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Welch schönes Endziel für des Mannes Streben: Das Werk, gegründet durch der Vater Hand, stark übers Wechselspiel des Glücks zu heben, bis, was einst Hoffnung war, Erfüllung fand –
Wagner ist gerührt, obschon er weiß, dass die Zeilen nicht ihm gelten, sondern Anton Schumachers Sohn Eckart. Verfasst hat sie Angelika von Hörmann, eine zeitgenössische Dichterin, die bei ihren Lesungen Säle füllt. Eines ihrer Gedichtbücher erscheint in der Wagner’schen Offizin, der Großteil ihres Werkes allerdings in München und Leipzig. Anlass ihrer Zeilen an Schumacher ist dessen Übernahme der Druckerei und der Buchhandlung mit dem 1. Januar 1898.
Wagner betritt ein Kapitel, in dem sich die Geschicke seines Unternehmens grundlegend ändern. Aber wer wollte auch argwöhnen –
Eckart Schumacher erblickt im Jahr der Geburt der Doppelmonarchie das Licht der Welt. Wagner will darin nichts Nachteiliges sehen, aber er spürt ein mulmiges Gefühl in sich emporsteigen. Eingriffe in bestehende Ordnungen irritieren ihn, und als einen schweren Eingriff erachtet er den Ausgleich mit Ungarn allemal.
Schon in seiner Kindheit und Jugend wird Eckart Schumacher Zeuge eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Er ist noch kaum ein Jahr alt, da wird ein Gesetz erlassen, das es Juden erlaubt, sich in allen Teilen der Monarchie niederzulassen. Auch in Innsbruck siedeln sie sich an und verhelfen der Stadt zu Wohlstand und Eleganz. Zahlreiche neue Geschäfte bestaunt Wagner, voll mit Waren aus Wien, Budapest und Prag. Seit einigen Jahren ist die Zeit der fahrenden Händler und Innschiffer vorbei, die Eisenbahnen übernehmen den Güterumschlag.
Den neuen Transportmöglichkeiten kann Wagner viel abgewinnen. Warum sich aber die Menschen plötzlich an Natur und Bergwelt ergötzen, ist ihm schleierhaft. Allerdings sorgen die Schwärmer für eine gute Auslastung der Pressen. Plakate und Werbeschriften verlassen die Druckerei, Handbücher und Fremdenführer. In der Buchhandlung bescheren Zeitschriften, Globen, Panoramen und Geschichtskarten gute Umsätze. Fremdenverkehr heißt das neue Zauberwort, solange es die Kassen füllt, ist es Wagner recht.
Ein Innsbrucker Alpenverein wird gegründet, unter den Initiatoren natürlich Schumacher. Berg- und sonnenhungrige Gäste überrennen die Stadt. Doch bleiben die Schattenseiten nicht aus. Die Preise steigen massiv an. Schon fordern die Drucker mehr Lohn. Wenig kann Wagner mit ihren Ansprüchen anfangen. Als die Druckereiarbeiter kurz nach Casimir Schumachers Tod eine Krankenversicherung gründeten, wollte er das noch gutheißen. Mit ihrem späteren Zusammenschluss zum Gutenbergverein konnte er leben. Als aber 1874 eine Arbeitslosenunterstützung eingeführt wurde, war er perplex. Und hat man Töne – zwei Jahre nach dem Brand in der Pfarrgasse folgen die Gehilfen dem Beispiel der Drucker. Muss Anton Schumacher denn den Gehilfenverein finanziell unterstützen? Es bringt ihm eine Ehrenmitgliedschaft ein, schön. Aber hat er nicht der Orden genug? Zum Abschluss seiner vierzigjährigen Berufskarriere – Schumacher wird in den Adelsstand erhoben! Sein Sohn Eckart ist ein von Marienfried.
