Sie und sie
Saarburg hatte seine Sensation. Vor wenigen Jahren der Rheinland-Pfalz Tag mit mehr als achtzigtausend Besuchern, der die kleine Stadt für eine kurze Zeit zum Mittelpunkt des Bundeslandes machte, und zwar für exakt zwei Stunden Übertragungszeit im regionalen Fernsehen, und nun diese ungemein spannende Familiengeschichte der von Rönstedts.
Reporter fielen in die Stadt ein, mehrere Fernsehteams, die alles und jeden filmten. Und fast alle Saarburger, die man fragte, hatten es so kommen sehen und schon seit längerem so etwas oder Ähnliches erwartet. Vielleicht sogar noch schlimmer. Das mit den von Rönstedts konnte ja nicht gut gehen. Vor Jahren die Eltern, Selbstmord, dann der Vater von Frau von Rönstedt, auch Selbstmord. Und dass Sarah tödlich verunglückt sei, daran habe niemand wirklich geglaubt. Dem Henry trauten sie alles zu. Auch mit kleinen Mädchen hatten ihn schon einige gesehen. Oder zumindest hatten sie davon gehört. Von einem guten Bekannten. Aber der wüsste es aus sicherer Quelle. Aus ganz sicherer Quelle.
Sarah war in das örtliche Krankenhaus eingeliefert worden. Die ersten Untersuchungen zeigten Untergewicht, Folgen von Mangelernährung, Pilzbefall am Körper und aufgescheuerte, zum Teil entzündete Stellen, sowie Quetschungen an den Brüsten und den Innenseiten der Oberschenkel. Aber sie erholte sich zur Überraschung aller und im Gegensatz zu den ärztlichen Prognosen relativ schnell.
Henry hatte man in die Nervenklinik nach Merzig verlegt. Und dort in eine geschlossene Abteilung. Aber um Henry kümmerte sich im Augenblick niemand. Sarah stand im Mittelpunkt und war zum Objekt der Begierde geworden. Als Ärzte verkleidet versuchten Kamerateams, Aufnahmen von ihr zu machen. Nun, es erwies sich als gut, dass das Krankenhaus so klein und überschaubar war und jeder jeden kannte.
Und es erwies sich als gut, dass all diejenigen, die wirklich etwas hätten sagen können, sich von den Medien fernhielten. So blieb denen nichts anderes übrig als zu spekulieren: Von den Toten auferstanden? Wiedergeburt in Saarburg? Henry, ein zweiter Dutreaux? Jekyl und Hyde?
Und zu Wort kam jeder Wegbegleiter Henrys, der sich nicht wehrte. Angefangen vom Kindergarten über die Grundschule bis zum Gymnasium und Studium. Verwandte, Bekannte und all diejenigen, die einmal etwas von den Rönstedts gehört oder ein Auto dort gekauft hatten. Psychologen wurden von Fernseh- und Rundfunkreportern befragt und konnten ungeniert spekulieren, weil es niemanden gab, der sie bremste. Sie stellten die seltsamsten Theorien auf, die nur noch von den Kassandrarufen der Wahrsager und Astrologen überboten wurden. Die Sterne waren Schuld, und da besonders ein gewaltiger Meteorit, der exakt am 17. März des kommenden Jahres einschlagen würde. Gleich hier in Saarburg. Neben der Burg. Das Unheil ziehe ihn an. Alles werde endgültig ausgelöscht. Das Universum reinige sich selbst.
Carmen besuchte Sarah das erste Mal vier Tage nach ihrer Einlieferung. Ein Polizeibeamter stand vor der Tür und hielt Wache. Ungebetene Besucher sollten die Ruhebedürftige nicht stören.
Sarah hatte sich deutlich erholt. Carmen registrierte die Farbe in ihrem Gesicht, sah die gewaschenen und gekämmten kurzen Haare, grellblond gefärbt mit einem dunklen Scheitel, das saubere Nachthemd.
Sie begrüßten sich wie zwei alte Freundinnen, die sich eine längere Zeit nicht gesehen hatten. Und Carmen wischte heimlich zwei Tränen aus den Augenwinkeln.
»Im Krankenhaus fing alles an, hoffentlich endet es nicht auch dort!«, meinte Sarah mit immer noch schwacher Stimme.
»Ich habe mit den Kollegen gesprochen. Du bist in einigen Tagen wieder ganz die Alte.«
Carmen wusste, dass sie log. Sarah würde nie mehr so wie früher sein. Das Vorgefallene würde sie über Jahre, vielleicht sogar für immer beschäftigen. Sie würde an Schlafstörungen leiden, nachts aufschrecken, sich im Haus oder im Zimmer verkriechen und Schutz suchen. Sie würde verängstigt sein, bei jedem Klingeln zusammenzucken, sich Fremden gegenüber schüchtern, reserviert verhalten und voller Misstrauen geben. Auch tagsüber würden ihre Gedanken abschweifen, sie wäre unkonzentriert, könnte nicht lange einer Unterhaltung folgen. Und Sarah würde sich vernachlässigen, was die Kleidung und das Schminken betraf. Weil sie sich minderwertig fühlte und es doch überhaupt keinen Sinn mache, sich zu pflegen oder schön zu machen. Ihr größtes Problem würde jedoch, davon war Carmen überzeugt, ihr Verhalten zu Männern sein. Nie mehr könnte sie ihnen unbefangen und ohne Vorurteil und ohne die schreckliche Erinnerung an die Vergangenheit gegenübertreten. Henry hatte sein Geschlecht mit einem Bann belegt, den wohl kein Mann auf dieser Welt jemals würde brechen können.
Carmen zog einen Stuhl herbei, setzte sich und ergriff Sarahs Hand. Wie zart sie war. Noch zarter und gebrechlicher als vor zwei Monaten.
»Wie fühlst du dich?«
Sarah lächelte zaghaft. »Wie man sich eben nach so etwas fühlt.«
»Willst du darüber reden?«
»Nur mit dir.«
»Danke für das Vertrauen. Noch vor wenigen Wochen …«
Sarah hob eine Hand, und Carmen sprach den Satz nicht zu Ende. Sie streichelte die bleiche Wange.
»Etwas Make-up würde dir gut tun, Sarah. Soll ich was auflegen?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Heute noch nicht.«
»Sie meinen, du müsstest noch einige Tage hier bleiben.«
»Ich weiß. Ist wohl auch besser so. Die Ruhe tut mir gut. Und die Beruhigungstabletten«, fügte sie sarkastisch hinzu. »Meine Nächte sind absolut traumlos. Als hätten sie nicht stattgefunden. Jeden Morgen komme ich als achtundzwanzigjähriges Baby zur Welt.«
Sarah und Carmen redeten belangloses Zeug, als wollten sie sich davor drücken, mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert zu werden.
