Er
Der Polizeibeamte schaute von seinen Unterlagen auf, sein Besuch war pünktlich, wie telefonisch angekündigt. Unauffällig musterte er den großen, blonden Mann mit dem Aussehen eines Filmschauspielers von der Seite. Natürlich kannte er ihn. Alle kannten sie ihn hier in Saarburg.
Im Augenblick sah er mitgenommen aus. Tiefe Falten im Gesicht, viel zu tief für sein Alter, die Haut etwas fahl, fast grau, und sein Gang schleppend und nicht von jener Spannung, wie man sie normalerweise an ihm beobachten konnte. Eine Spannung und eine Dynamik, die signalisieren sollte: Alle aus dem Weg, jetzt komme ich. Wage nicht, es mit mir aufzunehmen.
»Bitte setzen sie sich, Herr von Rönstedt.« Der Zivilbeamte Breuer wies auf einen Stuhl. »Hat sie immer noch nichts von sich hören lassen?«
Henry schüttelte den Kopf. »Seit wir vor zwei Tagen miteinander telefoniert haben, war ich auf der Suche nach ihr. Nichts. Keiner unserer Freunde weiß etwas.« Und enttäuscht fügte er hinzu: »Allerdings sind die meisten auch noch in Urlaub.«
»Gut, dann wollen wir mal eine Vermisstenanzeige aufgeben.« Halbherzig war der Beamte bei der Sache, denn solche Vorkommnisse klärten sich meist leicht auf. Und dieser seiner Ansicht nach besonders leicht, denn Frau von Rönstedt hatte ihrem Mann aus Konstanz einen Brief geschickt, wie er am Telefon gesagt hatte.
»Haben Sie den Brief dabei?«
Henry griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einen Umschlag hervor, den er dem Beamten gab.
Der betrachtete sich ihn ganz professionell von allen Seiten. »Datum von vor vier Tagen, abgeschickt in Konstanz«, stellte er fachmännisch fest. »Und es hat sich unter der angegebenen Adresse niemand gemeldet? Hotel Schwäbisches Meer?«
»Es gibt kein Hotel mit einem solchen Namen.«
»Interessant.« Breuer kratzte sich am Kinn. »Wirklich interessant. Ist sie mit dem Auto gefahren?«
Henry verneinte. »Das ist es ja, was mich sorgt. Nie und nimmer würde sie ohne ihr Auto reisen. Schon gar nicht an den Bodensee. Ein Katzensprung für Sarah. Sie ist eine ausgezeichnete und leidenschaftliche Fahrerin. Außerdem hat sie ein bildschönes Coupe von Shogun. Metallic, Klima, Fensterheber, Automatik, alles drin und alles dran. Bildschön, sage ich Ihnen.«
»Verstehe.« Breuer wollte eigentlich kein Auto kaufen.
»Deshalb war ich am Bahnhof und habe mich erkundigt, ob sie vielleicht vor Tagen einen Zug genommen hat. Hier in Saarburg kann sich keiner an sie erinnern. Sie kennen Sarah zwar alle, jedoch gesehen hat sie niemand. Aber sie muss doch zumindest mit einem Zug fahren, wenn sie weg will. Oder sehe ich das falsch?«
Der Beamte überlegte und wackelte dann mit dem Kopf. »Sie könnte ein Taxi genommen haben bis Trier oder Merzig.«
»Nein, hat sie nicht.«
»Es muss ja keines aus Saarburg gewesen sein. Haben Sie auch in Trier nachgefragt? Oder bei den Unternehmen in Konz?«
Henry verneinte.
»Sehen Sie. Dann gibt es ja auch noch Busse. Wir haben einen schönen großen Busbahnhof hier mitten in der Stadt.«
»Sarah und einen Bus?« Henry fand diese Vorstellung absurd. »Sie ist Besseres gewohnt und würde nie einen Bus nehmen.«
Der Beamte hatte Geduld. »Herr von Rönstedt, glauben Sie mir, in solchen Fällen kennen wir uns besser aus. Ihre Frau ist unangemeldet verreist. Das ist doch richtig.«
»Ja.«
»Und wie ich nun die Umstände einschätze, und wie Sie mir Ihre Frau am Telefon geschildert haben, kann es doch sein, dass sie einmal allein sein will. Einfach allein.«
»Dazu hatte sie keinen Grund«, protestierte Henry. »Bisher haben wir immer alles gemeinsam gemacht. In einer Ehe gehört sich das so.«
»Das werden Sie auch in Zukunft tun, wenn sie wieder zurück ist«, beschwichtigte ihn Breuer. »Aber wie gesagt, den Anzeichen nach wollte sie nicht, dass jemand etwas von ihrer Abreise erfährt.«
Das gab Henry nach einigem Zögern zu.
»Und dieses Hotel gibt es auch nicht. Aber der Brief ist echt, ihre Handschrift ist echt, der Stempel ist echt, die Briefmarke ist echt. Was folgern wir daraus?«
Henry konnte die eher hypothetisch gemeinte Frage nicht beantworten. Außerdem war er in keiner Quiz-Show.
»Sie möchte immer noch allein sein«, verdeutlichte es der Beamte. »Sonst hätte Sie Ihnen ja ein Hotel genannt, was es gibt und wo sie zu erreichen wäre. Verstehen Sie?«
Langsam nickte Henry. »Ja, leuchtet mir ein.«
»Und weil sie immer noch allein sein will, aber zumindest in Konstanz gewesen sein muss, deshalb hat sie alle Spuren, die auf sie hinweisen, verwischt. Das ist doch logisch.«
»Wieso logisch?«
»Weil ansonsten Sie, Herr von Rönstedt, ihr doch nachgefahren wären. Ist es nicht so?«
»Natürlich.« Henry richtete sich etwas auf. »Ich lasse meine Frau doch nicht allein in der Welt herumreisen. Das gehört sich nicht. Und es ist viel zu gefährlich.«
Der Beamte seufzte gottergeben. Da gab es doch in der Stadt diese Gerüchte um das Ehepaar Rönstedt, man sprach von Streit und Scheidung und vielen anderen unschönen Dingen. Und ausgerechnet er, der Ehemann, dem man besonders alles Unschöne nachsagte, verhielt sich genau entgegengesetzt, als es die Gerüchte glauben machen wollten. Noch nie war ihm ein so besorgter Ehemann untergekommen. Und er war lange genug Polizeibeamter, um einschätzen zu können, hier zog niemand eine Schau ab, das war garantiert nicht gespielt.
»Also Herr von Rönstedt, es besteht meiner Ansicht nach immer noch kein Grund zur Sorge.«
Henry schien anderer Meinung zu sein.
»Trotzdem nehmen wir eine Vermisstenanzeige auf, wenn es Sie beruhigt.«
»Vielen Dank. Das würde mich wirklich sehr beruhigen.«
»Hat Ihre Frau persönliche Dinge mitgenommen?«
Henry zuckte mit der Schulter und überlegte. »Das weiß ich nicht. So genau kenne ich mich nicht im Kleiderschrank meiner Frau aus. Sie etwa?«
Der Beamte, ein Oberkommissar, wie draußen auf dem Schild zu lesen war, verneinte und lächelte wissend. »Wer kennt sich schon im Kleiderschrank seiner Frau aus, da haben Sie recht.« Er schaltete den Computer ein und bearbeitete die Tasten. »Nun, dann wollen wir mal die Anzeige aufnehmen.«
Nachdem der Oberkommissar die persönlichen Daten eingegeben hatte, fragte er nach unverwechselbaren Kennzeichen oder Merkmalen.
»Sie ist so nett, so unheimlich nett.«
»Herr von Rönstedt, das hilft mir nicht weiter«, meinte der Beamte geduldig.
»Aber das ist unverkennbar. Und sie war schwanger.«
»In anderen Umständen«, murmelte Breuer vor sich hin und bediente seinen Computer. »Das ist doch schon was. Im wievielten Monat?«
»Ich glaube, im …« Henry sah ihn an. »Tut mir leid, so genau weiß ich es nicht. Ich werde ihren Frauenarzt fragen.«
»Gibt es noch andere unverwechselbare Körpermerkmale?«
Henry schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist perfekt, einfach perfekt. Ihr ebenmäßiges Gesicht, die tiefgründigen Augen, dann ihr Mund. Ein süßer, viel versprechender Mund. Und erst ihre Figur! Sie müssten sie mal sehen. Es gibt keine Frau, die eine bessere Figur hat.«
»Also schlank«, konstatierte der Beamte und tippte. »Aber das ist kein unverwechselbares Merkmal. Es gibt viele schlanke Frauen.«
Henry sprang von seinem Stuhl. »Aber es gibt nur eine Sarah, und das ist ein unverwechselbares Merkmal«, raunzte er den Beamten an und verließ den Raum. Nachdenklich schaute dieser ihm nach.
Jeden Tag rief Henry mehrfach bei der Polizei an. Inzwischen wurden dem bearbeitenden Beamten die Anrufe zur Last. Er ließ deutlich seinen Unwillen spüren. Mehr tun könne man in dieser Phase nicht. Es gäbe auch noch andere, die auf die Hilfe der Polizei angewiesen sind.
Henry wollte sich nicht mit Allgemeinfloskeln abspeisen lassen und drohte, sich bei seinem Vorgesetzten zu beschweren.
Dadurch ließ sich der Beamte zu der Bemerkung verleiten: »Wenn Sie ihre Frau anständig behandelt hätten, dann wäre sie auch nicht weggelaufen.«
Wenige Minuten später stürmte Henry in das Zimmer des Oberkommissars und packte ihn am Kragen. Zwei weitere Beamte waren nötig, ihn zu bremsen und zu beruhigen. Wieder einige Minuten später kam Henrys Anwalt und beschwichtigte den Oberkommissar. Henry sei nervlich sehr angeschlagen, da könne so etwas schon mal passieren.
Der Beamte lenkte ein und erstattete keine Anzeige.
Dafür terrorisierte Henry all seine Bekannten mit Telefonanrufen. Ob Sarah sich schon gemeldet habe, sie vielleicht wüssten, wo sie sich aufhalten könne, es einen Ort gäbe, von dem er nicht wisse.
Die Mitglieder des SUV waren aus dem Urlaub heimgekehrt, und gleich am kommenden Abend sollte die erste Sitzung des Verbandes stattfinden.
Henry war zugegen, jedoch durch seinen nervlichen Zustand so angeschlagen und gedankenlos, dass man die Sitzung abbrechen musste. Achterbusch und Ellwanger, die sich die Frage nach dem Planungsstand des neuen Autohauses verkniffen, und damit auch die Frage nach den Chancen, den Auftrag endgültig zu bekommen, nahmen Henry in die Mitte und gingen mit ihm in eine Gaststätte in den Staden, dem Unterteil der Stadt, gleich an der Saar gelegen.
»Über eine Woche ist sie nun schon verschwunden«, sprach Henry traurig mehr zu sich selbst. »Niemand weiß, wo sie sich aufhält. Was habe ich nur getan?«
Die beiden Geschäftsfreunde trösteten ihn. Jonas Ellwanger schaute auf seine Uhr, er hatte noch etwas vor. Aber es war nicht Susi, die wartete. Schon seit geraumer Zeit benutzte er, wie viele andere des Verbandes auch, die Sitzungstermine dazu, sich frühzeitig zu verabschieden, um einen anderen, erfreulicheren und aufregenderen Termin wahrzunehmen. Und da fast jeder des SUV im Laufe der Zeit eine Freundin hatte, deckte man sich gegenseitig. Man konnte ja nicht wissen.
Ellwanger verabschiedete sich deshalb auch wenig später, und Achterbusch bemühte sich, Henry aufzumuntern. Allerdings kam er sich fehl am Platze vor, denn so wie er Henry kannte, benötigte der keine Aufmunterung. Auch dann nicht, wenn ihm die Frau weggelaufen war. Das, so dachte Achterbusch, würde Henry problemlos verkraften. Zumindest dachte er noch so vor wenigen Tagen. Aber der Henry, der ihm heute gegenübersaß, wirkte anders als sonst. Nachdenklich, schon fast eingeschüchtert. Fahrig in den Bewegungen, ohne Konzentration und sprunghaft von einem Thema zum anderen wechselnd. Am Alkohol lag es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und immer wieder schaute Henry auf die Uhr, als erwarte er jemanden.
»Lass’ den Kopf nicht hängen, alter Junge.« Zu mehr Aufmunterung war Achterbusch nicht fähig. Mit Schulterklopfen untermalte er seine Worte. Aus Verlegenheit bestellt er noch zwei Bier. Heute vertrug Henry nicht so viel. Auf diese Weise konnte er den Abend auch schneller über die Runde bringen.
»Du hast gut reden. Alle haben gut reden, die nicht betroffen sind. Wer weiß schon, was in einem vorgeht? Und was wäre, wenn deine Gille dich sitzen lässt?«
Achterbusch grinste. »Schön wäre das. Sehr schön. Und ich würde nicht so viele Anstrengungen machen wie du, sie wieder einzufangen.«
»Hast du heute Radio gehört? RPR?«
Achterbusch tat so, als überlege er. »Nein.«
»Die haben einen Aufruf gebracht, Sarah möge sich bitte melden. Jeden Tag bringen die Aufrufe. Auch für Tiere, die fortgelaufen sind. Wie sollen die sich denn melden?«
»Es wird schon wieder.« Achterbusch legte Henry nun eine Hand auf den Unterarm.
»Aua.«
»Was ist denn?«
»Ich habe mich verletzt. Vor einer Woche. Die Wunde eitert.«
»Und wobei?«
»Jetzt lache bitte nicht. Beim Holzhacken ist mir ein großer Splitter in den Unterarm gedrungen.«
»Beim Holzhacken?« Achterbusch sah ihn ungläubig an. »Du hackst Holz?« Er fragte dass so erstaunt, als wären dafür eher die kleinen grünen Männchen verantwortlich.
»Als Junge schon habe ich viel Holz gehackt. Wir hatten einen großen Kamin. Und viele Öfen. Auch in der Werkstatt. Aus Papas Wald stammte das Holz. Buche und Eiche, auch etwas Birke. Aber meist Buche und Eiche. Es kam aus Papas Wald. Er hatte einen großen Wald. Immer im Herbst und Winter wurde Holz gemacht.« Und dann ohne Übergang: »Nun, es war der letzte Abend, an dem Sarah und ich vor dem Kamin saßen. Am anderen Tag, als ich nach Hause kam, da war sie verschwunden.« Henry seufzte.
Achterbusch sah Henry von der Seite an. So kannte er seinen Geschäftsfreund nicht. »Mary meint, du hättest erst nach drei Tagen auf Sarahs Verschwinden reagiert.«
»Wieso erdreistest du dich, Mary auszuhorchen?«, fragte Henry angriffslustig und voll konzentriert. Er war wieder fast der Alte. »Was willst du damit andeuten, erst nach drei Tagen reagiert?«
»Och nichts. Nur dass sie schon zwei oder drei Tage verschwunden gewesen sein soll, bevor du etwas unternommen hast.«
»Spionierst du hinter mir her?« Henry umfasste Achterbuschs Schulter, so dass dieser vor Schmerz das Gesicht verzog.
»Idiot. Ich war doch in Urlaub. Wie soll ich dir …«
»Schon gut.« Henry lockerte den Griff. »Und von wem weißt du das?«
»Von wem denn? Von Mary selbstverständlich.«
Für alle offensichtlich, stürzte sich Henry die nächsten Tage in die Arbeit. Immer war er zur normalen Zeit im Geschäft erreichbar, und abends traf er sich noch mit den Architekten, um die Planung des neuen Autohauses zu besprechen. Die Planung machte gute Fortschritte, das Gebäude gewann an Konturen, ein Modell wurde sogar erstellt, aber Henry konnte sich nicht so recht freuen.
Manchmal überraschten ihn Mitarbeiter, wie er in seinem Chefzimmer saß und vor sich hinstarrte. Und bemerkte er die Eintretenden, dann raunzte er sie an, weshalb sie nicht geklopft hätten. Das hätten sie, versicherten die Mitarbeiter, aber er habe es wohl überhört. Obwohl Henry dies vehement bestritt, war in der Firma längst bekannt, dass er zuweilen stundenlang nichts tat, außer grübeln und starren und starren und grübeln.
Henrys Laune und seine Verfassung besserten sich etwas, als die koreanischen Geschäftsleute von der Europaniederlassung aus Luxemburg zu einer Stippvisite nach Saarburg anreisten. Die Asiaten waren äußerst angetan von dem romantischen Städtchen, und Henry hatte alle Mühe, sie vom Wasserfall und der engen Altstadt wegzulotsen, wo sie ein Foto nach dem anderen machten, um ihnen das neue Projekt an Ort und Stelle zu präsentieren. Einer sagte immer wieder auf Englisch, hier in Saarburg sei es schöner als in Rothenburg up the Tower. Er meinte wohl den Fluss Tauber.
Henry wusste, was er seinem Partner schuldig war und sprach sehr engagiert von der Zukunft und von dem neuen Standort. Wer konnte es ihm verdenken, dass er auch ein wenig an die vierzig Prozent Baukostenzuschuss dachte, die sich nach dem Saarburger Modell in den kommenden Monaten auf einem seiner Konten wiederfinden würden?
Und als er auch noch an diesem sonnigen Tag mit den Koreanern einen Biergarten aufsuchte, der, umrahmt von hohen Bäumen, einen phantastischen Blick auf die Burg zuließ, da hatte er gewonnen. Nun fotografierten sie die Burg. In dieser Beziehung, was das Fotografieren betraf, schienen die Koreaner den Japanern sehr ähnlich zu sein, überlegte Henry.
Auch der Biergarten begeisterte sie ungemein, so wie der Wasserfall und die Altstadt. Er sei schöner als alle, die man in München gesehen habe, sagte einer seiner Besucher. Und auf Henrys Frage nach dem Warum antwortete er lachend und zeigte dabei ungeniert eine Zahnlücke: dort gäbe es keine Burg.
Die Zahnlücke irritierte Henry enorm, denn immerhin hatte er hier den Europachef des Shogun-Konzerns vor sich. Nie und nimmer würde er auch nur ansatzweise den Mund aufmachen, falls er, wenn auch nur vorübergehend, eine Zahnlücke hätte.
So offen lachen wie die Koreaner würde er auch nicht, und ohne Krawatte und Jackett zu Geschäftsfreunden gehen schon gar nicht. Überhaupt sah er nur sehr wenige Gemeinsamkeiten zwischen dem Besuch aus Fernost und sich selbst. Die einzige, sie verbindende, war das Geld und der zu erwartende Gewinn.
Henry war erleichtert, als er die Koreaner spät am Abend im Hotel einquartierte und nach Hause gehen konnte. Am kommenden Tag würden sie sehr zeitig nach Luxemburg fahren. Vielleicht, so meinten sie, würden sie auch noch mal in seinem Autohaus vorbeikommen.
Henrys Nervenkostüm war nicht das stabilste. Zunehmend merkte er, dass ihm Sarah viele Dinge des Alltags abgenommen hatte. Nun musste er Mary sagen, was sie einzukaufen und zu kochen hatte, ob der Gärtner zuerst umgraben oder die Rosen zurückschneiden solle, welchen Anzug er gebürstet und welches Hemd er gebügelt haben möchte.
Sein Personal bekam die Gereiztheit auch zu spüren. Henrys Ton wurde härter, seine Toleranz, bisher war sie schon nicht allzu ausgeprägt gewesen, noch geringer, bei jeder sich bietenden Gelegenheit stauchte er einen Mitarbeiter zusammen. Und als er gerade lautstark eine Tirade gegen einen Verkäufer losließ, obwohl sich Kunden im Verkaufsraum befanden, und diesem mit der Kündigung drohte, nur weil er einen Termin versäumt hatte, kam eine Frau auf ihn zu, die er nicht in allzu guter Erinnerung hatte.
»Carmen Sigallas«, stellte sie sich vor. Sie war braun gebrannt und sah erholt aus. Ihrer luftigen Kleidung nach hatte sie Urlaub im Süden gemacht.
»Ich weiß. Die Ärztin. Was wollen sie denn hier? Meine Frau ist nicht da.« Henry wollte sich abwenden.
»Danke für den Kaffee. Und dass Sie mir einen Platz anbieten.«
Widerwillig führte Henry die Ärztin zu einer Sitzgruppe, die, da aus Leder und sehr komfortabel und sehr wuchtig, wohl auch den Umzug in das neue Gebäude mitmachen würde.
»Was wollen Sie«, fragte er nicht mehr ganz so aggressiv wie vorhin, nachdem der Kaffee vor ihnen stand.
»Mich nach Sarah erkundigen.«
»Sie ist verschwunden.«
»Das habe ich bereits auf der Polizei gehört. Und im Radio. Deswegen bin ich hier.«
»Was, Sie waren bei der Polizei?«, entrüstete sich Henry. »Wer gibt Ihnen das Recht …«
»Das nehme ich mir. Nach allem, was Sarah mir über Sie erzählt hat, und über ihre Ehe«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu, »nehme ich mir das Recht, nicht nur zur Polizei zu gehen sondern auch zu Anwalt und Notar. Und ihre Freunde aufzusuchen, falls es erforderlich sein sollte.«
Henry hätte die Ärztin am liebsten genauso behandelt wie Sarah. Aber es gab Zeugen, und die Ärztin war ihm mit ihrem Detailwissen sehr suspekt. Woher konnte sie von dem Anwalt und dem Notar wissen? Nur von Sarah. Und wenn sie das schon wusste, dann auch noch mehr, kombinierte Henry und zwang sich zu einem freundlicheren Verhalten.
Carmen bemerkte den Umschwung und lächelte. Sie betrachtete sich Henry, der wirklich ungemein gut und männlich und verlockend aussah, ungeniert, worauf dieser auf seinem Sitz die richtige Position suchte. Zuerst schlug er die Beine übereinander, dann zog er ein Knie an und umschloss es mit beiden Händen. Zum Schluss verschränkte er sie Arme vor der Brust und schaute seitlich mit einem »in die Ferne Blick« aus dem Fenster.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte er geschäftsmäßig, ohne seinen Gast anzuschauen.
»Sie haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Hat sich Sarah inzwischen bei Ihnen gemeldet?«
»Wenn Sie bei der Polizei waren, dann wissen Sie das doch.«
»Ich habe Sie gefragt, Herr von Rönstedt. Man sagt nicht immer alles der Polizei.«
Henry schüttelte den Kopf. »Nein, keine Nachricht von ihr, nichts.«
»Ist zwischen ihnen etwas vorgefallen, wovon die Polizei keine Ahnung hat?«
»Werden Sie bitte deutlicher.« »Herr von Rönstedt, haben Sie Sarah geschlagen?«
Henry gab sich entrüstet. »Was erlauben sie sich, Dr. Sigallas.«
Für Carmen war es fremd, mit ihrem akademischen Titel angesprochen zu werden. Aber Henry gehörte zu jener Kategorie, die auf Titel und Äußerlichkeiten großen Wert legen. Und das mit Absicht, schließlich wollte er auch, dass man all die Dinge bei ihm beachtete, seine teuren und auffallenden Accessoires, und ihn entsprechend bevorzugt behandelte. Deshalb legte er auch auf dieses »von« vor seinem Namen enorm großen Wert. Auch wenn es nicht wie ein Doktortitel erarbeitet, sondern lediglich geerbt war.
»Herr von Rönstedt, nicht so laut. Die Kunden und Ihre Angestellte schauen schon zu uns herüber.«
Henry schien sich zu besinnen. Aber sein Gesicht drückte Ablehnung aus. Und hatte zudem einen beleidigten Ausdruck, weil ihm die Ärztin so etwas Verwerfliches unterstellte. Er und eine Frau schlagen, nie und …
»Vor meinem Urlaub habe ich die blauen Flecke Ihrer Frau gesehen. Und ich kenne die Art ihrer Entstehung. Reden wir doch offen.«
»Spanien oder Italien?«
»Wie bitte?«, fragte Carmen.
»Wo waren Sie denn in Urlaub? Spanien oder Italien?«
Carmen war etwas ungehalten wegen des Themenwechsels. Wollte Henry ablenken? Deshalb fiel ihre Antwort knapp aus.
»Weder noch. Florida.«
»Interessant. Etwas für ältere Herrschaften. Florida, die größte Seniorenresidenz auf dieser Erde.«
Henry registrierte Carmens Irritation wegen dieser Anspielung. Aber sein Gesicht blieb undurchdringlich. Erneut verschränkte er die Arme vor der Brust und signalisierte damit seine Ablehnung. Und als er etwas die Beine spreizte, begann Carmen zu schmunzeln.
»Stimmt was nicht?«
Sie beugte sich zu ihm und sprach leise: »Herr von Rönstedt, ich kenne zwar nicht die Gebräuche und Sitten hier in diesen Räumen, aber Ihr Hosenschlitz ist offen.«
Henry erstarrte, sah an sich herunter, zog hastig den Reißverschluss zu, schaute sich um, ob auch niemand das mitbekommen hatte und lief rot an.
»Entschuldigung«, murmelte er. »Ist mir sehr peinlich.«
Carmen amüsierte sich über seine Verlegenheit, die überhaupt nicht in das Bild passte, welches sie von dem blonden, selbstbewussten Geschäftsmann hatte.
»Wie gesagt, ich habe die blauen Flecke gesehen und weiß, sie stammen von Ihnen«, sprach Carmen ruhig weiter.
»Wie können Sie es sich erlauben …«
Sie hob nur leicht eine Hand, Henry verstummte. »Und mir ist bekannt, dass Sie ihre Frau vergewaltigt haben.«
Henry erstarrte für eine halbe Sekunde, sprang dann hoch wie ein Stehaufmännchen, ballte die Fäuste, und für einen Augenblick dachte Carmen, er würde sich auf sie stürzen.
»Ich weiß einiges über Sie und Ihre Ehe. Und wenn Sie sich jetzt nicht wieder setzen, dann spreche ich eben lauter über Vergewaltigung und Schläge in der Ehe. In Ihrer Ehe, Herr von Rönstedt.«
Henry nahm Platz, und die Art wie er es tat, verwunderte Carmen ebenfalls. War es Einsicht, sich so zu verhalten, damit nicht jeder ihr Gespräch mitbekam, oder reagierte er aus Angst. Und wenn Angst, wovor? Dass sie ihre Informationen weitergeben würde an die Polizei? Oder war es Angst davor, einen Mitwisser zu haben, der nicht kalkulierbar zu sein schien und gefährlich werden konnte? Zu gerne wäre sie Zeuge gewesen, welche Aktivität sich zwischen Henrys Gehirnwindungen abspielte.
»Frau Dr. Sigallas«, zwang sich Henry zu einem normalen Tonfall, »Sie erheben sehr schwere Beschuldigungen gegen mich. Sie sind sich doch im Klaren, dass ich Sie juristisch wegen Verleumdung belangen kann?«
»Tun Sie das nur, dann gehen gewisse … Fotos und Krankenhausaufzeichnungen und Tonbänder an ganz bestimmte Stellen.«
Carmen hatte nur geblufft. Außer den Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus und Sarahs mündlichen Ausführungen konnte sie nichts vorweisen. Aber Henry schluckte den Brocken.
»Was wollen Sie von mir? Mich erpressen?«
Die Art, wie Carmen lächelte, zeigte an, sie hatte gewonnen. Und aus ihrer Position war es nun ein Leichtes, die Überlegene zu spielen. Das ließ sie Henry auch spüren. »Manche Unterstellungen sind so niveaulos, dass ich nicht auf sie reagiere, Herr von Rönstedt.«
Henry überlegte. Seine Hände glitten über die Oberschenkel, als wollten sie die Hose bügeln.
