein paar Kapitelle, die ich von dort sehen kann. Rings um mich ein Wald von Kiefern, ihr Rauschen lacht mich aus, aber als ich zurückzufahren versuche, bleibe ich schon in der ersten Kurve im Schnee stecken und rutsche dann langsam rückwärts, die Steilstrecke hinunter, bis ich quer zur Straße zum Stehen komme. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten, in der Stille muß ich das Nahen jedes Autos hören, und dann höre ich es, erst noch aus großer Entfernung, dann lauter und wieder ersterbend, das Geräusch eines anderen Autos, es sind die Kurven, die das Geräusch ersticken und wieder freigeben, bis es sein eigenes Echo zu werden scheint. Doch es ist anders, als ich dachte, denn es sind zwei Autos, die sich aus verschiedenen Richtungen nähern und auf den dummen Flachlandbewohner stoßen, der glaubte, hier ohne Schneeketten fahren zu können. Sie haben welche und sie retten den Fremden mit einer Höflichkeit, die nicht mehr zeitgemäß scheint. Sie kennen einander sowenig, wie sie mich kennen, sie kommen, nach ihren Nummernschildern zu urteilen, aus verschiedenen Gegenden, einer hat ein zusätzliches Paar Schneeketten dabei, gemeinsam legen sie sie um meine Reifen, ich fahre den Wagen aus der Gefahrenzone und gehe dann zurück, wo die anderen warten. Ein gesegneter Zufall will es, daß ich zwei Exemplare der spanischen Ausgabe meines Buches In den niederländischen Bergen bei mir habe, und ich sehe geradezu, wie sie denken, daß es in den Niederlanden doch keine Berge gibt, aber es ist zu kompliziert, das zu erklären, und außerdem, was kann man schon von einem Mann erwarten, der im Februar in den Bergen ohne Schneeketten fährt?
Ich weiß, daß ich weiter nach Westen, Richtung Navarra, fahren muß, auf Santiago zu, ich weiß, woran ich vorbeikommen werde und was ich, wenn ich dort je ankommen will, links (oder rechts) liegen lassen muß. Ich muß streng sein, ich bräuchte ein Jahr, um all das aufzusuchen, wo ich schon einmal war, ich sündige lediglich ab und an; ganz kurz, als wollte ich mich nur vergewissern, daß alles noch da ist, stehe ich in der geheimnisvollen niedrigen Krypta des Klosters Leyre zwischen den atavistischen klobigen, kalkfarbenen Säulen mit den westgotischen Motiven. Dummheit, das alles, hierfür muß man sich Zeit nehmen, genauso wie für den Zauber der Klosterkirche, die sich durch ein perspektivisches Spiel dreier aufeinander folgender hoher Bögen zur Apsis hin reckt und so mit sich selbst davonzufliegen scheint. Ein Parallelleben müßte ich haben, eine bestimmte Menge Zeit, um gleichzeitig zu dieser Reise jene früheren Reisen noch einmal machen zu können, nach Silos, nach León, nach Oviedo, jetzt muß ich diese Zeit aus meiner Erinnerung destillieren, doch sogar wenn sie die Bilder liefert, genügt es mir nicht, es kommt auf die Anwesenheit, die Berührung, die Hand an, die über den Stein streicht, das Unmögliche, denn was man dann will, ist nicht ein anderes Leben, sondern ein längeres, eines, in dem man sich fortwährend in denselben Kreisen von Abschied und Wiedersehen dreht, bis man eines Tages so gesättigt und müde ist, daß man sich in einer dieser Kirchen in eine Nische legt und in einen steinernen Traum fällt.
Doch so weit ist es noch nicht. Die parallele Zeit gehört nicht zu meiner Ausrüstung, ich habe nur einen sterblichen Körper, der nicht überall gleichzeitig sein kann und der mich jetzt wieder mit hinausnimmt und über den Embalse de Yesa blickt, einen großen, künstlich gestauten See, in dessen totenstillem, stahlblauem Wasser sich die dunklen Formen der Hügel ringsum spiegeln. Gefährlich war es früher in diesen Gegenden, Aymery Picaud, ein Mönch aus Poitiers und Mitverfasser des Codex Calixtinus, des ersten Pilgerführers, konnte nicht genug warnen vor den bestialischen Bewohnern Navarras. Im übrigen warnte er vor allem und jedem, außer vor den Bewohnern seiner eigenen Heimat. Er selbst hatte die Pilgerreise ebenfalls unternommen und wußte also, wovon er sprach, doch Liebe zu seinen Mitmenschen hatte sie ihm nicht vermittelt, die Tinte, in die er seine Feder tauchte, war in irgendeinem finsteren Winkel der Hölle aus Galle und Essig und Schwefel gebraut. »Für anderthalb Cent«, sagt er, »wird ein Navarrese einen Franzosen niederstechen. Sie sind durch und durch bösartig, von dunkler Farbe, häßlichem Äußerem, liederlich, pervers, verachtenswert, untreu, korrupt, geil, versoffen, erfahren in allen Formen von Gewalt, wüst, wild, unehrlich, unaufrichtig, ungläubig und unverschämt, grausam und streitsüchtig, außerstande, sich anständig aufzuführen, von Natur aus mit allen Untugenden versehen.« Mit einem Wort: nette Zeitgenossen, und die Pilger von damals, die von Hospiz zu Hospiz ziehen mußten, noch knapp tausend Kilometer Fußmarsch vor sich hatten und eine Ewigkeit von ihrer vertrauten Welt entfernt waren, wird das sicher sehr beruhigt haben. Picaud warnt vor »der barbarischen Sprache der Basken«, vor »Fährleuten, die einen zu ertränken versuchen«, vor Räubern und Betrügern, vor Wölfen und Eis und Schnee, von den anderen Gefahren, denen für die Seele, ganz zu schweigen. Auf kaum einem Tympanon fehlen die Verdammten, rückwärts fallen sie in die Unterwelt der Hölle wie zum Beispiel in Sangüesa, die Posaunen ertönen, Teufel mit großen, haifischzahnstarrenden Mäulern warten darauf, in dieses weiche, verderbte Fleisch zu beißen, die Bösartigkeit der Bilder ist immer etwas überzeugender als der verzückte Glanz des ewigen Lohns.