Nach einer viertel Stunde, Carmen spürte, dass Sarah vergebliche Anläufe gemacht hatte, immer wieder stockte und auf ein anderes Thema zu sprechen kam, dann die entscheidende Frage: »Wo ist Henry?«
»In Merzig. In einer geschlossenen Abteilung. Durch ein von Amts wegen eingeleitetes Eilverfahren. Inzwischen hat das Gericht die Einweisung bestätigt.«
»Und wie geht es ihm?«
»Sarah, kümmere dich lieber um dich. Schau, dass du wieder in Ordnung kommst. Vergiss Henry.«
»Ich kann ihn nicht vergessen.« Aus dieser Feststellung war keine Bitterkeit herauszuhören. Und das wunderte Carmen. Eigentlich müsste Sarah doch in höchster Erregung von Henry sprechen. Und mit Verachtung und mit Vorwürfen gespickt. Ob das an den Medikamenten lag?
Carmen schaute Sarah lange an und glaubte in dem abgemagerten, sympathischen Gesicht das ganze, ihr widerfahrene Leid herauslesen zu können.
»Du willst wissen, wie alles begann?«
Carmen nickte. »Weißt du denn eigentlich, was vorgefallen ist?«
»Ja. Die Polizei hat mich aufgeklärt.«
In knappen Worten wiederholte Sarah, was man ihr mitgeteilt hatte. Von ihrem Verschwinden, dem Brief aus Konstanz und dem schrecklichen Unfall in Südfrankreich.
»Aber ich habe die ganze Zeit das Haus nicht verlassen. Unser Haus«, fügte sie bitter hinzu. »Henry hat mich eingesperrt.«
»Ludevik sagte, er sei einmal in dem Weinkeller gewesen, hätte aber von dir nichts gesehen.«
»Henry hat mich öfter umquartiert und in den anderen Keller unter der Garage gebracht. Da roch es so modrig, und diverses Krabbeltier ist rumgelaufen. Es war schlimm.«
»Warum diese Quälerei? Dieses unmenschliche Verhalten? Was wollte er damit erreichen?«
»Er hat in Erfahrung gebracht, dass ich mich scheiden lassen wollte und den Notar um eine Kopie des Testamentes meines verstorbenen Vaters gebeten habe. Henry ist durchgedreht. Zuerst hat er mich geschlagen, dann vergewaltigt und dann wieder geschlagen. So ging das die ersten Wochen. Und immer wurde ich in den Weinkeller eingesperrt. Den ganzen Tag, die ganze Nacht. Bevor er sich über mich hermachte, hatte ich mich zu duschen. Und anschließend wurde ich wieder eingesperrt.«
»Aber wieso war es in deinem Verlies so dreckig? Wenn du doch geduscht hast?«
Sarah schüttelte den Kopf, als könne sie es noch nicht glauben. »Nach zwei oder drei Wochen hat Henry das Interesse an mir verloren. Er war nur noch betrunken. Oft hat er zwei Tage nicht nach mir geschaut. Und in der Zeit gab es natürlich auch nichts zu essen. In den Eimer durfte ich meine Notdurft verrichten. Die letzten vier Tage, glaube ich, hat er sich nicht mehr um mich gekümmert. Außer zwei Flaschen Mineralwasser gab es nichts. Auch keine Dusche, wie du dich ja überzeugen konntest.«
»Wie konntest du das nur aushalten?« Carmen atmete tief durch. Sie hatte Mitleid mit Sarah. Und trotzdem war sie beruhigt, das Martyrium hatte ein Ende. »Aber lieber hier im Krankenhaus, als auf dem Friedhof.«
»Obwohl es für mich keinen Unterschied gemacht hat«, sagte Sarah. »Ich war auch beerdigt, lebendig beerdigt. Und ich wurde ständig gepeinigt und missachtet. Carmen, es war die Hölle.«
Vielleicht weil Sarah dies so emotionslos ausgesprochen hatte, konnte Carmen sich ausmalen, wie es ihr ergangen sein musste.
Sarah erzählte von den erniedrigenden Momenten, als sie sich, kurz nach dem Duschen, vor Henry stellen musste, damit dieser sie begutachten konnte. Und dann hatte sie sich aufs Bett zu legen, sollte gewisse Posen nachspielen und von Henry vorgegebene unflätige Worte sprechen, mit deren Hilfe er sich erregen wollte.
»Er hat mich genommen wie ein Stück Vieh«, sagte sie leise. »Nur mit noch viel weniger Respekt, als es unter Tieren üblich ist. Tiere quälen einander nicht. Henry hat mich nur gequält. Er hat seine Position, seine Macht ausgenutzt. Er hat mich nur gequält.«
Carmen füllte eine Tasse mit kaltem Tee und gab Sarah zu trinken. »Die Polizei steht vor einem Rätsel, Sarah. Das mit der Ansichtskarte aus Konstanz, die du geschrieben haben sollst, kann sie sich noch erklären. Den angeblich von dir ausgestellten Barscheck über fünfundzwanzigtausend auch.«
»Das verlangte Henry gleich am zweiten Tag von mir«, warf Sarah ein. »Ich erinnere mich.«
»Aber dann wird es für die Beamten knifflig und verworren. Wie konnte Henry es arrangieren, dass Kleidung, Handtasche mit Ausweisen und dein Ehering nach Südfrankreich kamen? Und man dort alles nach einem Unfall bei einer Toten fand? Einer zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten, die auch noch hier in Saarburg an deiner Stelle beerdigt worden ist? Gut, Henry hätte Zeit gehabt, dorthin zu fahren. Er war viel unterwegs. Aber …«
»Was aber?«, wollte Sarah wissen.
»Das mit der Toten, Sarah. Die Polizei vermutet, Henry hat …« Carmen sprach den Satz nicht zu Ende, als wolle sie Sarah die Lösung überlassen.
