5. 5. KAPITEL

Michelle saß apathisch draußen an der Poolbar und rauchte eine Zigarette. Das hatte sie seit sechs Jahren nicht mehr getan, doch heute brauchte sie das unbedingt.

Die Zigarettenschachtel hatte im selben Nachtschrank gelegen wie die Streichhölzer.

Der Tabak war schon ziemlich trocken und so kratzte der Rauch ziemlich stark in ihrem Rachen.

Angezündet hatte sie sie mit den Streichhölzern. Das Feuerzeug hatte sie nicht benutzen wollen. Als sie zu Ende geraucht hatte, zündete sie sich gleich die Nächste an. Vermutlich würde ihr furchtbar übel davon werden, aber sie hatte bemerkt, dass das Nikotin sie wenigstens beruhigte. Allmählich löste sich ihre Verkrampfung und der rationale Teil ihres Verstandes meldete sich zaghaft zu Wort.

Ich drehe wahrscheinlich einfach nur langsam durch. Es gibt für alles eine ganz logische Erklärung, Michelle. Der anstrengende Flug, die ganzen neuen Eindrücke und dann ist da immer noch Harry. Ich bin eben nicht drüber hinweg. Ich habe mir einfach etwas vorgemacht.

Drinnen klingelte das Telefon.

Das wird Juanita sein, dachte sie sofort und sprang auf. Ihr war zwar nicht nach Plaudern, aber wenn sie jetzt nicht ran ging, würde ihre Freundin es fertigbringen und die örtliche Polizei dazu bringen, nach ihr zu sehen. Michelle wusste, dass Juanita sich Sorgen machte, dass sie sich etwas antun könnte. Um das zu wissen, hatte Michelle nicht mal raten müssen. Juanita hatte es ihr, wie es ihre Art war, einfach auf den Kopf zugesagt.

„Du siehst scheiße aus, Süße und in deinen Augen sehe ich was, das mir gar nicht gefällt. Ich sage dir das jetzt nur einmal: egal wie schlimm es dir erscheint: Es ist NICHT das Ende der Welt und du wirst dir deshalb auch nichts antun, ist das klar? Sei nicht blöd´ und stehe es einfach durch! Nichts Anderes hätte Harry von dir erwartet.“

Juanita hatte diese Ansprache seither tatsächlich nicht mehr wiederholt, aber Michelle wusste, dass sie immer noch argwöhnisch von ihr beäugt wurde.

Deshalb rannte sie ins Haus, so schnell sie konnte.

„Michelle Penn hier, bist du es Juanita?“

Doch es war niemand mehr dran. Michelle fluchte. Hoffentlich dachte Juanita, sie hätte angerufen, während ihre Freundin im Bad oder Pool war. Nicht, dass sie gleich Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde.

Michelle probierte ein paar Tasten aus, bis sie den Knopf gefunden hatte, der ihr den letzten Anrufer anzeigte.

Das Display blieb leer.

Michelle runzelte die Stirn. Hatte Juanita etwa mit unterdrückter Rufnummer angerufen? Aber warum sollte sie das tun? Das hatte sie noch nie gemacht.

„OK, wahrscheinlich ein Werbeanruf“, erklärte sie sich selbst. Sollte das Telefon erneut klingeln, musste sie eben schneller am Apparat sein. Hier im Haus wollte sie jedenfalls nicht darauf warten. An der Poolbar fühlte sie sich gerade wesentlich wohler als hier drin. War es nicht schon wieder kälter geworden hier drin? Michelle wünschte, die hätte ihre Strickjacke griffbereit.

Da klingelte das Telefon plötzlich wieder. Michelle zuckte zusammen, weil sie in Gedanken versunken war und nicht mit einem so schnellen erneuten Anruf gerechnet hatte.

Sie riss den Hörer ans Ohr.

„Juanita bist du es?“

Doch am anderen Ende der Leitung war wieder nur Schweigen.

„Hallo? Verdammt, wer ist denn da? Hallo?“

Statt eine Antwort zu bekommen, sprang der Anrufbeantworter an.

„Was soll das denn jetzt“, fragte sie sich verwirrt.

Warum sprang das Gerät an, wenn sie den Hörer schon in der Hand hatte und wenn obendrein nicht mal ein Anrufer in der Leitung zu sein schien.

Sie bemerkte, dass ihr immer noch kalt war. Die Hand, in der sie den Hörer hielt, aber wurde noch viel kälter, als der Rest ihres Körpers. Es fühlte sich an, als hätte sie eine eiskalte Flasche Cola aus dem Eisfach in der Hand. Und es wurde immer noch eisiger.

Michelle ließ den Hörer mit einem Aufschrei fallen. Noch ein paar Sekunden länger und sie hätte Erfrierungen an den Fingern bekommen.

Der Anrufbeantworter signalisierte durch einen Piepton, dass die Aufzeichnung beendet war.

Welche Aufzeichnung? Es gab nichts aufzuzeichnen.

Trotzdem konnte sie nicht anders. Wie hypnotisiert streckte sie ihren Zeigefinger aus und drückte die Abspieltaste des Apparates.

Zuerst war nichts zu hören und Michelle wollte gerade erleichtert abermals auf den Knopf drücken, um das Gerät auszuschalten, als sie doch etwas wahrnahm.

Zuerst war es ein kaum hörbares Wispern, das auch eine atmosphärische Störung hätte sein können.

Dieses Geräusch wurde nur allmählich lauter und Michelle versuchte gebannt, etwas zu verstehen. Es war jedoch keine menschliche Stimme, soviel glaubte sie sagen zu können. Aber was war es dann?

Der Ton entwickelte sich jetzt schneller. Es war wie eine Windbö, deren Kommen sich durch das Rauschen der Blätter an weiter entfernt stehenden Bäumen ankündigte. Noch ehe der Windstoß da war, wusste man, dass er kommen würde und so ging es jetzt auch Michelle.

Eine Sekunde, bevor es tatsächlich an ihr Ohr drang, blieb ihr schon vor Entsetzen die Luft weg.

Nein, das war nicht eine menschliche Stimme. Das waren Dutzende, wenn nicht hunderte. Und alle flüsterten, wisperten, kicherten gedämpft und überlagerten sich gegenseitig, steigerten sich gemeinsam zu einem Brausen und explodierten dann, zwar immer noch nur knapp im hörbaren Bereich, aber mit alles vereinnahmender Präsenz in Michelles Gehirn.

Michelle kreischte. Sie kreischte, weil etwas ihren Verstand berührte, das unaussprechlich war. Das nervtötende Brausen steigerte sich noch einmal um eine Potenz und riss dann schlagartig ab. Die Lampe des Anrufbeantworters erlosch und Michelles Bewusstsein verabschiedete sich.

Sie fiel zu Boden, schlug mit der Stirn auf dem harten Boden auf und blieb ohnmächtig liegen.

Aus einer Platzwunde am Kopf breitete sich schnell eine Blutlache auf dem Boden aus. Dann gab es einen Kurzschluss und der Anrufbeantworter hauchte rauchend sein Leben aus.