Wer kommt schon nach Uncastillo? Es liegt so verloren im Nichts und weit von allem entfernt, es muß der leere Fleck auf der Karte gewesen sein, der mich einst dorthin trieb, oder der Name, ich weiß es nicht mehr. Ich war immer zur falschen Zeit für die Kirche und zur richtigen für den Metzger da. Vielleicht war die Kirche auch wirklich immer geschlossen, mir genügte bereits der kleine dreifache Bogen über dem Südeingang, die Tiere mit den Köpfen über und den Füßen unter dem Türrahmen, der Mann, der das Maul eines Monsters aufhält, der kleine Mann mit dem Krug, die beiden, die aus derselben Schüssel essen, steinerne Märchen, vor Jahren zum ersten Mal gesehen, die Sonne am höchsten Punkt des Himmels, Brand ohne Flammen. Ich hatte Hunger, bei jenem ersten Mal, und gerade als ich die Metzgerei betrat, kam der Metzger aus seiner Küche, eine dampfende Schale Blutwürste in beiden Händen. Río Riguel heißt der Fluß, der dort fließt, ich suchte mir einen Rastplatz und breitete meine Schätze aus – Käse, weiß und glänzend, Brot, wie man es auf den Stilleben von Meléndez sieht, die Blutwurst von einem Dunkelviolett, das schon ins Schwarze spielt. Sie wird mit Zimt und Reis zubereitet, die Körner glänzen wie weiche kleine Emailsplitter. An eine Herde auf der anderen Seite des fast ausgetrockneten Flusses erinnere ich mich noch, an säuselnde Pappeln, die Reglosigkeit des Hirten, den Hund, der weite, nervöse Kreise um die Herde zog. Hirte, Herde, Fluß, Brot, Jahre später fuhr ich zum zweiten Mal nach Uncastillo, nur, um das gleiche noch einmal zu erleben. Das muß eine Form von Hochmut sein, so als wollte man ein Stück der Ewigkeit in sein Leben weben, doch diesmal wurde er nicht bestraft: Als ich die Metzgerei betrat, kam der Metzger wie beim ersten Mal mit seiner dampfenden Schale voll Würsten in den Laden, und mit einemmal sah ich vor mir, wie er und ich dieses Ballett noch jahrhundertelang aufführen würden, er, der Metzger, und ich, der Kunde, und wie der Schatten der Kirche auf der gegenüberliegenden Seite die immer gleiche Zeichnung auf die kleinen, zu Quadraten gelegten Pflastersteine auf dem Platz werfen würde. Jetzt ist es das dritte Mal, und Winter. Den Metzger gibt es noch, aber seine Würste sind kalt, genauso wie der Boden am Fluß. Die Herde und der Hirte sind nicht mehr da, aber der steinerne Mann hält noch immer das Maul des Monsters auf, und das ist die einzige Form von Ewigkeit, die es gibt. Ich erzähle dem Metzger meine Geschichte, der darüber lachen muß, aber vielleicht auch denkt, daß ich verrückt bin, und dann verfalle ich wieder der weiten Ebene.

An der N 240 von Jaca nach Puente la Reina, Embalse de Yesa
Logroño, Navarrete. Rätsel, die zu diesem Weg gehören: Plötzlich habe ich etwas gesehen, ohne zu sehen, etwas in einer Mauer, Worte, Blume, etwas, das Aufmerksamkeit erheischt. Ich parke das Auto und gehe zurück. »Peregrino, reza una oración en memoria de Alice de Graener, que falecio el 3-7-1985 ...« – »Pilger, sprich ein Gebet zum Angedenken an Alice de Graener, die hier am 3. Juli 1985 auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela starb, und zur Erinnerung an alle Pilger, die auf dem Weg dorthin starben.« Der Text steht zweimal da, auf spanisch und auf niederländisch, und darunter wieder steht unbeholfen mit Kreide auf spanisch geschrieben: »Alice, viel Glück auf deinem neuen Weg.« Ich sehe, daß es die Mauer eines Friedhofes ist, aber dort kann ich ihr Grab nicht finden. Zwei kleine Reliefs sehe ich an der Mauer, das eine stellt einen jungen Mann mit Pilgerstab dar, unterwegs nach Santiago, das andere eine junge Frau, ein Mädchen noch, auf einer Steinbank sitzend, auch ihr grübelndes, rastloses Gesicht Richtung Santiago gewandt, die Füße auf die Jakobsmuschel gestützt. Hier und da vor der Mauer ein paar Plastikblumen, ein Gedanke, eine Erinnerung an jemanden, der unterwegs war, jemanden, der nicht ankommen sollte, der irgendwoanders hinging. Der Reisende setzt seinen Weg fort und rätselt, wer sie gewesen sein mag und was wohl geschehen ist.