»… hat sie umgebracht?« »Ja.«
»Nie und nimmer«, verteidigte Sarah ihn. »Henry kann niemanden umbringen.«
»So, er kann niemanden umbringen?« Carmen schüttelte verwundert den Kopf, sie sah das anders. »Meinst du denn allen Ernstes, er hätte dich später einfach laufen lassen? Damit du jedem hättest erzählen können, was dir widerfahren ist? Glaubst du wirklich daran?«
Sarah senkte den Kopf und schwieg. Und sie dachte nach. Aus diesem Blickwinkel hatte sie ihre Lage bisher nicht betrachtet. Vielleicht, weil sie eine andere Einschätzung hatte als Carmen? Und weil sie die Hintergründe besser kannte?
Nach wenigen Sekunden wollte sie wissen: »Wenn du so davon überzeugt bist, Carmen, warum hat er es denn nicht getan?«
Die Ärztin wusste darauf auch keine Antwort. »Du warst ja offiziell tot. Er hätte dich nur irgendwo vergraben müssen. Niemand hätte je nach dir gesucht.« Und nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Vielleicht wollte er noch etwas von dir? Oder er wartete den richtigen Moment ab? Falls er dazu noch in der Lage gewesen wäre«, schränkte sie ein. Und dann, als käme sie erst jetzt darauf: »Hat dich Henry irgendwelche Papiere unterschreiben lassen?«
Sarah dachte nach. »Außer dem Scheck sonst nichts«, war sie sich sicher. »Nur den Barscheck.«
»Ich verstehe das alles nicht«, meine Carmen leise mehr zu sich selbst. »Das ergibt doch alles keinen Sinn.« Und aufschauend wollte sie dann wissen: »Hat Henry dir Medikamente gegeben?«
»Ja, ich glaube zumindest. Ich habe mich immer müde und schlapp gefühlt. Und ich konnte mich nicht konzentrieren, vielleicht wegen der Erinnerungslücken. Und ich hatte auch keinen Lebenswillen. Alles war leer, weit weg, ohne Hoffnung. Im Grunde genommen war mir nach etwa zwei Wochen alles einerlei. Ich wollte nur noch …«
Carmen nickte verstehend. Lange betrachtete sie Sarahs Gesicht, als gäbe es dort ein Indiz oder einen Hinweis, von dem sie noch nichts wusste.
Nun war es Carmen, die mehrfach ansetzte, um eine Frage zu stellen und auf ein anderes Thema überzuleiten.
»Du hast viel mitgemacht«, begann sie zögernd. »Hast Schmerzen erlitten, nicht nur körperliche, bist gequält und gedemütigt worden. Man braucht sich ja nur … nur deinen Körper anzuschauen. Die Oberschenkel, deine Brüste …«
Carmen bemerkte, wie sich Sarahs Gesicht veränderte. Ein harter Zug legte sich um den Mund, die Lippen wurden fest aufeinander gepresst, trotzig schob sie das Kinn nach vorn. Im Widerspruch zu diesen Signalen, die Willensstärke und Kraft und Entschlossenheit symbolisieren sollten, knetete sie die Finger, presste die Beine zusammen. Ihre Augen flackerten, huschten ängstlich hin und her auf der Suche nach einer Gefahr. Immer wieder schaute sie aus dem Fenster, als erwartete sie sie von dort.
»Was ist geschehen?«, wollte Carmen wissen.
Sarah antwortete nicht. Sie drehte den Kopf etwas zur Seite.
»Man hat auch einiges an … an Intimspielzeug gefunden.«
Immer noch kam von Sarah keine Reaktion.
Als wäre es ihr peinlich: »Einen Vibrator, weit über der Normgröße.«
Sarah zog die Beine an den Körper und verbarg ihren Kopf zwischen den Armen.
Carmen, die sich unbehaglich fühlte und körperlich zu spüren glaubte, welches Leid Sarah widerfahren war, fragte mit leiser, einfühlender Stimme: »Was hat er dir alles angetan?« Sanft streichelte sie Sarahs Nacken. Sie zuckte zusammen und rückte weiter weg, ließ es dann aber geschehen.
»Willst du nicht darüber sprechen?«
Und als Carmen schon dachte, Sarah würde sich dazu nicht äußern wollen, begann sie mit leiser Stimme zu erzählen.
»Es war die Hölle. Ekelhaft. Und es hat so weh getan. Das mit dem Vibrator. Und den Clipsen an den Brustwarzen, die er unter schwachen Strom setzte. Wie eine Puppe. Ich war gefesselt, wie eine Puppe musste ich alles über mich ergehen lassen. Wann immer er wollte. Und er kam sehr oft. Zum Schluss jede Stunde. Jede Stunde die Quälerei. Die Schmerzen. Die Erniedrigung. Er stank nach Alkohol, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er lallte, schrie, tobte, trat mich mit Füßen, und immer wieder der Vibrator. Mit Butter hat er ihn eingerieben. Stell dir mal vor, mit Butter. Dabei kann er Butter nicht ausstehen. Er ekelt sich vor Butter.«
Carmen verhielt sich so ruhig, als wolle sie von ihrer Anwesenheit ablenken. Und als Sarah nicht mehr weiter sprach, verkniff sie sich die Fragen. Sie wartete.
»Er war zu betrunken, um selbst über mich herzufallen«, fuhr Sarah nach einer Weile fort. »Er rieb seinen Penis zwischen meinen Pobacken, konnte ihn jedoch nicht zur Erektion bringen. Gleichzeitig schob er mir vorn den Vibrator in die Vagina. Manchmal brannte das wie Feuer. Und er drehte an einem Knopf, die Vibrationen und Kreiselbewegungen wurden stärker und schrecklicher. Er tat mir so weh.«
Sarah schluchzte. »Er tat mir so weh. Nie hätte ich Henry zugetraut, dass er mich so quälen könnte. Und als Krönung legte er mich auf den Boden und fesselte mich wie im Kreuzhang. Mit den Clipsen und dem Vibrator bearbeitete er mich zur gleichen Zeit. Du sollst dich nicht beschweren können, dass ich dir keine Orgasmen verschaffen kann, sagte er immer wieder. Was heißt sagte, Henry konnte nur noch lallen. Einmal ist er über der Prozedur eingeschlafen, fiel mit seinem Körper auf mich und drückte den Vibrator tief in meine Vagina. Mehr als eine Stunde hat es gedauert, bis die Batterie leer war.«
Carmen streichelte Sarahs Haar und legte ihr einen Finger auf den Mund. »Das Thema ist doch wohl endgültig ausgestanden.« Sie schimpfte auf sich selbst, weil sie nicht die richtigen Worte fand. Was um alles hätte sie sagen können, um Sarah zu trösten?
Carmen merkte, dass Sarah die Unterhaltung sehr mitgenommen hatte. Sie verabschiedete sich und versprach, jeden Tag zu kommen, falls es ihr möglich sei.