»Ich will von Ihnen erfahren, wo Ihre Frau ist.«
Henry schaute sie an und Carmen war von diesen Augen etwas verwirrt. »Ich weiß es nicht«, antwortete er fest. »Ich weiß es wirklich nicht. Seit diesem Brief aus Konstanz habe ich von ihr kein Lebenszeichen erhalten.«
Carmen musterte ihn abschätzend. Auf seiner Oberlippe standen feine Schweißperlen. Aber er wich ihrem Blick nicht aus.
»Teilen Sie mir mit, wenn sie sich meldet«, sagte Carmen, stand auf und bedankte sich für den Kaffee. Sie bat nicht um Mitteilung, sondern forderte ihn auf, es gefälligst zu tun. Und Henry nickte.
Auf dem Weg zu ihrem Auto, welches sie auf dem zentralen City-Parkplatz abgestellt hatte, versuchte Carmen, sich ein Bild von Henry zu machen und dessen Reaktionen einzuschätzen. Er bot ein indifferentes Bild. Zum einen die nach außen bewusst zur Schau gestellte Selbstsicherheit und eine nicht mehr zu überbietende Arroganz, wenn er sich im Vorteil wähnte. Hinzu kam seine körperliche Dominanz, die er gekonnt einzusetzen vermochte und die beides noch verstärkte. Im Gegensatz dazu das fast kindliche Erröten beim geöffneten Hosenlatz und schließlich ein fast schon unterordnendes Entgegenkommen. Weil er dachte, sie sei im Besitz von Beweisen, die ihn belasten könnten.
Aber bevor er jemandem entgegenkommt, sinnierte Carmen, ist er erst einmal auf hundertachtzig und versucht, ihn einzuschüchtern. So verhalten sich noch nicht einmal männliche Tiere in der Brunft. Nur über einen Punkt war sie sich im Klaren: Henry schien tatsächlich nicht zu wissen, wo sich Sarah befand.
Carmen suchte an diesem Tag auch noch andere Freunde und Bekannte von Sarah auf, aber weiterhelfen konnte ihr niemand. In einem waren sich jedoch alle einig: Henry litt sehr unter Sarahs Abwesenheit. Er werde zunehmend unruhiger und gereizter, könne sich nicht mehr so recht konzentrieren. Die Ungewissheit mache ihn fertig. Dies wiederum bedauerte Carmen nicht. Für manche ist eben Schadenfreude die schönste Art der Freude. Und sie schloss sich auf Henry bezogen nicht aus.
Henry war viel unterwegs. Spontan fuhr er ein paar Tage nach Chamonix, um sich etwas zu entspannen, trat dann aber doch früher als geplant die Heimreise wieder an. Sein erster Weg führte ihn zielgerichtet, als hätte er es sich genau überlegt, zur Sparkasse, um über das Konto seiner Frau Auskunft zu erhalten. Nachdem er verdeutlichen konnte, dass auch er verfügungsberechtigt sei, teilte man ihm den Kontostand mit. Das Konto war mit fünfzehntausend im Minus, ein größerer Betrag war vor zwei Wochen abgebucht worden.
Den Kontostand hätte Henry auch vom Computer aus abfragen können. Aber so hatte er einen Grund, sofort zur Polizei zu gehen und dort den Kontoauszug als Indiz zu präsentieren.
»Einen Tag vor dem Datum des Briefes aus Konstanz«, sagte Oberkommissar Breuer, meinte den abgehobenen Betrag und fügte hinzu: »Ein Donnerstag, das passt.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ihre Frau hat sich mit ausreichend Geld eingedeckt und will sich für eine gewisse Zeit separieren.«
Henry schaute groß, denn diese Ausdrucksweise hatte er dem einfachen Beamten nicht zugetraut.
»Würde sie mit Schecks bezahlen, wäre es für uns einfacher, fügte Breuer hinzu. »Dann hätten wir wenigstens eine Spur. So müssen wir warten, bis ihr das Geld ausgeht oder sie nach Hause kommt.«
Nach einem Anruf bei der Sparkasse wusste Breuer auch, dass Sarah den Betrag per Barscheck abgehoben hatte.
Weil ihm der Beamte keine Neuigkeiten mitteilen konnte, verabschiedete sich Henry schnell.
In der Folgezeit nahm seine Unruhe, die sich in fahrigen Bewegungen und einer abgehackten Sprechweise äußerte, noch mehr zu. Wer ihn aus seinem Bekanntenkreis beobachtete, konnte den Eindruck gewinnen, dass Henry voller Ungeduld auf etwas zu warten schien. Immer wieder schaute er, wenn er im Büro saß, durch die geöffnete Tür in den Verkaufsraum, dann wieder auf die Uhr oder auf sein Handy, als erwarte er jeden Augenblick einen Anruf. Sprach man Henry an, hörte er nicht zu. Oder er beantwortete die Fragen wesentlich später und aus dem Zusammenhang gerissen. Seinen Geschäftspartnern kam es vor, als sei Henry, weil er sich mehr und mehr wiederholte, abgespannt und geistig nicht auf der Höhe. Alle merkten es, nur Henry scheinbar nicht.
Sogar die beiden Hunde registrierten die Veränderung ihres Herrchens. Ging Henry einmal mit ihnen spazieren, schlichen sie, ihn ständig aus den Augenwinkeln beobachtend, mit gesenktem Kopf, angelegten Ohren und eingekniffenem Schwanz in zwei Metern Abstand neben ihm her. Gab er ein Kommando, dann zuckten sie zusammen und zogen den Kopf ein.
Henry war erneut auf Geschäftsreise. Am Tag seiner Rückkehr, dem zwanzigsten Tag nach Sarahs Verschwinden, Henry hatte gerade seinen Koffer im Schlafzimmer abgestellt, rief Carmen an um etwas in Erfahrung zu bringen und wurde von ihm unfreundlich abgekanzelt. Henry hatte kaum den Hörer aufgelegt, als es klingelte. Über den Türsprecher teilte man ihm mit, dass die Polizei ihn zu sprechen wünsche.
Henry öffnete die Haustür, die beiden Labrador-Hunde stürmten den Weg hinunter zum Tor und bellten. Gemeinsam mit zwei Männern in Anzügen kamen sie zurück, als begleiteten sie gute Bekannte, und rieben sich an deren Beinen.
Breuer war einer von den Besuchern. Während er in seinem Dienstzimmer immer die Krawatte gelockert und den obersten Hemdenknopf offen hatte, trat er heute, wie Henry sofort registrierte, korrekt gekleidet auf. Und ein ernstes, ein fast feierliches Gesicht machte er auch noch.
»Ja bitte?« Henry empfing sie an der Haustür. Wenn es nicht sein musste, dann ließ er unangemeldeten Besuch nicht hinein. Auch nicht die Polizei.
»Dürfen wir eintreten?«
Henry gab zögernd die Tür frei, ging voran ins Wohnzimmer und forderte die Beamten auf, Platz zu nehmen. Sie wollten nichts trinken.
»Herr von Rönstedt«, begann Breuer mit pastoralem Unterton, »wir haben eine traurige Nachricht für Sie.«
Henry setzte sich gerade und wirkte angespannt. »Sarah. Was ist mit Sarah? Geht es ihr gut?«
Die beiden Beamten sahen sich an. Breuer sprach, wie vorher mit seinem Kollegen abgesprochen, weiter. »Ja, wir haben Nachricht von ihrer Frau. Herr von Rönstedt, Sie müssen jetzt stark sein.«
Henry war stark, wovon sich der Beamte augenblicklich überzeugen konnte. Henry sprang auf und fasste Breuer an beiden Oberarmen. Mühelos zog er ihn aus dem Sitz.
»Was ist mit Sarah«, stieß er hervor. Deutlich waren die Adern an seinem Hals zu sehen.
»Bitte, Herr von Rönstedt, lassen Sie mich los.«
Henry reagierte nicht. »Was ist mit Sarah?«
»Sie hatte einen Unfall. In Südfrankreich.«
»Ist sie schwer verletzt?«
Breuer schüttelte den Kopf.
»Also leicht verletzt.«
»Ihre Frau ist tot, Herr von Rönstedt.«
Henry erstarrte. Sein Griff um Breuers Oberarme wurde fester, wie zu einer Klammer. Der Beamte verzog schmerzhaft sein Gesicht.
»Tot?«
»Ja.«
»Sarah ist nicht tot«, behauptete Henry. »Sarah ist nicht tot.« Er schüttelte den Beamten, als könnte er ihn dadurch zu einer anderen Aussage bewegen.
»Würden Sie mich bitte loslassen«, presste Breuer hervor.
Henry ließ ihn achtlos in den Sessel fallen, stellte sich ans Fenster, legte die Stirn gegen die Glasscheibe und sprach leise: »Sarah ist nicht tot. Nein, nicht meine Sarah.«
Die Beamten sahen sich an. Ihren Auftrag hatten sie sich leichter vorgestellt.
Wohl fünf Minuten stand Henry am Fenster, bevor er sich wieder den beiden Männern zuwandte und sie anschaute, als hätte er sie erst jetzt entdeckt. Breuer, der erneut mit einer körperlichen Attacke rechnete, machte sich im Sessel klein. Aber Henry schien sich gefangen zu haben. Mit unnatürlich ruhiger Stimme fragte er: »Wie ist es passiert?«
Breuer nickte zu seinem Kollegen Schares, der nahm aus seiner Jacke einen Umschlag und zog zwei beschriebene Blätter hervor.
»Heute bekamen wir Nachricht von unseren französischen Kollegen. Der Unfall geschah bereits vorgestern in der Nähe von Perpignan auf einer bergigen Nebenstraße. Das Auto wurde wahrscheinlich wegen überhöhter Geschwindigkeit aus der Kurve getragen. Ihre Frau, die gefahren ist, und ein Mann verbrannten.«
»Sarah und ein Fahrer? Ein Mann?«
»Ja«, bestätigte der Beamte.
»Wer war es?«
»Der Halter des Fahrzeuges, ein gewisser …« Schares schaute auf dem Blatt nach, »… ein gewisser Armand Molière.«
»Wie alt?«
Die Beamten sahen sich an. Schon seltsam, welche Fragen diesem von Rönstedt in einer solchen Situation einfielen.
»Siebenunddreißig«, wurde Henry geantwortet.
»Nur Sarah und der Fahrer.«
»Ja.«
Henry wanderte im Raum umher und lief dem Muster des Teppichs nach. Er umrundete Sessel und Stühle und eine Couch und blieb vor Breuer stehen. »Wir kennen keinen Armand Molière. Wer ist das?«
»Dozent für Geschichte an einer Universität.«
»So, so. Ein Dozent also. War Sarah länger mit ihm zusammen?«
»Dies hofften wir, eventuell von Ihnen zu erfahren, Herr von Rönstedt«, meinte Breuer. »Da Sie diesen Herrn jedoch nicht kennen, scheint die Version der französischen Polizei zuzutreffen. Sie vermuten, dass Ihre Frau den Mann erst flüchtig kannte und eventuell als Anhalterin mitgefahren ist.«
»Sarah und Anhalterin? Nie und nimmer. Sie ist gekidnappt worden.«
Es dauerte einige Minuten, bis die Beamten Henry vom Gegenteil überzeugen konnten. Und dann boten sie ihm an, alle weiteren Fragen auf der Dienststelle zu klären, weil er nun sicherlich etwas Ruhe benötige. Mit diesem vorgeschobenem Argument wollten sie lediglich erreichen, dass die weitere Unterhaltung auf ihrem Terrain stattfinden sollte, wo sie sich sicherer fühlten. Aber Henry wollte jetzt und auf der Stelle über alles informiert werden.
»Beide sind verbrannt. Woher wollen sie eigentlich wissen, dass es Sarah ist?« Henry schaute die Polizisten an in der Hoffnung, eine Blöße entdeckt zu haben.
»Wir haben ihre Ausweispapiere gefunden und ihre Kleidungsstücke. Das heißt, wir nehmen an, es sind ihre Kleidungsstücke. Hat Ihre Frau das Monogramm SVR?«
Henry nickte. »Sarah von Rönstedt.« »Ja.«
»Wir haben auch den Ehering gefunden. Genauer gesagt, unsere Kollegen aus Frankreich. War ihr Hochzeitstag am 30. Juni?«
Wieder bestätige es Henry. Mit leiser Stimme erklärte er: »Das Datum war im Ring eingraviert.«
»Ihre Frau muss identifiziert werden. Und zwar in Perpignan, sonst geben uns die Franzosen den Leichnam nicht frei. Wie wollen Sie weiter vorgehen?«
Ohne zu zögern antwortete Henry: »Ich fliege nach Perpignan.«
»Das wird wohl das Beste sein. Aber wir müssen Sie warnen. Dem Polizeibericht nach soll Ihre Frau kaum noch zu erkennen sein.«
Am Ende der Woche war Henry wieder aus Frankreich zurück. Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Tod seiner Frau längst herumgesprochen. Sicherlich ist es in Saarburg nicht anders als in allen anderen Kleinstädten und Gemeinden. Gerüchte kommen auf, kursieren, werden verfeinert, viele dichten einfach etwas hinzu, um sich interessant zu machen. Möglichkeiten gab es auf Henry bezogen zuhauf, allein schon die Art und Weise des Unfalls bot genügend Raum für Spekulationen. Wie überall, so streute man auch in Saarburg die Gerüchte in der Absicht, gewisse Wirkungen zu erzielen. Endlich konnte man es dem von Rönstedt zeigen, er war wehrlos. Und bei vielen Bürgern der Stadt schien sich etwas aufgestaut zu haben, was sich nun in den unterschiedlichsten Varianten entlud. Aus der Fahrt per Anhalter wurde die Fahrt mit einem Liebhaber, den Sarah seit Jahren regelmäßig aufgesucht hatte. Einige wussten zu berichten, dass es ihn schon vor der Ehe gegeben habe. Das machte sich besser und setze Henry, wenn er davon erführe, aus Sicht der Urheber einen tieferen Stachel. Und in Saarburg soll er auch schon mal gewesen sein. Im Hotel Am Markt sei er abgestiegen. Das wussten einige ganz genau. Groß war der Franzose, dessen Eltern in Lothringen wohnten, einen Tag später wohnten sie in der Bretagne, braun gebrannt mit langem, welligem, schwarzem Haar. Und er trug eine Brille, wie eben alle Dozenten. Nach wenigen Tagen ergab sich für die Kleinstadt ein genaues Bild des Franzosen: Er war zwischen 1,60m und 2m groß, braun bis schwarz und blond mit Halb- oder Vollglatze, athletisch schlank mit großem Übergewicht, trug eine Brille oder auch nicht, hatte enormes Vermögen und lebte trotzdem von der Sozialhilfe, weil er als Dozent arbeitslos geworden war.
Henry suchte Benedikt Ollenwein, seinen Anwalt, auf, der ihn seit Jahren in geschäftlichen wie auch in privaten Angelegenheiten beriet. Beide kannten sich seit ihrer Schulzeit vom Saarburger Gymnasium. Und beide hatten gemeinsam genügend erlebt, besonders in ihrer wilden Studentenzeit, wodurch sie einander gut einschätzen konnten. Später fertigte Ollenwein für Henry alle Verträge, die juristisch so geschliffen und perfekt formuliert waren, dass Henry dadurch manchen Coup hatte landen können. Allerdings waren Ollenweins Rechnungen auch nicht ohne. Freunde ja, aber Geschäfte, das war etwas anderes.
Henry informierte Ollenwein über Sarahs Tod und seine Frankreichreise und dass selbstverständlich die Polizei eingeschaltet worden sei.
»Ich war in Perpignan und habe mir Sarah angeschaut. Kein schöner Anblick, Benedikt. Kein schöner Anblick.«
»Konntest du sie denn zweifelsfrei identifizieren?«
»Alles verbrannt. Das ganze Gesicht. Hast du schon mal einen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Körper gesehen?«
Ollenwein verneinte und wunderte sich übers Henrys Ruhe.
»Nur an ihren Zähnen konnte ich sie erkennen. Sarah hatte so schöne Zähne. Und am Ehering und den Kleidungsstücken. Natürlich auch an ihrer Figur. Aber alles verbrannt, bis auf eine Stelle am Rücken alles verbrannt.«
»Suchst du mich als Anwalt auf oder als Freund.«
»Brauche ich dich als Anwalt?«
Ollenwein schüttelte den Kopf.
»Siehst du. Ich muss über die Sache reden. Das nimmt einen ganz schön mit.«
»Auf mich machst du einen ruhigen Eindruck.«
»Ich bin eher … wie soll ich sagen, verstört oder irritiert. Mit so etwas rechnest du ja nicht. Und nicht zu vergessen: die letzten drei Wochen mit all der Ungewissheit, also ich sage dir, das kann einen ganz schön fertig machen.«
Durch Nicken signalisierte Ollenwein, dass er Verständnis hatte für Henrys Situation.
»Wann wird sie beerdigt?«
»Anfang der Woche, in aller Stille und im engsten Kreis. Im ganz engen Kreis. Aber behalte das bitte für dich.«
»Gibt es Probleme mit dem Nachlass?«
»Du hast doch unseren Ehevertrag gemacht. Das müsste ich dich fragen.«
Ollenwein lächelte. »Aus dieser Richtung wird es keine Probleme geben, mein lieber Henry.«
Ollenwein fühlte sich verpflichtet, Henry beizustehen und bot seine Hilfe an. Und er fühlte sich verpflichtet, mit ihm noch zumindest ein Bier zu trinken.
»Vielleicht können wir auch noch einen Happen essen. Spät genug ist es ja schon.«
Ollenwein war erstaunt, dass Henry, dem sonst ein Restaurant nie fein genug sein konnte, schon einige Male war er nur wegen eines Abendessens nach Paris gefahren, sich eine ganz normale zünftige Gaststätte an der Saar aussuchte, bekannt für ihren Grillschinken und die Haxen. Ausgerechnet dort, wo man auch noch Saarburger antreffen konnte und ständig der Fernseher lief.
Und noch mehr staunte er, als Henry sich eine Schweinshaxe bestellte, ohne Pasteten, ohne Trüffelsoße und ohne Kaviar. Ohne Vorspeise und ohne Aperitif. Schweinshaxe mit Kartoffeln, Sauerkraut und dazu ein Bier.
»Jeder weiß, dass es in eurer Ehe gekriselt hat.«
Henry schaute kurz auf. »Mich interessieren die anderen nicht.«
»Henry, du bist Geschäftsmann, dich haben andere zu interessieren. Das blaue Auge von Sarah ist stadtbekannt. Alle nehmen an, es stamme von dir. Und nun die Gerüchte mit Frankreich und ihrem Liebhaber, dem Professor, den sie jeden Monat aufgesucht hat.«
Obwohl Henry das Gerücht zum ersten Mal mitgeteilt bekam, interessierte er sich auch dafür nicht sonderlich.
»Die Pinscher brauchen doch etwas, worüber sie sich die Mäuler zerreißen können.«
»Willst du denn nicht gegen einen von ihnen eine Verleumdungsklage anstrengen, damit der Spuk aufhört?«
Henry, mit einem fetten Stück Haxe auf der Gabel, das er gerade in den Mund schieben wollte, sah Ollenwein an. »Und wie wirkt das auf meine potenziellen Kunden, wenn ich einen von ihnen verklage? So etwas spricht sich doch schnell herum.«
Ollenwein zuckte mit der Schulter. »Aber du hättest vorerst Ruhe.«
Henry winkte ab. Keine Klage. Es laufe sich alles tot. Jedes Gerücht werde erst dann richtig interessant, wenn man es mit allen rechtlichen Möglichkeiten zu dementieren versuche.
Nach dem Essen tranken sie einen Mirabellenschnaps. Von der Theke beobachteten sie einige Gäste verstohlen, um anschließend leise zu tuscheln.
»Wie hast du Sarahs Tod verkraftet?«
Henry schien in sich hineinzuhorchen. »Das weiß ich noch nicht so genau. Im Grunde will ich es nicht wahrhaben. Die Wirkung kommt wohl erst noch.«
Ollenwein bot sich erneut an, ihm als Freund zur Seite zu stehen.
»Allerdings«, Henry stockte, »allerdings stellst du mehr und mehr Dinge in Frage, die dir wichtig erscheinen. Warum der ganze Zirkus mit dem neuen Autohaus? Keine Frau, keine Kinder, keine Erben. Etwa für Neffen und Nichten fünften Grades, die sich ins Fäustchen lachen?«
Ollenwein rückte etwas näher und senkte die Stimme. »Zuerst einmal machst du es für dich. Henry, wir brauchen uns nichts vorzumachen. Alles tun wir für uns, nur für uns. Wir beide sind doch die größten Egoisten unter Gottes Sonne.«
Henry wollte zuerst protestieren, aber ein Blick in Ollenweins Gesicht mit dem verschmitzten Lächeln und der Umstand, dass es keinen Zeugen gab, hielten ihn davon ab.
»Ja, du hast wohl Recht.«
»Also beende auch, was du angefangen hast.« Ollenweins Stimme klang pathetisch.
Henry signalisierte Zustimmung. »Ja, man muss eine Aufgabe zu Ende führen. Wie oft habe ich das von meinen Eltern zu hören bekommen. Zumindest in der Schulzeit immer dann, wenn ich eine Fünf mit nach Hause gebracht habe.«
»Wir haben doch nie Fünfen geschrieben, dafür konnten wir zu gut pfuschen.«
»Stimmt auch wieder.« Henry lächelte.
Nach einer halben Stunde hatten sie keinen Gesprächsstoff mehr. Eine Weile schwiegen sie vor sich hin. Henry, der sein Essen beendet hatte, vergaß seine Umwelt und spielte mit dem Salzstreuer, streute Salz auf den Tisch und schob es mit dem Messerrücken zu nicht identifizierbaren Mustern zusammen.
»Hast du schon mal Tote gesehen?«, fragte er ohne aufzuschauen.
»Ja, eine ganze Menge«, bestätigte Ollenwein. »Als Referendar am Gericht in Frankfurt. Jeden Tag einen.«
»Aber das waren alles Fremde.«
Ollenwein nickte. »Monika und ich, wir führen auch nicht die beste Ehe. Aber wenn ich denke, dass Monika …« Er schüttelte sich vor der Vorstellung.
Henry legte das Messer zur Seite, lehnte sich zurück, stützte sich mit den Händen am Tisch ab und sprach mit halb geschlossenen Augen: »Und dann fahre ich nach Frankreich und muss Sarah identifizieren. Kein friedliches Einschlafen – die Augen geschlossen, den Mund auch, die Hände gefaltet – sondern alles verbrannt. Dunkel, fast schwarz. Dann auch wieder rosa und hell. Geschrumpelt die Haut, losgelöst, wie aufgeplatzte trockene Farbe. Die Kleider teilweise in die Haut eingefressen, zumindest deren Kunststoffanteil, wie die Polizei mir erklärt hat. Das gibt dann so komische bleiche Flecken. Schlimm, schlimm.«
Henry stützte den Kopf mit beiden Händen auf. »Du hättest sie sehen müssen. Es wäre dir hochgekommen. Noch nie habe ich so etwas gesehen. Es wäre dir hochgekommen.«
Ollenwein war sich unsicher, wie er sich Henry gegenüber verhalten sollte. Bisher hatte er den Freund immer nur als starken souveränen Typen gekannt, und nun benötigte er allem Anschein nach Hilfe. Für ihn eine vollkommen ungewohnte Situation.
»Vielleicht hätte ich auch alles verhindern können, wenn ich mich nicht so häufig mit Sarah gestritten hätte. Aber jetzt ist es zu spät.« Henry wirkte resigniert. Der Schock saß tief.
»Vorwürfe in dieser Richtung, die machen dich nur noch mehr kaputt«, versuchte Ollenwein ihn aufzumuntern. »Du musst dich ablenken«, riet er dem ehemaligen Schulfreund. »Musst auf andere Gedanken kommen.«
»Weißt du, Benedikt«, Henry sah ihn von der Seite an mit Augen, die Trauer und Niedergeschlagenheit vereinten, »mir ist noch nie so bewusst geworden, dass der Tod etwas Endgültiges bedeutet. Selbst damals nicht, als meine Eltern verstorben sind.«
»Willst du jetzt etwa auch sterben?«, fragte Ollenwein und entschuldigte sich sogleich wieder. Die Bemerkung war ihm herausgerutscht. Und vor einigen Monaten hätte sie Henry nichts ausgemacht. Heute jedoch schien er sensibler zu sein. Auch ein vollkommen fremder Wesenszug an dem Freund.
»Was heißt sterben? Der Tod ist dein ständiger Begleiter. Tod bedeutet Schluss, Ende, Aus. Im Tod bist du allein. Wehrlos und allein. Wenn er kommt, dann kommt er.«
Henry philosophierte über das Leben und den Tod. Er sprach ohne Emotionen und so gleichgültig, als hielte er einen Vortrag. Dabei verbreitete er eine dumpfe, morbide Stimmung. Man könne doch nichts ändern, also solle man immer vorbereitet sein. Noch besser wäre es vielleicht, das Schicksal selbst zu bestimmen. Wie schön müsse doch ein Tod in jungen Jahren sein, mitten aus dem Leben, wenn man nicht daran denke. Aber bitte schnell und ohne Schmerzen. Am besten ein schwereloses Hinübergleiten, vom Schlaf in den Tod. Von einem Schlaf in den anderen, ewig dauernden. In den ohne Erwachen und ohne Rückkehr.
Als Henry nach einer Stunde immer noch auf die gleiche depressive Art mit ihm sprach, nur dunkle Wolken am Zukunftshimmel sah, und er permanent etwas Destruktives verströmte, da war es Ollenwein nicht mehr einerlei.
»Henry, darf ich dir einen Rat geben.«
Als schien er aus einem Traum zu erwachen, schaute Henry ihn an. »Ja, bitte.«
»Gehe zu Klaus Ludevik. Er kann dir besser helfen als ich.«
»Klaus, der Psychologe? Sag mal, hältst du mich etwa reif für die Klapsmühle?«
»Nein, nein«, bemühte sich Ollenwein, Henry zu beschwichtigen. »Aber dein Problem sitzt tiefer und ist kein juristisches. Klaus hilft dir bestimmt.«
»Woher willst du das wissen?«
»Mir hat er auch geholfen. Du weißt doch damals, mit dem Alkohol und dem Unfall. Mir hat er sehr geholfen.«
Henry akzeptierte Ollenweins Vorschlag mit der Einschränkung, dass er auf seinen Rat zurückkäme, wenn es ihm in Zukunft nicht besser gehen würde. Damit war Ollenwein zufrieden. Seine Pflicht hatte er erfüllt.
Die Beerdigung war vorbei. Nur wenige hatte Henry über den genauen Beisetzungstermin informiert. Keine zwanzig Personen, die den huldvollen Worten des Geistlichen gelauscht hatten. Jeder warf eine Schaufel Sand auf den Sarg aus Bronze, Henry schritt eilig davon, damit war die Zeremonie beendet.
Zur Verwunderung aller, die mit ihm zu tun hatten oder ihn beobachteten, wurde Henry in den kommenden Tagen tatsächlich ruhiger, war wieder fast der Alte. Er gewann seine Überheblichkeit zurück, legte aber die Ungeduld gegenüber den Mitarbeitern nicht ab. Henry schien lockerer zu sein, machte manchmal Witze, was wiederum andere nicht angepasst fanden, so kurz nach dem Tod seiner Frau, und ging abends mit Bekannten aus. Er ließ sich sogar zum Besuch einer Diskothek für Ältere überreden, gemeint waren diejenigen zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Dieser Treffpunkt für Singles im Industriegebiet von Saarburg, den Alleinstehende auf der Jagd nach dem Partner, und wenn auch nur für eine Nacht, aufsuchten, war wiederum Thema für ein neues Gerücht.