Burgos, Castrojeriz, Frómista, Carrión de los Condes, Valencia de Don Juan, León, das Panteón de los Reyes, jeder Name ein Lockruf und eine Erinnerung, wie Sirenen liegen sie zu beiden Seiten des Weges und zerren an mir – doch ich habe mir nach dem Rezept des Odysseus die Ohren mit Wachs versiegelt, ich will sie nicht hören und werde sie nicht sehen, irgendwann verkaufe ich dem Teufel meine Seele um eines zusätzlichen Jahres für eine manichäische Pilgerreise willen, aber jetzt geht es nicht. Ein einziges Mal nur lasse ich mich vom Weg fortlocken, der Gesang aus der Ferne ist so alt und so orientalisch, daß ich ihm nicht widerstehen kann. Am Río Esla biege ich rechts ab, die Straße ist schmal, kurvenreich. Ochsen, Mistkarren, überall sind Leute bei der Arbeit, das Land ist fruchtbar in diesem Tal. Durch die winterliche Kleidung wirkt es nördlich, ein Mann hinter einem Pflug, eine Frau mit einem Bündel roter Erlenzweige auf dem Kopf, ein Jäger mit seinem Hund. Ich weiß, daß das, was ich gleich sehen werde, nicht in diese fast holländische Landschaft paßt, die Zier des Orients, in den Norden verirrt, aber das ist gleichzeitig der Grund, weshalb ich hierher zurückkehre, der Schock des Uneigentlichen. Nichts in dieser Landschaft bereitet das Auge darauf vor, auf die zwölf so klar gezeichneten Bögen des verlassenen Klosters San Miguel de Escalada, einst, im Jahr 913, von mozarabischen Mönchen aus Córdoba erbaut als eine der Kirchen, die wie ein Kranz um León lagen, die Königsstadt Alfons’ III. Mit geschlossenen Augen weiß ich, wie das Kloster in dieser Landschaft auftauchen wird, immer wieder unerwartet, ich weiß es, und doch muß ich dorthin. Es ist Montag, die Kirche ist also zu, der einsame Bewacher hat seinen freien Tag, aber das macht nichts, es geht mir um den Portikus, den Vorhof, den Ort, die Lage am Hügel, den weiten Kreis der Stille ringsum. Und es ist, wie es sein muß, niemand ist da, und es kommt auch keiner, andere, dieselben Krähen führen ein tausendjähriges Gespräch in einem Kreis rund um den schweren quadratischen Turm, und ich sehe, was ich sehen wollte, die zwölf schlanken Säulen, die im plötzlichen Sonnenlicht wie aus Elfenbein wirken, die elfmal wiederholte hufeisenförmige Wölbung darüber, die ich, als ich auf den Hügel geklettert bin, durch das eine kleine, glaslose Doppelfenster (alfiz) noch einmal sehen kann, ein arabischer Wellenschlag, vor tausend Jahren versteinert, ein Echo der Moscheen von Córdoba und Kairuan, eine Form, die ihre Erschaffer aus einer Welt mitgebracht hatten, aus der man sie vertrieben hatte, dem Kalifat der Omaijaden. Drinnen weiß ich die Kapitelle und Reliefs mit den asturischen und westgotischen Erinnerungen, vor allem jedoch die stets wiederholten Blütenmotive, die tropischen Vögel mit den Hakenschnäbeln, die stilisierten Palmblätter, Traubenbüschel, Muscheln, moslemisches Geflüster in diesem kleinen christlichen Säulenwald, eine Oase, zu der der Hirsch trinken kommt, den niemand sieht.

Kloster San Miguel de Escalada
Je näher man dem Ziel kommt, desto mehr Wegzeichen stehen da. Hohe, aus Stein, die alten Metallschilder, auf denen in Galicien die Ortsnamen durchgestrichen sind und auf gallego neu geschrieben, die neuen, hohen Schilder der Europäischen Gemeinschaft mit ihrer stilisierten Muschel, die nicht wie die alte Muschel aussieht, die auf allen anderen Wegzeichen zu sehen ist, und schließlich die Schilder, die anzeigen, wo noch ein Stück des ursprünglichen Weges vorhanden ist, meist nicht mehr als ein Pfad. Und plötzlich passiert es, man will aus dem Auto heraus, will zu Fuß weiter, man hat es die ganze Zeit falsch gemacht, man will hinter den anderen, den echten Pilgern doch nicht zurückstehen, die die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt haben, den einzigen, die wirklich wissen, was das bedeutet. »Irgendwann mache ich es auch«, sagt man sich und hofft, daß es wahr wird, und um zu sehen, wie es ist, läßt man sein Auto für einen Tag stehen und marschiert los. Ohne Stab und ohne Gepäck, ohne Muschel, weil man kein Recht darauf hat, aber man geht, und weil man geht, ist man ein anderer geworden. Jetzt erst wird einem das Ausmaß des Unterfangens klar, plötzlich wird man auf ein Maß zurückgestutzt, das nur noch mit einem selbst zu tun hat, mit den eigenen Gedanken, mit denen man die Gedanken der anderen, der Pilger von einst, nachzuvollziehen versucht. Weil die Schilder nicht überall stehen, weiß man oft nicht mehr, wo man ist, man hat nur noch den Takt der eigenen Füße. Jetzt ist man es selbst, der die Stunden zählt, der die Trägheit der Landschaft ringsum sieht, während man über eine staubige Ebene läuft, nichts vor sich als die Form eines Hauses in der Ferne, oder später, an einem anderen Tag, bei einem anderen Mal, einem Fluß folgt oder durch einen Wald geht, wo das Land wieder wilder wird und sich zu wellen beginnt. Die Bilder all jener Kirchen haben sich längst zu einem wundersamen langen Band vermischt, das von Haarlem oder Paris oder Cluny aus dem Auf und Ab des Landes folgt, jetzt sind es andere Stimmen, die sprechen, Elstern und Eulen, andere Geräusche, die Schritte eines anderen, wildes Wasser an einer Brücke, unsichtbare abendliche Tiere, eine Stimme, die in einem Haus singt.