»Carmen, würdest du mir bitte einen Gefallen tun?«
»Jeden auf der Welt, wenn ich dir damit helfen kann.«
»Vielleicht kannst du bei der Polizei erfahren, was man Henry nun wirklich vorwirft. Ich meine mit Südfrankreich. Und dann müsste zu Hause bei uns auch noch einiges an Post herumliegen. Auch im Geschäft und in Henrys Postfach. Könntest du sie mir bitte beim nächsten Besuch mitbringen?«
Bevor Carmen das Krankenhaus verließ, sprach sie noch mit der Ärztin und wies sie auf Sarahs psychische Verfassung hin. Man möge bitte auf sie achten, besonders in der Nacht. Sie dürfe nicht ohne Kontrolle sein.
Anschließend erkundigte sie sich bei Oberkommissar Breuer über den Stand der Ermittlungen. Der Beamte gab sich ihr gegenüber reserviert und überaus korrekt, weil er vor Tagen angezweifelt hatte, es könne sich bei der Person im Weinkeller um Sarah handeln.
Inzwischen hatte man ihn darüber aufgeklärt, wie Sarah und Carmen zueinander standen. Und Carmen brauchte somit nicht ausdrücklich zu erwähnen, dass sie im Sinne von Sarah erfahren wollte, was sich Neues ergeben hatte.
»Wir wissen nicht, ob Herr von Rönstedt zur Zeit, als der Brief in Konstanz zur Post gegeben wurde, dort war. Aber von Saarburg nach Konstanz fährt man vielleicht vier Stunden. Das hätte er mit einem schnellen Auto quasi nebenbei erledigen können. Was wir jedoch wissen ist, er war für einige Tage auf Reisen. Und zwar genau zu der Zeit, als der schreckliche Unfall in Frankreich passierte.«
»Das heißt, er hätte also Sarahs private …« Carmen vollendete die Frage nicht.
»Ja«, antwortete Breuer der Ärztin und nickte gewichtig.
»Das bedeutet jedoch auch in letzter Konsequenz, dass Henry …, Herr von Rönstedt mit dem Vorsatz nach Frankreich gefahren ist, mit Hilfe all der persönlichen Dinge von Sarah einen Unfalltod vorzutäuschen.«
»Leider ist das richtig«, konstatierte der Beamte. »Und genau dieser Umstand wirft für uns die größte Frage auf: Wie hat er es angestellt?«
»Sagen Sie es mir, Herr Breuer.«
Der Beamte zögerte. »Ohne jetzt Herrn von Rönstedt zu nahe zu treten und etwas unterstellen zu wollen, gibt es logischerweise nur eine Möglichkeit: Der Unfall muss provoziert worden sein.«
»Und wie bitte, wenn ich fragen darf, hat er es angestellt?«
»Vielleicht …« Der Beamte schaute aus dem Fenster. »… vielleicht indem man an den Bremsen … oder sonst wie … Diesbezüglich habe ich die französischen Kollegen informiert, nach technischen Defekten zu suchen.« Freundlich schaute er zu Carmen. »Falls es überhaupt noch möglich und das ausgebrannte Wrack nicht schon verschrottet worden ist.«
»Könnte Herr von Rönstedt nicht zufällig vorbeigekommen sein? Er sieht den Unfall, das brennende Auto, und legt anschließend spontan seine Spur.«
»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, wollte Breuer wissen. »Gibt es einen solch großen Zufall?«
Da Carmen nichts entgegnete, sprach er weiter: »Die zweite Frage lautet: Wer ist die Tote, die hier in Saarburg beerdigt liegt?«
Carmen konnte ihm bei der Lösung leider nicht helfen. »Allerdings gewinnt nun auch der Vorfall an Bedeutung, warum Henry nach Frankreich gefahren ist und Sarah identifiziert hat. Eine DNS Untersuchung wurde daraufhin hinfällig. Perfekt eingefädelt.«
Breuer zeigte mit einem Nicken an, dass er alles verstanden hatte. »Inzwischen ist die Leiche exhumiert und zur Obduktion nach Mainz gebracht worden. Von der französischen Polizei – wir haben sie sofort über die Wendung informiert – ist ein förmliches Ersuchen eingegangen, die Leiche nach Frankreich zurückzuführen. Selbstverständlich werden wir dem stattgeben, wenn man uns das nach der Obduktion von oben«, Breuer deutete zur Zimmerdecke, »genehmigt.«
»Haben sie das Haus der von Rönstedts durchsuchen lassen?«
»Wir haben alles gesichtet, alle Spuren gesichert. Mittlerweile hat man es gereinigt, wie ich gehört habe. Muss schlimm gewesen sein. Die Frauen haben sich teilweise geweigert, den ganzen Dreck wegzumachen. Ich verstehe das alles immer noch nicht«, gab der Beamte zu. »Der solide und von allen geachtete Herr von Rönstedt. Wie es drinnen aussieht … Wirklich eine schreckliche Angelegenheit.«
»Gab es noch interessante Hinweise?«
Breuer schüttelte den Kopf. »Außer bestimmten … Videofilmen, einer Menge leerer Flaschen, vielen Medikamentenschachteln und dem Unrat nichts. Die Hunde haben wir ins Tierheim gegeben.«
Die wichtigste Frage hatte Breuer nicht gestellt. Wollte er sie nicht stellen oder war er noch nicht so weit mit seinen Überlegungen, fragte sich Carmen. Wenn Henry diesen Unfall in Frankreich verursacht oder vorgetäuscht oder einfach die Gunst der Stunde ausgenutzt hatte, Sarah zu diesem Zeitpunkt aber noch, wie man ja inzwischen wusste, am Leben war, dann hatte er doch damit automatisch auch ihren Tod eingeplant. Den Mord an seiner eigenen Frau. Es gab keine andere logische Erklärung, Sarah hätte nie und nimmer überleben dürfen!
