19. KAPITEL

Zum ersten Mal seit einer gefühlten Unendlichkeit konnte Michelle sich wieder daran erfreuen, den Mond und die ersten Sterne am Himmel aufgehen zu sehen. Angesichts dessen, was sie erleben musste, hätte sie nie gedacht, dass sie der Nacht im Leben noch einmal ohne Angst begegnen könnte, doch sie konnte es schon jetzt.

„Sieh nur, Keith. Wie schön der Himmel heute ist.“

Sie lehnte sich gegen ihn und er legte seine Hand um ihre Schulter.

„Tut es noch weh“, fragte er und streichelte ihr sanft über ihr verletztes Schulterblatt.

„Und bei dir?“

„Um einen Tanz kann ich dich noch nicht bitten“, gab er lachend zurück. Dann standen sie eine Weile einfach nur schweigend da und jeder hing seinen Gedanken nach.

Michelles Sorge galt natürlich Juanita. Sie wussten zwar nicht mit letzter Sicherheit, ob der Fluch der Finca tatsächlich weit genug gereicht hatte, um Jake Thorn zu treffen, doch es war zumindest sehr wahrscheinlich. Wäre es nicht der Fall gewesen, hätten sie es längst zu spüren bekommen. Außerdem sagte ihr etwas tief in ihrem Innern, dass alles gut ausgegangen sein musste. Die tiefe Ruhe und Ergriffenheit, die sie beim Blick in den Himmel spürte, musste einen tieferen Grund haben. Nach allem, was sie und Keith in diesem Haus gemeinsam erleben mussten, bereitete es ihr keinerlei Schwierigkeiten mehr, sich eine seelische Verbindung zwischen sich und Juanita vorzustellen, die es ihr ermöglichte, zu wissen, dass es ihrer Freundin gut ging.

Vielleicht spürte und dachte Keith genau das Gleiche. Jedenfalls reagierte er ebenso gelassen auf das Klingeln des Telefons, wie sie selbst. Sie wussten beide, dass das der erlösende Anruf war, den sie erwarteten. Entschlossen nahm er den Hörer zur Hand und nahm den Anruf entgegen, wobei er gleichzeitig den Lautsprecher aktivierte, damit Michelle alles mit anhören konnte. Am anderen Ende der Leitung war natürlich Juanitas Vater und er klang überglücklich.

„Keith, es ist ein Wunder geschehen! Meine Juanita ist wieder da und sie lebt! Soeben rief mich die Polizei von San Diego an und teilte mir mit, dass sie sich auf einem Revier gemeldet hat.“

Sie hörten beide gebannt zu und strahlten um die Wette. Aus Mr. Tirado sprudelte es nur so heraus. Sie erfuhren, dass es Juanita gelungen war, ihren Entführern zu entkommen und dass man derzeit bereits nach dem Versteck der Verbrecher suchte. Leider seien ihre Erinnerungen an ihren Fluchtweg nur sehr vage, weil sie schwer traumatisiert sei, aber durch den Einsatz von Spürhunden, werde man ihr Gefängnis sicher bald ausfindig machen und die Kidnapper festnehmen können. Juanita hatte den Polizisten also offenbar noch nicht erzählen können, dass sie alle tot waren, wovon auszugehen war.

Als er sich alles von der Seele geredet hatte, folgte eine kurze Phase des Schweigens. Dann räusperte sich Mr. Tirado und sprach leise weiter.

„Keith, ich schätze Sie sehr und Sie haben meiner Familie und mir viele gute Dienste erwiesen. Meine Anwälte teilten mir mit, dass die Rückübertragung der Finca von Thorns Offshore-Firma an mich noch eine ganze Weile dauern wird. Bis dahin gehört sie streng genommen niemandem. Ich hoffe, Sie kümmern sich in der Zwischenzeit trotzdem weiter um das Haus. Sobald ich aber wieder Verfügungsgewalt habe, werde ich das verfluchte Gemäuer verkaufen. Es würde nie mehr so unbeschwert sein, wie früher, wenn wir dort Urlaub machen würden. Natürlich werde ich mich bemühen, eine andere Aufgabe für Sie zu finden Keith, aber… “

„Mr. Tirado“, unterbrach ihn Keith sanft.

„Wenn Sie mir wirklich einen Gefallen tun möchten, dann bitte ich Sie nur um eines: Verkaufen Sie die Finca an mich, aber, und das ist wichtig: Erst im nächsten Jahr. So lange soll sie ohne offiziellen Besitzer bleiben. Tun Sie das für mich, Mr. Tirado.“

Er stimmte freudig zu, wenngleich er nicht verstand, was es mit dem Wunsch auf sich hatte, erst im nächsten Jahr den Verkauf vorzunehmen. Es war dem alten Tirado aber auch egal, wie er sagte, denn er stehe dazu, dass er Keith einiges schulde.

Nachdem das Gespräch beendet war, sah Keith Michelle tief in die Augen und fragte sie:

„Hast du ab nächstes Jahr schon etwas Wichtiges vor, oder möchtest du von dann an mit mir zusammen auf diesem wundervollen und gesegneten Anwesen leben? Wir haben hier gemeinsam eine Garantie, glücklich zu werden.“

Dem verschmitzten Lächeln ihres Geliebten konnte sie einfach nicht widerstehen und vor allem hatte er Recht: Die nächsten hundert Jahre oder zumindest für den Rest ihres Lebens würden sie hier glücklich und zufrieden werden – sozusagen mit Garantie.

„Ja, ich will“, hauchte sie und presste ihre Lippen auf die seinen.