Man sieht, wie der Tag sich langsam verdunkelt, aber man hat selbst kein Licht, das man anzünden könnte, und so kann man darüber nachdenken, was sie einst, in jener anderen Zeit, gedacht und gefühlt haben, wenn sie zurückgefallen waren und allein durch die Dunkelheit liefen. Die galicische Landschaft ist eine Landschaft der Märchen und Fabeln, Hexen und Zauberer, unerwarteter Erscheinungen und verzauberter Wälder, herumirrender Geister und keltischer Nebel, selbst der, der nur ein paar Stunden bei Dämmerung und hereinbrechender Nacht hier entlangwandert, fühlt sich in einem Trugbild gefangen, der Weg ist kein Weg, die Büsche sind Pferde, die Stimme, die ich höre, kommt aus einer anderen Welt.
Kalt wird es auch, als ich oben auf dem Cebreiro angelangt bin, schneit es, ich stehe in einer jener prähistorischen Steinhütten, pallozas, niedrig, dunkel, der Boden aus Erde, Möbel, die noch fast Bäume sind, geschwärzte Kochtöpfe, die über einem Feuer in der Mitte der Hütte gehangen haben, noch immer der Geruch von Rauch, das Dach spitz und aus geflochtenem Schilf, wie die Hütten der Dogon in Mali. Vor zwanzig Jahren wohnten hier noch Menschen, neun dieser Hütten sind noch da, aber kein Mensch mehr, um ein Feuer zu entfachen, und doch kam hier einst ganz Europa vorbei, weil auf diesem Berg ein großes Wunder geschehen war: ein gläubiger Bauer, ein ungläubiger Mönch, echtes Fleisch, echtes Blut, den Kelch, der es einst faßte, gibt es noch, selbst die Katholischen Könige kamen, um ihn zu sehen. Auch hier besaßen die Mönche von Cluny ein Hospiz, erst im vorigen Jahrhundert sind sie gegangen, still, wie jemand, der tausend Jahre irgendwo war und nun die letzte Seite eines sehr dicken Buches umblättert und es für immer schließt, vorbei die Geschichte von Macht und Einfluß, Frömmigkeit und Politik, die die Geschichte Europas jahrhundertelang beherrscht hat. Es steht noch, dieses Hospiz, es scheint, als hätte der Berg selbst es gebaut, ein Leuchten steckt in dem rohen, kalten Stein, die Kirche aus dem neunten Jahrhundert daneben ist ebenso abweisend, noch einmal mußte es hart und mühselig werden, bevor das Ziel in Sicht kam. Hier ist die Wasserscheide zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Kantabrischen Meer, es ist der höchste Punkt des umringenden Gebirges, braun und düster weicht das Land nach Westen.
Der Codex Calixtinus schickt mich über Hasenfelder (Campus Leporarius), die jetzt Leboreiro heißen, die Brücke in dem mittelalterlichen Dorf ist nur zu Fuß zu passieren. Nichts kann sich hier verändert haben, die Sonne ist durchgekommen und strahlt in das eilige Wasser, die Wiesen sind beschneit mit kleinen weißen Blumen, eine alte Frau ruft etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ein runder Vorratsschuppen, gefüllt mit Maiskolben, ist noch von Hand geflochten, in was für einer Welt befinde ich mich hier, neben der meine eigene so fahl und schattenhaft wirkt? Noch eine Fußbrücke, noch ein paar Häuser, aus Samt muß diese Wiese sein, ich will in ihr liegen und dem Vogel lauschen, der andere Vögel nachahmt, aber der Führer ist unerbittlich, »nach Kilometerstein 558 verlassen wir den Feldweg und gehen nach links und dann geradeaus weiter«.
Denkste! Du vielleicht, aber ich nicht, noch ein Mal werde ich einen Bogen schlagen, unsinnig, unüberlegt, ich will noch nicht, bin noch nicht bereit dafür, die Stadt ist zu nahe, ganz Galicien der dazugehörige Garten, ich komme, aber jetzt noch nicht, ich schlage einen weiten Kreis um die Stadt und weiß selbst nicht, ob es Ernst ist oder ein Kinderspiel, Instinkt oder eine Laune, erst will ich noch nach La Coruña, das wie ein Balkon am Ozean liegt, eine Stadt des Lichts und des Winds und der großen Fenster, die so ganz anders wirkt als der Rest von Spanien, als gehörte sie eher zum Meer als zu der großen, versteinerten Landmasse des Festlands. Schiffe und Märkte, schwungvolle Standbilder, aber auch hier darf ich nicht bleiben, das Land, das noch weiter im Westen liegt, ist wollüstig und irisch, doch die Küste, mit der es das Meer berührt, heißt La Costa de la Muerte, die Küste des Todes, und heute legt der Wind sich besonders ins Zeug, um zu erklären, warum: Als ich in Muxia angekommen bin, habe ich Mühe, mich auf den Beinen zu halten, die Fischerboote sind eingelaufen, und die Fischer hocken in den Kneipen am Kai beisammen. Vorn auf den Felsen steht eine Kirche, der Sturm läutet die Glocken, niemand braucht etwas zu tun, aber der Sturm kann kein Maß halten, ab und zu schreit er mit seinen bronzenen Stimmen, die Fischer schauen nicht auf. Küste des Todes, an den Felsen liegt ein Wrack fest, halb verrostet, weiße Peitschen schlagen darüber, Flocken wie Tausende von Hühnerfedern, das tosende Wasser leuchtet im Licht, es schmerzt in den Augen. Südlich davon liegt Finisterre, an diese Küsten trieb es den Leichnam des Apostels in seinem Boot, jemand sollte ihn finden, ein König sollte eine Kirche für ihn erbauen, er sollte als matamoros (Maurentöter) auf dem Schlachtfeld gegen die Mauren mitkämpfen, er sollte Wunder tun, und sein Name sollte auf allen Wegen nach Osten und Norden getragen werden und, mit noch größerem Glanz versehen, mit den Pilgern zurückkehren, die die Muschel aus diesem Meer auf ihren Kleidern tragen sollten, und dann sollte der Strom nicht mehr aufzuhalten sein, sogar in Schottland und Pommern sollten die Menschen ihre Häuser verlassen und hierher, ans »Ende der Erde«, pilgern, viele sollten zum erstenmal in ihrem Leben die gefährliche, leuchtende Unendlichkeit des Meeres erblicken, hier, am Kap Finisterre, finis terrae, und ihre permanente, in steter Bewegung befindliche Anwesenheit im Norden dessen, was heute Spanien ist, dem Grenzgebiet der letzten christlichen Königreiche Navarra, Aragonien, León und später Kastilien, sollte den Islam zurückdrängen bis hinter die Säulen des Herakles, nach Afrika, von wo die ersten Moslemheere einst wie eine Springflut nach Al-Andalus übergeschwappt waren.