Carmen schüttelte sich: »Was sagt eigentlich die Haushaltshilfe. Hat sie nichts mitbekommen?«
Breuer winkte ab. »Die Arme ist so etwas von eingeschüchtert und hat ungemein viel Respekt und Angst vor Herrn von Rönstedt. Außerdem hat sie mir Dinge erzählt …« Breuer ließ offen, was er damit meinte. »Herr von Rönstedt hat ihr in letzter Zeit immer frei gegeben, wenn er verreist war. Und den Abstellraum, also der Verbindungsraum von Küche zu Weinkeller …, den hat er verschlossen. Man brauche ihn nicht mehr, hat er zu der Haushälterin gesagt. Weil eben die Ehefrau nicht mehr da sei. Und die Haushälterin hat sowieso alles in der Küche aufbewahrt. Selbstverständlich hat sie sich strikt an die Anweisung ihres Herrn gehalten, nicht in den Abstellraum zu gehen.«
»Und sie hat nichts davon bemerkt, dass zwei Türen weiter jemand eingesperrt war?« Carmen hätte sich die Frage selbst beantworten können. Der Weinkeller war tief in den Boden gebaut, mit der Rückwand an anstehendes Erdreich, außerdem mit dicken Mauern umgeben und isoliert. Wie man inzwischen wusste, war Sarah mit Medikamenten ruhig gestellt worden und hatte fast den ganzen Tag über geschlafen. Zudem hatte Henry sie, falls es erforderlich war, in den Keller unter die Garage ausquartiert. So wie bei dem Besuch von Ludevik.
Breuer zuckte mit der Schulter, als sei es ihm unverständlich. »Ihrer Aussage nach nicht.«
»Das ist schon seltsam. Finden Sie nicht auch?«
Breuer zuckte erneut mit der Schulter. Als Carmen gehen wollte, fragte er: »Wie lange kennen Sie die von Rönstedts schon?«
Carmen sah ihn von der Seite an und reagierte nicht.
Breuer erkannte, er war indiskret geworden. »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht aushorchen. Was mich jedoch seit Tagen beschäftigt ist der Umstand: Wie kann sich ein Mensch wie Herr von Rönstedt so verändern?«
Und als Carmen nicht antwortete, sprach er weiter: »Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Nicht persönlich, sondern so, wie man einen Mitbürger kennt, der sich ständig in der Öffentlichkeit bewegt. Weiß also auch um seine … Arroganz, seine ausgeprägte Persönlichkeit, seine Korrektheit. All das spricht doch genau dem entgegen, wie er sich in letzter Zeit entwickelt hat. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Herr Breuer, wenn wir für alles Verständnis hätten, alle Verfehlungen im Voraus ahnen und damit verhindern könnten, wie ideal wäre unsere Welt. Ich will damit sagen, wir können die Entwicklung des menschlichen Geistes nicht berechnen. Auf der einen Seite ist es zwar schade, auf der anderen jedoch auch wieder gut, weil unser Geist uns zumindest noch eine Fluchtmöglichkeit zu uns selbst lässt. In unsere kleine, private Burg, die uns Schutz bietet, wo nicht jeder eindringen und mitreden kann, wovon nicht jeder Kenntnis hat. Die Gedanken sind immer noch frei.«
»Aber ausgerechnet Herr von Rönstedt …?«
»Vielleicht sperren Sie mich morgen wegen eines Banküberfalls ein? Oder man entlässt Sie wegen Bestechung und klagt Sie auch noch an? Wir können nur hoffen, dass es nicht so kommt. Und dann vielleicht noch eines, Herr Breuer. Egal, wie man Herrn von Rönstedt früher gegenübergestanden hat: Er ist krank. Er ist nur krank.«
Und trotzdem ist er ein Arschloch, dem ich es gönne, dachte Carmen, während sie hinaus zu ihrem Auto ging. Ein riesengroßes, perverses Arschloch.
Carmen stieg ein, wollte den Motor starten, als Breuer gegen das Seitenfenster klopfte.
»Beinahe hätte ich es vergessen, Frau Dr. Sigallas. Wir haben eine Kiste mit Kleidern gefunden, Frauenkleidern. In der Garage.« Und als Entschuldigung fügte er hinzu: »Sie wissen ja, die Polizei ist immer neugierig. Weil wir nach einer Erklärung suchen. Und gerade in diesem Fall würde uns eine Erklärung sehr weiterhelfen.«
Carmen winkte ab. »Wahrscheinlich alte Kleider von Sarah, seiner Frau.«
Breuer war unschlüssig. »Nun, ich kenne mich da nicht so aus, aber eine der Beamtinnen meinte, das ganze Zeug sei längst unmodern. Schon seit mehr als fünfzehn Jahren. Das passt doch irgendwie nicht, wenn man Frau von Rönstedts Alter in Betracht zieht, oder?«
Carmen überlegte. Dabei ließ sie ihre Finger über das Lenkrad streichen.
»In der Garage?«
»Ja.« Breuer nickte. »Sie steht immer noch dort.«
»Versteckt oder offen?«
»Unter anderen Kisten mit diversem Zeug. Alles für den Sperrmüll.«
»Was sagt Herr Ludevik dazu? Der Psychologe?«
Das wusste Breuer nicht, weil er ihn noch nicht gefragt hatte. Er habe es ihr zuerst mitteilen wollen, weil sie ja einen so engen Kontakt zu Frau von Rönstedt habe.
Am kommenden Tag, einem Samstag, war Carmen nur für kurze Zeit bei Sarah. Sie händigte ihr die Post aus und sagte, sie fahre mit Ludevik nach Merzig zu Henry. Es interessiere sie sehr, was aus ihm geworden sei und wie er sich jetzt gäbe. Sarah nahm diese Nachricht hin, als wäre sie ohne Bedeutung. Lediglich die Augen flackerten und verrieten ihren inneren Zustand.
Ludevik ließ auf der halbstündigen Fahrt nach Merzig erneut das Tonband laufen, welches er bei Henrys letztem Besuch in seiner Praxis aufgenommen hatte.
»Das mit dem Pflaster habe ich Ihnen ja schon erklärt«, meinte Ludevik später. »Henry hat es unter ein Regal geklebt, quasi als Indiz, dass er keinen Traum gehabt hat.«
Carmen legte einen Finger auf die Lippen. Und dachte nach. »Also überlegt und mit voller Berechnung. Waren Sie nicht anschließend im Weinkeller?«, fragte sie nach einigen Sekunden.
»Ja. Ich habe ihn mir genau angeschaut.«
»Von Sarah natürlich keine Spur.«
»Selbstverständlich nicht.«
»Sehen Sie, eiskalte Berechnung.«
»Was wollte er damit bezwecken?«
»Ohne jetzt von Rönstedts Gedankengänge zu kennen, hat er für dem Fall vorbauen wollen, dass man auf den Verdacht kommen könnte, Sarah sei im Hause.«
»Wieso Verdacht, sie sei im Hause? Sarah war für uns alle tot. Und beerdigt.«
Darauf wusste Carmen keine Antwort.