Blaues Blut schützt nicht vor Kasernendrill. Wagner sieht den Adelsspross bei den Kaiserjägern einrücken. Nach seinem Einjährig-Freiwilligen-Jahr erlernt Eckart Schumacher von Marienfried in der väterlichen Offizin das Buchdruckergewerbe. Dann schickt man ihn nach Wien, Stuttgart, München und Rom. Das trägt Früchte, denn von der Druckkunst versteht er etwas, der junge Schumacher. Wagner hält die Nachdrucke des Jagdbuches und Fischereibuches Kaiser Maximilians I. in Händen. Zweifarbig der Text, in sauberer Fraktur gesetzt. Auch der Querformatband mit Frontispiz von Albin Egger-Lienz gefällt ihm. Gehobene Literatur ist allerdings Mangelware.
Oft scheint es Wagner, die Monarchie werde auf ewig ein Land des Schulbuchs und wissenschaftlicher Werke bleiben. Zu lange durften ausländische Bücher ohne Weiteres reproduziert werden, bei heimischen hatte man zumindest die Erlaubnis der Erzeuger einzuholen. Aber durch die Missstände kamen viele Autoren um Einkommen und Urheberrecht, denn Nachdrucke erfreuten sich bei den Käufern äußerster Beliebtheit. Mittlerweile sind Originalausgaben leicht erhältlich und Eckart von Schumacher bestückt die Buchhandlung reichlich damit.
Zur Ostermesse 1904 gibt Schumacher ein Verzeichnis der in der Buchhandlung erhältlichen Bücher heraus. Mit dem Katalog unterm Arm betritt Wagner sein Geschäft. Von Clemens Brentano liegt ein Buch auf, von seinem Namensvetter Fritz gleich vier. Ausnehmend viele Bücher von Jules Verne entdeckt Wagner, auch von Cooper und Daudet. Felix Dahn ist mit mehreren Titeln vertreten, Friedrich Spielhagen desgleichen. Großes Interesse scheint an den Abenteuerromanen von Gregor Samarow zu herrschen. Und unter den Büchern von Rossegger biegen sich die Regale.
Viel Wert legt Schumacher auf das Fremdsprachensortiment. Wagner findet zahlreiche Bücher in Originalsprachen vor, Georges Ohnet, Henry Gréville, Mrs. Hungerford – Nicht selten muss Schumacher „Fünfguldenpakete“ schnüren und Tirolensien zum Schleuderpreis an die Frau und den Mann bringen.
Ein Herzstück des Unternehmens sind die Innsbrucker Nachrichten. Ehrgeizig macht sich der neue Chef ans Werk, eine Rotationspresse schafft er an, vier Setzmaschinen folgen. Ein Raunen geht durch die Reihen der Drucker, sie fürchten um ihre Arbeitsplätze. Wohin soll das führen, hört Wagner die Arbeiter fragen. Keine fünfzig Jahre ist es her, da hat man auf einer Schnellpresse 300 Exemplare gedruckt. Mittlerweile ist die Auflagenhöhe auf 10.000 Stück hochgeschnellt. Hart war es, zum Stammblatt der Innsbrucker zu avancieren. Jetzt gibt es Bezieher in den USA, auf Teneriffa, Sumatra und in Deutsch-Südafrika.
Auch Wagner ist im Zwiespalt. Zum einen freut ihn der Gedanke, auf Sumatra eine Zeitung in Händen halten zu können, in der sein Name verewigt ist. Andererseits: Der junge Schumacher ist ihm nicht ganz geheuer. Gab sich der Vater großbürgerlich, so der Sohn großdeutsch. Gerade die liberale Einstellung Anton Schumachers fand in bürgerlichen Kreisen Akzeptanz. Was nicht zuletzt den Innsbrucker Nachrichten zugute kam.
