Kapitel 26

 

»Wann bekommen wir die geforderte Auflistung?«, fragte Kolka ungehalten und begann, Klemens Brechts verwaistes Büro zu durchstöbern, ohne die Erlaubnis abzuwarten. Sie dachte nicht daran, gegenüber der Angestellten von CORWEX ihre Unzufriedenheit zu verbergen. Bisher hatte sich Frau Lippner alles andere als kooperativ gezeigt. Kolka wurde das Gefühl nicht los, dass die Mitarbeiterin der Jagdwaffenfirma etwas verheimlichte. Außerdem missfiel ihr das eingefrorene Lächeln.

Noch lächelt sie.

Auf subtile Weise verweigerte CORWEX die Zusammenarbeit. Verzögerung bei der Beantwortung von Fragen, schleppender Schriftverkehr, ausstehende Einsichtnahmen in Geschäftsunterlagen. Es dauerte einfach alles zu lange. Die Zeichen standen schlecht, die Entführungen von Brecht und Brandner in nächster Zeit aufzuklären. Etwas war faul in dem Unternehmen, daran hegte Kolka keine Zweifel. Andererseits war ihrer Meinung nach an jeder Firma etwas faul, die auf einen Jahresumsatz von fast sechzig Millionen Euro zurückblickte.

Wobei die Waffenindustrie die dividendensicherste Anlage der Welt ist.

Wenigstens hatte der Vermisstenfall des Obdachlosen Reich dazu geführt, dass man Kolka mit in die Soko involviert hatte. Sie war es schließlich gewesen, die Lilly Brandner gefunden hatte.

Trotz all ihrem Ehrgeiz für die Fälle Brecht und Brandner ertappte sie sich dabei, wie sie gedanklich vor Donners Tür stand. Schamröte schoss ihr ins Gesicht. Der Kerl hatte doch tatsächlich ein Verhältnis mit seiner Praktikantin. Mit einer halbwüchsigen Mannstollen, die sich in billigen Fummel kleidete! Ein einziger Blick hatte Kolka genügt, um das zu erkennen. Donner war ein Einfaltspinsel, wenn er auf so eine Tussi hereinfiel.

Soll er mit dem Flittchen glücklich werden. Und überhaupt, was rege ich mich auf? Wer ist denn eigentlich Erik?

»Über die Auflistung wollte ich mit Ihnen soeben sprechen «

Zu Kolkas Erstaunen redete Frau Lippner nicht mit ihr, sondern mit Stark, der nach seinem Toilettengang das Büro betrat.

»Ist es wirklich notwendig, Herr Hauptkommissar Stark, alle Transaktionen der letzten Jahre auszudrucken? Ich weiß gar nicht, wie Ihnen das bei der Suche helfen soll. Sollte die Polizei nicht die Stadt durchkämmen?«

»Wir sind keine Friseure, sondern Kriminalisten, die systematisch Hinweisen und Spuren nachgehen«, mischte sich Kolka ein. »Sie können uns die Daten gern elektronisch geben. Wir haben mittlerweile auch Computer.«

»Eigentlich handelt es sich um äußerst sensible Informationen«, redete Frau Lippner weiter, als wäre Kolka Luft. Für einen Moment sah es sogar so aus, als klimperte sie mit ihren Wimpern. »Ich bin mir sicher, dass Herr Brecht einer Herausgabe niemals zugestimmt hätte. Das sind Firmeninterna.«

Stark schien die Situation nicht richtig zu begreifen, denn er zupfte an seinen Hosenbeinen, als hätte er sich auf der Toilette bepinkelt. Schon seit dem Morgenkaffee klagte er über Darmprobleme. Den Druck, den Totner als Leiter der Soko an seinen Vertreter weitergab, schlug dem korpulenten Kollegen offensichtlich schwer auf den Magen.

»Hören Sie, Frau …« Kolka wurde laut und schaute absichtlich auf das silberglänzende Namensschild über der Brust der Angestellten, obwohl sie genau wusste, dass ihr die Assistentin von Klemens Brecht gegenüberstand. »Lippner! Der Beschluss der Staatsanwaltschaft wurde Ihnen zeitnah ausgehändigt. Ausreichend Zeit, die geforderte Auflistung herbeizubringen. Wenn Sie nicht wollen, dass ich mit dem Lagezentrum telefoniere und in einer halben Stunde den ganzen Laden mit einem Zug Bereitschaftspolizisten auf den Kopf stelle, schaffen Sie umgehend die Unterlagen heran. Solange sehe ich mich in diesem Büro um. Meinem Kollegen zeigen Sie bitte das von Herrn Brandner. Und zwar subito.«

Das hatte gesessen. Fahrig schloss Frau Lippner den mittleren Knopf ihres Jacketts, was ihren Bauch schmaler und ihre Brust größer machte. Ihr Lächeln verschwand. Sie hob das Kinn und schaute Stark fragend an. »Darf Sie das entscheiden?«

Stark schien sich gefangen zu haben und setzte ebenfalls eine Beamtenmiene auf. »Sie sagten selbst, Sie wären die rechte Hand der Führungsetage. Ich denke, Sie bekommen das hin.« Er deutete zur Tür, damit sie gemeinsam Brandners Büro aufsuchten und Kolka in Ruhe ihre Arbeit machen konnte. Dann stellte er Fragen. »Wie sehen Sie eigentlich Ihr Verhältnis zu Ihren beiden Chefs?«

»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Frau Lippner empört.