Jetzt kann ich meinen Kreis schließen und die Stadt umzingeln, ich fahre an den Rias Bajas, den großen Buchten entlang, die so tief in das grüne Land schneiden, an der Insel La Toja (la Toxa) vorbei, wo Frauen bei Niedrigwasser im Schlamm stehen und Muscheln suchen, dann wende ich mich landeinwärts auf ansteigenden Straßen voll weißem und gelbem Ginster, die in einem Monat von Klatschmohn, Klee, Fingerhut gesäumt sein werden, bis ich mit einem weiten Schlenker nach Osten durch Eukalyptuswälder und Äcker- und Wiesenterrassen wieder auf den Pilgerweg stoße, dort, wo inter duos fluvios, quorum unus vocatur Sar et alter Sarela, urbs Compostella sita est, wo zwischen zwei Flüssen, deren einer Sar und der andere Sarela heißt, die Stadt Compostela liegt. Nun gilt es den Berg zu besteigen, von dem aus man bei gutem Wetter die Stadt sehen kann, Monxoi, Monte del Gozo, Mons Gaudii, Berg der Freude.
Ich stehe da und schaue, doch es sind nicht meine Augen, die schauen, es sind die der anderen, früheren. Es ist ihr Blick, und das, was sie sehen, ist mit Wandern verdient, mit Gefahren, mit Glauben, sie hatten ihr Leben gewagt und alles aufgegeben, um nur ein Mal dem Heiligen nahe zu sein, seinen Reliquien; jetzt sahen sie die Stadt, die Türme der Kathedrale, am selben Tag noch würden sie durch die Puerta Francígena in die Stadt einziehen, sie würden die Stufen zur Kathedrale hinaufgehen, ihre Hand an diese leere, handförmige Stelle an der mittleren Säule des Pórtico de la Gloria legen, von der sie soviel gehört hatten, sie sollten über dem Grab des Apostels beten und vollen Ablaß erhalten. Es waren andere Menschen, mit den gleichen Gehirnen dachten sie einen anderen Gedanken. Manche Orte haben das an sich, einen Zauber, wodurch man teilhat an den Gedanken anderer, Unbekannter, Menschen, die in einer Welt lebten, die nie mehr die eigene wird.
Niemand ist zu sehen auf dem hohen Hügel, nichts, ein ziemlich kahles Feld, eine geschlossene kleine Kirche, ein paar große Steine. Ich klettere auf einen von ihnen und spähe in die Ferne, und dann, langsam, als würde ein Schleier weggezogen, sehe ich es, unendlich fein gezeichnet, fast verborgen hinter einer Wölbung grüner Hügel und einem durchsichtigen Vorhang aus Bäumen, drei schlanke Türme, eine geträumte Vision, und ob ich es will oder nicht, durch einen Vorgang, den ich nicht deuten kann, werde ich von ihrer Freude durchströmt und stehe da, bis die Dämmerung den Hügel hinaufkriecht und die Autos unten im nebligen Tal die Scheinwerfer anmachen und in langen Lichterketten in die Stadt fahren. Jetzt bin ich da, jetzt kann ich hin.