Jeder Schritt ist gewachsener Stolz, Eckart von Schumacher zeigt gern, wer er ist, das steht ihm zu, findet Wagner, aber ein bisschen mehr Bescheidenheit – Dabei sieht er in Schumacher nur gespiegelt, was er bei vielen Zeitgenossen ausmacht, sie spielen sich auf als die neuen Herren. Die Nobilitierung ist ihnen lediglich Beiwerk, das der Eitelkeit schmeichelt, in der Kapitalkraft sehen sie die wahre Adelung. Immerhin tritt Schumacher bei der Förderung junger Literaten in die Fußstapfen des Vaters. Karl Schönherr, Franz Kranewitter und Carl Dallago veröffentlichen in den Innsbrucker Nachrichten. Ein Feuilleton wird erstmals im Jänner 1900 angelegt. Den Auftakt markiert eine Leichenrede auf den berühmtesten Toten des Jahres 1899:
„Wir stehen am Grabe eines alten Freundes und Bekannten, der Letzte seines Geschlechtes, das uns und unseren Eltern wert und teuer gewesen, entschwand aus unserer Mitte wohl für immer und ewig. Der Kreuzer ist nun endgiltig aus dem Verkehre gezogen, das Zweihellerstück hat ihn für immer aus unseren Börsen verdrängt, das Bronzestück ist Sieger über die Kupfermünze geworden. Wie lange aber wird es brauchen, den Kreuzer aus dem Sprachgebrauche zu verdrängen, den Kreuzer, der in Sprichwörtern und Redensarten, in Liedern und Schwänken das Bürgerrecht gewonnen, wie wenige seiner rollenden Münzgenossen.“
Viele Jahre hindurch erblickt Wagner das Feuilleton als ständige Einrichtung auf Seite eins. Einmal liest er von „Goethes Ende. Zu seinem 75. Todestage“, dann wieder bleibt er hängen bei „Catull, ein Dichter vom Gardasee“. Den Rest der Zeitung überfliegt er meist. Manchmal schnappt er ein paar Sätze auf, kaum hat er sie gelesen, sind sie wieder vergessen. Eines Tages aber –
In einer Ausgabe des Jahres 1904 erfährt Wagner vom 350. Geburtstag seines Betriebs. Wie das, fragt er sich, wurde die Offizin von seinem Großvater gegründet? Das muss man den Schumachers lassen, wenn sie zuschlagen, dann richtig. Sie beziehen die erste von Rupert Höller eingerichtete Innsbrucker Hofbuchdruckerei, die später an Paur, in weiterer Folge an ihn überging, einfach in die Firmengeschichte mit ein. Wagner weiß nicht, soll er sich freuen oder ärgern? Mit einem Schlag ist seine Offizin einer der ältesten wissenschaftlichen Verlage im deutschsprachigen Raum. Aber darf er nicht beanspruchen, der alleinige Gründer zu sein?
Auch sonst entspricht der Artikel nicht ganz den historischen Tatsachen, will ihm scheinen. Warum unterschlägt man Maria Anna und die zweite Frau seines letzten Nachkommens? Der Schumacher gehörte doch 1801 noch zum Personal der Firma! Er war nicht einmal Bürger der Stadt, geschweige denn schon mit Michael Alois verschwägert, wie das Blatt behauptet.
Letztendlich egal. Die Schumacher haben bisher gute Arbeit geleistet. Er hätte es kaum besser machen können. Auf die Idee, die Meriten eines Höller oder Paur als die seinen zu verkaufen, wäre er jedoch niemals gekommen.
Immer öfter ist in der Zeitung die Rede vom Zeitalter der Hochdruck-Zivilisation, von Tarifkämpfen, von Streikenden und – Zu lange ist Wagner von seinen Meistern drangsaliert worden, als dass er die Anliegen der Arbeiter nicht verstehen könnte. Doch die Pressen dürfen nicht stillstehen, niemals.
Beim Konkurrenten rumort es, Wagner sieht es aus den Augenwinkeln. Innerhalb des Personals der Tyrolia-Druckerei kommt es zu Zwistigkeiten. Die Arbeiter fordern die Entlassung eines missliebigen Kollegen. Was ist geschehen? Wagner schüttelt verständnislos den Kopf. Die Politik treibt Keile. Ist der unerwünschte Kollege zu wenig katholisch? Die Drucker müssen zusammenhalten, gerade jetzt!