»Na, wie sind die beiden so? Nach allem, was man hört und sieht, hat sich Herr Brandner in der Öffentlichkeit deutlich öfter blicken lassen als Herr Brecht.«

»Und das finden Sie verwunderlich?« Frau Lippner schüttelte verständnislos den Kopf. »Herr Brandner hat das Unternehmen von seinem Vater geerbt, er war der eigentliche Kopf von CORWEX.«

»War?«

»Wie bitte?«

»Sie sagten war.«

Sie fächelte sich mit einem Firmenprospekt Wind zu und schritt mit klappernden Absätzen zur Tür. »Ach wissen Sie, das Verschwinden macht der gesamten Firma zu schaffen. Dadurch ist der Betriebsablauf erheblich gestört.«

»Ah, Sie machen sich Sorgen um den Betriebsablauf«, stellte Stark mit einem zynischen Unterton fest. »Ich bin mir sicher, die beiden Geschäftsleute wissen sehr gut, was sie an Ihnen haben.«

Lippner öffnete die Tür und ließ Stark den Vortritt. »Es gibt wohl niemanden, der sich keine Sorgen um Herrn Brecht und Herrn Brandner macht. Es wäre uns allen recht, wenn die Polizei die beiden wohlbehalten findet.«

»Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Als Erstes möchte ich gern mit Herrn Below sprechen. Immerhin war er der Chauffeur der beiden Geschäftsmänner.«

»Herr Below? Da muss ich Sie leider enttäuschen …«

Lippner ging mit Stark nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Was die beiden auf dem Gang beredeten, verstand Kolka nicht mehr. Dafür war sie endlich allein in dem steril wirkenden Raum, an dessen Wänden seltsamerweise kein einziges Bild eines Jagdgewehrs hing. Aus zwei Richtungen grinsten sie die Gesichter von Brecht und Brandner an. Auf einer Fotografie erkannte sie sogar den früheren Ministerpräsidenten, der den beiden die Hände schüttelte. Im Hintergrund prangte in riesigen Lettern der Firmenname.

Der Name CORWEX stand auch auf der Edelstahlunterlage auf Brechts Schreibtisch eingraviert. Daneben lagen gewissenhaft ausgerichtet – beinahe schon übertrieben penibel – drei Stifte. Ein roter und ein grüner Fineliner sowie ein Kugelschreiber. Offenbar mit blauer Mine, denn sämtliche handschriftlichen Notizen auf der Schreibunterlage waren von blauer Farbe. Lediglich ein Vermerk stand mit schwarzem Kugelschreiber da. Ganz am Rand mit einem Kreis drumherum. S65.

Kolka zweifelte nicht daran, dass sie in irgendeinem der Schreibtischfächer auch noch einen schwarzen Kugelschreiber fand. Seltsam sah die andersfarbige Notiz trotzdem aus.

Das war es jedoch nicht, was sie irritierte, sondern der Gesamteindruck, den der Arbeitsplatz vermittelte. Alles sah viel zu aufgeräumt auf. Als hätte Brecht gewusst, dass er verschwinden würde.

Sicherheitshalber machte sie Fotos und begann danach mit der Durchsicht der Fächer. Obwohl sie jedes Blatt Papier anhob, fand sie nichts, was ihr weiterhalf. Sie schaute auf die Uhr und fragte sich, wie viele Minuten ihr blieben. Vermutlich würde Stark bald mit Lippner zurückkehren.

Schließlich entschloss sie sich, den Schreibtisch zur Seite zu rücken. Das war eine alte Macke aus ihrer Zeit in der Abteilung der Wirtschaftskriminalität. Nicht selten hatten Beschuldigte einen hochroten Kopf bekommen bei den Dingen, die unter manchen Tischen zum Vorschein kamen.

Und auch heute zahlte sich die Anstrengung aus.

Zu ihrer Verwunderung fand sie auf dem Fußboden ein Farbfoto. Es zeigte ein Mädchen von vielleicht drei oder vier Jahren. Kolka schaute hinter sich an die Wand, wo sich ein Familienbild befand. Laut Unterlagen war Brechts Tochter mittlerweile vierzehn.

Sie wendete das Foto und las, was dort mit schwarzem Kugelschreiber geschrieben stand …

Blut und böser Mann
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