Henry sah sauber und gepflegt aus in seiner hellen Anstaltskleidung und den viel zu großen Hausschuhen. Aber er wirkte müde und matt und in allen Bewegungen langsam. Carmen wusste, man hatte ihn ruhiggestellt. Die Chemie half in solchen Fällen immer, auf sie war Verlass.
»Hallo Klaus«, begrüßte Henry den Psychologen mit leiser Stimme und streckte ihm unsicher eine Hand hin. Anschließend betrachtete er Carmen und bemühte sich, sie einzuordnen. »Kennen wir uns?«
»Ich bin eine Freundin Ihrer Frau«, sagte Carmen.
»Sarah, meine liebe Sarah.« Henry sprach langsam und senkte den Kopf. »Dass sie so früh sterben musste. Sie hätte es besser verdient.«
Ludevik und Carmen setzten sich, Henry nahm ihnen gegenüber Platz.
»Henry, wie geht es dir?«
»Gut.«
»Weißt du, warum du hier bist?«
»Damit ich endlich einmal ausschlafen kann. Ich bin immer so müde, so schrecklich müde.«
»Henry, du warst bei mir in der Praxis, wegen deiner Träume. Erzähl mir von deinen Träumen.«
Henry überlegte. »Ich habe keine Träume.«
»Und wie ist es mit den Engelstimmen?«
»Engelstimmen?« Henry neigte den Kopf zur Seite und erweckte den Anschein, als lausche er. »Engel haben doch keine Stimmen. Ich habe noch nie eine gehört. Hast du schon mal einen Engel gehört, Klaus?«
»Nein.«
»Siehst du.« Henry lächelte flüchtig.
»Aber wenn man träumt, dann kann es schon mal sein, dass man eine Engelstimme hört. Henry, hast du im Traum schon mal so eine Stimme gehört?«
Abermals neigte Henry den Kopf zur Seite und antwortete bedächtig: »Ja, im Traum schon. Ganz bestimmt. Früher, vor langer Zeit. Jetzt träume ich nicht mehr. Wenn ich mich ins Bett lege, dann schneidet irgendjemand mein Leben ab. Und morgens werde ich wieder geboren. So ist das, Klaus. Ich werde jeden Tag geboren und sterbe jeden Abend. Aber abends kurz vor dem Sterben weiß ich nicht, ob ich auch wieder geboren werde.«
Carmen lief ein Schauer über den Rücken. Sarah hatte etwas Ähnliches gesagt: Sie würde jeden Morgen als achtundzwanzigjähriges Baby auf die Welt kommen.
»Wäre es schlimm, wenn du nicht mehr geboren würdest?«
Henry seufzte. »Weiß nicht. Wenn ich es vorher wüsste, dann vielleicht. Aber so …? So ist es mir egal.«
Henry schaute auf seine gefalteten Hände und konnte nicht sehen, wie Carmen und Ludevik sich einen schnellen Blick zuwarfen.
»Wann hast du Sarah zum letzten Mal gesehen?«
Zuerst dachten die beiden, Henry hätte ihre Frage nicht verstanden. Nach geraumer Weile antwortete er: »Das ist schon lange, lange her. Sehr lange her. Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich kann mich auch nicht mehr gut erinnern. Hatte sie nun ihre Haare kurz oder waren sie lang«, stellte er sich selbst eine Frage. »Ich weiß es nicht mehr.«
»Wo hast du sie denn gesehen?«
Henry schaute Ludevik an. »Wo habe ich sie gesehen?«, wiederholte er für sich. Man sah ihm an, dass er sich bemühte, dies zu klären. Und dann begann Henry zu zucken. Sein Oberkörper schüttelte sich, der Kopf fiel nach vorn. »Es war schlimm, Klaus. Sarah war ganz hell und leuchtete. Aber sie schrie nicht. Und als ich zu ihr kam, da sah sie so fremd aus. Ich erkannte sie nicht mehr. Und sie lag auf dem Boden. Aber an ihrem Ehering habe ich sie erkannt. Und an den Ausweispapieren und ihren Kleidern. Nicht die auf dem Körper, sondern die in der Reisetasche oder so.«
»Und danach hast du Sarah nie mehr gesehen?«
»Wie sollte ich.« Henry hob den Kopf, in seinen Augen standen Tränen. »Sie war doch tot. Tote sieht man nicht mehr. Oder hast du schon einen Toten wieder gesehen? Später und so?«
»Nein, Henry, da hast du Recht. Tote sieht man nicht mehr. Es sei denn, du träumst. Hast du Sarah in deinen Träumen gesehen?«
»Ich träume nicht mehr.«
»Ich meine früher, als du noch geträumt hast.«
»Natürlich habe ich Sarah in meinen Träumen gesehen. Sarah hat auch eine Engelstimme. Erinnerst du dich?«
Ludevik nickte.
»Aber das ist schon lange her«, wiederholte sich Henry.
»Hast du in deinem Haus fremde Menschen bemerkt?«
»Ich wohne hier. Und hier sind nur fremde Menschen. Außer Kurt, den sehe ich immer. Kurt ist mein Bruder. Er begleitet mich überall hin. Wie es früher Walli getan hat. Kurt ist jetzt mein Kindermädchen. Er ist zwar nicht so schön wie Walli, duftet auch nicht so gut, aber auf Kurt kann ich mich verlassen.«
Ludevik formulierte seine Frage anders. »Vor langer Zeit, als du noch nicht hier gewohnt hast. Erinnerst du dich?«
Henry nickte. »Das war doch auch als Sarah … und ihre Engelstimme …« Er betrachtete die Wand und schaute durch sie hindurch. Mühsam erhob er sich und ging zwei Schritte auf die weiße Wand zu. »Sarah hatte eine wirklich schöne Stimme. Sogar wenn sie schimpfte. Mit anderen schimpfte, meine ich. Mit mir hat sie nie geschimpft. Wir haben uns sehr gut verstanden. Bald wäre das Baby gekommen. Ein Junge. Und dann hätten wir uns noch besser verstanden.«
Ludevik formulierte seine Frage neu. »Hast du zu irgendeiner Zeit fremde Menschen gesehen? In deinem Traum, gemeinsam mit Sarah. Oder auch ohne sie?«
Henry drehte sich zur Raummitte, blieb mit nach vorn eingefallenem Oberkörper stehen und schüttelte den Kopf. »Nicht das ich wüsste. Aber ich habe mal … Augenblick, wie war das noch … ja, ich habe mal zwei aus meinem Haus gejagt, weil die keine Ordnung halten konnten. Du hättest mal sehen sollen, was die für einen Dreck gemacht haben. Das ganze Haus, Küche, Bad, Schlafzimmer, einfach überall. Nicht zu glauben. Das waren zwei fremde Menschen. Ich habe sie vorher nie gesehen. Und ich weiß auch nicht, wie sie ins Haus kommen konnten. Ein Mann und eine Frau. Meinst du die vielleicht?«
»Ja, Henry, die habe ich gemeint.«
Nach einer viertel Stunde verabschiedeten sie sich von Henry. Er war ganz ungeduldig geworden und hatte immer zur Tür geschaut. Beim Hinausgehen konnten sie erfahren, dass es Essenzeit war.