Henry trudelte mit Jonas und Susi Ellwanger sowie Marek und Gille Achterbusch nach Mitternacht in diesem Etablissement ein, als es dort bereits hoch herging. Susi forderte ihn sogleich zum Tanzen auf. Und sie tanzte so eng mit Henry, dass Jonas unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Unvermittelt kam Henry die Erinnerung an Südafrika und diesen Portugallo, wie er ihn genannt hatte. Der mit Sarah … Wie zum Trotz drückte Henry Susi so fest an sich, dass sogar sie erstaunt war.
»Kompliment«, stichelte Jonas, als sie wieder zurück waren.
»Wieso?«, wollte Susi wissen, die außer Atem zu sein schien und ein Glas Sekt hinunterstürzte.
»Ihr wart die schönsten siamesischen Zwillinge auf der Tanzfläche.«
Henry tanzte, um Jonas zu ärgern, oft mit Susi, erfüllte auch seinen Pflichttanz mit Gille, die er, ähnlich wie Sarah, nicht ausstehen konnte, und forderte sogar wildfremde Frauen auf.
»So kurz nach Sarahs Tod, schon tanzt er mit fremden Weibern«, beschwerte sich Susi, verzog sich schmollend in eine Ecke und trank ein Glas Sekt nach dem anderen. Bis sie nicht mehr tanzen konnte.
Gegen fünf am Morgen kam Henry nach Hause. In der Diele hängte er seinen Mantel auf den Bügel, zog die Schuhe aus und stellte sie in die Kammer. Auf Strümpfen ging er ins Schlafzimmer, entkleidete sich, der Anzug kam ebenfalls auf einen Bügel, wurde jedoch nicht in den Schrank gehängt. Das bedeutete für Mary, sie habe ihn am anderen Morgen zumindest auszubürsten und aufzubügeln.
Und dann duschte Henry ausgiebig.
Nach einer halben Stunde, er war noch nicht müde, saß er im Bademantel im Wohnzimmer und trank eine Bitter Lemon. Wie gewohnt ließ er seinen Blick umherschweifen, auf der Suche nach einer Ordnungswidrigkeit, wie es Sarah in Anspielung auf seinen Tick einmal formuliert hatte.
Henry entdeckte sofort eine, stand auf und verschloss die Schranktür, die wenige Zentimeter offen stand. Anschließend setzte er sich wieder. Zwei Minuten später rückte er ein Bild gerade. Und bevor er wieder Platz nehmen wollte, inspizierte er das Wohnzimmer. Unversehens kam ihm alles unordentlich vor. Der Teppich lag nicht zentriert, der Tisch stand nicht mittig, die Stehlampe war viel zu weit weggerückt vom Sessel, und gegen das Licht betrachtet entdeckte er sogar Streifen auf dem Parkett.
Er änderte nichts an der Unordnung, machte seinen Rundgang und überprüfte, ob auch alle Türen und Fenster verschlossen waren. Um sich ganz sicher zu fühlen, öffnete er den Safe, nahm wie jeden Abend seit Sarahs Verschwinden die kurzläufige 357-er Magnum heraus, schaute nach, ob sie geladen war, ließ einmal die Trommel kreisen und legte sie griffbereit auf den Nachttisch. Vorher jedoch stellte er noch einen Stuhl gegen die sich nach innen öffnende Schlafzimmertür. Er würde mit lautem Geräusch auf dem Parkett aufschlagen und ihn wecken.
Am kommenden Morgen, Henry stand bereits gegen zehn an diesem Sonntag auf und räumte seine Verteidigungsutensilien weg, ging er in die Küche und stellte Mary zur Rede. Aber die stritt alles ab. Und gemeinsam mit Mary ging er dann ins Wohnzimmer und zeigte ihr die außergewöhnliche Unordnung. Mary war fassungslos und eilte so schnell, wie es ihre zu weiten Gesundheitssandalen mit dem breiten Fußbett zuließen, in die Diele, öffnete ihre Handtasche und kam mit einem Zettel zurück.
»Herr von Rönstedt, hier auf diesem Zettel steht alles drauf«, begann sie sich zu verteidigen.
Henry hörte nicht richtig zu. Bei Personal hörte er nie zu.
»Vierzig Punkte habe ich hier aufgeschrieben, mit der Schreibmaschine, fein säuberlich aufgeschrieben. Vierzig Punkte.«
Mary erwartete, dass Henry fragte, welche Punkte das denn seien und warum sie sie aufgeschrieben habe.
»Und wenn der Zettel voll ist, nehme ich einen anderen. Denn ich habe das Original kopiert.«
»Wovon reden Sie eigentlich«, fuhr Henry sie an.
»Von meiner Aufgabe, alles in Ordnung zu halten.« Nervös rückte Mary ihre Nickelbrille mit den kleinen Gläsern zurecht.
»Und was hat das mit dem Zettel zu tun?«
»Hier, Herr von Rönstedt. Teppich exakt in der Mitte des Zimmers. Das habe ich gestern gemacht. Sehen Sie das Häkchen?«
Erstaunt betrachtete Henry sich den Zettel, auf dem am linken Rand die vierzig Punkte aufgelistet waren und auf der oberen Leiste die einzelnen Tage, fortlaufend mit genauer Datumsangabe. Daneben waren Kästchen, in die Mary für diesen Tag eine bestimmte Uhrzeit eingetragen hatte.
»Teppich gestern um zehn nach zwei. Tisch um elf nach zwei. Das ganze Wohnzimmer war um zwanzig nach zwei fertig. Sehen Sie, Herr von Rönstedt?«
»Und der Boden? Die Streifen auf dem Boden?«
Mary schaute zuunterst auf dem Blatt nach. »Wohnzimmer gesaugt, feucht aufgewischt und Boden mit Holzpolitur behandelt exakt um vier Uhr.
Vor soviel Beflissenheit und Akribie hatte Henry Respekt. Das sagte er auch deutlich, und Mary würde den heutigen Tag wohl auch ankreuzen und mit genauer Uhrzeit versehen, denn heute hatte sie zum ersten Mal von ihrem Arbeitgeber ein Kompliment gehört. Und sie würde auch seinem Wunsch entsprechen, ihm jede Woche eine Kopie ihrer Tätigkeiten auf den Wohnzimmertisch zu legen.
Es gibt immer Kriege auf der Welt, mindestens drei oder vier toben zur gleichen Zeit. Flugzeuge stürzen ab, Vulkane brechen aus, Erdbeben zerstören ganze Landstriche, die Fluten reißender Ströme verschlucken sie gleichwohl. Und manch ein Staat droht der ganzen Welt mit einer Atombombe oder mit neu entwickeltem tödlichem Gas.
Aber all das interessierte Henry nicht so sehr wie diese Ordnungswidrigkeiten. Gestern hatte ihm Mary plausibel erklärt, all ihre Pflichten erfüllt zu haben. Heute öffnete er den Schrank in seinem Schlafzimmer und was entdeckte er? Die Anzüge waren nicht in der richtigen Reihenfolge. Achtundzwanzig Anzüge hatte er, damit er wenigstens, wie er einmal scherzte, an jedem Tag im Februar einen anderen anziehen könne, und sie waren stets säuberlich farblich geordnet von hell nach dunkel. Aber da hing ein Dunkelblauer schon an dritter Stelle neben einem hellgrauen. Und der hellste leichte Sommeranzug ganz rechts noch hinter dem Schwarzen.
Mary, auf diesen Umstand hin zur Rede gestellt, brach beinahe in Tränen aus. Sie schwor, nie und nimmer so gehandelt zu haben.
Henry ließ es dabei, vielleicht auch deswegen, weil ihn ihre gewissenhafte, säuberliche Auflistung aller Tätigkeiten so sehr gefallen hatte, und begann zu überlegen. Wer war für die Unordnung verantwortlich? Er selbst schied aus, also blieb nur Mary übrig. Die beiden Hunde gingen nicht an seinen Schrank.
Ich werde wohl besser aufpassen müssen, sagte er sich und gemeint war Mary. Er testete sie auch in den kommenden Tagen, konnte ihr allerdings nichts nachweisen. Dafür jedoch verharrte er gegen Mittag etliche Minuten vor seinem Geschäft im Auto, nachdem er gerade eingestiegen war. Einiges störte ihn ungemein. Sich zur Ruhe zwingend, überlegte er, ob es eventuell nicht doch sein Verschulden sein könnte. Das Autotelefon lag auf dem Beifahrersitz und steckte nicht in der Halterung. Sein Geldspender für Parkuhren, fünfzig Cent- und Eurostücke, war leer. Noch nie in den vergangenen zehn Jahren war er leer gewesen. Heute jedoch war er es. Und seine Sonnenbrille lag auf dem Armaturenbrett. Dazu auch noch mit den Gläsern nach unten. Mit acht Jahren hatte er zum letzten Mal eine Brille mit den Gläsern nach unten gelegt, und zwar die seines Vaters. Ein geschwollener Hintern und sieben Tage Hausarrest, das würde er nie im Leben vergessen!
Aber eines wusste Henry in diesem Augenblick genau: Das konnte er Mary nicht in die Schuhe schieben. Sie hatte keinen Autoschlüssel. Wie er auch überlegte, für diese Ordnungswidrigkeiten kam nur er in Betracht. Und das ärgerte ihn. Leide ich schon unter Gedächtnisschwund, fragte er sich? Dabei erinnerte er sich doch an jede Kleinigkeit, auch wenn sie schon Jahre zurücklag. Auf sein Gedächtnis war er immer stolz gewesen.
Henry verdrängte den Gedanken an seine eigene Schludrigkeit, er war ihm zuwider. Fehler machten nur andere, Schwächen hatte er doch keine. Aber Henry begann über gewisse Dinge nachzudenken. Und er stellte sich selbst auf die Probe, ob alles in seinem Kopf noch reibungslos funktionierte. In den Tagen danach bemerkte er keine eigene Unregelmäßigkeit. Dafür jedoch ertappte er sich, dass er nun nicht nur zweimal, sondern bis zu viermal am Tag duschte und jedes Mal ein frisches Hemd und frische Unterwäsche anzog. Aber mit dem Reinigungstick konnte er leben. Und seine Mitmenschen erst recht. Und abends überprüfte er auch noch ein drittes Mal, ob alles abgeschlossen war.
Wenige Tage später jedoch schien seine Welt einzustürzen. Er erhielt die Rechnung für sein Handy mit der exakten Auflistung aller Gespräche und überprüfte sie wie immer. Kopfschüttelnd entdeckte er einige Nummern mit einhundertneunzig als Vorwahl. Nie und nimmer hatte er eine solche Nummer gewählt. Auf der Stelle musste er dies überprüfen. Kaum verbunden, gurrte am anderen Ende eine Frauenstimme und forderte ihn auf, zuerst einmal Hose und Hemd und Unterhose auszuziehen. Und es sich auf dem Boden bequem zu machen. Henry beendete die Verbindung und schaute sich im Wohnzimmer um. Niemand hatte seinen Anruf mitbekommen.
Die anderen Anrufe waren ähnlicher Art. Hostessen, die ihm per Telefon schöne Minuten versprachen und ihre Dienste anboten.
Henrys Welt war mehr als erschüttert. Nur er allein kannte die Geheimzahl seines Handys. Eingeschaltet gab er es normalerweise nicht aus der Hand, es sei denn, er war in unmittelbarer Nähe und kannte die Person. Und nachts lag es eingeschaltet neben der 357-er Magnum auf dem Nachttisch, weil es schon mal vorkommen konnte, dass die Koreaner ihre Ortszeit als die deutsche betrachteten und kurz nach Mitternacht oder gegen Morgen bei ihm anriefen. Auch wenn er sich jedes Mal über einen solchen Anruf ärgerte, seine Geschäftspartner ließ er es nie spüren.
Handy, Haus, Auto, auf alles hatte er nun zu achten. Und auf sein Büro in Zukunft auch, denn an diesem Morgen stellte er fest, er hatte vergessen, den Computer auszuschalten. Und das auch noch ausgerechnet mit der Seite eines potenten Kunden, dessen teils private Daten für jeden einsichtig gewesen waren.
Aber der Computer war es nicht allein. Die Stifte in der Schale lagen unordentlich herum, die Schreibunterlage war verrückt, Hefter, Lineal und andere Utensilien schienen wahllos verstreut worden zu sein. Und eine Schublade war herausgezogen worden.
Für Henry wuchs und wuchs das Problem, weil es zwischen den einzelnen Ordnungswidrigkeiten außer ihm keine weitere Person als Verbindungsglied gab. Es sei denn, es handelte sich um eine Verschwörung. Mehrere Personen in seinem Umkreis hatten sich zusammengetan, um ihn zu verunsichern, zu brüskieren, um ihn zu ärgern oder was auch immer. Mary könnte dazugehören, überlegte er, sowie ein oder zwei aus dem Geschäft. Aber wie waren sie an sein Handy gekommen? Oder in sein Auto gestiegen?
Und Henry ertappte sich dabei, wie er sich selbst noch mehr kontrollierte. Zwar schalt er sich einen Narren, weil ihm eine solche Verhaltensweise bisher unnötig erschien, andererseits wiederum war er beruhigt, denn er hatte sich trotz reiflicher Prüfung nichts vorzuwerfen. Er war in der Zeit, in der er sich auf gewisse Bereiche konzentriert und sich selbst beobachtet hatte, ohne Fehl und Tadel.
Vielleicht hätte Henry noch alles unter Kontrolle behalten können, wenn da nicht dieser furchtbare Traum gekommen wäre. Vorher hatte er einen Beleg in seinem Anzug gefunden, der, wie er geschworen hätte, längst abgeheftet war, als er an diesem Abend nach einer Sitzung des SUV mit Ellwanger und Achterbusch noch einen trinken ging. In kleiner Runde wollten sie erörtern, wie sie sich als Verband zur Planung eines Parkhauses verhalten wollten. Und zu der Anfrage eines auswärtigen Gewerbetreibenden, gleich neben einem Discounter einen Elektromarkt auf einer Fläche von mehr als eintausend Quadratmetern zu errichten. Besonders der letzte Punkt berührte die drei Unternehmer nicht sonderlich, aber dafür zumindest zwei ihrer Kollegen, die Lampen und Weiße Ware verkauften. Die jedoch gehörten nicht dem inneren Zirkel des SUV an, also hatten sie die Suppe allein auszulöffeln. Und das Parkhaus könnte ruhig noch näher an die Innenstadt rücken. Sie knobelten einen Standort aus, von dem sie alle drei am besten partizipieren konnten. Und genau diesen Vorschlag wollten sie als Verband dem Bürgermeister unterbreiten. Anlässlich eines Abendessens, zu dem sie ihn einladen würden. So wie all die Male zuvor, wenn sie sich seinen Beistand und den des Stadtrates sichern wollten.
Zufrieden über ihre überparteiliche Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit, tranken sie einige Bier und einige Schnäpse. Bier und Schnaps trank Henry nur im Anschluss an die Sitzungen des SUV.
Angeheitert fuhr Henry nach Hause, Polizeikontrollen gab es nicht in Saarburg um diese Uhrzeit. Im Schlafzimmer wäre er beinahe vornüber gekippt, als er seine Schuhe auszog. Dann lag er im Bett und tadelte sich selbst: Henry, du hast deine Schuhe nicht in der Kammer abgestellt. Und dein Anzug liegt auf dem Boden. Und die Zähne geputzt hast du auch nicht. Du lässt dich gehen.
Für Fälle wie heute und auch sonst gab es neben Henrys Bett einen kleinen Kühlschrank mit mindestens zwei Flaschen Mineralwasser und zwei Gläsern. Das nur eine drin stand, und die war auch schon angebrochen, fiel ihm nicht auf. Als Henry in der Nacht Durst verspürte, trank er von dem Mineralwasser – ohne ein Glas zu benutzen. Aber das sah ja niemand.
Und dann kam dieser Traum. Henry fand sich in dem Weinkeller wieder, in den er Sarah eingesperrt hatte. Er saß auf dem Boden, das Licht war an, und er war nackt. Aber der Boden war nicht kalt. Henry saß auf einer Decke. Er erkannte in ihr diejenige, die er Sarah gegeben hatte.
Henry fühlte sich müde, unendlich müde. Nur unter Aufbietung aller Kraft konnte er die Augen offen halten. Und er benötigte diese Kraft auch, um sich zu erheben. Schwankend stand er im Raum. Als er sich über die Augen fahren wollte, bemerkte er, dass seine Hände gefesselt waren.
Henry schaute an sich herunter, sah seinen Penis und die Füße. Um seinen Penis war ein Schleifchen gebunden. Ein blaues Schleifchen.
Henry öffnete den Mund um zu schreien, brachte jedoch nur ein schwaches Krächzen hervor. Er ging tapsig bis zur Tür, die Beine wollten nicht richtig, und versuchte, sie zu öffnen. Vergeblich. Dann rüttelte er an ihr. Nichts rührte sich. Und im Abwenden glaubte er eine Frauenstimme zu hören: Blaue Strampler, blaues Schleifchen. Blaue Strampler, blaues Schleifchen. Henry legte den Kopf zur Seite um zu orten, woher diese Stimme kam. Er schaute hoch zur Decke, dort war außer einem Entlüftungsloch keine Öffnung.
Und wieder hörte er die Stimme: Geh bitte im Kreis. Geh bitte im Kreis. Und Henry, zuerst unschlüssig, ging im Kreis, in einem kleinen Kreis, wegen der Enge des Raumes, ohne sich zu fragen, welchen Sinn es machte. Und während er ging, versuchte er herauszufinden, ob er die Stimme schon einmal gehört hatte. Sie kam ihm vor wie eine aus dem Fernsehen. Engel sprechen dort immer so leise und freundlich zu ihren Schutzbefohlenen. Hatte er etwa auch einen Engel? Aber an einen solchen Humbug glaubte er nicht.
Setz dich auf den Boden, setz dich auf den Boden.
Und Henry setzte sich.
Erzähl mir vom Kindergarten. Komm, erzähle es mir.
Henry wollte zuerst nicht. Er machte doch nicht einfach das, was ihm die Stimme befahl. Noch nie hatte er sich was befehlen lassen. Zumindest nicht mehr in den vergangenen fünf oder zehn Jahren. Mit dieser Einstellung gelang es ihm auch, die Stimme zu ignorieren. Und dann hörte er sie plötzlich nicht mehr. Es war ruhig, sterbensruhig und still in dem kleinen Raum. Und Henry war allein. Aber er wollte nicht allein sein. Er brauchte Gesellschaft. Und schließlich begann Henry zu erzählen. »Es war schön dort«, sprach er. Seine eigene Stimme hatte einen anderen Klang als sonst. Und er redete langsamer, viel langsamer. »Wir spielten den ganzen Vormittag, malten, rutschten, tobten im Sandkasten und schaukelten. Und ich nahm mir jeden Morgen von zu Hause ein Brötchen und etwas zu trinken mit. Kalten Tee. Immer wollten die anderen von meinem Tee trinken. Aber das durften nur diejenigen, die mir ein Stück Schokolade gaben. Und um mehr Schokolade zu bekommen, nahm ich ein zweites Päckchen Tee mit. Dabei ist Schokolade teurer als Tee, aber das bemerkte niemand. Was meine Mami dazu gesagt hat?« Henry schaute in die Richtung, aus der er die Stimme zu vernehmen glaubte. »Sie hat mich gelobt, als ich es ihr erzählte. Und Papa war stolz auf mich. ›Du wirst mal ein guter Geschäftsmann‹, hat er zu mir gesagt. Und wenn ich mich morgens auf den Weg zum Kindergarten machte, da warteten sie bereits auf mich. Hilde und Sophie. Sie nahmen mich in die Mitte, fassten meine Hand und zu dritt gingen wir los. Nur auf dem Bürgersteig. Ich war in der Mitte. Sophie immer links, Hilde immer rechts.«
Und warum hat dich deine Mami so oft geschlagen?
»Ich habe nicht aufgepasst. Habe nicht auf meine Sachen aufgepasst und mich schmutzig gemacht. Oder es war ein Loch in der Hose. Vom Spielen. Auch habe ich einmal einen Schuh verloren. Einen Sonntagsschuh. Am Tag meiner ersten heiligen Kommunion. Als wir auf der Straße Nachlaufen spielten. Plötzlich war der Schuh weg. Einfach verloren. Ein Lackschuh mit Schnalle. Gespuckt habe ich auch. Auf die Blumen im Garten. Und ich habe mir nicht die Nase geputzt. Immer auf den nackten Po bekam ich es. Mit einer Holzlatte. Oder Papas Gürtel. Einmal ist der Gürtel gerissen. Es war meine Schuld. Hätte ich keine Schläge bekommen, dann wäre er ganz geblieben. Dafür gab es dann extra Schläge.«
Nur deswegen?
»Und ich habe einmal beim Spielen Pipi in die Hose gemacht. Mami schlug mir auf mein Pippimännchen. Mit einem dünnen Holzstab. Das tat dann sehr weh.«
Henry schaute an sich herunter und nahm mit gefesselten Händen den Penis in die Hand. Genau darauf hatte ihn seine Mami geschlagen. »Walli hat mich getröstet.«
Wer ist Walli?
»Mein Kindermädchen.«
Und weshalb bist du noch geschlagen worden?
»Weil ich im Kindergarten eine Freundin hatte. Die Hilde. Ich konnte sie gut leiden. Jeden Morgen hat sie auf mich gewartet. Zusammen mit der Sophie. Hilde brachte mir immer Süßigkeiten mit und durfte auf meinem Block malen. Hilde wohnte am Hasenberg. Dort wohnen nur schlechte Menschen, mit denen man nicht sprechen sollte. Aber Hilde war nicht schlecht. Ich habe mit ihr gesprochen. Bis meine Mami das herausfand. Und dann hat sie mich bestraft. Sie hat mir auf die Finger geschlagen, damit ich Hilde nicht anfassen konnte. Und sie hat mir ein Pflaster auf den Mund geklebt. Eine Woche lang durfte ich nichts reden, wenn ich aus dem Kindergarten kam. Und ich musste dazu auch noch im Wohnzimmer in der Ecke stehen. Das war schlimm, denn ich war erkältet und hatte Husten. Mein Kopf ist dick geworden, als würde er platzen. Durch die Nase kam der Schleim heraus. Und dann habe ich nicht mehr mit Hilde gesprochen. Das Pflaster war weg, und in die Ecke musste ich auch nicht mehr. Walli kam endlich aus dem Urlaub und hat mich getröstet.«
Henry lauschte, aber die Stimme meldete sich nicht mehr. Dabei war sie so angenehm und freundlich. Und jetzt war er allein. Wieder ganz allein in diesem schrecklichen Raum. Aber Henry war auch beruhigt. Er fühlte sich sicher und behütet. Weil der Raum abgeschlossen war, konnte niemand zu ihm. Er brauchte also keine Angst zu haben.
Für wenige Minuten genügte ihm diese Erklärung. Dann fragte er sich: Und was ist, wenn jemand einen Schlüssel hat? Dann kann er kommen, wann immer er will. Ohne zu fragen.
Diese Vorstellung behagte ihm nicht, er ging schneller. Und erst jetzt, als er seinen Blick über die Regale schweifen ließ, entdeckte er die Flasche und trank. Das Mineralwasser schmeckte abgestanden. Ob es noch von Sarah stammte? Egal, wenigstens Durst hatte er keinen mehr. Ich habe doch nichts getan, warum werde ich eingesperrt, überlegte er. Und die Fesseln waren auch nicht zu lösen. Er konnte daran reißen und rütteln wie er wollte, sie gaben nicht nach.
Als Henry aufwachte, war er schweißgebadet. Er hatte Kopfschmerzen, ekelhafte, bohrende Kopfschmerzen und das Gefühl, als platze jeden Augenblick sein Schädel. Er schaute zuerst auf seine Hände. Sie waren nicht gefesselt. Und um den Penis hatte er auch kein blaues Schleifchen.
Zuerst nahm er zwei Aspirin, dann duschte er ausgiebig, anschließend wieder zwei Tabletten. Sie halfen allmählich. Und er bemühte sich, seinen Traum zu analysieren. Eines irritierte ihn besonders: Im Traum hatte er sich als Mann gesehen, so wie er jetzt und heute war, aber als kleines Kind gesprochen und gedacht und empfunden.
Einer Eingebung folgend zog er sich an und ging durchs Wohnzimmer und durch die Küche in den Weinkeller. Er wollte das Licht anmachen, aber es funktionierte nicht. Zuerst musste er eine neue Birne eindrehen. Dann sah er sich in dem Raum um auf der Suche nach einem Beweis, dass er hier einen Teil der Nacht verbracht hatte. Er kniete sich auf den Boden, schaute unter die Regale, hob sogar das Gitter des Abflusses hoch, aber einen Beweis entdeckte er nicht.
Zufrieden, dass ihm sein Gehirn keinen Streich gespielt hatte und alles wirklich nur ein Traum gewesen war, erhob er sich und ging zurück ins Wohnzimmer. Als er seine Armbanduhr überstreifte, kam ihm das linke Handgelenk gerötet vor. Und das rechte ebenfalls. Wie von Fesseln. Wie von den Fesseln der vergangenen Nacht, überlegte er. Wohl zwei Minuten stand Henry regungslos und schaute immer wieder auf seine Handgelenke. Hatte er vielleicht im Traum an ihnen gerieben? Das wäre eine Erklärung.
Während er in seinem Büro saß und durch die große Glasscheibe im Verkaufsraum die Kunden und das Personal beobachtete, meldete sich immer wieder sein seltsamer Traum. Und immer wieder betrachtete er sich seine Handgelenke.
»Wenn das so weiter geht, lande ich doch noch bei Klaus auf der Couch«, murmelte er vor sich hin und meinte Klaus Ludevik, den Psychologen.
Bevor Henry zur Mittagszeit in sein Auto stieg, umrundete er es und spähte in das Innere. Er wollte gewappnet sein, falls er eine Unregelmäßigkeit entdecken sollte. Erst als dies nicht der Fall war, stieg er ein und fuhr nach Hause zum Mittagessen.
Mary hatte sich sehr viel Mühe gegeben mit dem Sauerbraten, und Henry lobte sie erneut. Mary wusste nicht, wie ihr geschah. Verlegen schaute sie ihn an. Hinter den Brillengläsern wirkten ihre Augen groß.
»Hat sich das mit den Anzügen geklärt?«, fragte sie und ordnete unauffällig ihren Zopf. Das hätte sie besser nicht getan, denn Henry erstarrte mitten in der Bewegung, ließ das Besteck fallen und stürmte ins Schlafzimmer. Den Schrank aufgerissen, hineingestarrt, und dann erst war er beruhigt. Alles hing so, wie es zu hängen hatte.
Er warf auch noch einen Blick in die Kommode, wo seine Unterwäsche wie für einen Fototermin präsentiert war. Henry nickte zufrieden, alles war in Ordnung. Weil er schon dabei war, auch noch die Küche inspiziert und dort besonders die Schublade für Besteck. Sämtliche Gabeln, Messer und Löffel säuberlich aufgereiht, teils nebeneinander, teils übereinander.
Jetzt erst machte sich Henry über den Rest des Essens her. Zum Nachtisch gab es rote Grütze. Henry aß genussvoll und entdeckte … eine Fliege. Mitten in der Grütze eine Fliege.
Nun war Mary fällig. Aufs Übelste beschimpfte er sie. Wie denn die Fliege in die Grütze komme? Ob sie denn nicht aufgepasst habe?