In alten spanischen Städten wacht man von den Glocken auf. Santiago ist nicht groß, aber es hat vierzig Kirchen, und die haben alle von Zeit zu Zeit etwas zu fragen oder zu rufen, was zwischen den Steinmauern widerhallt. Alle Mauern sind aus Stein, kann man hierauf entgegnen, und doch ist es, als wäre die Innenstadt hier steinerner als sonst irgendwo, man geht über große Granitquader, und aus Granit sind auch die Häuser und Kirchen, wenn es regnet, wie gestern, glänzt alles und lebt. Ich ging zwischen schwarzen Regenschirmen, und es schien, als wäre ein Volk von Fledermäusen unterwegs. Schmale Straßen, große, offene Plätze, wo der feine Regen eher einem Nebel glich, der die schweren Formen der Gebäude verschleierte, keine Autos, so daß das menschliche Maß das einzige ist, Stimmen und Schritte, und einmal, aus einer Gasse, traurige Klanggirlanden, eine Geschichte ohne Ende, die gaita, der galicische Dudelsack. Die Klänge drangen aus einem Gasthaus, ich hatte dort gegessen und blauroten Wein aus weißen Schalen getrunken, alles war, wie es sein sollte, ich wußte nun vom Ozean und dem Land ringsum, ich konnte mir die Gesichter und die Gesten anschauen und spürte, wie diese Stadt sie selbst war in ihrer Abgeschiedenheit vom Rest des Landes, in sich selbst geborgen, ihr Glanz an diesem Winterabend im nebligen Regen maskiert, der mich fröhlich machte und die Stadt wehmütig. Ich las La Voz de Galicia, die Lokalnachrichten, die mich nichts angingen und erst etwas angehen würden, wenn ich hier wohnte, ich las die Nachrichten aus dem fernen Spanien und dem noch ferneren Europa und hörte Gespräche in einer Sprache, die dem Portugiesischen glich und doch so anders war, und gab mich der Trägheit der Ankunft nach langer Reise hin, denn diese Reise war die Summe all meiner anderen Spanienreisen gewesen, was ich je noch über Spanien sagen würde, mußte etwas anderes werden, nie mehr würde mein unaufhörliches Staunen sich so aufschreiben lassen. Ich war ein Fremder und würde es immer bleiben, und das war auch gut so, doch ich war ein Fremder geworden, der kam, um wiederzuerkennen, was er schon kannte, und das war eine andere Geschichte.
Julien Gracq hat (in La Forme d’une ville) gesagt, daß derjenige, der in seiner Erinnerung eine Stadt wiedersieht, sich an ein paar Bildern von Gebäuden festhält wie ein Seemann, der Baken sucht, die ihn in den Hafen geleiten sollen. Gestern jedoch war die Stadt selbst meine Seemannserinnerung geworden, Erinnerung und Wirklichkeit zugleich, und ich hatte mich steuerlos an den Baken vorbeitreiben lassen. Vielleicht ist dies die tiefste Melancholie des Reisenden, daß sich in die Freude der Rückkehr stets etwas mischt, das sich schwerer beschreiben läßt: daß das, was man so vermißt hat, auch ohne einen weiterexistiert hat, daß man, um es wirklich bei sich zu haben, für immer dort bleiben müßte, wo es sich befindet. Doch dadurch müßte man jemand werden, der man nicht sein kann, einer, der daheim bleibt. Der wahre Reisende lebt von seiner Zerrissenheit, von der Spannung zwischen dem Wieder-Finden und Wieder-Loslassen, und gleichzeitig ist diese Zerrissenheit die Essenz seines Lebens, er gehört nirgendwohin, dem Überall, wo er sich ständig aufhält, wird stets etwas fehlen, er ist der ewige Pilger des Fehlenden, des Verlustes, und ebenso wie die echten Pilger in dieser Stadt ist er auf der Suche nach etwas, was doch wieder weiter entfernt lag als das Grab eines Apostels oder die Küste von Finisterre, etwas, was winkt und unsichtbar ist, das Unmögliche. In dem fahlen Licht hatte ich die Figuren am Südportal betrachtet. Noch immer schuf Gott Adam mit seiner gesetzten Miene, noch immer hielt König David den Bogen an die Saiten seiner lautenartigen Harfe. Nicht eine der Falten seines Königsgewands hatte sich verschoben, vom Hals bis zu den Knöcheln fielen sie in unerbittlicher Folge auf seine schmalen gekreuzten Füße herab. Christus mit seiner mittelalterlichen Königskrone und den blinden Augen eines griechischen Gottes, die Ehebrecherin mit dem zu großen Gesicht und dem Gorgonenhaar, mit den kleinen runden Brüsten und dem Widerspruch des Totenkopfs auf dem Schoß, alle waren zum Stelldichein da, und alle, auch ich, warteten, bis der König zu spielen beginnen würde, in einem anderen Leben, einem anderen Jahrtausend, später, dereinst, wenn die Welt noch immer nicht untergegangen ist und du wieder zurückkehrst als einer, den du selbst nicht mehr erkennen würdest.
Die riesigen Gitter am Fuße der Treppen zur Kathedrale waren geschlossen, aber ich wußte, was dort oben, hinter diesen gleichfalls geschlossenen Türen und den himmelwärts fliegenden Barockfassaden, zu sehen war, ich wußte, wie man dort hineinging durch eine Grotte voller Skulpturen, und daß zwischen all diesen Figuren aus rosa Granit eine stand, die ich als erstes sehen würde, nachdem ich die Hand in die nicht vorhandene Hand gelegt hatte, und das war der lächelnde Daniel, weil es scheint, als breche in diesem fast idiotischen Lachen eine andere Zeit an. Aus dem zwölften Jahrhundert stammt diese Skulptur des Meisters Mateo, aber sie hat sich abgewandt von der geschlossenen archaischen Erhabenheit der Figuren in Silos oder Moissac, hier geht es um etwas anderes, dieser Blick, dieses Lachen, dieses verwunderte Staunen, die Ironie, die kennen wir, es ist der Übergang von der mythischen Welt zur psychologischen, er ist schon fast einer von uns. Das Volk, das sich etwas dazu denken mußte, sagt, daß er so lacht, weil er Esther anschaut, die ihm gegenübersteht, und das ist es, für dieses Lächeln mußte es eine Erklärung geben, die in den Bereich des Erkennbaren gehörte, weil diese Figur sich selbst darstellte und nicht mehr das Sinnbild von etwas anderem war. Hier hatte jemand vor achthundert Jahren zu lachen begonnen, und er lachte noch immer, und zwar so, daß man immerzu hinschauen mußte.