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, stürzt sich Wagner wieder aufs Feuilleton. Er liest „Aus Galileis Leben“ und „Bramante“, die einzigen Italiener, die momentan gut wegkommen, wie ihm scheint. Am Montag, den 29. Juni 1914, entfällt das Feuilleton. Schwarze Balken umrahmen das Titelblatt. Wagner gleitet die Zeitung aus der Hand. Er hat Landesfürsten, Könige und Kaiser überlebt und sie, weiß Gott, nicht zu knapp verflucht, aber Mord?
Täglich wird nun von den Geschehnissen in Sarajewo berichtet. Die Artikel nehmen einen Feldzug vorweg, martialisch im Tonfall. Schon zwei Tage bevor die Kriegserklärung an Serbien die Titelseite füllt, hat Schumacher einen Kriegsberichterstatter angestellt.
Wieder ist es soweit: Bevor die Zeitung in Druck geht, muss den Zensurbehörden ein Probedruck vorgelegt werden. Wird ein Artikel als „staatsgefährdend“ eingestuft, hat man ihn umgehend zu entfernen. Gleich mit Kriegsbeginn macht Wagner erste weiße Flecken in der Zeitung aus, obwohl sich das Blatt einem uneingeschränkten Jubelpatriotismus hingibt. Die Innsbrucker Zensurstellen sind päpstlicher als der Papst, das war schon immer so, flucht Wagner. Gegen Mitternacht vom 21. auf den 22. November 1916 haben die Drucker die Zeitung für den nächsten Tag fertiggestellt, als in der Redaktion zwei Stunden später die Nachricht vom Tod des Monarchen per Telegramm eintrifft. Sofort erstellt man eine Extra-Ausgabe und legt sie früh morgens der Staatsanwaltschaft zur Zensur vor. Dort höhnt man, es gebe schon seit Langem keine Extra-Ausgaben mehr. Erst als Schumacher sich an eine höhere Stelle wendet, darf die Ausgabe erscheinen.
Zu den weißen Flecken gesellt sich die rasant abnehmende Qualität. Der stark reduzierte Personalstand in der Redaktion ist dafür verantwortlich. Zahlreiche Drucker erblickt Wagner in Soldatenuniform, am Bahnhof nehmen sie von ihren Liebsten Abschied. In Waggons steigen sie ein, die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben, zwei Jahre dauert der Krieg schon und sollte doch nur ein Spaziergang sein.
Und Schumacher? Sein Siegerlächeln ist einer Fahrigkeit gewichen. Schien ihm das Zeitungsgewerbe in Friedenszeiten ein nervenaufreibendes Geschäft, so übersteigt es nun das Maß des Erträglichen. Wagner leidet mit, bei jedem Verstoß gegen die Zensur vermeinen die Militärbehörden kurzen Prozess machen zu können. Nachts sieht er Schumacher durch die Wohnung schleichen, als brächte ihn die Angst vor der Liquidation seines Geschäfts um den Schlaf. Oder heckt er etwas anderes aus? Bereits vor dem Krieg war Schumacher kränkelnd, Wagner hat dem wenig Bedeutung zugemessen, sein halbes Leben lang hatte auch er körperliche Schmerzen gelitten. Glaubt Schumacher sich die Belastung nicht länger zumuten zu können? Schumacher bespricht sich mit Josef Rutzinger. Ist der nicht mit einer Tochter der Salzburger Verlegerin Maria Kiesel verheiratet?
Wagner schwant Übles, seine Befürchtung jedoch ist ein winziger Spuk gegen den Ausbund der Wirklichkeit, der jetzt nach ihm greift: Eckart Schumacher von Marienfried verkauft die k.k. Wagner’sche Universitätsbuchdruckerei um 900.000 Kronen an die Salzburger Verlagsgruppe Kiesel. Wagner starrt Schumacher an, ballt in der Rocktasche die Hand zur Faust.