Wild mit den Händen fuchtelnd stand er vor der eingeschüchterten Haushaltshilfe und hielt ihr eine Standpauke. Näher und näher trat er, und Mary wich vor ihm zurück bis an die Küchenwand.
Mary war mit ihrer Geduld am Ende, nahm all ihren Mut zusammen, zog die Schürze aus, ließ sie einfach auf den Boden fallen und sagte: »Ich kündige. Bei einem Verrückten bleibe ich nicht länger.«
Zuerst wollte Henry so reagieren, wie er immer reagiert hatte. Aufbrausen, schreien, drohen und beschimpfen. Aber nie jemandem nachlaufen, nie eine Schwäche zeigen. Er allein war im Recht. Dann fiel ihm siedend heiß ein, es gab keine Sarah, es gab dann auch keine Mary mehr, nur er und die Hunde. Und die Unordnung.
Henry lief hinter Mary her, die bereits an der Garderobe ihren Popelinemantel anziehen wollte und überredete sie, zu bleiben. Er sei mit den Nerven etwas fertig, kein Wunder, wenn man seine Frau auf solch tragische Weise wie er verloren habe.
Und weil Henry, wenn er es darauf anlegte, durchaus charmant sein konnte, gelang es ihm, Mary, die immer unschlüssiger wurde, zu überreden. Ab dem nächsten ersten bekäme sie auch mehr Gehalt. Mary willigte schließlich ein. Immerhin war sie schon fünf Jahre bei dem jungen von Rönstedt.
Was ist mit mir los, fragte Henry sich wenig später, als er auf der Terrasse stand und das gegenüberliegende Ufer der Saar betrachtete. Was geschieht mit mir? Sehe ich schon grüne Männchen? Leide ich unter Gedächtnisverlust? Oder rede ich mir nur Dinge ein, die sich einfach erklären lassen?
Weil sich in den kommenden Tagen nichts tat, was ihn hätte beunruhigen können, legte sich seine Unsicherheit und er gewann wieder annähernd das alte Format. Seine Mitarbeiter merkten es als erste. Aber wenn Henry ehrlich zu sich war, dann musste er sich eingestehen, dass er lediglich versuchte, mit der äußerlich zur Schau getragenen Selbstsicherheit seine ihn von innen bearbeitende Unsicherheit zu verbergen. Schließlich war man das von ihm gewohnt. Er, der starke, unbeugsame Henry.
Dennoch, obwohl Henry glaubte, er gäbe sich wieder wie sonst, wurde er auch von den Mitgliedern des SUV heimlich beobachtet. Und besonders Jonas Ellwanger beobachtete ihn, nicht nur, weil Henry so eng mit seiner Susi getanzt hatte, sondern weil er am meisten unter Henrys arrogantem Verhalten zu leiden hatte. Henry hatte ihn, den aus ärmlichen Verhältnissen Stammenden, noch nie ernst genommen, von Akzeptanz ganz zu schweigen. Ellwanger war oft von ihm abgekanzelt worden und hatte den Laufburschen spielen müssen. Gerne hätte er sich gewehrt und geweigert, aber Henry hatte nun mal das Sagen und gab seiner Firma viele Aufträge. Und all die Jahre hatte Ellwanger alles geschluckt. Bis heute.
Als sie gegen Ende der Sitzung eine Werbekampagne der Saarburger Unternehmer und die Auflage einer Broschüre beschließen wollten und Henry dafür stimmte, meldete sich Ellwanger sofort wie ein übereifriger Schüler.
»Henry, vor zwei Wochen warst du noch dagegen. Wie kommt das?«
Henry stutzte. »Ich und dagegen?«, protestierte er. »Das wüsste ich aber. Ich war immer dafür. Schließlich bringt es unserem Verband ja auch einiges an Vorteilen. Es geht kein Weg dran vorbei: Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen.«
»Ich weiß genau, dass du dagegen warst«, ließ Jonas nicht locker. »Zu teuer, hast du gesagt, für so einen Firlefanz hätten wir kein Geld. Alles Humbug, der nichts bringt.«
Henry sah Jonas strafend an, aber der blieb bei seiner Aussage. Als dann auch noch Heike Friederich, Inhaberin der Boutique, Jonas unterstützte und überdies Achterbusch zustimmend nickte, als könnte es so gewesen sein, war es mit Henrys Fassung fast vorbei.
»Habt ihr euch gegen mich verschworen«, brauste er auf. »Ich erinnere mich genau. Ich war nie dagegen. Nie!« Henry ballte die Fäuste.
Achterbusch suchte in seinen Unterlagen und fand das Protokoll. Laut und mit einem genussvollen Unterton in der Stimme las er es vor und bestätigte damit die Aussage von Jonas.
Henry gelang es nicht, seine Unsicherheit zu kaschieren. Zwar bemühte er sich redlich, sie zu überspielen, jeder könne sich mal irren. Aber gerade er, der immer so auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis gepocht hatte, sich immer im Recht wähnte, nie einen Fehler machte, litt unter den Blicken der Anwesenden. Besonders unter dem von Jonas, in dem er Schadenfreude herauszulesen glaubte.
Aus diesem Grunde war Henry auch ungewöhnlich ruhig, als anschließend allesamt noch gemeinsam auf ein Bier in eine Kneipe gingen. Henry horchte in sich hinein, starrte dabei auf das Glas, welches er unentwegt mit den Fingern drehte und mit dessen feuchtem Fuß er Muster auf den Holztisch malte.
»Sogar der liebe Gott macht Fehler«, versuchte ihn Achterbusch zu beschwichtigen. Aber Henry verstand die Bemerkung anders, und sie war aus seiner Sicht eine glatte Anspielung auf seine Person. Allerdings reagierte er nicht. Auch wenn Marek und er befreundet waren, zu gegebener Zeit würde er es ihm schon zeigen.
Henry verabschiedete sich nach einem weiteren Bier und fuhr nach Hause. Er betätigte die Fernbedienung, aber das Tor ging nicht auf. Und hinter dem Tor schauten ihn die Hunde an. Neugierig und verängstigt. Einer wedelte ansatzweise mit dem Schwanz.
Henry musste das Tor mit dem Schlüssel öffnen, fuhr hindurch und hatte es auch wieder konventionell zu schließen. So etwas kann schon mal passieren, sagte er sich. Wird wohl die Sicherung sein. Oder ein Fehlkontakt. Und er gab sich das Kommando: Rege dich nicht auf.
Henry lag im Bett, konnte jedoch nicht einschlafen. Irgendjemand fuhr in seinem Kopf Achterbahn. Ganz wahnwitzige Ideen und Gedanken drängten sich ihm auf. Und phantastische Gedankensprünge machte er. Einem Kunden verkaufte er ein Auto, und als Wechselgeld gab er ihm zwei Eimer mit Sand. Und dieser Sand wiederum erinnerte ihn an den Kindergarten. Und weil er im Kindergarten so gerne gemalt hatte, tat er dies auch. Und was kam heraus? Die Umrisse seines neuen Autohauses.
Henry schüttelte den Kopf, als könne ihn das von solchen Eskapaden abhalten. Weil es nicht half, stand er auf. Im Wohnzimmer zog er sich einen Sessel näher ans Fenster, setzte sich und trank einen doppelten Cognac. Dabei legte er die Füße auf die Heizung.
Nach dem ersten Schluck durchzuckte es ihn, dass genau dieses Verhalten von Sarah ihn seinerzeit enorm aufgeregt hatte. Und jetzt mache ich es selbst, stellte er lakonisch fest. Aber es sieht ja keiner.
Der eine Cognac half noch nicht, ein zweiter, dann ein dritter. Die Achterbahn im Kopf wurde ruhiger, seine Gedanken schlichen nur noch, Henry fühlte sich auf Wellen gehoben, schwebte auf und ab und döste ein. Wie lange er geschlafen hatte, er wusste es nicht. Henry wollte aufstehen. Aber er konnte nicht aufstehen. Und dann fragte er sich: Bin ich wach oder träume ich?
Auch das wusste er nicht. Als er jedoch die Augen aufschlug, wusste er genau, er träumte. Er schaute in das helle Licht und ahnte, wo er sich befand: im Weinkeller. Und das Licht war deswegen so hell, weil er persönlich vor einigen Tagen eine neue Birne eingedreht hatte.
Es verwunderte Henry nicht, dass er nackt war. Wie in meinem letzten Traum, sagte er sich im Traum. Und erneut entdeckte er ein blaues Schleifchen um seinen Penis. Und seine Hände waren gefesselt.
Henry lag auf einer Decke. Er wartete. Er wartete auf die Stimme, die ihm befahl, etwas zu tun oder etwas zu erzählen.
»Wo bist du?«, fragte er und schaute um sich.
Keine Antwort.
»Redest du heute nicht mit mir?«
Immer noch keine Antwort.
»Soll ich wieder im Kreis laufen?«
Henry wartete erst gar keine Antwort ab, erhob sich mühsam und lief im Kreis.
»Siehst du, ich mache alles, was du willst«, sagte er und sah zur Decke, wo die Stimme sein könnte. »Und ich erzähle dir auch alles. Was willst du wissen?«
Aber die Stimme meldete sich nicht.
»Wieder vom Kindergarten?«
Als keine Antwort kam: »Also nicht vom Kindergarten.«
Henry tippelte langsam mit kleinen Schritten und murmelte Mal ums Mal: »Also nicht vom Kindergarten. Schön. So gut erinnere ich mich auch nicht mehr. Und die Kindergärtnerinnen waren auch alle doof. Noch nicht einmal die Wände mit Farbe bemalen durfte man. Genau wie zu Hause. Dafür aber brauche ich nicht in einen Kindergarten zu gehen, wenn es da wie zu Hause ist. Nur in die Ecke stellen musste ich mich nicht. Und es gab auch kein Pflaster auf den Mund. Und geschlagen hat man mich nur ein Mal. Aber der Stefan war schuld. Er hat Pipi in Hildes Teeflasche gemacht. Nicht ich. Aber mich haben sie geschlagen. Dabei habe ich Pipi in Christas Trinkflasche gemacht. Die hat vielleicht geguckt? Aber das hat keiner gemerkt. Darf man jemanden für etwas bestrafen, was er überhaupt nicht getan hat? Ich verstehe dich nicht. Darf man? Papa meint ja. Denn wenn etwas nicht stimmte, dann hat er mich bestraft. Obwohl ich es nicht war. Nur weil ich es seiner Meinung nach hätte sein können. So etwas ist doch ungerecht.«
Mehrere Minuten drehte es sich schweigend im Kreis. Zwischendurch legte er den Kopf auf die Seite, als hätte jemand etwas gesagt. Und er schaute wiederholt hoch zur Decke, wo die Stimme, die Engelstimme, das letzte Mal hergekommen war. Engel reden immer von oben zu einem. Das wusste er.
Unaufgefordert begann er schließlich von der Schule zu erzählen. »Ich hatte eine große Tüte, die größte von allen. Und sie war randvoll mit Süßigkeiten. Jeder wollte davon naschen, aber ich habe alles verteidigt. Einem habe ich sogar auf die Hand geschlagen. Als ich wieder nach Hause kam, kontrollierte meine Mami die Tüte. ›Da fehlt ein Stück Schokolade‹, stellte sie sofort fest.,Henry, wo ist die Schokolade hingekommen?’ ›Das weiß ich nicht‹, habe ich geantwortet. Aber natürlich wusste ich es, denn ich hatte sie gegessen. Dabei hat meine Mami gesagt, ich müsse alles, was in der Tüte ist, auch wieder nach Hause bringen.«
Henry hielt inne und lief weiter. »Alles nach Hause bringen«, fügte er hinzu. »Mami hat mich wieder in die Ecke gestellt. Und ich musste zuschauen, wie sie meine Süßigkeiten aufaß. Ein Teil nach dem anderen. Was übrig blieb, hat sie weggeschlossen. Und am kommenden Tag das gleiche Spiel: Ich in der Ecke, meine Mami aß die Süßigkeiten. Eine Woche ging das, dann war die Tüte leer. ›Lass dir das eine Lehre sein‹, hat meine Mami gesagt. Und seit dem Tag hat nie mehr etwas gefehlt. Ich hatte verstanden.«
Henry lief im Kreis und schaute nach oben. »Kann ich mich hinsetzen?«
Ja, du kannst dich hinsetzen, hörte er endlich die Stimme. Henry war erleichtert. »Wo steckst du eigentlich?«
Überall.
»Dann musst du auch hier drinnen sein. Aber ich kann dich nicht sehen.«
Genügt dir nicht, dass du mich hörst?
»Doch, doch, das genügt mir.« Henry setzte sich.
»Zu Hause durfte ich nie auf dem Boden sitzen. Immer auf dem Stuhl, Rücken gerade, Beine zusammen, Hände auf den Oberschenkeln. Immer gerade. Papa hat mir mit Klebeband ein Stück Holz auf den Rücken geklebt, vom Nacken bis zum Po, damit ich immer gerade ging und stand. Besonders sonntags in der Kirche. Unter der Jacke war das Holz versteckt. Ich konnte nur stehen, ganz gerade stehen. Einmal habe ich nicht daran gedacht und mich gesetzt. Die Hose ist mir krachend aufgerissen und alle haben zu mir hingeschaut. Papa ist mit mir sofort nach Hause gegangen und hat mich bestraft. Immer wieder auf den Po mit einem dünnen Gürtel. Und auf den Rücken. Dann hat er mir noch zwei Latten an die Beine gebunden, hoch bis zu den Achseln. Den ganzen Tag musste ich damit stehen und konnte kaum laufen. Und die Haut ist davon rot geworden. An der Hüfte habe ich sogar geblutet. Aber ich habe mich nicht beschwert. Und als ich nach zehn Stunden zusammengebrochen bin, hat sich eine Latte in meine Achsel gebohrt. Aber das habe ich nicht richtig gemerkt, denn ich war bewusstlos. Und zum Arzt hat Papa gesagt, ich sei beim Spielen auf ein Stück Holz gefallen. Dabei hat er zu mir immer gesagt, man darf nicht lügen. Später hat er gemeint, zu anderen dürfe man schon die Unwahrheit sagen, wenn es einem helfe. Nur nicht innerhalb der Familie. Daran habe ich mich auch immer gehalten.«
Henry setzte sich zurecht, den Rücken kerzengerade, Kopf hoch aufgerichtet, Blick geradeaus. »Auf dem Boden sitzt man gut, wirklich gut.« Er rutschte wie zur Bestätigung hin und her. Und er kreuzte seine Beine.
» Wenn man auf dem Boden sitzt, wird die Hose dreckig. Und der Stoff scheuert durch. Das hat Mami immer gesagt. Und beim Picknick hat sie eine Decke ausgebreitet. Einmal haben wir Picknick gemacht. Auf der Decke. Aber an meinen weißen Kniestrümpfen war ein Grasfleck. Ein kleiner Grasfleck. Mami hat den Strumpf gewaschen und ich musste das Wasser trinken. Nun sei der Fleck in meinem Bauch, hat sie gesagt. Und morgen in der Toilette, da wo er hingehört.«
Henry neigte den Kopf, als überlegte er, als reiste er in der Vergangenheit.
Wie hat es dir in der Schule gefallen?
»Schön war es dort, sehr schön. Ich durfte mit jedem reden.
Und mich setzen, neben wen ich wollte. Und ich konnte mir alles ausleihen, die Stifte und das Papier.«
Hast du denn keine Stifte und kein Papier gehabt?
»Doch, aber Mami hat immer alles kontrolliert. Und abends kam dann Papa. Er hat nachgeschaut, ob auch alle Stifte exakt ausgerichtet waren. Die kurzen Stifte oben in der Schale, die längeren darunter, Spitze immer nach links. Damit man sie gleich mit der rechten Hand am richtigen Ende greifen konnte. Aber ich war Linkshänder. Papa hat gemeint, das spiele keine Rolle. Ich solle die Stifte genauso in die Schale legen, wie er es als Junge auch hatte tun müssen. Das habe ich dann auch getan. Zuerst musste ich die kurzen aufbrauchen. Bis sie nur noch vier Zentimeter lang waren. Papa hat das ausgemessen. Dann durfte ich den nächsten benutzen. ›Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert‹, sagte Papa immer. ›Und auch ein kleiner Stift ist etwas wert. Verschwender gibt es auf der Welt genug. Bücke dich auch, um einen Pfennig vom Boden aufzuheben. Das Geld liegt auf der Straße. Nur die Faulen bücken sich nicht.‹«
Henry erzählte, wie er Ordnung halten musste. Der Radiergummi lag neben dem Bleistiftspitzer, und davor stand der Locher. Daneben das Lineal. »Papa hat ein Foto von meinem Schreibtisch gemacht und gesagt, so muss er jeden Abend aussehen. Und Papa war mit mir zufrieden, wenn er das Foto mit dem Schreibtisch verglichen hat. Mami auch. Denn meine Schuhe standen auch richtig im Schrank. Die Fersen an der Leiste, und die Spitzen nach vorn. So blank poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Alles muss im Leben seine Ordnung haben.«
Eine Zeit lang meldete sich die Stimme nicht. Und Henry plapperte vor sich hin. »Wenn man redet, ist man nicht allein. Waren Mami und Papa nicht da, dann habe ich immer geredet. Ich habe mir Fragen gestellt und sie mit anderer Stimme beantwortet. Und dazu habe ich auch meine Stellung verändert. Bin vom Sofa aufgestanden und habe mich neben den Schrank gestellt. Dann dachte ich, ich sei nicht allein. Und wenn ich in den Keller gehen musste, habe ich ganz laut geredet oder ein Lied gepfiffen. Jeder sollte hören, dass ich komme. Keiner brauchte sich zu verstecken. Nein, ich hatte keine Angst. Nie im Leben. Ich habe nur gepfiffen, um die anderen im Keller zu warnen: Jetzt komme ich. Und das hat auch gewirkt, denn ich habe nie jemanden gesehen. Alle haben sie sich vor mir versteckt. Die hatten Angst vor mir. Und wenn mein Zimmer dunkel war, habe ich auch geredet oder gepfiffen. Ich bin sogar ganz alleine in den Wald gegangen. Papa wollte das nicht glauben. Da habe ich ihn mitgenommen und gesagt: ›Du bleibst hier, und ich gehe allein‹. Das habe ich dann auch getan. Und Papa war stolz auf mich. Er kenne keinen Jungen von acht Jahren, der so viel Mut habe wie ich, hatte er gesagt. ›Du bist ein mutiger und tapferer Junge.‹ Ja, genau das hat er gesagt.« Henry schaute zur Decke: »Na, was meinst du? Bin ich mutig und tapfer?«
Aber die Stimme antwortete ihm nicht.
»Ich bin doch allein hier in dem Raum. Das ist ganz schön mutig.«
Wieder erhielt Henry keine Antwort.
»Mit neun bin ich sogar allein in ein altes Haus gegangen. Hinunter in den Keller und hoch ins Dach. Papa hat gesagt, wenn ich das mache, dann gibt es zwei Mark. Die habe ich mir verdient. Und Papa kam oft und hat gesagt: ›Henry, wenn du das machst, dann gibt es zwei Mark.‹ Einmal sollte ich einen Jungen aus meiner Klasse verprügeln. Er hat mir nichts getan. Aber Papa war böse gewesen, weil er mit schmutzigen Fingern über sein gerade poliertes Auto gefahren war. Drei Streifen waren auf dem Lack zu sehen, wenn man sich bückte und gegen das Licht schaute. Und dann habe ich ihn geschlagen. Mein Herz hat ganz wild gepocht. Bum bum, bum bum, bum bum. Aber ich habe die Augen zugemacht und geschlagen. Immer wieder. Und ich wurde auch geschlagen. Nicht von dem anderen Jungen, sondern von mir selbst. Jeder Schlag hat mir weh getan.«
Henry plapperte unermüdlich. Von der Schulzeit bis zum Abitur, erwähnte die Streiche, die sie anderen Schülern und den Lehrern gespielt hatten, erzählte von Freundinnen, mit denen er sich heimlich getroffen und deren Umgang ihm dann seine Mutter verboten hatte. ›Weil sie nicht zu uns gehören‹, habe sie gesagt. ›Und für uns und unsere Probleme kein Verständnis haben.‹ Auf seine Eltern habe er immer gehört. Schließlich seien sie ja auch schon so viel älter gewesen und hätten auch die entsprechende Lebenserfahrung gehabt. Und weil er so brav und folgsam war, hatten ihn seine Eltern stets belohnt. Jede gute Tat verdient Anerkennung’, meinte sein Vater und gab ihm fünf Mark.
Als Henry erwachte, sich in seinem Bett liegend orientierte und irgendwie erleichtert war, dass er nicht im Weinkeller lag, kamen aber bereits die ersten Zweifel. So wie einige Tage zuvor. Hatte er tatsächlich geträumt?
Er schnellte hoch, verharrte einen Augenblick, ihm wurde schwindelig, rannte in den Weinkeller, wollte das Licht anmachen, es funktionierte nicht. Wohl zehnmal betätigte er den Schalter, vergeblich. Ungläubig starrte Henry die Lampe an, als würde sie ihn verhöhnen. Dabei wusste er doch genau, dass er die Birne gewechselt hatte. Eine von sechzig Watt war es gewesen. Matt, nicht durchsichtig.
Für zwei Minuten wusste Henry nicht, was er tun sollte. Schließlich entschloss er sich, zuerst einmal zu duschen. Dabei konnte er stets gut überlegen.
Er frühstückte im Bademantel, Mary bekam vor Verwunderung den Mund nicht zu und vergewisserte sich immer wieder mit schnellen Blicken, ob sie sich auch nicht getäuscht hatte. Und ungekämmt war der Herr von Rönstedt auch noch.
Während Mary den Kaffee ausschenkte, bemerkte sie, dass das Besteck falsch lag. Sie hätte schwören können, gestern Abend richtig eingedeckt zu haben. Noch bevor sie es korrigieren konnte, griff Henry danach, vertauschte es und aß weiter, als hätte er nichts bemerkt.
Mary ging nachdenklich in die Küche, steckte den Zopf mit zwei Klammern fest und fragte sich, was diesen von Rönstedt denn so verändert habe. Und das fragten sich die Mitarbeiter des Autohauses auch, als Henry die Geschäftsräume betrat. Keine Krawatte hatte er umgebunden und die Jacke stand offen. Außerdem trug er die gleichen Schuhe wie am Tag zuvor.
»Ist dir nicht gut?«, wollte Norta wissen, der zweite Geschäftsführer, den er schon von Jugend auf kannte. »Du siehst so blass aus.«
Henry reagierte erst verzögert. »Was … wie bitte? Nein, schon gut, alles in Ordnung«, entgegnete er und betrachtete sich seinen aufgeräumten Schreibtisch und die Oberfläche des ausgeschalteten Monitors. Es war alles in Ordnung.
»Um zehn hast du einen Kundentermin. Es geht um den Sechszylinder. Du weißt, der Kerl will nur mit dir reden.«
Henry nickte, ohne etwas verstanden zu haben. Norta ließ ihm einen Kaffee bringen und spazierte wiederholt an der offen stehenden Tür zu Henrys Büro vorbei, um immer wieder mal einen Blick hineinzuwerfen. Auch nach einer halben Stunde saß Henry noch genauso wie zu Beginn. Und der Kaffee war unberührt.
Gegen zehn teilte man Henry mit, Herr Saitzinger sei da, wegen des Sechszylinders.
Henry schien zu erwachen, nickte mehrmals, stand auf und ging hinaus. Fast apathisch begrüßte er den Kunden und beantwortete stereotyp dessen Fragen.
»Dann sind wir ja soweit handelseinig«, meinte Saitzinger. »Nur über den Preis müssen wir noch einmal reden.«
Henry nickte. »Ja, über den Preis.«
»Ich will noch fünf Prozent Rabatt haben«, forderte der Kunde. »Das wären dann genau fünfunddreißigtausend.«
Wieder nickte Henry. »Ist gut, ich gebe Ihnen das Auto für fünfzehntausend.«
»Wie bitte?« Saitzinger starrte ihn mit großen Augen an.
» Fünfzehntausend.«
Norta war hinzugekommen und wollte Henry etwas ins Ohr flüstern. Aber der ließ sich nicht beeinflussen, er war der Chef. Und der Kunde, ganz unruhig geworden, drängte nun vehement auf die vertragliche Fixierung. Zehn Minuten später hatte er das Auto für fünfzehntausend gekauft.
»Bist du denn verrückt?«, stellte ihn Norta zur Rede. »Du verschenkst dein Geld.«
»Ja, ich verschenke mein Geld.«
»Bitte, Henry, geh nach Hause.«
Henry verließ sein Büro und blieb inmitten des Ausstellungsraumes stehen. Mit lauter Stimme sprach er zu den vier Kunden, die sich verschiedene Modelle anschauten: »Wer zuerst bei mir ist, kann sich hier im Raum ein Auto für zehntausend Euro aussuchen.«
Norta wollte Henry aus dem Haus geleiten, die Kunden verharrten einen Augenblick und überlegten. Einer überlegte schneller als die anderen, hatte aber den weitesten Weg. Und als er zu spurten begann, taten es ihm die anderen nach. Eine Frau war zuerst bei Henry und klammert sich an seine Jacke.
»Stimmt das wirklich, Herr von Rönstedt?«
»Hat ein von Rönstedt jemals sein Wort nicht gehalten?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Welches Auto möchten sie?«
Sie ging nicht auf den teuersten, nicht auf den schönsten und nicht auf den sportlichsten Wagen zu, sondern auf einen Kombi, den praktischsten. »Den hier bitte schön. Ich habe Kinder, und es muss ein Kombi sein.«
»Gut, für zehntausend gehört er Ihnen.«
Norta schaffte es, Henry hinaus zu geleiten und zum Auto zu zerren. Er machte die Tür auf und drückte Henry auf den Fahrersitz. »Zwanzigtausend bei dem Sechszylinder und nur zehntausend bei dem Kombi. Das war ein teurer Tag für uns, Henry.«
Nun, in einem täuschte sich Norta. Zwar verloren sie an dem heutigen Tag einiges an Profit, aber die verrückte Eskapade von Henry sprach sich wie ein Lauffeuer herum und stand sogar zwei Tage später im Kreisblatt und in der überregionalen Zeitung, dem Volksfreund. Am gleichen Tag noch kam ein Bericht im Radio, Ende der Woche baute sich ein Fernsehteam vor der Tür auf und machte Aufnahmen fürs Regionalprogramm.
Sofort setzte ein viele Wochen andauernder Run ein, der Norta die Sprache verschlug. Alle wollten zu Henry, sie lauerten ihn richtig auf. Aber Henry ließ sich nicht blicken. Trotzdem machten sie Umsätze wie noch nie. Schon um ein Mehrfaches hatten sie die Verluste ausgebügelt. Wirklich genial, dieser Henry mit seiner unkonventionellen Marketingstrategie.
Nun, Henry schien dies alles nicht mehr sonderlich zu interessieren. Er schaute täglich im Geschäft vorbei, wurde von Norta abgefangen, bevor sich wartende Kunden auf ihn stürzen konnten, und wieder hinaus oder in ein versteckt liegendes Büro geleitet. Er solle sich ein bisschen entspannen. Aber Henry konnte sich nicht entspannen. In seinem Kopf schwirrten viele Geister, die ihm das Entspannen erschwerten. Und so befolgte er nach zwei Wochen den Rat seines Rechtsanwaltes Ollenwein und suchte Klaus Ludevik auf. Ludevik war eigentlich Schulpsychologe, aber daran störte sich Henry nicht. Ihm genügte es, dass er ihn kannte und Vertrauen zu ihm hatte.
Nach wenigen Minuten gab Ludevik seiner Assistentin zu verstehen, sie möge bitte alle weiteren Termine des Vormittages absagen.