Und jetzt? Jetzt läuteten alle Glocken, ich war am Ziel meiner Wünsche angelangt und ging doch noch nicht hin. Erst Luft, erst Alameda, wo die Bäume wohnen, der große Park Susannas, der beim Hotel lag, hoch über der ihn umgebenden Landschaft, die darunter wegzufließen scheint. Ich ging über den Paseo de las Letras Gallegas, am Standbild von Rosalía de Castro vorbei, Sonnenschein, Eichen, Zypressen, Palmen, Eukalyptusse bis hoch zum Himmel, die Dichterin Galiciens saß, den Kopf in die Hand gestützt, da und lauschte, wie die anderen Dichter zwischen den Rosensträuchern, Amseln, Tauben, Drosseln, das Lied pfiffen, das Eugenio d’Ors für sie geschrieben hatte:
En la Ría
un astro
se ponía:
Rosalía
de Castro
de Murguía.

Santiago de Compostela, Puerta de la Gloria, Daniel
(Im Wasser der Ria plötzlich ein Stern: Rosalía de Castro, der Nam’ nah und fern.) Dies war ein Park, in dem man uralt werden könnte, ich aber würde hier nicht bleiben, man müßte die achtunddreißig Bände der gesammelten Werke eines vergessenen isländischen Meisters lesen, ich aber würde in die Stadt gehen, man müßte ein Gedicht von vier Zeilen schreiben und dafür ein Leben lang Zeit haben, ich aber würde mich auf die Steinstufen der Plaza de los Literarios setzen und zuschauen, wie die Leute diese große, freie Fläche überquerten und an der Plaza de las Platerías um die Ecke verschwanden. Irgendwo da oben mußte der dunkle Raum sein, in dem ich einst den Priester aufgesucht hatte, der das große Buch der Pilger in seiner Obhut hatte. Wer zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Reise vollbracht hatte, konnte sich auf Wunsch bei ihm einen Stempel holen und wurde dann in das große Buch eingetragen. »Oft brechen die Leute dann hier in Tränen aus«, hatte er erzählt und auf einen leeren Fleck irgendwo vor seinem Schreibtisch gezeigt. Das Buch hatte ich mir auch noch ansehen dürfen, eine Art Hauptbuch, mit der Hand geschrieben. Er hatte kurz gesucht und dann einen Niederländer gefunden, einen Chemielehrer, »nicht gläubig«, Motiv: »Denken«. Das habe ihm gefallen, sagte der Priester, die verrücktesten Dinge würden als Motivation angegeben, aber »Denken« sei noch nicht oft darunter gewesen. Drei Monate würde es doch mindestens dauern, wenn einer aus den Niederlanden zu Fuß hierher komme, er selbst glaube nicht, daß er das durchhielte. Wer es geschafft habe, erhalte eine Art Diplom, damit könne man drei Tage umsonst im Hostal de los Reyes Católicos wohnen, zwar nicht gerade in den schönsten Zimmern, aber immerhin. Wer dort absteigt, hat das Gefühl, er müsse ganz allein ein Königsdrama aufführen oder zumindest eine adlige Miene aufsetzen, wenn er aus dem plateresken Portal ins Freie tritt; Gotik, Renaissance, Barock, alles fließt in diesem Gebäude zusammen, die meisten Touristen sind nicht entsprechend gekleidet und kaufen sich mit zu großen Trinkgeldern beim livrierten Portier von ihren Komplexen frei, aber wenn sie diese Klippe umschifft haben, stehen sie auf einem der schönsten Plätze der Welt. Im Rücken die verwirrende Schatzkammer ihrer befristeten Bleibe, rechts der klassisch-strenge Palacio de Rajoy, daneben die Kirche San Fructuoso mit ihren schwungvollen Barockfiguren am Dachrand, links der Palacio de Gelmírez und die Himmelfahrt der Kathedrale und jenseits der leeren Steinfläche das niedrige, archaische Colegio de San Jerónimo. Weit fühlt er sich an, dieser Platz, eine Granitfläche zwischen Granitjuwelen, infolge seiner hohen Lage sieht man nichts anderes als Ferne und Himmel. Und er ist immer schön. Schnee, Nacht, Hagel, Eis, Mond, Regen, Nebel, Sturm, Sonne – sie alle können mit der Plaza del Obradoiro tun, was sie wollen, sie verändern die Gestik, die Haltung und den Gang der Menschen durch den Biß ihrer Kälte oder Hitze, ihre Peitschenhiebe oder Verschleierung, ihr Licht oder Dunkel, sie machen den Platz leerer oder voller, eine sich fortwährend verändernde Zeichnung, zu der man gehört, sobald man dieses Geviert betritt, genauso wie die tanzenden Bilder am westlichen Himmel, bewegliches Element in einem Kunstwerk, dessen Entwurf von einem anderen stammt.