Auf dem Weg zurück nach Saarburg fragte Ludevik: »Nun, wie ist Ihr Eindruck?«
Carmen zuckte mit der Schulter und schaute aus dem Autofenster auf die Saar und die steilen, bewaldeten Hänge. » Sie haben ihn vollgepumpt und ruhiggestellt. Wohl im Augenblick die einzige Möglichkeit, ihn vor sich selbst zu schützen. Nun zu Ihrer Frage: Ich bin nicht der Experte. Was mich wundert, ist Henrys Logik in der Unlogik. Ich will damit sagen, dass er alles Unangenehme logisch aus der Sicht eines Dritten erklärt.
Dadurch ist er fein raus, ihn trifft keine Schuld. Zum anderen aber glaubt Henry auch an seine eigene Logik, wie den Unfall in Frankreich. Sie hilft ihm, unangenehme Dinge zu verdrängen. Für ihn ist Sarah verbrannt. Für ihn ist Sarah tot.«
»Henry kommt wohl nicht mehr zurück. Ich glaube eigentlich nicht, dass er es schafft. Seine Wahnvorstellungen sind so manifestiert, dass nur eine Dauermedikation Linderung verschafft. Helfen kann sie ihm schwerlich.«
»Und die Konsequenz?«
»Ohne den Gutachtern vorzugreifen, wird Henry entmündigt und Sarah sein Vormund werden. Aber warten wir mal in Ruhe die Entwicklung ab. Vielleicht kommen noch Dinge ans Tageslicht, von denen wir beide keine Ahnung haben.«
Auf die Kisten mit den unmodernen Frauenkleidern sprach Carmen ihn nicht an.
Wenig später wurde Ludevik in seiner Ahnung bestätigt, als Carmen in Sarahs Krankenzimmer trat. Sarah war außer sich und aufgeregt. Sie lief auf und ab, führte Selbstgespräche und hatte es abgelehnt, Beruhigungsmittel zu nehmen. Sie wolle sich aufregen, sagte sie zu Carmen und gab ihr eine Kopie des Testamentes ihres Vaters zu lesen. Schließlich habe sie einen Grund.
»Was ist damit?«
»Es war bei der alten Post«, meinte Sarah lapidar. »Eine Kopie des Testamentes meines Vaters. Sven Dornwald, mein Anwalt, mit dessen Hilfe ich mich scheiden lassen wollte, hat sie beim Notar angefordert.«
»Und was ist das hier?«
»Von mir eine Vollmacht für Henry, der Testamentseröffnung an meiner Stelle beizuwohnen. Damals, kurz nach dem Tod meines Vaters, ging es mir nicht so gut.«
»Ist das nicht zu privat?«, wollte Carmen wissen.
»Gibt es denn noch etwas Privateres zwischen uns als das, worüber wir gesprochen haben? Was wir bereits hinter uns haben?«
Carmen überflog das Testament. Und dann sah sie in Sarahs Gesicht. Auch jetzt war dort Aufregung. Und Enttäuschung.
»Du hast also etwa sechzigtausend geerbt, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Du hast es richtig verstanden«, antwortete Sarah verbittert. »Und dafür hat sich mein Vater ein ganzes Leben lang geplagt.
»Und mit wie viel hast du gerechnet?«
»Gerechnet, gerechnet, pah.« Mit einer Hand wischte sie durch die Luft. »Allein das Wohnhaus war knapp zwei Millionen wert und meines Wissens unbelastet. Und es war im Privatvermögen, nicht in dem der Firma. Und dann noch die Firma selbst. Gut, sie hatte Schulden, allesamt jedoch nur erstrangige Grundschulden, denen ein wesentlich höherer Gegenwert in Form von Immobilien gegenüber stand.«
»Du fühlst dich betrogen.«
»Was für eine Frage. Natürlich fühle ich mich betrogen. Wärest du das an meiner Stelle nicht auch?«
»Mag sein. Und von wem?«
Genau das war der Punkt, der Sarah zu schaffen machte. Dem Testament zufolge hatte sie ihr Vater betrogen. Noch wenige Wochen vor der Hochzeit hatte er ihr seine Vermögensverhältnisse offen gelegt. Und er war stolz, eine solch gute Bilanz aufweisen zu können. Demnach belief sich das Vermögen der Firma damals auf mehr als drei Millionen Euro.
»Aber deinem Vater traust du so etwas nicht zu.«
Sarah biss die Lippen aufeinander. Für einige Sekunden schien sie verunsichert zu sein. Aber wenig später antwortete sie mit fester Stimme: »Es gab keinen ehrlicheren Menschen als meinen Vater. Er hat mich nie belogen.«
»Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, was ist in den letzten Wochen vor deiner Hochzeit mit deinem Vater geschehen? Hat er sich finanziell übernommen? Ist er bankrott gegangen?«
»Mein Vater? Nie und nimmer.« Sarah war entrüstet. »Davon wüsste ich was. Und wenn eine GmbH in Konkurs geht, macht das überall die Runde. Und es steht in der Zeitung. Selbst wenn das alles stimmen und eingetreten sein sollte, dann bliebe immer noch sein Privatvermögen«, hielt Sarah entgegen. »Das wäre doch auch schon was.«
Sarah wurde eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen. Sie war wieder zu Kräften gekommen, nicht mehr so leicht erregbar wie noch wenige Tage zuvor, und fühlte sich zumindest körperlich einigermaßen erholt, soweit man sich nach all dem Vorgefallenen überhaupt erholen konnte. Zögernd betrat sie das Haus und schalt sich eine Närrin, weil sie Carmens Angebot, sie zu begleiten, nicht angenommen hatte. Etwas Beistand hätte sie gebrauchen können.