Zuerst jedoch sprang Henry, nachdem er sich gerade erst hingesetzt hatte, auf, öffnete das Fenster, warf einen Blick hinaus, öffnete die Tür zum Vorzimmer, schaute nach, wer dort sein könnte und ließ sie einen Spalt offen.
»Ich brauche Luft«, meinte er zu Ludevik. »Frische Luft«, fügte er hinzu, nickte heftig und nahm wieder Platz. »Frische Luft kann man nie genug haben.« Henry schielte aus den Augenwinkeln zu der geöffneten Tür.
Ludevik, nicht sonderlich erpicht auf diese Weisheiten, meinte: »Jetzt von vorn, Henry. Erzähle mir bitte, wie alles angefangen hat.«
Henry redete eine halbe Stunde monoton und ohne Pause, als lese er eine Geschichte von einem Blatt ab.
»Es begann also alles mit dieser Unordnung, die jemand extra gemacht hat, um dich zu ärgern.«
»Genau.« Henry schien nun etwas lebhafter zu werden.
»Schon Sarah war unordentlich. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja. Besonders mit dem Geschirr und dem Besteck und den Sesseln und Bildern.«
»Verstehe.« Ludevik machte sich Notizen. »Deine Haushaltshilfe Mary und all die anderen sind es auch.«
»So ist es.«
»Wie lange ist denn Mary schon bei euch?«
Henry wusste es nicht genau. »So um die fünf Jahre oder etwas mehr.« »Und wie heißt Mary mit richtigem Namen?«
»Maria Oberhausen.«
»Ledig oder verheiratet?«
Henry musste passen. »Ledig«, vermutete er.
»Und warum trägst du heute keine Krawatte?«, fragte Ludevik, der Henrys korrektes Auftreten kannte.
»Die hat jemand versteckt.«
»Hast du denn nur eine Krawatte?«
»Nein, ich habe sehr viele. Aber heute ist Donnerstag, und donnerstags trage ich immer die blaue mit den gelben Punkten.«
Ludeviks Gesicht wurde nachdenklich. »Mit den Schuhen ist es auch so, nicht wahr?«
Henry schüttelte den Kopf. »Ich kaufe mir von jedem Modell, das mir gefällt, mindestens drei oder vier Paar.«
»Und warum sind die Schuhe nicht geputzt?«
Henry schaute an sich herunter. »Weil es die von gestern sind.«
»Und die von heute?«
Henry zuckte mit der Schulter.
»Sind die für heute nicht geputzt worden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Oder hast du sie nicht gefunden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann hast du also einfach die von gestern angezogen, Henry.«
Henry überlegte. »Ja, so ist es.« Und als müsse er sich entschuldigen: »Aber sie standen im Schlafzimmer.«
Ludevik kombinierte, dass dort immer die geputzten Schuhe zu stehen hatten, wollte jedoch nicht weiter nachfragen, ihn interessierte ein anderer Aspekt wesentlich mehr.
»Deine Träume, erzähle mir von deinen Träumen.«
Es ging schon auf Mittag zu, als Henry aufhörte. Ludevik hatte sich mehrere Seiten Notizen gemacht. Nun sah er nicht mehr nur nachdenklich aus, sondern besorgt.
»Waren das alle deine Träume?«
Henry verneinte.
»Welchen hast du mir noch nicht erzählt?«
»Den von vergangener Nacht.«
»Und warum nicht?«
Henry druckste herum und antwortete nicht.
»Würdest du ihn mir bitte auch erzählen?«
Henry stand auf, warf erneut einen Blick aus dem Fenster, schaute auch in das Vorzimmer und ließ die Tür wiederum einen Spalt offen. Unschlüssig blieb er mitten im Raum stehen, neigte den Kopf leicht, als lausche er und schien alles andere zu vergessen.
»Henry … der letzte Traum.«
»Was …? Ach ja, der Traum.« Henry fand sich wieder in Ludeviks Praxis und damit in der Realität ein, setzte sich, zog etwas die Beine an, drückte die Arme an die Brust und legte die Hände in seinen Schoß. Langsam und leise begann er zu erzählen.
Es begann damit, dass er zum zweiten Mal die defekte Birne ausgewechselt hatte. Und dann wartete er jede Nacht darauf, dass sich der Traum wieder einstellen würde, der Traum mit dem ehemaligen Weinkeller. Nach vier Nächten war es so weit. Aber Henry hatte sich präpariert. Beim letzen Traum hatte er die Wand angeritzt, aber am kommenden Tag war davon nichts mehr zu sehen. Und als er jetzt aufwachte, sich im erhellten Verließ wiederfand, tastete er im Traum, wie er meinte, hinter das rechte Ohr. Diese Bewegung ließ die Fesselung gerade noch zu. Und Henry entfernte hinter seinem Ohr ein kleines Pflaster und klebte es an die Innenseite des Regalbodens. Von außen war es nicht zu sehen.
Unaufgefordert setzte sich Henry auf die Decke und wartete auf die Stimme. Aber sie meldete sich nicht. Wiederholt forderte er die Stimme auf, etwas zu ihm zu sagen. Vergeblich.
»Was willst du denn jetzt noch von mir wissen?«, fragte er und schaute sich um. »Meine Kindheit kennst du bereits. Und auch meine Schulzeit. Wieso interessierst du dich eigentlich so für mich?«
Er erhielt keine Antwort.
»Willst du denn nicht wissen, wie es weiter geht? Meine Studentenzeit? Und wie ich in den Betrieb eingestiegen bin?«
Und weil auch jetzt niemand antwortete: »Gut, dann also nicht. Dein Pech. Ich schweige wie ein Grab.«
Wohl zehn Minuten hielt sich Henry daran. Plötzlich sprang er auf und lief umher. Zwei kurze Schritte in die eine, Drehung um einhundertachtzig Grad, zwei kurze Schritte in die andere Richtung. Unvermittelt begann er zu lachen und zu kichern. »Will einfach nichts mehr wissen«, murmelte er vor sich hin. »Kann zuerst nicht genug bekommen, und nun will sie einfach nichts mehr von mir wissen. Bin wohl uninteressant geworden. Ein von Rönstedt ist immer interessant. Egal, was er tut oder was er sagt. Kapiert? Und deshalb siehst du dich getäuscht. Ich erzähle einfach, und du hast mir zuzuhören. Hast du verstanden?«
Als keine Antwort kam: »Natürlich hast du verstanden. Melde dich, wenn ich aufhören soll. Und nun höre gefälligst zu.«
Aber zuerst setzte Henry seine seltsame Wanderung fort. Dabei fuchtelte er mit den gefesselten Händen umher, als gäbe es Fliegen zu vertreiben. Und seine Lippen formten stumme Worte. Dann wiederum stieß er mit den Händen nach vorn, als gelte es, sich gegen einen Feind zu wehren. Dabei kicherte Henry. Sicherlich hatte er ihn gerade besiegt.
»Noch keine Woche war ich zum Studium in Mainz, da kam meine Mami mich besuchen. Sie brachte mir was zu essen mit und frische Unterwäsche. Und sie war sehr von meinem Apartment angetan. Alles war an seinem Platz. Dann wollte sie auch noch die Universität sehen und die Vorlesungsräume. Den Gefallen habe ich ihr getan. Zufällig trafen wir einen meiner Professoren. ›Dass Sie mir ja gut auf meinen Jungen aufpassen‹, hat sie zu ihm gesagt. Der hat sich vielleicht gewundert! ›Für meinen Jungen ist nichts gut genug. Er ist etwas Besonderes.‹
In der Mensa rümpfte sie die Nase. Hier könne man doch nicht essen, das sei doch so wie in einer Kaserne. Und seit diesem Tag, Mami hat mein Taschengeld erhöht, aß ich immer in einem Restaurant. Schön gedeckt und sauber, nicht so viele Leute und nicht so laut. Und die Tischdecken immer weiß. Und der Tisch auch immer richtig eingedeckt, weil man mich bald kannte. Na, hast du das schon gewusst?« Henry schaute hoch. »Oder ist das neu für dich? Es ist doch nicht neu für dich, stimmt es? Du kennst mich doch.«
Henry erhielt keine Antwort und plapperte weiter. »Meine Mami hat Angst bekommen vor den vielen Studentinnen. Kurze Röcke, enge Blusen und dazu auch noch geschminkt. Du lässt dich doch wohl nicht mit denen ein, hat sie gefragt. Du weißt doch überhaupt nicht, aus welchem Elternhaus sie stammen. Und dann die vielen Krankheiten, die es gibt. Nimmst du auch täglich deine Vitamine? Ja, Mami, habe ich gesagt. Zwei Pillen am Tag und ein Glas Orangensaft auf nüchternen Magen. Jeden Morgen. Das ist brav von dir. Lassen dich die Mädchen wenigstens in Ruhe? Dabei hat Mami mir über die Haare gestreichelt und mir einen Kuss gegeben. Ich habe mich etwas geschämt, denn gerade in dem Augenblick gingen zwei Studentinnen vorbei, die ich kannte. Und meine Mami sagte auch: Mein Junge, gib acht, Frauen sind schlecht. Sie wollen nur das eine: sich einen reichen, gut aussehenden Mann angeln und ihm ein Kind andrehen. Sieh dich also vor. Mach uns keine Schande. Dein Vater würde das nicht überleben.«
Henry machte eine Pause, blieb stehen und schaute sich in seinem engen Raum um. »Komisch, das hier kommt mir bekannt vor. Ich habe ein Mädchen kennen gelernt, und da war auch so ein kleiner Raum, und eine Decke auf dem Boden. Aber das Licht war nicht an. Und Mami hat Recht behalten. Sie hat mich auf die Decke gezogen und war auf einmal nackt. Aber ihre Haut roch gut, nicht so, wie Mami gesagt hat. Und sauber war sie auch. Was wir getan haben, das hat mir gefallen. Am kommenden Tag taten wir es wieder. Jetzt erinnere ich mich auch, wo das war. Bei ihr zu Hause auf dem Speicher. Sie hat im Hunsrück gewohnt, bei Simmern, genau auf der Strecke nach Hause. In einem alten Bauernhaus. Ich habe sie immer mit meinem Auto mitgenommen. Es gab dafür Benzingeld. Nicht viel, immerhin zehn Mark. Und dann ist Mami auf einmal wütend geworden. Und Papa noch mehr. Er hat mich geschlagen, seit Jahren wieder geschlagen, obwohl ich einen Kopf größer war als er. Und dann hat er geweint. Ich habe mich gewehrt und zu ihm gesagt, er solle das nie wieder tun. Dabei habe ich ihm die Hände festgehalten, dass er sich nicht rühren konnte.
Und mein Papa hat geweint. Ich habe Papa noch nie weinen sehen. Mami hat ihn später getröstet und gesagt, das bekäme sie schon wieder hin. Mami ist zu dem Mädchen gefahren und zu ihren Eltern und hat mit ihnen gesprochen. Und die waren einverstanden. Sie hat es dann wegmachen lassen. Mami hat gemeint, jetzt gäbe es keine Schande mehr. Jetzt sei wieder alles in Ordnung.«
Ludevik sah von seinen Notizen auf und beobachtete Henry. Der blickte aus dem Fenster. Keine Regung war in seinem Gesicht zu sehen. Henry erweckte den Eindruck, als sei er entrückt. Seine Gedanken waren auf einer weiten Reise.
»Wann hattest du diesen Traum?«
Henry reagierte nicht.
Der Psychologe fragte ein zweites Mal.
»Was?« Henry schaute Ludevik an. »Ach so. Vorgestern. Ja, richtig, vorgestern. Aber es war kein Traum.«
»Wieso war es kein Traum?«
Mit besonderer Betonung, um seiner Stimme Glaubhaftigkeit zu verleihen, antwortete Henry: »Ich war wirklich in dem Weinkeller.«
»Woher kannst du das wissen?«
»Weil ich am anderen Tag das Pflaster unter dem Regalboden gefunden habe.« Henry lächelte triumphierend. »Ich habe mich überlistet.«
Ludevik erkannte die innere Zerrissenheit von Henry. Auf der einen Seite erzählte er ihm all seine Träume um wenig später zu behaupten, es seien keine Träume gewesen, zumindest nicht in dem gerade vorhin geschilderten Fall. Ihm kam es vor, als blockierte Henry sich selbst, indem er nach logischen Erklärungen suchte und seinen Träumen mit dem Verstand begegnen wollte. So wie die Henrys Auffassung nach gewiefte Aktion, sich mit Hilfe eines Pflasters zu überlisten. Ludevik ahnte schon jetzt, sie würden kein Pflaster finden. Und das wiederum erklärte ihm, Henry konnte Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden.
»Darf ich mir den kleinen Raum gleich mal anschauen?«
»Warum nicht.« »Gut. Dann hätte ich noch einige Fragen. In welchem Monat bist du geboren?«
»Oktober, dreißigster Oktober. Weltspartag.«
»Und wann haben deine Eltern geheiratet?«
»Im Mai.«
»Und in welchem Jahr?«
»Im gleichen Jahr.«
Also sechs Monate vorher. Ludevik nickte, als hätte er so etwas erwartet. Und als könne er nun einige Zusammenhänge verstehen.
Zehn Minuten später führte Henry ihn in den Weinkeller. Als er das Licht anmachen wollte, war die Birne defekt.
»Heute morgen brannte sie noch«, verteidigte er sich und wechselte sie erneut aus. Bei Licht kniete er sich auf den Boden und schaute unter das Regal. »Hier muss es doch irgendwo sein«, murmelte er vor sich hin.
Ludevik bückte sich und sah selbst nach. Aber er konnte kein Pflaster entdecken.
»Bist du sicher, dass du es an diese Stelle geklebt hast?«
»Ja, absolut.«
»Aber ich sehe nichts. Wo könnte es sonst sein?«
Henry erhob sich und zuckte mit der Schulter. »Klaus, ich weiß es nicht. Aber ich schwöre, ich habe es hier hingeklebt. Genau unter dieses Regal.«
Ludevik schaute erneut nach und sah nichts. Dafür jedoch war weiter hinten in der Ecke etwas unter den letzten Pfosten geschoben worden. Er nahm es an sich. Ein Stück ausgefranster Stoff, der Rest eines Taschentuches. Und er roch etwas. Als wenn der Raum erst kürzlich gereinigt worden wäre. Am stärksten roch es in der Nähe des Bodeneinlaufes.
Ludevik erhob sich, ließ seinen Fund in der Hose verschwinden und ging mit Henry ins Wohnzimmer. Er kannte es von früheren Besuchen. Besonders aufgeräumt kam es ihm heute nicht vor.
»Henry, kannst du in den kommenden Tagen bei mir vorbeischauen?«
»Warum?«
»Ich möchte mit dir reden.«
Henry blockte ab. »Habe viel zu tun. Autos verkaufen sich nun mal nicht von selbst. Außerdem bin ich nicht krank.«
Ludevik verstand diese Haltung nicht, weil Henry ihm schon so viel erzählt hatte. »Natürlich bist du nicht krank. Aber ich bin sehr neugierig. Und ich möchte mit dir herausfinden, wo das Pflaster abgeblieben ist.«
Aber alles an Henry war Ablehnung. Jedoch hatte Ludevik den Eindruck, dass diese Ablehnung nur vorgeschoben war, sozusagen als Schutz vor der Erkenntnis, er brauche vielleicht doch diese Gespräche.
»Henry, wir machen ein Spiel.«
Henry schaute ihn skeptisch an. »Was für ein Spiel?«
»Beantworte mir bitte ganz ehrlich drei Fragen. Sagst du jedes Mal ja, dann kommst du zu mir, einverstanden?«
»Was soll der Quatsch«, erboste sich Henry. »Was ist daran ein Spiel?«
Ludevik merkte, dass Henry wieder aggressiver wurde, und direkter, so wie er ihn kannte. Er reimte sich zusammen, dass mit größerem zeitlichem Abstand zu den Erinnerungen und Träumen sich bei ihm auch wieder die Normalität einstellte.
»Bitte nur drei Fragen, aber ganz ehrlich beantworten. Abgemacht?«
»Also gut.«
»Hattest du als Kind Angst?«
»Nein, nie …«
»Ehrlich, Henry.«
»Als Kind?«, fragte dieser zurück und neigte den Kopf, um sich besser erinnern zu können. Ludevik nickte.
Henrys Stirn war gerunzelt, die Lippen hatte er geschürzt. »Nun, als Kind vielleicht schon«, gab er schließlich zu..
»Also ja.«
»Kinder dürfen doch wohl ab und zu mal Angst haben, oder nicht?«
»Bist du als Kind häufig geschlagen worden?«
»Niemals.«
»Auch nicht, wenn du etwas angestellt hast?«
»Dann bekommt doch jeder eins hintendrauf.« »Wenn ein Bleistift nicht ordentlich lag? Du dich schmutzig gemacht hast? Na, bist du geschlagen worden?«
Schließlich meinte Henry, es sei schon mal vorgekommen. Vielleicht, weil seine Eltern enttäuscht waren und er ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte. Eltern trugen immer Erwartungen an die Kinder heran. Sozusagen ein Idealbild, welches sie selbst früher nicht erfüllen konnten. Das sei doch ganz normal.
»Und die letzte Frage: »Wenn du träumst, siehst du dich dann als Mann, so wie du jetzt ausschaust?«
»Ja. Wie in einem Spiegel.«
»Aber du redest und denkst wie ein Kind, wie damals, vor vielen Jahren. Oder wie ein Heranwachsender.«
Henry nickte heftig. Das war die Erklärung. Kinderträume, Jugendträume. Ihn quälten Kinder- und Jugendträume. »Und ich empfinde auch so.«
Trotz der Antworten war Henry nicht bereit, Ludevik in der Praxis aufzusuchen. Das sei alles Humbug, nur Gerede, bringe ja doch nichts. Mit Logik komme man weiter. Er tippte sich gegen die Stirn. Graue Zellen, die arbeiteten und aktiv seien. Auf die könne er sich immer verlassen. Jede funktioniere hervorragend. Seine Geschäftspartner könnten davon ein Lied singen. Und seine Feinde auch. Denen habe er es immer gegeben. Mit Köpfchen. Alles andere bringe doch nichts.
»Was soll es denn bringen?«, wollte Ludevik wissen.
Henry wurde schlagartig ruhig und nachdenklich. Mehr zu sich selbst antwortete er mit leiser Stimme: »Dass meine Träume aufhören.«
»Und warum sollen sie aufhören?«
»Weil … weil …« Henry blickte sich Hilfe suchend um.
»Weil du Angst vor ihnen hast.«
Wenige Tage später platzte Henry bei Ludevik mitten in eine Sitzung. Er wirkte aufgelöst und sehr erregt. Ludevik konnte ihn in einen anderen Raum locken, setzte seine Assistentin zu ihm und kam selbst bereits nach wenigen Minuten zurück.
Ohne Begrüßung und ohne Einleitung sprudelte es aus Henry hervor: »Ich sehe mich wie einen Spiegel. Ich tue Sachen und beobachte mich. Es sieht so aus, als stünde ich daneben.«
»Wenn du träumst oder auch sonst?«
»Auch sonst. Im Geschäft zum Beispiel. Oder gestern Abend auf der Burg beim Essen. Ich habe gesehen, und zwar von der Seite aus etwa einem Meter Entfernung, wie ich die Gabel zum Mund geführt habe. Und das auch noch mit der falschen Hand. Ich bin Linkshänder.« Henry stand auf und öffnete das Fenster. Die Tür wollte er auch offen stehen lassen, aber im Vorraum saß die Mitarbeiterin von Ludevik. Notgedrungen schloss er sie wieder.
Ludevik machte sich Notizen. »Hast du allein gegessen?«
»Nein.« Henry rückte den Stuhl zurecht, mit den Vorderbeinen exakt an eine Fuge im Parkett, setzte sich und schaute zum Fenster hinaus.
»Und wie sahst du die anderen?«
»Normal, vollkommen normal aus meiner Position am Tisch. Frontal oder so. Nur mich sah ich von der Seite, als stünde ich neben mir. Klaus, sag mir, was ist das?«
Ludevik war mehr daran gelegen, Henry zu beruhigen als ihm jetzt schon eine Lösung anzubieten. Er gewann erneut den Eindruck, Henry wolle sich als klar denkender Mensch, so wie er sich sah, nicht eingestehen, dass er träume. Die Realität, das Bewusste, kämpfte deshalb mit dem Unbewussten. Und um das Unbewusste zu erklären, bemühte er seine scheinbare Logik. Und diese Logik lieferte ihm auch prompt eine Lösung: Er stand daneben und konnte nur sich selbst beobachten. Allerdings entdeckte Henry nicht den Widerspruch, wie er es anstellen konnte, neben sich selbst zu stehen.
»Du beobachtest dich. Du merkst, etwas stimmt nicht und kontrollierst dich, um dich davon zu überzeugen, dass es nicht so ist. Damit du Gegenmaßnahmen ergreifen kannst. Deshalb diese andere Sichtweise.«
Henry beugte sich nach vorn, stützte die Arme auf und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei nicht ich selbst. Als ich das letzte Mal bei dir war, hier in diesen Räumen, kam es mir auch wie ein Traum vor. Aber später, bei mir zu Hause, da warst du Realität. Das geht mir oft so. Später warst du Realität, als ich etwas zeitlichen Abstand gewonnen hatte. Klaus, was ist das?«
Ludevik hütete sich davor, ein Urteil abzugeben. Aber Henry ließ nicht locker. Und so umschrieb Ludevik das Verhalten, was er bei anderen kennen gelernt habe, beschönigend als Identitätskrise, ohne das Wort paranoid zu erwähnen.
»Habe ich auch eine?«, fragte Henry, nun schon ruhiger geworden.
»Haben wir nicht alle irgendwann mal eine?«, scherzte Ludevik.
»Weich mir nicht aus.«
»Henry, so weit bin ich noch nicht. Aber eine solche Krise ist nichts Schlimmes. Viele haben so etwas.«
Henry sah ihn skeptisch an. »Verheimlichst du mir auch nichts?«
»Nein, Ehrenwort.«
»Nur gibt es sicherlich auch unterschiedliche Ausprägungsarten. Stimmt es? Harmlose und weniger harmlose.«
»Wie überall«, wich Ludevik aus. »Warum bist du heute gekommen?«
»Um dir zu sagen, dass ich manchmal neben mir stehe, mein eigener Beobachter bin. Ich sehe, wie ich mich falsch oder anders als sonst benehme und will eingreifen. Aber es geht nicht. Ich selbst habe zu mir keinen Kontakt.«
Ludevik bot seine Hilfe erneut an. »Möchtest du jetzt mit mir über gewisse Dinge reden, offen und frei reden?«
Henry zögerte mit der Antwort. »Weiß ich noch nicht. Bisher habe ich all meine Probleme selbst gelöst.«
»Und früher waren es deine Eltern.«
»Ja, kann man sagen. Aber das ist schon lange her.«
»Und wie löst du deine Probleme?«
»Indem ich nachdenke und erst dann entscheide. Hier, mit Logik. Mit Köpfchen.« Henry tippte sich mit einem Finger gegen die Schläfe. So wie vor ein paar Tagen.
Ludevik lächelte. »Das ist gut, wirklich gut. Also hast du ja auch nachgedacht und entschieden, zu mir zu kommen. Folglich willst du dein Problem lösen.«
Zögernd gab Henry dies nach einer Weile zu. Ludevik hatte ihn mit den eigenen Argumenten gefangen.
»Dann wollen wir auch gleich damit beginnen. Henry, seit wann ist die Ordnung bei dir so stark ausgeprägt?« »Schon immer«, antwortete der Angesprochene fest, ohne lange nachzudenken. Und wiederholte: »Schon immer.«
»Aber es muss einen Anfang geben.«
Henry überlegte. »Als Kind vielleicht, da hat es angefangen, ganz früh als Kind. Ich glaube, meine Eltern haben mich so erzogen. Ja, so könnte es angefangen haben. Kinder werden doch immer von Eltern erzogen.«
»Was haben sie getan oder gesagt?«
Henry überlegte erneut. »Ordnung ist ein Gerüst, haben sie gesagt. Ein Gerüst für dich und dein Leben. Wenn du Ordnung hältst, dann weißt du genau, wo alles ist und du kannst immer direkt darauf zurückgreifen. Du brauchst nicht zu suchen. Das spart Zeit und Geld. Und außerdem bist du anderen gegenüber immer im Vorteil.«
Ludevik nickte und schrieb. »So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. Ich kenne dich nur als ordentlichen Menschen.«
»Ist das was Schlimmes?«
Ludevik lächelte. »Keineswegs. Es hilft wirklich. Ich zum Beispiel habe fast keine Ordnung und bin immer am Suchen. Manchmal stundenlang. Da geht natürlich viel Zeit verloren.«
»Siehst du!« Henry grinste ihn an.
»Gut, zurück zu deiner Ordnung. Deine Eltern haben also darauf hingewirkt und dich unterstützt, dich gefördert. Kann man das so sagen?«
»Nur am Anfang. Später nicht mehr«, verbesserte Henry.
»Ab wann nicht mehr?«
»Hm, ich würde sagen …, so etwa mit zwölf oder dreizehn. Ja, zwölf oder dreizehn.«
»Ab diesem Zeitpunkt war also dein Zimmer immer aufgeräumt, dein Schreibtisch, dein ganzes Leben.«
»Nicht nur mein Zimmer. Alles in unserem Haus. Ich konnte blind bei Dunkelheit in die Küche gehen und wusste genau, wo der Dosenöffner war. Oder wo das Spültuch hing.«
»Das hat dir doch enorm geholfen.«
Henry nickte. »Sicher, das kann man so sagen. Ja, es hat mir wirklich geholfen, bis heute hat es geholfen. Zuerst einmal soll sich jeder in seinem Bereich und in seinem Leben zurechtfinden, bevor er es bei anderen versucht. Die meisten Menschen haben in ihrem Leben keine Ordnung.«
»Wer sagt das?«
»Meine Eltern haben das gesagt.«
»Versuchst du es auch bei anderen mit der Ordnung?«
»Wenn sie wollen, dann helfe ich ihnen auch, Ordnung zu machen und zu finden. Ordnung ist eine Lebenseinstellung. Ordnung ist, so wie bei mir, ein Teil von mir selbst. Ist die Straßenkarte meiner Persönlichkeit … oder so.«
»Interessant.« Ludevik war über das Papier gebeugt und man hörte schwach das Schaben des Stiftes. »Ungewöhnliche Einstellung, Henry, wirklich ungewöhnlich. Und wie ist das mit deiner Kleidung?«
Henry zuckte mit der Schulter. »Was soll damit sein?«
»Immer, wenn ich dich gesehen habe, warst du so überaus korrekt gekleidet.«
»Ist da was Falsches dran?«
»Nein.«
»Vergiss bitte nicht, ich bin Geschäftsmann und repräsentiere eine Automarke. Eine weltbekannte Automarke.«
»Ist mir schon klar. Ging das einher? Ich meine die Ordnung und das korrekte Ankleiden?«
»Eines gehört zum anderen«, wurde er von Henry belehrt. »Du kannst nicht nur in einem Bereich deines Lebens ordentlich sein. Wenn, dann in allen. So etwas ist angeboren.«
Ludevik sah es anders, aber das behielt er für sich. »Und wie hat sich das geäußert?«
»In meiner Kleidung?«
»Ja, ich meine die Ordnung und deine Kleidung.«
»Reinlichkeit und Ordnung und Kleidung gehören zusammen. Ich habe jeden Tag mindestens ein frisches Hemd angezogen, später zwei. Und ich dusche mehrmals täglich. All meine Anzüge sind säuberlich gebürstet und gebügelt in meinem Kleiderschrank.«
»Du hast sie der Reihe nach aufgehängt?«
»Ja, von hell nach dunkel.«
»Mit den Schuhen das Gleiche?«
»Richtig.« »Und Socken und Unterhosen?«
»Auch. Aber nicht von hell nach dunkel. Ich habe nur helle Unterhosen, genauer gesagt weiße, aus Baumwolle, die man kochen kann. Oder zumindest mit neunzig Grad wäscht. Erst dann gehen alle Keime kaputt und die Unterwäsche ist auch wirklich sauber.«
»Bist du von selbst darauf gekommen?«
»Ich weiß nicht.«
»Oder hat das deine Mutter gesagt?«
Henry überlegte. »Ja, kann sein«, gab er zu. »Kann sein. Keime muss man töten, sonst töten sie einen, hat sie immer gesagt.«
»Wie oft wäschst du dir am Tag die Hände?«
»Sehr oft.«
»Kannst du es genauer sagen?«
»Och, nach der Toilette sowieso, wie sich das gehört, und eigentlich immer, wenn ich etwas angefasst habe.«
»Etwas Schmutziges?«
»Etwas angefasst habe«, verbesserte Henry.