Detail eines Kapitells von Uncastillo
Und dann gehe ich noch ein Mal in das Buch hinein, das ich nie ausbekomme, weil ich es nicht ausbekommen will. Es ist auch nicht möglich: Je mehr man darin liest, desto dicker wird es. Hinter dem Triumph der emporschwebenden Treppen und der aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Fassaden mit ihren Pilastern und Pfeileraufsätzen wartet der soviel ältere Portikus mit seinen Figuren und der Säule mit der Hand und der Wurzel Jesse und dem Apostel darüber, und ich stehe da und schaue auf all diese Gesichter und auf dieses eine Gesicht mit dem Lächeln und die kleine hockende Figur, die der Bildhauer von sich selbst geschaffen hat, und sehe, wie Mütter die Köpfe ihrer Kinder sanft an den Kopf von Meister Mateo drücken in der Hoffnung, daß der Funke überspringt, und dann gehe ich weiter, in diese andere Kirche, seine Kirche hinein, still und romanisch, ein Raum, den man nach der so weltzugewandten Demonstration des Barocks draußen nicht mehr erwartet hätte. Dieses Gebäude ist sein eigener Anachronismus, und es macht nichts. »Es sind nicht die Kirchen zu verehren, sondern das Unsichtbare, das in ihnen lebt«, hat Ernst Jünger gesagt. Das Unsichtbare, das, worüber man nicht sprechen kann, vielleicht weil die Sprache es nicht zuläßt, vielleicht weil man es nicht will, weil es so gut ist. Unbekümmert gleitet man von einer Zeit in die andere, geht durch Lichtbahnen an Seitenkapellen vorbei, in denen Ritter auf der Seite liegen, hört das Gemurmel spanischer Gebete, sieht die Gesichter der anderen, die einen nicht beachten, und denkt, wie wunderlich die zweifache Gesellschaft sich bewegender Menschen und unbeweglicher Skulpturen doch ist, steht hinter dem erstarrten Rücken der Apostelfigur, die aus dem goldenen Wahnsinn der Capilla Mayor heraus in die Kirche starrt, ein Götzenbild, in spätere Zeiten verirrt. Dreimal sehe ich seine Muschel, einmal aus Gold hinter seinem Kopf wie der Strahlenkranz eines neuen Poseidon, zweimal auf dem goldglänzenden Rücken, den ich anfassen darf, und weil gerade niemand sonst da ist, der das will, kann ich über seine mächtigen Schultern hinweg in die Kirche schauen, die jetzt aussieht wie eine Lichtung in einem nebligen Wald, und dann wieder an den gedrehten Säulen des Hauptaltars empor, roter Marmor, goldüberzogenes Holz, die Farben eines Herbstes ohne späteren Winter. Die Putti, die dort hängen, sind viele Male größer als man selbst, Ungetüme sind es, an ihren riesigen Knöcheln sind die Ketten der Öllampen befestigt, und an dem Blödsinn dieser Stelle erkennt man, wie sich die spanische Sakralkunst in späteren Jahrhunderten in Triumphalismus und Sentimentalität erschöpft hat, und weiß gleichzeitig, daß dieses Gebäude damit fertig wird, daß es diesen vergoldeten Überfluß leicht erträgt, weil es von einem anderen Maß regiert wird, in dem ein Prophet wie ein Verliebter lachen kann und zwischen den schlafenden Königen von damals und einst ein Heer immer derselben, immer anderer Lebender hin und her zieht wie Ebbe und Flut.
Der Tag geht vorbei, Museen, Straßen, Geschäfte, Zeitungen, es wird ein Abend mit Mond und jagenden Wolken, man weiß nicht, wer wen jagt. Und wieder schlagen Glocken, erst dreimal, kurz, das Geräusch von Metall auf Metall, trocken, ohne Gesang, danach zwölf dröhnende Schläge, die die Stunden auf die Straße schmettern und die Nacht in zwei Teile brechen, Geisterstunde. Der Platz hüllt sich abwechselnd in Licht und Dunkel, und dadurch scheint er sich zu bewegen, er wird ein Meer und die Kirche ein Schleppboot, unterwegs nach Westen, ein Boot, das ein Land hinter sich herschleppt, ein Land wie ein Schiff, das so groß ist wie ein Land. Einst hatte Antonio Machado den Duero gefragt (Dichter fragt Fluß): ob Kastilien nicht wie der Duero stets dem Meer zuströme, das heißt dem Tode und was danach kommt, und wenn das stimmt, wird es zu dieser Stunde sichtbar, bei Puigcerdá, bei Somport, bei Irún ist nicht nur Kastilien, sondern ganz Spanien noch einmal von Europa abgebrochen, Santiago ist der Kapitän auf seinem Schleppboot, die schwarze Form der Kathedrale zieht das Schiff von Aragonien und Kastilien und allen spanischen Ländern auf den Ozean hinaus, und an der Reling steht, betend und trinkend und winkend, das Große Theater Spaniens, Alfons der Weise und Philipp II., Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, El Cid und Sancho Pansa, Averroes und Seneca, der Hadschib von Córdoba und Abraham Benveniste, Gárgoris und Habidis, Calderón de la Barca, die vertriebenen Juden und Morisken, die Scheiterhaufen der Inquisition und die ausgegrabenen Nonnen aus dem Bürgerkrieg, Velázquez und der Herzog von Alba, Francisco de Zurbarán, Pizarro und Jovellanos, Gaudí und Baroja, die Dichter von 1927, die Marionetten von Valle-Inclán und das Hündchen von Goya, Anarchisten und mitratragende Bischöfe, der kleine Diktator und die nymphomane Königin, das Kastell Penãfiel auf seinem schwefelfarbenen Hügel, die rosa Alhambra und das Tal der Toten, Freunde und Feinde, Lebende und Tote. Wo einst die Meseta lag, tobt jetzt ein Meer, das Getöse ist ohrenbetäubend, und dann, auf einmal, als stünde die Zeit still, ist es vorbei, der Reisende hört seine Schritte auf den großen Steinplatten, er sieht das Mondlicht auf den Türmen und den strengen Palästen und weiß, daß hinter diesen Verschanzungen der Vergangenheit ein anderes Spanien liegen muß, das das seine vielleicht nicht mehr kennen will oder nicht mehr erkennen kann. Sein Umweg ist hier zu Ende. Seine Spanienreise ist vorbei.
1992

Santiago de Compostela