»Auch, wenn du einem die Hand gibst?«
Henry nickte. »Aber natürlich. Schon als Kind. Weiß ich denn, was der andere vorher angefasst hat?«
»Bei jedem? Machst du das bei jedem? Egal, wer dir die Hand gibt? Auch bei Freunden und Bekannten? Auch bei mir?«
Henry gab sich ausweichend. »Bei Mami und Papa nicht.«
»Und Sarah?«
»Bei ihr später auch nicht mehr.« Henry wurde unruhig.
»Später heißt, danach nie mehr?«
Henry antwortete nicht.
»Habe ich das richtig verstanden?«
Henry druckste herum. »Als Sarah vor einem Jahr so unordentlich wurde, da habe ich mir wieder die Hände gewaschen.«
Während Ludevik anschließend, Henry war länger als eine Stunde geblieben und hatte sich vieles von der Seele geredet, wie er meinte, seine Unterlagen überflog, wurde er immer nachdenklicher. Besonders, als er wieder die Passage entdeckte, in der Henry über Frauen sprach. Sarah sei nicht so ordentlich gewesen wie er. Deshalb habe es Spannungen gegeben. Außerdem habe sie nur ein-, höchstens zweimal am Tag geduscht. Und auf die Frage, ob ihn das gestört habe, hatte Henry geantwortet: Nicht immer. Aber wenn wir intim wurden, dann schon. Mit der Zeit habe Sarah das gemerkt und immer vorher geduscht. Besser gesagt gebadet. Sarah habe gerne gebadet und sich dabei entspannt.
Henry hatte auch zugegeben, dass er schon sehr früh bei den ersten Kontakten mit Mädchen auf Reinlichkeit geachtet habe. Das sei ihm von seiner Mutter so beigebracht worden. Und darüber sei er auch froh. Ein frischer Atem sei doch was Feines. Oder wenn eine Bluse nach Stärke rieche, die Haare dufteten.
Kurz darauf, so erinnerte sich Ludevik, wollte er von Henry wissen, ob er auch oft geduscht habe, wenn etwas Unangenehmes vorgefallen sei. Zuerst hatte Henry sich vor einer Antwort gedrückt, es dann aber doch zugegeben. Anschließend habe er sich unbelasteter gefühlt und auch sauberer und freier und leichter. Er habe einfach das Unangenehme weggespült.
»Auch wenn du mit Sarah Streit hattest?«
»Ja, besonders dann. Ich habe mich anschließend viel freier gefühlt.«
»Und Sarah war dadurch stets am Streit schuld gewesen.«
»Sarah war immer schuld gewesen«, verbesserte Henry.
Auf die Frage, ob er wisse, dass er sich damit vor gewissen Dingen und vor unangenehmen Problemen geschützt habe, antwortete Henry nicht. Und auch nicht auf die Feststellung, dass er dadurch Schwierigkeiten ausgewichen sei. Er habe sie nicht gelöst, sondern sich sprichwörtlich von ihnen gereinigt. Nachdem Ludevik so deutlich geworden war, hatte Henry einige Minuten nichts gesagt und schließlich darauf bestanden, zu gehen.
Ludevik hatte ihm noch etwas zu erklären versucht. »Henry, ich sehe in dir zuerst einmal dich als Person, wie ich sie kenne. Erst dann eventuell den Patienten. Deshalb rede ich vielleicht anders mit dir als mit meinen anderen Patienten. Natürlich bin ich auch gefühlsmäßig wesentlich stärker involviert. Hoffentlich ist das gut. Hoffentlich kann ich dir helfen. Und wenn du einen deiner Träume hast, rufe mich ruhig an, auch wenn es mitten in der Nacht ist.«
Achterbusch feierte seinen fünfunddreißigsten Geburtstag. Auch die halbrunden Geburtstage wurden im SUV entsprechend gefeiert. Überhaupt ließ man keine Feier aus. Dass man sich dabei stets im gleichen Kreis bewegte, störte niemanden. Und damit der Kreis auch in der Freizeit der gleiche blieb, fuhren viele gemeinsam in Urlaub. Etliche hatten sich eine Wohnung auf Gran Canaria gekauft. Man nannte sie die Gran Canaria Connection. Nicht genug damit, hingen sie auch noch im Tennisclub oder in anderen Vereinen zusammen. Die Elite war immer unter sich. Und wollte es auch bleiben. Elitäre Unzucht hatte es mal einer genannt. Und weil Saarburg als Stadt so klein und beschaulich war, hatte er hinzugefügt: schmalspurige, elitäre Unzucht, die zwangsläufig zur Dekadenz führt. Erst recht, wenn man sich auch noch gegenseitig heiratet.
Der betreffende Saarburger hatte sich mit dieser Bemerkung sehr viele Feinde gemacht. Vergessen würde man ihm das nie.
Achterbusch beabsichtigte zuerst, zu Hause im Garten zu feiern, aber das Wetter spielte nicht mit. Deshalb war er ausgewichen und hatte sich einen Saal gemietet, gleich an der Saar mit Blick auf die Burg.
Henry kam spät. Er war der letzte Gast. Hatte man ihn auch früher schon über Gebühr beachtet, wegen seines Erscheinungsbildes und seines Gehabes, heute Abend schauten alle Anwesenden höchst verwundert auf ihn. Während er noch bis vor wenigen Wochen hoch aufgerichtet und stocksteif den Raum betreten und durchschritten hätte, heute kam er lässig auf Achterbusch zu, eine Hand in der Hosentasche und in der anderen eine Zigarette. Aber das war es noch nicht allein. Henry trug Jeans, darüber ein Hemd, das ihm aus der Hose hing. Sein Kragen stand offen, im Gesicht spross ein Dreitagebart, das Haar hatte sich erfolgreich gegen einen Kamm gewehrt. Er sah wild und draufgängerisch aus. Seine Augen funkelten. Jeder, den er anschaute, senkte den Blick. Und Henry roch bereits nach Alkohol.
»Alles Gute zum Geburtstag«, gratulierte Henry laut und die Anwesenden hielten den Atem an. Er gab Achterbusch die Hand, hatte aber kein Geschenk dabei.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Achterbusch und zog Henry auf die Seite. »Willst du einen Kaffee?« »Deinen Kaffee kannst du dir in den Arsch stecken«, antwortete Henry mit schwerer Zunge. »Gib mir was Kräftiges. Einen Scotch.«
Henry nuckelte an dem Whiskey und starrte vor sich hin. Viele zeigten Verständnis für ihn, denn es sei nun mal nicht leicht, wenn man seine Frau verloren habe. Und das auf so schreckliche Art und Weise. Aber andere wiederum lachten sich heimlich ins Fäustchen. Endlich. Endlich benahm sich Henry so, dass es sich lohnte, über ihn herzuziehen. Endlich wurde er in ihren Augen normal und angreifbar. Die Bataillone der Neider formierten sich, die aufgesparte Munition konnte also verschossen werden. Was für ein Fest.
Gille, Achterbuschs Frau, bemühte sich um Henry. Aber dieser konnte sie immer noch nicht leiden und ließ sie das auch spüren. Dann wagte sich Susi zu ihm.
»Henry, du gefällst mir, so wie du dich gibst.«
Henry sah sie mit stumpfen Augen an. »So? Ich gefalle dir?«
»Ja. Aber auch sonst. Heute jedoch besonders.«
»Wieso heute besonders?«
»Du bist so … so … wie soll ich sagen, so außerhalb jeder Norm. So animalisch und wild. Einfach irre.«
»Interessant. Außerhalb jeder Norm. Das habe ich ja noch nie gehört. Wo ist denn dein Jonas?«
Susi zuckte mit der Schulter.
»Nicht hier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er wollte nicht. Aber wegen so einem Miesepeter lasse ich mir doch diesen Geburtstag nicht durch die Lappen gehen. Soll er nur zu Hause schmollen.«
»Krach, was?«
»Ja.« Sie hakte sich unter. »Wollen wir etwas trinken?«
Henry war nicht abgeneigt, Susi zog ihn auf die Seite und kam mit zwei Glas Sekt zurück. Oder war es doch Champagner?
»Henry, wenn du ein Problem hast, dann kannst du ruhig mit mir darüber reden«, bot sich Susi an.
Henry schien nicht zugehört zu haben. Und als sie ihr Angebot wiederholt hatte, sagte er: »Susi, mein einziges Problem bist im Augenblick du. Weil du mir auf den Geist gehst.«
Susi verzog sich, Henry trank und starrte und stierte und trank. Ludevik stellte sich neben ihn.
»Du suchst nach der falschen Lösung, mein Freund.«
Henry betrachtete sein Glas, als sei es der Trog der Weisheit. »Aber sie gefällt mir. Im Kopf schwimmt alles, es ist so schön dumpf, du wirst müde und schläfst gut ein. Und am anderen Tag hast du vieles vergessen. Das nenne ich eine schöne Lösung.«
»Darf ich dir einen Rat geben?«
»Du bist der einzige, der mir einen geben darf. Die anderen kotzen mich an. Ekelhaft. Diese Wichser und Schmarotzer. Guck nur, wie sie uns beobachten und geifern.«
Ludevik schaute sich im Saal um. »Verreise. Mache Urlaub. Mindestens zwei Wochen. Norta ist ein guter Geschäftsführer, der schmeißt den Laden. Fahr also in Urlaub. Am besten ganz weit weg. Südsee oder so. Florida.«
Henry grinste.
»Heißt das, du bist einverstanden?«
Er verneinte.
»Und warum grinst du so?«
»Norta, mein Geschäftsführer. Er ist wirklich gut. Je weniger ich tue, desto mehr steigt unser Umsatz. Mein Geschäftsgeheimnis habe ich ganz klar erkannt: Es ist die Kunst des Weglassens. Ich lasse mich weg, schon läuft es. Hoffentlich kommen auch mal die Politiker drauf. Prost.«
Ludevik war, obwohl Henry sehr viel getrunken hatte, beruhigt über die Art, wie er sich gab. Sein Verstand funktionierte noch ausgezeichnet, trotz des Alkohols.
»Was machen deine Träume?«
Henry wackelte mit dem Kopf. »Der Alkohol hilft. Manchmal bin ich zu betrunken, um träumen zu können. Und dann auch wieder zu müde.«
»Ich habe gehört, Sarah hat auch getrunken?«
Ludevik hatte kaum ausgesprochen, als er merkte, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Henry erstarrte, richtete sich auf, biss die Lippen zusammen und warf das Glas gegen die Wand. Wie von Sinnen fauchte er den Psychologen an: »Du Dreckschwein, nimm nie wieder das Wort Sarah in den Mund.
Und vor allem behaupte nie wieder, dass sie getrunken hat. Sarah war eine feine Frau, die beste auf der Welt, du hättest ihr noch nicht einmal die Füße küssen dürfen.«
Ludevik wollte Henry beschwichtigen und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Fass mich nicht an«, schrie er. Mittlerweile hatten alle mitbekommen, was sich abspielte. Die Gespräche verstummten, und die Gäste drehten sich in Henrys Richtung, um das Schauspiel besser verfolgen zu können.
Und dann wandte sich Henry an die Anwesenden. »Was glotzt ihr so? He, was glotzt ihr so? Ihr kennt mich doch. Oder wollt ihr wissen, wie es mir geht? Ob ich um meine Frau trauere? Sie ist doch erst einen Monat tot, und schon gehe ich wieder auf einen Geburtstag. Stört euch das? Soll ich mich zu Hause einschließen?« Henry lachte irr und deutete auf einen Mann. »Mein lieber Boris. Boris Hennekämper. Du mit deinem Eisenwarenlädchen. Wenn ich dich so anschaue, dann bist du auch schon tot. Kein Lebender kann so aussehen. Und dein Laden ist wie ein Beerdigungsinstitut. Nur Tote kommen zu dir. Und du legst sie alle in den Sarg und verschacherst sie. Aber vorher drehst du alle Schrauben raus, damit du sie noch ein zweites Mal verkaufen kannst. Boris, Boris, du bist tot und weißt es nicht. Du Glücklicher.«
Ludevik gelang es, Henry hinaus zu geleiten und in ein Taxi zu setzen.
»Was brauche ich ein Taxi, da drüben auf dem Berg wohne ich«, beschwerte sich Henry und zeigte auf die andere Saarseite neben die Burg. »Da wohne ich.«
»Ich weiß. Henry, wenn wieder ein Traum kommt, rufe mich bitte an. Versprichst du das?«
Zwei Tage später wurde die Polizei gerufen. Nachbarn beschwerten sich über den Lärm auf dem Grundstück des von Rönstedt. Jemand fahre wild mit dem Auto auf und ab und es gäbe laufend Fehlzündungen. Das knalle dann wie Gewehrschüsse.
Als die Beamten an dem schmiedeeisernen Tor ankamen, sahen sie Autoscheinwerfer, die zwischen den Bäumen tanzten.
Da niemand auf ihr Klingeln aufmachte, stiegen sie über das Tor und gingen zum Haus. Sie wussten, die von Rönstedts hatten Hunde, aber es kam ihnen keiner entgegengelaufen.
Nach wenigen Metern näherte sich statt dessen ein Auto, brach durch die Hecken, schleuderte und raste die Auffahrt hinunter auf sie zu. Die Beamten sprangen zur Seite, das Auto bremste vor dem Tor, wurde gewendet und schoss mit durchdrehenden Rädern die gleiche Strecke wieder zurück. Aber nicht auf der gepflasterten Zufahrt, sondern daneben auf dem weichen Boden, wo sich die Räder einwühlten und Erdbrocken hinter sich schleuderten. Im Auto saß Henry von Rönstedt. Das Fenster war heruntergelassen, er hatte einen Arm auf die Tür gelegt, die Musik übertönte das Motorengeräusch, dumpf hämmerten die Bässe. Und während Henry fuhr, trank er aus einer Flasche.
Als er nach wenigen Metern aus dem Gesichtsfeld der Beamten verschwunden war, ertönten auch wieder diese Fehlzündungen. Die Beamten jedoch kannten sich aus, griffen zu ihren Dienstpistolen und liefen geduckt weiter. Henry hatte abrupt vor der Garage gebremst, den Rückwärtsgang eingelegt, war ins Rosenbeet gefahren und kam nun nicht mehr frei. Mit einigen schnellen Schritten waren die Beamten neben Henry, rissen ihm den Revolver aus der Hand und zerrten ihn aus dem Auto. Henry war total betrunken und konnte sich nicht auf den Beinen halten. Erstaunt klotzte er die Beamten an und lallte unverständliches Zeug. »Ein von Rönstedt lässt sich so etwas nicht bieten«, konnten sie unter all dem Geplapper heraushören. Die Beamten achteten nicht darauf, packten ihn an den Oberarmen, stützten ihn beim Gehen und brachten ihn ins Haus. Einer ging wieder hinaus, stellte den Motor und die Scheinwerfer ab.
Henry ließ sich in einen Sessel fallen und stierte die Beamten an.
»Wer seid ihr?«, lallte er.
Die Polizisten stellten sich vor.
»Und was macht ihr hier?« Henry verteilte Speicheltröpfchen auf dem Tisch. »Hier auf meinem Anwesen?«
»Nachbarn haben sich beschwert über die Lärmbelästigung.«
Mit einer verächtlichen, wegwischenden Handbewegung antwortete Henry: »Ich habe keine Nachbarn.«
»Bei dem Lärm, den sie gemacht haben, hat in Saarburg jeder Nachbarn«, erklärte der kleinere Beamte. Aber Henry verstand nicht, wie er das gemeint hatte.
»Haben Sie einen Waffenschein, Herr von Rönstedt?«
Henry erhob sich schwankend und torkelte aus dem Wohnzimmer. Wenige Minuten später war dieser Punkt geklärt. Henry war im Besitz eines Waffenscheines.
Die Beamten, die seine private Situation kannten, gaben sich moderat und wollten ihn nicht provozieren. Sie wussten, das war bei von Rönstedt sehr leicht möglich. Deshalb belehrten sie ihn auch nicht – er hätte am anderen Tag sowieso nichts mehr davon gewusst – und gaben sich mit der Zusicherung zufrieden, dass er sich jetzt ruhig verhalten werde. Mit dem Auto konnte er sowieso nicht mehr fahren. Das musste aus dem Rosenbeet geschleppt werden.
Henry, der stupide nickte, immer wieder zu den Flaschen in der Bar schielte, versprach erneut, sich ruhig zu verhalten. »Ich bin ein braver Bürger.«
Einer der Beamten steckte Autoschlüssel und Revolver ein, ohne Henry zu fragen. »Der wird sich an nichts mehr erinnern«, sagte er zu seiner Rechtfertigung. »Außerdem stellt er heute Nacht damit auch keinen Unsinn mehr an.«
Aufregung um Henry gab es einen Tag später, als er nur mit einer Unterhose bekleidet in der Leuk badete – zum Schwimmen war der etwas aufgestaute Bach nicht tief genug – und sich in Richtung Wasserfall bewegte. Und der stürzte gut fünfzehn Meter in die Tiefe. Vor vielen Jahren hatte es einer versucht und den Sturz überlebt. Aber da hatte die Leuk auch mehr Wasser, das die tückischen Felsen umspülte.
Inzwischen hatten sich viele Passanten versammelt, aber keiner griff ein. Im Gegenteil, einige Jugendliche forderten ihn auf, doch endlich herunterzuspringen. Schließlich sei das kinderleicht. Oder habe er etwa keinen Mut? Unter den Schaulustigen waren auch Touristen, die eifrig Fotos schossen. In Saarburg bekam man schon was geboten für sein Geld.
Gerade noch rechtzeitig konnte die Feuerwehr alarmiert werden, die aus der Aktion eine Übung machte, ein Netz spannte und Henry rechtzeitig vor dem Sturz in die Tiefe abfangen konnte. Henry hatte zum Erstaunen aller nichts getrunken.
Ludevik wartete seit Tagen. Ende der Woche war es so weit, an einem Samstagmorgen. Er wurde darüber informiert, dass Henry in der Stadt auf ungewöhnliche Art und Weise unterwegs war. Mehrmals riefen ihn Bekannte an, die Henry in der Stadt gesehen hatten. Und keine fünf Minuten später klingelte es an seinem Privathaus. Ludevik öffnete, vor ihm stand Henry. Barfuß und in einem Schlafanzug. Die Jacke stand offen, vom Gesicht rann ihm der Schweiß über die Brust bis hinunter auf den Hosenbund.
»Mein Gott, wie siehst du denn aus?«
»Lass Gott aus dem Spiel, lass mich lieber rein«, keuchte Henry. Er zwängte sich an Ludevik vorbei ins Haus, warf noch einen Blick zurück, als fühle er sich verfolgt, und steuerte auf dessen Wohnzimmer zu. Schwer atmend und mit einem Seufzer, als sei er ein alter Mann, plumpste er in einen Sessel. Wenige Augenblicke später sprang er auf, öffnete das Fenster, schaute über die Brüstung und nahm dann wieder Platz.
»Hier bin ich«, stieß Henry hervor. »Hier bin ich.« Er streckte die Beine aus und erweckte den Eindruck, als sei er bereit. Ludevik wusste nur noch nicht, wozu.
»Du hattest wieder diesen Traum?« Ludevik, der inzwischen Henrys Marotten kannte, ließ die Tür zum Wohnzimmer geöffnet, so dass Henry hinaus in die Diele schauen konnte.
Henry lachte schrill. »Traum sagst du? Es war kein Traum, es war Wirklichkeit. Es war die Hölle. Verstehst du, Klaus? Ich habe die Hölle hinter mir. Die Hölle.« Von unten schaute Henry den Psychologen an. »Die Hölle«, betonte er noch einmal und beugte sich nach vorn. Deutlich zeichneten sich die Adern an seinem Hals ab.
Ludevik setzte sich zu ihm. Henry sah mitgenommen und schlecht aus. Tiefe Falten, unrasiert, und die Haare wirr und fettig. Nicht nass vom Schweiß, sondern fettig, als hätte er sie Tage nicht gewaschen. Henrys Finger waren ebenfalls schmutzig. Dunkle Ränder unter den Nägeln und erdfarbene, verkrustete Spuren auf dem Handrücken. Und dann erst der Schlafanzug. Er starrte vor Dreck. Ludevik glaubte, Reste von Erbrochenem zu erkennen, erhob sich und ging zu einer Anrichte. Unaufgefordert stellte er einen Schnaps vor Henry. Der kippte den Alkohol mit einem Zug hinunter. Und anschließend trank er noch ein Glas. Henry schmatzte, seine Gesichtszüge entkrampften sich, als ginge es ihm nun besser und er entspannte sich sogar für wenige Sekunden.
Ansatzlos sprang er dann jedoch wieder hoch, als sei er gestochen worden, und stapfte auf und ab. Drei Schritte, Drehung, drei Schritte zurück, erneute Drehung. Zuerst brabbelte er unverständliches Zeug vor sich hin und fuchtelte mit den Händen. Schließlich wurde er lauter und sprach deutlicher. »Kein Traum, Klaus, kein Traum. Nur Wirklichkeit, alles Realität. So wahr, wie ich hier bei dir bin. Jemand hat mich gefangen gehalten. In meinem eigenen Haus gefangen gehalten. Im Keller. Zwei Tage oder drei. Was haben wir heute?«
»Samstag.«
»Dann fast drei Tage. Seit der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Ja, in der Nacht ging es los. Schrecklich, sage ich dir, einfach schrecklich. Und das in meinem eigenen Haus.«
Henry blieb kopfschüttelnd vor Ludevik stehen. Die Schultern hingen nach vorn, seine Brust wirkte eingefallen, nichts war mehr von der gewohnten Spannkraft und Dynamik zu erkennen. »In meinem eigenen Haus. Woanders, das könnte ich ja noch irgendwie verstehen, aber nicht in meinem eigenen Haus.« Henry beugte sich zu dem Psychologen. »Hast du eigentlich zugehört?«
Ludevik registrierte mit Erschrecken, in welch rasantem Tempo sich Henrys Symptome verstärkten. »Ja, Henry. Drei Tage gefangen in deinem eigenen Haus.«
Henry nickte und richtete sich etwas auf. »Sollen wir die Polizei rufen? Das ist doch … Freiheitsberaubung. Und Kidnapping. Verstehst du? Das ist ein Verbrechen. Man darf einen unbescholtenen Bürger nicht einsperren. Das ist gegen das Gesetz.«
»Das entscheiden wir später. Wir beide.« Ludevik sah ihn aufmunternd an, aber Henry bemerkte das nicht. »Henry, jetzt höre ich zu. Ich habe es dir versprochen. Komm immer, wenn du diesen Traum hast. Erinnerst du dich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte Ludevik: »Darf ich ein Tonband mitlaufen lassen?«
Henry zögerte, willigte dann aber doch ein.
»Wann fing alles an?«, fragte Ludevik.
»Ha, wann fing alles an. Vor vielen Jahren, einer kleinen Unendlichkeit. Ich weiß es nicht mehr.«
»Ich meine deinen letzten Traum.«
»Vor … ja vor … vor drei Tagen. In der Nacht. Wieder bin ich aufgewacht. Es war wie immer. In meinem Weinkeller. Decke auf dem Boden, und ich saß drauf. Meine Hände waren auch gefesselt. Wie immer. Und lange tat sich nichts. Ich habe gewartet, auf diese Stimme gewartet. Die des Engels. Aber Engel reden wohl nicht, wenn man will sondern nur dann, wenn es ihnen passt. Ich musste lange warten. Und ich habe in der Zwischenzeit mit mir gesprochen. Ich war ja ganz allein. Ich habe mit mir gesprochen. Lange und laut, damit jeder es hören konnte. Ich habe keine Geheimnisse. Und ich bin immer lauter geworden. Vielleicht war außer mir noch jemand im Haus. Er sollte mich hören und mir helfen kommen.«
Henry schnappte nach Luft, er hatte die Worte hektisch hervorgestoßen, fast ohne zu atmen.
»War noch jemand im Haus?«, wollte Ludevik wissen.
»Natürlich. Einer muss mich doch eingesperrt haben.« So wie Henry schaute, war Ludeviks Frage überflüssig. Die Antwort ergab sich doch von selbst.
»Und wie bist du wieder herausgekommen?«
Henry stand am Fenster und starrte Ludevik an, als sei er geistig nicht auf der Höhe. Langsam und überdeutlich antwortete er: »Weil er mich wieder rausgelassen hat, Klaus. Verstehst du? Er hat mich wieder rausgelassen. Und zwar derselbe, der mich eingesperrt hat.«
Ludevik hatte verstanden und gab sich die Anweisung, nicht so viel zu fragen, sondern diesen Henry reden zu lassen. Aber der schwieg im Augenblick.
»Hattest du Angst vor der Person?«
»Natürlich nicht«, antwortete Henry sofort und ging einige Schritte im Wohnzimmer umher, beugte sich erneut kurz aus dem Fenster und wanderte anschließend weiter. »Der hätte ruhig kommen sollen. Ich hätte es ihm gezeigt. Trotz der Fesseln. Aber er konnte ja überhaupt nicht in den Weinkeller, der war ja abgeschlossen. Ha, ha, ha, der war ja abgeschlossen. Der hätte sich gewundert.«
Henry registrierte nicht den eigenen Widerspruch. »Also habe ich mit mir geredet und geredet und geredet. Und auf die Stimme gewartet. Und ich habe geredet.«
Ludevik konnte sich längst zusammenreimen, dass Henry aus Angst gesprochen hatte. Und er entdeckte auch jetzt in seinen Augen einen ängstlichen Eindruck. Seine Ordnung war aus den Fugen geraten, jemand hatte ihm seine Ordnung gestohlen.
Henry baute sich vor dem Psychologen auf und stemmte die Hände auf die Hüften. »Plötzlich hörte ich die Stimme. Sie fragte nach Sarah. Alles wollte sie wissen. Wann wir uns kennengelernt hatten, der erste Kuss, die Hochzeit und so. Einfach alles. Und ich habe ihr geantwortet. Schließlich gibt es da nichts zu verbergen. Jeder weiß, wie es um Sarah und mich stand. Und dann fragte mich die Stimme nach Sarahs Vater. Ich weiß nicht mehr so genau, was ich geantwortet habe. Und die fragte mich nach meinen Eltern. Frag sie doch selbst, habe ich gesagt. Wenn du ein Engel bist, dann frag sie doch selbst. Meine Eltern waren liebe und ordentliche Menschen, sie sind bei dir im Himmel. Genau das habe ich gesagt. Und dann wollte die Stimme nichts mehr wissen. Weder von meinen Eltern, noch von Sarah. Sie schwieg ganz einfach. Ich bin wütend geworden. Schließlich ist sie verpflichtet, mir zu antworten. Engel dürfen nicht so einfach schweigen. Engel, das sind doch immer die Guten, nicht?«
Ludevik bestätigte das und hörte fasziniert zu. Und er schielte auf das Tonbandgerät. Ein kleines rotes Lämpchen signalisierte ihm, es war eingeschaltet. Das Band würde er sich später noch mal in aller Ruhe anhören.
»Ich bin müde geworden und hatte Hunger. Da habe ich mich zugedeckt und geschlafen. Nicht allzu lange, denn der Boden ist hart und der tut ganz schön weh. Mein ganzer Rücken tut weh. Und die Hüftknochen. Ich glaube, die werden blau.« Henry hob die Jacke an, betrachtete sich seine Hüftknochen und trat zu Ludevik. »Siehst du, wie rot die sind?«
»Ja, ganz schön rot.« Ludevik hielt sich an die wichtigste Devise aller Psychologen, zuzuhören und nur zu bestätigen, nichts in Frage stellen.
»Und dann habe ich Hunger bekommen. Bring’ was zu essen, habe ich zu der Stimme gesagt. Und wie Engel nun mal sind, schwuppdiwupp, plötzlich stand ein Tablett in dem Weinkeller mit Essen drauf. Ein Tablett aus unserer Küche. Ich kenne es. Mary serviert damit immer morgens. Der Engel scheint sich gut in unserem Haus auszukennen. Aber Engel kennen sich doch immer aus, Klaus, nicht?«
»Ja.«
»Sonst wären sie ja keine Engel«, beantwortete Henry sich seine Frage selbst. »Also, ich habe gegessen. Und dann musste ich pinkeln. Das waren vielleicht Schmerzen! Aber der Engel hat nicht die Tür aufgemacht. Weißt du, Klaus, wohin ich gepinkelt habe?« Henry hatte seine Stimme gesenkt und beugte sich zu Ludevik. »In den Abfluss habe ich gepinkelt. Aber behalte das bitte für dich.«
»Geht in Ordnung. Kein Wort kommt über meine Lippen.«
Henry nahm seine Wanderung wieder auf und gestikulierte wild mit den Händen. »Irgendwann habe ich wieder mit dem Engel reden wollen, aber der hat sich nicht gemeldet. Ich habe ihn gerufen, habe gebettelt und geflucht. Das hätte ich lieber sein lassen«, sagte Henry mit weit aufgerissenen Augen. »Das ist mir auf den Magen geschlagen. Besser auf den Darm. Ich musste dringend scheißen. Aber im Keller gibt es kein Klo. Und ich war nackend. Und ich hatte kein Papier. He, Klaus, was hättest du an meiner Stelle getan?«
»Ich weiß nicht. Wie geht es weiter?«
»Glaube mir, es war nicht mehr zum Aushalten.« Henry, immer noch im Raum umhergehend, blieb stehen, verzog das Gesicht, als verspüre er erneut dieses Gefühl und presste die Beine zusammen. Dazu legte er seine Hände auf den Bauch und krümmte sich leicht nach vorn. »Aufs Tablett. Ich habe auf das Tablett geschissen. Mitten drauf. Gleich neben die Tasse. Auf den Teller. Klaus, das hättest du sehen müssen!«
»Und was hast du mit dem Tablett gemacht?«
»Nichts, überhaupt nichts.«
»Und wie hast du deinen Hintern abgeputzt?«
»Mit der Decke«, flüsterte Henry. »Mit der Decke. Mensch, was hat das gestunken. Nicht zum aushalten. Tränen bekommst du davon. Hast du schon mal auf ein Tablett geschissen?«
»Nein.«
»Oder einfach im Raum auf den Boden?«
»Nein.«
»Du glaubst ja gar nicht, wie das stinkt. Ist ja kein Wasser da, wo es rein plumpst.«
»Ist es immer noch im Keller?«
»Das Tablett?« »Ja.«
Henry nickte. Und dann lachte er meckernd. »Aber die Scheiße ist weg.«
»Hast du es sauber gemacht?«
Henry schüttelte den Kopf. »Der Engel. Wie ich einmal aufschaue, da war das Tablett weg. Und die Decke. Ich war ganz allein im Raum, ohne Tablett und Decke. Und wie ich dann wieder mal aufschaue, da war beides wieder da. Tablett und Decke.« Henry schaute in Ludeviks Gesicht. »Was, du glaubst mir nicht?«, brauste er auf. »Alles war wieder da. Und die Decke war sauber. Und auf dem Tablett stand was zu essen. Na, was sagst du jetzt?«
Ludevik atmete tief durch. »Ja, Henry, das klingt nicht schön. Schlimm, was du so erlebt hast. Und das alles in deinem eigenen Haus.«
»Das sagst du doch nur, um mich zu beruhigen. Im Grunde genommen glaubst du mir doch nicht.«
»Henry, ich sehe keinen Grund, dir nicht zu glauben. Oder zweifelst du etwa selbst an der Wahrheit?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Es gibt ja immer nur eine Wahrheit.« Henry setzte sich in den Sessel und legte die Füße hoch.
»Wie ging es dann weiter mit dir und dem Engel?«
»Wenn ich Engel sage, dann meine ich seine Stimme. Ich habe ihn ja noch nie gesehen«, stellte Henry richtig.
»Aber die Stimme ist so fein und hell wie die eines Engels.«
»Ja, ganz genau. Oder die einer Frau. Sanft und weich. Frauen können ja auch manchmal Engel sein, nicht Klaus?« Vertraulich zwinkerte Henry dem Psychologen zu.
»Du hattest also die erste Nacht hinter dir, nehme ich an.«
»Mittlerweile wird es schon hell oder Tag gewesen sein. Zumindest war viel Zeit vergangen. Ich hatte aber keine Uhr. Nur so vom Gefühl. Zwischendurch bin ich müde geworden und habe geschlafen. Und dann habe ich was gegessen und getrunken und mit dem Engel geredet. Er war nicht immer da, aber von Mal zu Mal hat er sich gemeldet. Er hat mit Grüße ausrichten lassen von meinen Eltern. Ich nehme an, in der Zwischenzeit hat er sich mit ihnen unterhalten. Engel können das. Sie sind ja Reisende zwischen den Welten, nicht? Und dann sollte ich dem Engel von Sarah erzählen. Und von unserer Ehe. Nun, das habe ich getan.«
Ludevik spürte seine innere Neugier und eine Form der Anspannung, wie sie in solchen Sitzungen unüblich war. »Was hast du erzählt?«
»Och, nichts, was dich interessiert. Wie es nun mal so in einer Ehe ist. Du kennst das doch auch.«
»Ja, sicher. Aber gibt es etwas, was ich wissen müsste?« Ludevik vermied es, seine Stimme neugierig klingen zu lassen.
Henry schaute kurz aus dem Fenster. »Nein. Und über die Gerüchte, die man erzählt, brauchen wir nicht zu reden.«
»Welche Gerüchte meinst du?«
Henry neigte den Kopf zur Seite als überlege er. »Welche kennst du?«, wollte er wissen.
»Dass du Sarah geschlagen haben sollst«, antwortete Ludevik ruhig.
Henry tippte sich gegen die Stirn. »Idiotisch, so etwas. Frauen schlägt man doch nicht. Sie sind doch viel zu schwach und für uns Männer keine Gegner. Das hat schon meine Mami gesagt. Ehre die Frauen, hat sie gesagt.«
»Genau so etwas habe ich mir gedacht«, ging Ludevik auf Henry ein. »Und das mit dem blauen Auge war sicherlich ein Unfall.« »Genau. Sarah hat sich gestoßen.«
Ludevik schwieg eine Weile.
»Los, welch ein Gerücht gibt es noch?«, wollte Henry wissen.
»Ich weiß nicht, ob ich es dir überhaupt sagen soll. Es ist wirklich kein schönes Gerücht.«
»Dass ich meine Frau vergewaltigt habe? Sag schon, Klaus, meinst du das?«
Ludevik hatte zwar an etwas anderes gedacht, aber er nickte.
»Wir haben uns geliebt. Nenne mir einen Grund, meine Frau zu vergewaltigen, he?«
Ludevik kannte keinen Grund.
»Hast du schon mal deine Frau vergewaltigt?«
»Nein, Henry.
»Na siehst du. Ich auch nicht. Sarah hatte es immer gerne. Sie konnte nicht genug davon kriegen. Und ich habe es ihr gegeben. Wann immer sie wollte. Schließlich waren wir verheiratet. Liebet und mehret euch. So steht es in der Bibel. Klaus, bist du eigentlich katholisch?«
»Ja.«
»Dann kennst du das ja auch. Liebet und mehret euch. Geliebt haben wir uns. Leider ist Sarah zu früh von mir gegangen.«
Henry schaute betrübt auf seine Hände. Er umfasste den Ehering mit zwei Fingern und drehte ihn. Langsam zog er ihn ab, betrachtete ihn von allen Seiten und las von der Innenseite das Hochzeitsdatum ab. »Schon erstaunlich Klaus, was so ein schmaler Ring für eine Bedeutung hat. Eine symbolische Bedeutung. Findest du nicht auch?«
Henry schaute Ludevik an, und dem kam es jetzt so vor, dass er sich beruhigt hatte. Henrys Reaktionen erschienen ihm normal. Und die Sprache auch, zusammenhängend und nicht zu schnell. Vor jeder Antwort überlegte er einen Augenblick.
»Henry, soll ich mit dir nach Hause fahren?«
»Du kannst mich nach Hause fahren, brauchst aber nicht mit ins Haus zu gehen.«
»Ich würde aber gerne mit hineingehen und mir den Weinkeller anschauen.«
»Der Engel wird ihn sauber gemacht haben.«
Ludevik war erstaunt, dass er auch jetzt immer noch so überzeugt von dem Engel sprach, als gäbe es ihn tatsächlich.
»Henry, darf ich dir erneut einen Rat geben?«
»Ja, bitte. Deswegen bin ich doch hier.«
»Fahre in Urlaub. Fahre für mindestens zwei Wochen in Urlaub.«
Henry nickte. »Du hast Recht. Ich werde in Urlaub fahren. Aber ich sage dir nicht wohin, sonst hört es der Engel auch.«
Ludevik hatte Henry nach Hause gebracht. Der war am Tor von den beiden Hunden empfangen und zum Haus begleitet worden. Die Labradors gingen jedoch in einigem Abstand neben ihm her. Lange schaute Ludevik Henry nach, auch als der schon längst im Haus verschwunden war. Und dann fragte er sich, was er von der Geschichte zu halten hatte. Henry kam ihm paranoid vor. Seine Klarheit beim Denken war erhalten geblieben, aber die Wahnideen hielten ihn gefangen wie in einer Klammer. Und Ludevik selbst war Zeuge geworden, wie schnell sich diese Wahnideen verstärken konnten.
Zu Hause hörte er sich das Tonband an. Von Zeit zu Zeit machte er sich zusätzlich Notizen. Seinen Eindruck von vorhin sah er bestätigt. Henrys Denken und Handeln erschien stringent, sein Wollen auch. Allerdings hatte er bisher noch nicht herausfinden können, seit wann Henry diese Wahnideen quälten. Dass er auf Sarah eifersüchtig gewesen war, wusste die ganze Stadt. Aber Eifersuchtswahn? Ludevik würde dies eher verneinen. Liebeswahn? Auch das kam aus seiner Sicht nicht in Frage.
Um sich jedoch ein endgültiges Urteil bilden zu können, war es noch zu früh. Aber der Engel, den Henry immer zu hören glaubte, könnte auf religiösen Wahn schließen lassen. Und weil der Engel ihn verfolgte, mit seiner Stimme verfolgte … Ludevik schüttelte den Kopf und schien über seine eigene Annahme unschlüssig zu sein. Nur eines wusste er genau: Henry musste behandelt werden. Sein Ichwertgefühl schien instabil zu sein.
Am kommenden Morgen telefonierte Ludevik mit Henry und wollte in Erfahrung bringen, wie die Nacht gewesen sei.
Ganz normal, antwortete Henry, er habe tief und fest geschlafen und keinen Traum gehabt, schickte er sofort hinterher. Als wolle er einer Frage zuvorkommen. Er fahre in Urlaub, versicherte Henry erneut. Zwei Wochen mindestens.
»Und in der Firma habe ich schon Bescheid gegeben, dass sie dort ohne mich auskommen müssen.«
»Henry, willst du denn nicht wenigstens mir anvertrauen, wo du hinfährst?«
»Nein, auch dir nicht. Schließlich hast du mich überredet, in Urlaub zu fahren. Vielleicht errätst du es?« Ludevik hörte Henry am anderen Ende lachen.
»Und was ist mit dem Haus?«
»Was soll sein? Ich schließe ab. Mary macht auch Urlaub. Dann hat sie wenigstens keine Gelegenheit, Unordnung zu machen. In letzter Zeit hat sie immer alles falsch eingeräumt. Scheint auch nicht mehr das beste Gedächtnis zu haben, die Liebe.«
»Und die Hunde?«
»In einer Tierpension.«
»Henry, wie können wir dich erreichen?«
»Ich melde mich.«
Ludevik war nun nicht mehr wohl bei dem Gedanken, Henry zum Urlaub überredet zuhaben. Er fuhr in das Autohaus und sprach mit dem Geschäftsführer Norta. Der versicherte ihm, mit Henry sei alles geregelt. Schon vor mehr als einer Woche habe er von Urlaub gesprochen. Und die Architekten könnten auch auf ihn verzichten, vielleicht kämen sie jetzt mal dazu, richtig und in Ruhe das neue Gebäude zu planen.
»In genau neunzehn Tagen muss er zurück sein, dann erhält er wieder Besuch von den Koreanern. Aber das weiß Henry.«
Spontan rief Ludevik bei Henry an.
»Vor deinem Urlaub, hättest du Zeit für eine letzte Sitzung?«
»Letzte Sitzung?«, fragte Henry. »Ist dann alles geklärt?«
»Ja«, log Ludevik. »Dann ist alles geklärt.«
»Aber ich fahre übermorgen.«
»Ich weiß. Am besten kommst du noch heute Nachmittag oder gegen Abend.«
Henry zögerte mit der Antwort. »Meinst du, es bringt …«
»Zumindest kannst du dann beruhigt in Urlaub fahren, Henry.«
Am späten Nachmittag klingelte Henry. Und weil er durch Ludevik zum Erscheinen aufgefordert worden war, gab er sich skeptisch und reserviert, weil er nicht wusste, was der von ihm wollte.
Vorsichtig begann der Psychologe.
»Henry, Menschen sind manchmal wie Panzerschränke. Sie sind verschlossen, keiner weiß genau, was drin ist. Und die eiserne Wand ist unmöglich zu durchdringen. Beim Panzerschrank geht es, falls du den Schlüssel verloren hast, nur mit Gewalt, bei den Menschen nur mit deren Hilfe.«
»Und du meinst, ich bin auch so ein Panzerschrank«, stellte Henry fest. »Und in mir sind Dinge, von denen ich nichts weiß.«
»Ja, Henry, so sehe ich das.«
»Wenn ich es bis heute nicht weiß, dann brauche ich es auch in Zukunft nicht zu wissen.«
»Henry, machst du es dir nicht zu einfach?«
Henry schüttelte den Kopf.
»Denke bitte an deine Träume. Der Ursprung liegt auch in deinem Panzerschrank.«
»Und du willst ihn öffnen?« Henry lachte.
»Mit deiner Hilfe. Nur mit deiner Hilfe.«
Ludevik war erstaunt, wie klar Henry denken und reden konnte. Deshalb fragte er ihn auch sofort: »Wann hattest du deinen letzten Traum?«
»Gestern.«
»Nicht heute?«
»Nein, gestern.«
Für Ludevik war das Erklärung genug. Je länger Henrys Traum zurücklag, desto normaler gab er sich. Die schlimmste Zeit war die kurz nach dem Traum. Und genau da benötigte Henry die größte Hilfe.
»Und was hast du geträumt?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
Ludevik merkte, dass Henry log.
»Wieder im Weinkeller?«
»Ich sagte doch, ich weiß es nicht mehr.« Henrys Antwort war patzig ausgefallen, aber er wirkte nervös und verunsichert. Fortwährend spielte er mit einem Kugelschreiber. Und er malte auf der Papierunterlage krakelige Gestalten.
»War die Engelstimme in deinem letzten Traum zu hören?«
»Nein.«
»Dann hast du ihr also nichts erzählt.«
»Absolut nichts.« Unvermittelt ruckte Henry hoch. »Sag mal, willst du mich aushorchen? Was treibst du für ein Spiel mit mir?«
»Ich will dir helfen.«
»Mir braucht niemand zu helfen.« Alles an Henry war Ablehnung.
Ludevik erkannte, so kam er nicht weiter. Er musste Henry anders zu packen kriegen. »Auch ich habe ein Problem«, begann er. »Seit ich deine Träume kenne, träume ich ähnlich.«
»Ehrlich?« Henry sah ihn erstaunt an.
»Ehrlich. Die Träume setzen sich mehr und mehr bei mir fest. Allmählich werden sie beängstigend. Es gibt nur einen Weg, sie loszuwerden.«
»Welchen?«
Ludevik tat aus beruflichen Gründen so, als wüsste er keine Lösung. Henry war der Patient.
»Wenn sie von mir kommen, dann kannst du sie vielleicht auch wieder über mich loswerden«, sagte Henry.
Ludevik erweckte den Eindruck, als überlege er. »Da ist was dran«, gestand er nach einer Weile. »Aber, wie gesagt, du müsstest mir helfen.«
»Du meinst, meinen Panzerschrank aufbrechen.«
»Richtig.« Ludevik beobachtete Henry und erkannte, dass ihm sehr viel daran gelegen war, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Henry hatte die Brücke, die Ludevik ihm gebaut hatte, sofort betreten.
»Und was schlägst du vor?«
»Hypnose.«
»Habe ich mir gedacht.« Henry nickte bestätigend. »Habe ich mir gedacht.«
»Bist du schon mal hypnotisiert worden?« »Nein.«
»Es tut nicht weh.« Ludevik lachte. »Aber Hypnose funktioniert auch nicht bei jedem. Wollen wir es versuchen?«
»Muss ich mich hinlegen?« Henry deutete auf ein Sofa.
»Ja, dann kannst du am besten entspannen.«
Als Henry sich hingelegt hatte, war Ludevik nicht überzeugt, ob er wegen Henrys Charakterstruktur zum Ziel kommen würde. Henry musste seine Blockaden abbauen, damit er ihn beeinflussen konnte.
Bei den ersten Atemübungen merkte Ludevik, wie sich Henry entspannte und die Augen schloss. Er atmete ruhiger, die Augen hetzten nach wenigen Sekunden nicht mehr unter den Lidern hin und her, am Hals konnte er erkennen, dass sich auch Henrys Puls verlangsamte.
»Was siehst du?«
»Ich sehe mich«, antwortete Henry. »Ich bin zwölf Jahre alt. Hoch aufgeschossen und schlank und schön und sauber angezogen. Ich bin allein zu Hause. Allein mit unserem Kindermädchen. Meine Eltern sind übers Wochenende eingeladen. Sie putzt mich immer so heraus. Ich meine Walli, das Mädchen. Sie hat einen Tick für schöne Kleider und fürs Schminken. Unentwegt ist sie damit beschäftigt, wenn meine Eltern nicht da sind oder es nicht sehen können. Aber ich kann es sehen, denn ich bin immer bei ihr, wenn Walli sich schön macht.«
Das Kindermädchen und dessen Marotten interessierten Ludevik nicht. »Was tust du im Augenblick?«
»Ich spiele mit einem Hund. Walli liegt auf einer Decke und schaut mir zu. Sie hat eine große Sonnenbrille auf.«
»Erzähle mir, wie du spielst.«
»Ich dressiere ihn. Er soll bei meinen Kommandos ruhig sitzen oder sich hinlegen. Und er soll was holen. Aber der Hund folgt mir nicht.«
»Und was machst du mit ihm?«
»Ich bestrafe ihn. Er bekommt Schläge. Hunde haben zu folgen, wenn man ihnen etwas sagt.«
»Was empfindest du, wenn du ihn schlägst?«
»Es tut mir selbst weh, aber er hat zu folgen. Tiere sind dem Menschen Untertan. Papa sagt auch immer, er hat zu folgen.« »Auch zu dir? Sagt dein Papa das auch zu dir?«
»Ja, er sagt das auch zu mir. Mami auch. Ich habe zu folgen. Und damit ich lerne, wie man folgt, haben sie mir den Hund geschenkt. Ich soll mit ihm üben, er soll mir folgen. Aber ich schlage ihn nicht gerne. Papa sagt aber, du musst ihn schlagen, damit er weiß, was er zu tun hat. Und wenn er gut war, dann lobst du ihn. Macht er etwas falsch, dann schlägst du ihn. Ist alles ganz einfach. Hunde verstehen das.«
»Macht dein Papa das mit dir genauso? Er lobt dich und er schlägt dich?«
»Ja. Kinder, also Menschen und Hunde sind da gleich, meint er.«
»Hast du deinen Hund gerne?«
»Ja, sehr gerne. Er ist ja noch so jung. Und er hat so treue Augen.«
»Welche Rasse ist es?«
»Ein Berner Sennenhund. Richtig große Tatzen hat er. Braunweiße, große Tatzen.«
»Und wie schaut dich der Hund an, wenn du ihn geschlagen hast?«
»Er ist noch trauriger. Seine Augen leiden. Er kommt gekrochen und steckt den Kopf zwischen meine Beine. Und wenn ich einen Arm hebe, dann zuckt er bereits, legt die Ohren an, obwohl ich ihn nicht schlagen sondern streicheln will.«
»Du würdest lieber nur mit ihm spielen.«
»Ja. Aber Papa hat mir eine Aufgabe gestellt. In drei Monaten muss ich ihn so weit haben, dass er mir folgt. Sonst …«
»Was ist sonst?«
»Sonst nimmt er ihn mir weg.«
»Und was macht er mit ihm?«
»Er hat gedroht, dass er ihn erschießt. Mein Papa ist Jäger. Er darf das, sagt er.«
»Henry, jetzt bist du ein Jahr älter. Dreizehn. Du gehst zur Schule und kommst mittags heim. Dein Hund erwartet dich.«
»Nein, er erwartet mich nicht.« Henry wurde unruhiger. Sein Oberkörper begann zu zucken. Er riss die Augen auf. »Er kann mich nicht mehr erwarten.«
»Hat er denn nicht alles gelernt?« »Doch, er hat alles gelernt. Alles«, stieß Henry zwischen den Lippen hervor. »Aber Papa ging es nicht schnell genug. Und einmal hat er Papa sogar gebissen, als dieser ihn mit einem Gürtel verprügelt hat.«
»Hat dein Papa dich auch mit einem Gürtel verprügelt?«
»Ja«, antwortete Henry hart. »Wie meinen Hund. Wir beide sind verprügelt worden.«
»Was hat dein Papa gemacht, als der Hund ihn gebissen hat?«
»Er hat ihn ins Auto geworfen und ist weggefahren. Und kam ohne ihn zurück. Er hat ihn verschenkt, sagte er.«
»Hast du ihm geglaubt?«
»Ja-«
»Hast du ihm geglaubt?«
»Ich glaube meinem Papa immer.«
»Durftest du den Hund besuchen gehen?«
»Er sei ganz weit weg, hat mein Papa gesagt.«
»War er denn so lange aus dem Haus?«
»Nein.«
»Was hat er mit dem Hund gemacht?«
Henry wollte antworten, aber er brachte die Worte nicht hervor. Ludevik ließ nicht locker. »Was hat er mit dem Hund gemacht?«
»Mein Papa hat mich erschossen.«
Warum Ludevik jeden zweiten oder dritten Tag am Haus der von Rönstedts vorbeifuhr, er wusste es nicht. Zeitungen lagen keine im Briefkasten, auch sonst keine Post. Henry hatte sicherlich alles abbestellt und gebeten, die Post in die Firma zu bringen. Oder wusste Ludevik doch, warum er immer wieder vorbeifuhr? Dachte er noch an die letzte Sitzung mit Henry? An ihn, seinen Vater und den Hund? Und an die schlimme Aussage von Henry: Mein Papa hat mich erschossen? Henry sah sich als Hund, weil er von seinen Eltern genauso behandelt wurde, wie er den Hund zu behandeln hatte?
Als Ludevik nach ungefähr zehn Tagen erneut vor dem schmiedeeisernen Tor stand und das Haus beobachtete, fuhr ein Auto vor, eine Frau stieg aus und trat zögernd näher.
»Kennen Sie Herrn von Rönstedt?«
»Ja.« Ludevik nickte und betrachtete die Frau. Knapp über dreißig schätzte er, volle Lippen, glatte Haare mit einer kleinen Brille. Eine sehr gepflegte Erscheinung. Und tolle Beine hatte sie.
»Prüfung bestanden?«
»Entschuldigung.«
»Ist Herr von Rönstedt immer noch nicht zurück?«, wollte sie wissen.
»Kennen Sie ihn näher?«
»Nein, eher seine verstorbene Frau. Wir waren … nein, Freundinnen waren wir noch nicht, aber wir kannten uns irgendwie sehr, sehr gut. Wir hatten vieles gemeinsam. Und wir hatten ähnliche Probleme.«
»Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Carmen Sigallas.«
»Klaus Ludevik.«
Zwei Minuten später hatten sie sich auch beruflich bekannt gemacht. Und bei ihnen wurde sofort die Neugier spürbar. Langsam tasteten sie sich vor. Carmen gestand, dass Sarah ihre Patientin gewesen sei. Ludevik gestand, dass er Henry behandelt habe.
»Der große von Rönstedt war bei Ihnen?« Carmen schien verwundert zu sein. »Das hätte ich nicht gedacht.«
»Von Sarah hätte ich auch nicht gedacht, dass sie sich eine Brücke aussucht und in einem Trierer Krankenhaus landet. Und dann auch noch in Ihrer Abteilung.«
»Was wären wir Menschen doch langweilig, wenn man immer wüsste, was der ein oder andere denkt, wie er sich verhält oder man ihm seine psychische Instabilität sofort ansehen könnte.«
»Frau Kollegin, meinen Sie nicht, wir sollten uns einmal austauschen, was des Ehepaar von Rönstedt betrifft?«
Carmen nickte. »Sarah wird es nicht mehr helfen. Aber heute geht es bei mir nicht. Sagen wir Ende der Woche? Samstag gegen fünfzehn Uhr?«
»Einverstanden. Am besten auf neutralem Boden. Wie wäre es …«
»Da gibt es doch auf dieser Saarseite beim Kunoturm einen Biergarten.«
»Und bei schlechtem Wetter?«
»Gleich daneben im Turm-Café.«
Das Wetter ließ es zu, sie setzten sich ins Freie unter die weit ausladenden Linden und tranken Kaffee. Die ersten Minuten sprachen sie über Tiefdruckgebiete, die im Anmarsch waren und wohl Regen bringen würden, über die Touristen, die Saar und die Burg. Worüber sollte man auch sonst in Saarburg reden? Etwa über die Saarburger? Die, wie Ludevik meinte, sich immer in Grüppchen zusammenfanden, politisch, kulturell und berufsbedingt, schön fein sortiert und von der restlichen normalen Bevölkerung abgegrenzt, und sich dadurch selbst im Wege stünden, um über den Tellerrand schauen zu können. Ein oder zwei Gruppen meinten, sie seien die Auserwählten. Das ließen sie alle anderen spüren. Der kölsche Klüngel sei nichts dagegen. Aber das Saarburger Phänomen gäbe es wohl überall. Er reagiere halt eben stärker, weil er all dies tagtäglich immer wieder aufs Neue mitbekomme. Besonders in der Praxis als Psychologe. Die Kinder, die er behandele, seien leider oft ein Spiegelbild der Eltern. Zu Hause werde, um ein gutes Bild nach außen abzugeben, vieles falsch gemacht und es würden Fährten gelegt, die die Psyche der Heranwachsenden für alle Zeiten negativ und einseitig beeinflussen.
Wenig später, nach Überwindung der ersten Hemmschwelle, tasteten sie sich vor, inwieweit der andere bezüglich des Ehepaares von Rönstedt involviert war. Selbstverständlich sei das Gespräch vertraulich und informell, versicherten sie sich gegenseitig, um eine gemeinsame Basis für den Austausch zu finden.
Er sei mehrmals am Haus gewesen, gestand Ludevik. Irgendwie fühle er sich unruhig und nicht wohl in seiner Haut, weil er Henry zu einem Urlaub geraten habe.
Carmen, die sehr reserviert war, wurde erst gesprächiger, nachdem ihr Ludevik die Beziehung zur Familie von Rönstedt geschildert hatte. Und dass er, Ludevik, Henry schon mehr als zehn Jahre kannte.
Ob er denn etwas von Problemen in der Ehe gewusst habe, fragte Carmen. Ludevik gab die Gerüchte weiter, die er gehört hatte. Mehr sei da nicht gewesen. Ihn habe man nie aufgesucht.
»Aber ein Gerücht besagt, dass Sarah versucht haben soll, ihrem Leben ein Ende zu machen. Von einer Brücke. Frau Dr. Sigallas, können Sie mich in dieser Beziehung etwas aufklären?«
Carmen erzählte den Hergang so weit, wie sie es verantworten konnte. Sie fügte hinzu, dass sie sich später einige Male mit Sarah getroffen habe.
»Ist von Rönstedt vielleicht wegen Sarahs Tod so seltsam geworden?«
Ludevik konnte ihre Frage nicht beantworten. Zwar kenne er, wie bereits gesagt, die von Rönstedts schon viele Jahre, aber Henry sei nie sein Patient gewesen. Das habe sich erst vor einigen Wochen geändert.
»Sarah ist jetzt sechs Wochen tot. Und Henry, ihr Mann, wird von Ihnen behandelt. Und er fährt vier Wochen nach ihrem Tod in Urlaub. Hat er eigentlich um seine Frau getrauert?«
Ludevik musste passen, er wusste es nicht. »Wenn ich ehrlich sein soll, dann glaube ich noch nicht einmal, ob er in seinem jetzigen Zustand genau weiß, was alles geschehen ist.«
»Sie meinen, er verdrängt Sarah? Steht es so schlimm um den großen von Rönstedt?«
»Ja. Henry verdrängt vieles. Er ist innerlich zerrissen und kämpft gegen sich selbst. Henry leidet unter gewissen Vorstellungen.« Ludevik schien noch mehr sagen zu wollen, atmete deutlich aus und ließ es dann doch sein.
Sie tranken ein weiteres Bier, anschließend Kaffee, und tauchten nach und nach tiefer in die Hintergründe der von Rönstedts ein. Und als Carmen von ihren privaten Gesprächen mit Sarah berichtete, der Ehetortur, den Vergewaltigungen, den Schlägen und dem Ordnungstick von Henry, erzählte er ihr von den Engeln, den Träumen und den Stimmen, die er hörte.
Spontan lud er sie zu sich nach Hause ein. Dort hörten sie sich gemeinsam das zuletzt aufgenommene Band an, auf dem Henry von mehreren Tagen Gefangenschaft im eigenen Weinkeller gesprochen hatte.
»Normalerweise hätte ich niemandem dieses Band vorspielen dürfen. Aber ich möchte Sie als Kollegin um Rat fragen.«
Carmen äußerte sich nicht zu der Rechtfertigung von Ludevik, indem er sie als Kollegin aufwertete. »Aber das redet Henry sich doch alles nur ein. Nicht wahr?«
»Ja.« Ludevik nickte. »Wir wissen es, aber Henry nicht. Für ihn ist es Fakt.«
»Der Logik entsprechend, seiner Logik entsprechend«, verbesserte sie sich, »müsste er demnach die ganze Zeit im Haus gewesen sein und diese Gefangenschaft auch tatsächlich auf seine Art durchlebt haben.«
»Ja, das wäre möglich«, gab Ludevik nach einer Weile zu. »Es könnte nachts mit einem Traum beginnen, den er anschließend weiter spinnt, weiter auslebt. Für Henry verschwimmt der Unterschied zwischen Traum und wach sein.«
»Für ihn scheint noch mehr zu verschwimmen. Zum Beispiel das mit dem Tablett. Zuerst hat er darauf geschissen, um mit Henrys Worten zu reden, plötzlich war es wieder sauber und mit Essbarem garniert. Dieser Widerspruch der verschiedenen Tablettauflagen, wenn ich es mal so formulieren darf, der zwischen Ekelerregendem und etwas Normalem, dem Essen also, ist schon frappierend.«
»Ich erkläre mir das mit Henrys Ordnungstick. Er gibt zu, angeblich darauf geschissen zu haben, erwähnt aber nicht die Reinigung. Dadurch wird in seinem Kopf der erste unordentliche Vorfall praktisch ausgelöscht, auch wenn er in realita überhaupt nicht stattgefunden hat.«
Einige Passagen hörten sie zum zweiten Mal und später noch ein weiteres Mal.
»Ich kann mich nicht gegen den Eindruck wehren, aber mir kommt es vor, als habe Henry Sehnsucht nach der Engelstimme«, meinte Carmen.
»Diese Stimme, vielleicht eine Erinnerung an seine Mutter, scheint die einzige Ordnung in seinen Träumen zu sein. Seine Mutter wird für ihn vielleicht auch ein Engel gewesen sein. Oder zumindest etwas … Unantastbares. Vielleicht im Sinne von Autorität, Respekt, Angst.«
»Das klingt logisch. Henry hat deshalb seine Orientierung verloren, weil ihm die Ordnung abhanden gekommen ist.«
»Genau.«» Ludevik stand auf und suchte nach einem Buch. Er schlug eine bestimmte Seite auf. »Hier steht es. Unsichere Menschen bauen um sich herum ein Ordnungsgitter, welches ihnen Halt verleiht. Und weil ihre Ordnung sich mehr und mehr in Form dieses Gitters ausbreitet, gewinnen sie auch mehr und mehr an Sicherheit. Das kann sogar dazu führen, dass in der perfekten, selbst gestrickten Version der Unsichere durch übertriebene Ordnung den Eindruck einer willens- und handlungs- und durchsetzungsstarken Persönlichkeit vermittelt.«
Carmen saß nachdenklich im Sessel und hatte ihr Kinn auf eine Hand gestützt. »Henry spielt eine Rolle, aus unserer Sicht zumindest und glaubt, es sei Wirklichkeit. Nun ist er in Urlaub. Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.«
Einer Eingebung folgend fragte sie: »Wissen Sie, ob er überhaupt in Urlaub ist?«
»Was hat er für einen Grund, mich …« Ludevik vollendete den Satz nicht und schaute die Ärztin an. »Sie meinen …«
»… wir fahren zu seinem Haus und sehen nach.«
»Sie denken, Henry ist …«
»… ist in seinem Kopf verreist, wie in seinen Träumen. Er braucht nicht die Wirklichkeit.«
Es begann bereits zu dämmern, als sie vor dem großen Tor standen. Ludevik wollte klingeln, aber Carmen hielt ihn davon ab.
»Helfen Sie mir«, sagte sie und stellte sich ans Tor. Ludevik verschränkte die Hände, Carmen stellte einen Fuß hinein und schwang sich auf den gemauerten Pfosten und sprang von dort hinunter auf den Weg. Ludevik folgte ihr.
Langsam schritten sie auf das Haus zu. Die Fensterläden waren nicht verschlossen, um den Eindruck zu erwecken, es sei jemand zugegen. Ludevik wusste, dass über ein System von Schaltuhren nachts abwechselnd die Lichter im Haus ein- und ausgeschaltet wurden. So wie bei ihm, wenn er verreiste.
Großräumig umrundeten sie das Haus und gingen zum Schwimmbad mit der Gästewohnung. Durch die Scheiben schauten sie hinein, entdecken jedoch nichts, was sie stutzig werden ließ.
Nebeneinander spazierten sie auf der Höhe mit dem wunderbaren Blick ins Tal in Richtung Haupthaus. Ein Rundgang zeigte ihnen, alle Fensterscheiben und Türen waren unversehrt. Niemand hatte versucht, einzubrechen.
»Riechen Sie es auch?«, fragte Carmen.
Ludevik schnupperte. »Nein. Wonach soll es riechen?«
Carmen wusste es nicht genau. »Irgendwie nach Moder oder so. Nach … hat der Gärtner den Garten und die Pflanzen gedüngt?«
Dafür sahen sie kein Anzeichen.
Sie schritten zur Garage, das Tor war verschlossen. Ludevik probierte es an der kleinen Tür daneben. Zu seinem Erstaunen ließ sie sich öffnen. Und noch erstaunter war er, als er Henrys Auto entdeckte.
»Wollte er mit dem Auto fahren oder fliegen?«
»Ich weiß es nicht. Aber wie auch immer, um zum Flugplatz zu kommen, musste er doch sein Auto benutzen.«
Sie kamen nicht dazu, noch länger zu spekulieren, da sie in der Ecke ein Geräusch vernahmen. Sie zuckten zusammen und sahen einen Schatten auf sich zukommen. Der Schatten miepte und winselte und schlich um ihre Beine und schnupperte. Ein zweiter Schatten folgte. Die beiden Labradorhunde.
»Sagen Sie nur, er hat die Hunde zu Hause gelassen.«
»Zumindest können sie ins Freie«, meinte Carmen und deutete auf eine Klappe in der Wand. »Und hier geht es für sie ins Haus.« Sie deutete auf eine zweite Klappe.
Als hätten sie sich abgesprochen, gingen sie auf die zweite Klappe zu. Nun roch Ludevik es auch. »Das stinkt ja richtig.«
Er bückte sich, drückte die Klappe auf und zwängte sich hindurch.
»Kommen Sie, hier geht es ins Haus.«
Wenig später, Carmen stand neben Ludevik, der Licht gemacht hatte, beschlich sie das Gefühl, sie müsse sich übergeben. Ein bestialischer Geruch erfüllte das Haus. Eine Wand aus ekelhaftem Gestank.
Sie traten in die Diele. Sofort fiel ihnen die Unordnung auf. Die Kleidungsstücke der Garderobe lagen auf dem Boden. Im Wohnzimmer war es noch schlimmer. Überall waren Gegenstände verstreut, Essenreste lagen herum, einige schon älter und von Maden bevölkert, andere in den Teppich getreten, wo sie zu Verfärbungen geführt hatten.
Als Ludevik das Licht anmachte, sahen sie erst das ganze Ausmaß. Zum Wohnzimmer, so wie Carmen es kannte, bestand absolut keine Ähnlichkeit mehr. Sessel waren umgekippt, der Teppich über und über verdreckt, Spuren von Kot auf dem Boden. Vermischt mit Erbrochenem und verkommenen, verschimmelten Essenresten.
Carmen suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und presste es sich auf den Mund. Ihre Augen begannen zu tränen.
Ludevik öffnete die Fenster. Der Durchzug vertrieb den Gestank etwas.
»Vorsicht«, warnte Ludevik. »Zerbrochene Gläser auf dem Boden. Treten sie nicht hinein.«
In der Küche das gleiche Desaster. Und dann betraten sie das Schlafzimmer. Auf dem Ehebett, die Farbe des Bettzeuges war nicht mehr auszumachen, lag eine verdreckte Gestalt. Sie schlief und stöhnte dabei. An der Größe erkannten sie, es musste sich um Henry handeln. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Weinbrand, daneben mehrere Schachteln Tabletten. Und auf dem Fußboden neben dem Bett lagen viele leere Flaschen.
»Er hat das ganze Bett vollgekotzt«, meinte Ludevik.
»Und vollgeschissen und vollgepinkelt«, fügte Carmen hinzu. »Totaler Zusammenbruch. Henry ist psychisch total zusammengebrochen.«
Im Bad stand übel riechendes Wasser in der Wanne und im Waschbecken, die Toilette war lange nicht betätigt worden. Henry hatte deutliche Spuren hinterlassen.
»Ich rufe einen Krankenwagen.«
Aber Ludevik konnte nicht telefonieren, die Leitung war tot. Er benutzte sein Handy. Nachdem er den Krankenwagen bestellt hatte, schimpfte er auf sich selbst. »Da bin ich doch tatsächlich einige Male zum Haus gefahren, habe aber nie versucht, anzurufen. Ich hätte gemerkt, dass die Leitung tot ist. Und ich wäre schon früher auf die Idee gekommen, hier drinnen nachzusehen.«
Henry rührte sich. Ein Seufzer, ein Stöhnen, langsam drehte er sich auf die Seite. Er öffnete die Augen und schaute Carmen und Ludevik an, schien sie jedoch nicht zu erkennen.
Wie in Trance erhob er sich und blieb auf dem Bett sitzen. Die Hände legte er in den Schoß, zu einem Gebet gefaltet.
»Hast du mich gerufen?«, fragte er mit glasigen Augen. Nur mühsam konnte er die Worte aussprechen. Sein Oberkörper schwankte und es sah aus, als würde er jeden Augenblick umkippen.
Ludevik ging zum Nachttisch und betrachtete sich die Tabletten. »Valium. Habe ich mir gedacht. Und Doparen.«
»Valium und Doparen?«, fragte Carmen. »Sarah hat die gleichen Medikamente genommen. Seltsam.«
Ludevik bückte sich zu Henry, fasste ihn an der schmutzigen Schulter und sprach: »Henry, erkennst du mich?«
Henry reagierte nicht.
Ludevik schüttelte ihn. »Erkennst du mich?«
Henry drehte sich in Ludeviks Richtung und schaute durch ihn hindurch. Seine Augen schienen nichts zu registrieren.
»Henry, ich bin es, Klaus. Sag doch was.«
Aber Henry gab keine Antwort. Stattdessen blickte er auf seine Hände und wiederholte langsam und schwerfällig: »Hast du mich gerufen?«
»Ja«, sagte Ludevik. »Ich habe dich gerufen.«
Einige Sekunden vergingen. »Aber deine Stimme klingt so fremd. Wer bist du?«
»Ich bin dein Engel.«
Henry schien zu überlegen. »Du willst mein Engel sein?« »Ja.«
Henry hob die gefalteten Hände und besah sie sich lange. »Du willst mein Engel sein und hast nicht seine Stimme. Also bist du nicht mein Engel.«
Die Logik war für Carmen und Ludevik einleuchtend.
»Aber ich bin dein Engel«, begann Carmen. »Ich bin dein Engel. Erkennst du jetzt meine Stimme?«
Henry stutzte. Er neigte den Kopf leicht zur Seite und schloss die Augen. »Ja, deine Stimme ist eine Engelstimme. Du bist ein Engel«, sagte er mit verträumtem Gesichtsausdruck. »Du bist ein Engel. Aber du bist nicht mein Engel.«
Carmen zuckte mit der Schulter und sah Ludevik Hilfe suchend an. Der gab ihr ein Zeichen, indem er mit den Zeigefingern Kreise beschrieb.
»Dein Engel hat mich geschickt, ich soll ihn heute vertreten.«
Zuerst dachten sie, die Worte seien nicht bis zu Henry vorgedrungen. Schließlich reagierte er zu ihrer Verwunderung. »Du sollst meinen Engel vertreten?« »Ja.«
»Und warum?«
»Dein Engel ist müde und möchte sich ausruhen. Er hat in der letzten Zeit sehr oft mit dir gesprochen.«
Henrys Gesicht zeigte ein flüchtiges Lächeln. »Ja, das stimmt. Er ist bestimmt müde. Und ich bin auch müde. Ich habe ihm alles erzählt. Wir können uns jetzt beide ausruhen.« Henry ließ sich nach hinten fallen und schloss die Augen. »Jetzt ausruhen, endlich ausruhen.«
Ludevik beugte sich über Henry, als der Türgong ertönte. Carmen zuckte zusammen.
»Der Krankenwagen«, meinte Ludevik. »Ich lasse die Leute herein.« Er wollte gehen, aber Carmen begleitete ihn. Sie wollte nicht allein in diesem Horrorhaus bleiben.
Eine Viertelstunde später hatte man Henry auf einer Trage festgeschnallt und in dem Wagen verstaut. Die Besatzung des Krankenwagens war vieles gewohnt, aber heute hatten sie ihren Knüller erlebt. Das würde ausreichend Gesprächsstoff für eine lange Zeit geben.
Der Krankenwagen war abgefahren. Carmen und Ludevik verschlossen das Haus und gingen zum Eingangstor.
»Und was ist mit den Hunden?«, fragte Carmen.
»Bis morgen werden sie es aushalten. Sie sehen eigentlich noch ganz gut genährt aus, nicht?«
»Und was ist morgen?«
»Wenn Sie möchten, dann schauen wir uns das Innenleben des Besitzes der von Rönstedts einmal in Ruhe an. Aus beruflicher Sicht finde ich es faszinierend. Aus menschlicher Sicht habe ich heute das größte Trauerspiel meines Lebens mitbekommen. Wie kann sich jemand nur in so kurzer Zeit so schnell verändern?«
»War es wirklich in so kurzer Zeit?«, gab Carmen zu bedenken. »Oder haben wir es nur so spät bemerkt, Sarah dagegen schon viel früher?«
Carmen wälzte sich die ganze Nacht unruhig im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Immer wieder hatte sie das verkommene Haus, den vor Dreck stinkenden Henry und die totale Unordnung vor Augen. Und immer wieder fragte sie sich, wie es dazu hatte kommen können.
Und sie fragte sich auch, warum sie eigentlich so viel Interesse an diesem Henry von Rönstedt zeigte, der sie doch eigentlich nichts anging. Erstaunlich war dessen Wandel in so kurzer Zeit schon, von der Arroganz, der übertriebenen Selbstdarstellung bis hin zu diesem verkommenen Wrack als Mann.
Und dann wusste Carmen, warum sie sich emotional so engagierte. Sie gönnte es diesem Henry. Sie gönnte es ihm wegen Sarah. Das Schwein hat sich selbst bestraft, sagte sie sich und wirkte irgendwie zufrieden. Und dann wiederum war sie etwas traurig, weil Sarah dies nicht mehr hatte erleben können. Was wäre das für sie ein Triumph gewesen!
Ohne dass sie es wollte, kam sie auf ihren Mann Kristian, dem sie auch eine Wandlung in der Art wünschte, wie Henry sie durchgemacht hatte. Auch Kristian, so überlegte sie, hat es als Schwein verdient, bestraft zu werden. Und weil es dafür keinen Anhaltspunkt gab, dass er eine ähnliche psychische Veränderung durchmachen würde wie Henry, hoffte sie insgeheim, dass auch bei ihm in irgendeinem Winkel des Kopfes ein kranker Bazillus schlummerte, der sich ähnlich wie bei Henry auswirken könnte.
Carmen war trotz des Schlafdefizits am anderen Morgen putzmunter, als sie sich mit Ludevik traf. Aber Ludevik war nicht allein. Oberkommissar Breuer stand neben ihm.
»Frau Sigallas, ich habe Herrn Breuer in groben Zügen über das informiert, was wir gestern hier vorgefunden haben und ihn gebeten, mit uns das Haus zu betreten. Ist das in Ihrem Sinne?«
Carmen wusste nicht so recht. »Was hat denn die Polizei mit einer solchen Krankengeschichte zu tun?«
»Es geht auch darum, einen Zeugen zu haben, Frau Sigallas, denn wir betreten fremdes Eigentum, und zwar ohne Erlaubnis.«
»Sozusagen ein kleiner Notstand«, witzelte Breuer und bemühte sich vergeblich um einen spöttischen Blick.
Die Hunde kamen ihnen schwanzwedelnd entgegen, Ludevik sperrte sie in die Garage und verschloss die Klappen.
Der Beamte schüttelte immer wieder den Kopf, als er das Innere des Hauses inspizierte. »Ist denn das die Möglichkeit. Wie sich ein Mensch und sein Umfeld nur in so kurzer Zeit verändern können«, murmelte er erstaunt. »Kennen Sie das Haus von früher?«, wollte er von den beiden wissen.
Sie kannten es.
»Als ich mit meinem Kollegen Herrn von Rönstedt die traurige Nachricht überbracht habe, ich meine den schrecklichen Tod seiner Frau, da sah es hier aus, man hätte vom Boden essen können. Ein Haus wie aus dem Bilderbuch. Und die Inneneinrichtung … so adrett, ja richtig adrett. Und gediegen. Wie auf den Fotos eines Hochglanzmagazins.«
»Hier muss sauber gemacht werden«, sagte Ludevik. »Das ist ja ein Krankheitsherd ohnegleichen. Von Grund auf sauber gemacht werden. Was meinen Sie, Frau Sigallas?«
Carmen sah es auch so.
»Ich werde den Bürgerservice beauftragen«, konstatierte Ludevik.
Vom Bad gingen sie zurück ins Schlafzimmer und von dort über einen Flur ins Wohnzimmer.
»Henry hat unentwegt von seinem Weinkeller gesprochen. Kennen Sie ihn?«
Die Frage war an Carmen gerichtet, sie kannte den ehemaligen Weinkeller. Aber Breuer kannte ihn nicht. Und er wusste auch nicht, in welchem Zusammenhang er von Bedeutung sein könnte.
Ludevik ging voran in die Küche, schob mit dem Fuß zerbrochenes Geschirr und Abfall zur Seite und öffnete die Tür zum Abstellraum. Der Gestank nahm zu, verschimmelte Essenreste quollen aus einem großen Plastikeimer.
Ludevik öffnete eine weitere Tür, stand in einem kleinen Flur und wandte sich nach links. Vor der dritten Tür blieb er stehen.
»Ruhig«, befahl er. »Haben Sie es auch gehört?«
Aber von den beiden anderen hatte niemand etwas gehört.
Ludevik wollte die Tür öffnen, sie war verschlossen. Er drehte den Schlüssel, die Tür schwang von allein auf, das Licht im ehemaligen Weinkeller war eingeschaltet.
Sie erstarrten und trauten ihren Augen nicht. Aus Carmens Mund kam ein erstickter Schrei, Ludevik stammelte: »Das gibt es doch nicht.«
Breuer schien sich als erster zu fangen. »Das hier ist nun aber wohl doch ein Fall für uns, die Polizei«, stammelte er und ging auf die am Boden hockende Gestalt zu.
Im ersten Augenblick dachten alle, so, wie sie an der Wand lehnte, sie sei tot. Dann regte sie sich jedoch. Ihre Hände waren gefesselt, die Handgelenke wund und aufgescheuert.
Die Frau hatte kurze gelb-dreckig-fleckige Haare, war mit einem Unterhemd in undefinierbarer Farbe bekleidet, trug auch einen Slip und sonst nichts. Sie starrte vor Schmutz und roch noch schlimmer als gestern Henry.
Und der Boden war mit allem möglichen übersät. Essenreste, zerrissenes und zerknülltes Papier, Reste von Kot und eine Urinlache. In der Ecke stand ein Eimer. Er war wohl dazu gedacht, in ihm die Notdurft zu verrichten.
»Wer sind Sie?«, fragte Breuer und bückte sich zu der Gestalt am Boden, ohne sie jedoch zu berühren. Sie reagierte nicht.
»Und wie mager sie ist«, sagte Carmen. »Die Flecken auf dem Gesicht, am ganzen Körper.«
Ludevik kam sich hilflos vor und telefonierte, so wie bereits am Tag zuvor, erneut nach einem Krankenwagen. Und er machte sich Vorwürfe, dass sie gestern nicht auch den übrigen Teil des Hauses durchsucht hatten. Aber nach was hätten sie suchen sollen? Außer Henry, so vermuteten sie, war sowieso niemand zugegen.
»Wer könnte sie nur sein?« Breuer erhielt keine Antwort und schaute nach, ob er vielleicht Ausweispapiere finden könne. Aber er hütete sich immer noch, sie anzufassen. Bis auf einen halben Meter näherte er sich ihr.
Carmen schob den Beamten zur Seite, bückte sich, umfasste die Oberarme der Frau und zog sie etwas hoch. Von der Seite betrachtete sie ihr Profil. Carmen ließ einen Arm los und drehte den Kopf der Frau in ihre Richtung. In diesem Augenblick machte diese die Augen auf. Und Carmen schaute in Augen, die sie kannte.
Als hätte sie sich verbrannt, ließ sie die Frau los, die wie eine Puppe zusammenklappte und zur Seite fiel.
»Das kann nicht sein«, stammelte Carmen, machte einen Schritt zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Das kann nicht sein. Sie ist tot.«
»Nein, sie lebt«, widersprach Breuer. »Sehen Sie nur, sie bewegt sich.«
»Sie ist tot«, stammelte Carmen, und dann wieder: »Sie ist tot. Sarah ist tot.«
Ludevik ging das alles zu schnell, und Breuer, der Beamte, dessen Augen abwechselnd von einem zum anderen huschten, bekam eh nicht alles mit. Er inspizierte deshalb das Umfeld und war auf der Suche nach Spuren, die ihm alles erklären würden.
Vorsichtig beugte sich Carmen wieder nach unten und betrachtete das Gesicht der Frau. Die Augen, die Nase, der Mund. Und jetzt öffnete sie sogar den Mund und wollte etwas sagen. Mehrfach setzte sie an, bis Carmen das Wort Wasser verstand.
Ludevik ging in die Küche und sah im Kühlschrank nach. Dort gab es kein Mineralwasser. Aber in der Abstellkammer waren noch einige Flaschen in einem Plastikkasten. Ludevik reinigte die Flasche, drehte den Verschluss ab und gab sie weiter an Carmen. Vorsichtig führte sie die Flasche an den Mund der Frau. Zuerst in kleinen Schlucken, trank sie immer gieriger. Wasser lief ihr aus den Mundwinkeln hinunter auf das T-Shirt.
Erschöpft rutschte die Frau nach hinten.
»Sarah, bist du es?«
Die Frage von Carmen war überflüssig, denn sie hatte Sarah längst erkannt. Es waren die Umstände, die Verquickungen, die sie an der Wirklichkeit zweifeln ließen.
»Sarah? Soll das Sarah von Rönstedt sein?« Breuer reagierte, wie man es von einem Polizeibeamten erwarten durfte. Skeptisch und ablehnend, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Von allen Seiten betrachtete er die am Boden Liegende, kam ihr aber auch jetzt nicht zu nahe.
»Ja«, antwortete Carmen. Und dann wieder: »Ja, es ist Sarah.«
»Nie und nimmer. Sarah von Rönstedt ist tot. Ich selbst habe die Nachricht überbracht.« Damit war für Breuer der Fall erledigt. Blieb nur noch die Frage, wen er denn nun wirklich vor sich hatte. Aber das würde sich auch noch aufklären. In zwei oder drei Tagen spätestens würde er es wissen.
Carmen kniete sich neben die Frau, hob den Kopf hoch und legte ihn in ihren Schoß. »Sarah, arme Sarah. Was hast du alles mitgemacht.«
Breuer schnaufte, jetzt hatte er es auch noch mit einer überdrehten Ärztin zu tun.
Die Frau schlug die Augen auf und schaute Carmen an.
»Carmen«, flüsterte sie. Und dann wieder »Carmen.«