Nichts deutete mehr auf die schlimmen Vorfälle hin. Die Böden gereinigt, zum Teil war sogar das Parkett abgeschliffen und neuer Teppichboden verlegt worden, die Wände hatte man in Pastelltönen gestrichen, überall glänzte und strahlte es. Sie machte einen Rundgang durch die Räume des Erdgeschosses. Obwohl alles einen äußerst ordentlichen und sauberen Eindruck erweckte, stand nichts an seinem angestammten Platz. Henry würde sich aufregen und ärgern und toben, wenn er das mitbekommen könnte, überlegte sie und zuckte zusammen. Allein die Erinnerung an Henry genügte, um Ängste aufkommen zu lassen.
Sarah schlenderte später wie eine Besucherin über das frisch gemähte Grundstück, schaute hinunter in das Tal und weiter zu den gegenüberliegenden bewaldeten Höhen und Ausläufern des Hunsrücks, als sähe sie alles zum ersten Mal. Sie beobachtete einen Heißluftballon, der für eine bekannte Biersorte warb und hörte das Zischen, wenn die Gasflamme ansprang, um die Luft zu erwärmen. So schwerelos hätte sie sich auch gerne fühlen und über allem schweben wollen.
Im Gästehaus schwamm sie einige Minuten, hüllte sich in einen Bademantel und entspannte sich im Liegestuhl. Nach wenigen Minuten wurde sie durch die Klingel gestört. Carmen stand vor dem Tor, und neben ihr die beiden Labradorhunde, die sie aus dem Tierheim geholt und mitgebracht hatte. Aufgeregt schnuppernd liefen sie auf und ab, bis das Tor auf die Seite glitt.
Eine solch stürmische Begrüßung hatte Sarah noch nicht erlebt. Die Hunde sprangen an ihr hoch, trollten um ihre Beine, stießen sie mit der Schnauze an und zupften am Ärmel des Bademantels. Erst nach einigen Minuten fand Sarah Gelegenheit, sich Carmen zuzuwenden.
»Schade, dass ich kein Hund bin«, scherzte die Ärztin und küsste Sarah auf die Wange. Sarah wollte zuerst zurückzucken, ließ es dann jedoch geschehen. An so viel Nähe musste sie sich erst noch gewöhnen.
Während sie zum Haus gingen, scharwenzelten die Hunde um sie herum, hüpften vor Freude wie kleine Kälber mit allen Vieren zugleich in die Luft und spielten miteinander.
»Das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier«, begann Sarah zu philosophieren. »Tiere verstellen sich nicht und zeigen offen ihre Gefühle. Eigentlich schade, dass es die Menschen nicht auch können.«
»Einige tun es vielleicht, aber die meisten haben Angst, sich zu entblößen. Oder aus sich herauszugehen, zu schreien und zu toben und nicht nur zu dulden wie ein braves Lamm. Sind wir nicht selbst das beste Beispiel dafür? Wir haben doch alles für uns behalten und nur geschluckt. Immer nur geschluckt und geduldet, bis zur Selbstaufgabe. Und die begann schon nach den ersten Enttäuschungen, die uns unsere Männer bereitet haben. Gleich nach der Hochzeit. War es nicht so?«
Sarah nickte. »Ich hatte später wahnsinnige Angst, Gefühle zu zeigen. Und jetzt kommt es mir so vor, als hätte nicht ich diese Gefühle erlebt, sondern eine andere. Alles ist so weit weg für mich. So weit, dass ich denke, ich werde nie mehr solche Gefühle haben können.«
»Da kennst du uns Frauen aber schlecht, Sarah. Ich wette mit dir, wir würden wieder auf unsere Männer hereinfallen, auf ihren anfänglichen Charme, ihre Versprechungen, die kleinen Aufmerksamkeiten. Männer sind nun mal wie Bergsteiger. Wenn sie den Gipfel erklommen oder erstürmt haben, dann ist der Berg für sie uninteressant geworden.«
»Wouh, wo hast du das denn her?«
»Fiel mir gerade so ein. Eigentlich schade, dass Männer so sind, findest du nicht?«
»Und wir?«, fragte Sarah. »Sind wir so viel anders? So viel besser?«
»Ja, wir sind schon anders«, antwortete Carmen bestimmt. »Wir sind anders. Oder zumindest ich«, fügte sie mehr zu sich selbst hinzu. »Viele Dinge, die Männer tun würden, würde ich nie tun.«
»Wie soll ich das verstehen?«
Ohne auf die Frage einzugehen, wollte Carmen wissen: »Wie gut kennst du dich? Dich und deine Gefühle?«
Sarah antwortete nicht sofort. »Seltsame Frage. Kann man sich auf seine Gefühle bezogen überhaupt kennen? Kann man einfach sagen, gestern habe ich so reagiert, also werde ich heute in einer ähnlichen Situation auch so reagieren?«
Carmen meinte etwas anderes. »Deine Gefühle zu Männern, zu den Männern, die du bisher im Leben kennen gelernt hast. An die kannst du dich doch erinnern. Wer dir sympathisch war, wer nicht. Die erste große Liebe, die letzte große … Enttäuschung.«
Sarah schaute Carmen an und wartete, was sie noch sagen wollte.
»Und was empfindest du bei Frauen? Bei mir zum Beispiel? Welche Gefühle hast du dann?«
»Du bist mir sympathisch, mehr als sympathisch. Ich glaube, wir werden gute Freundinnen.«
Sie setzten sich nun endlich vor das große Wohnzimmerfenster mit dem Panoramablick.
»Was empfindest du, wenn ich dich streichle?«
Carmens Fingerkuppen glitten sanft über Sarahs Unterarm. Sie bemerkte, wie sich die feinen Härchen aufstellten. Und sie bemerkte, wie Sarah sich verkrampfte.
»Na, was empfindest du?«
»Auf was willst du hinaus?« Auf Sarahs Stirn hatte sich eine Falte eingekerbt, die Augenbrauen waren leicht angehoben. »Ein Test oder so was?«
Carmen schüttelte den Kopf. »Kein Test. Aber natürlich will ich auf etwas hinaus. Und zwar auf den Punkt, ob du wirklich deine Gefühle kennst, ob du wirklich schon einmal richtige, tiefe, dich erfüllende schöne Gefühle kennen gelernt hast. Die dich auf Wogen hochgehoben, dich hin- und hergerissen, dir eine Gänsehaut nach der anderen bereitet haben. Die so intensiv waren, dass du beruhigt sein konntest, es könne keine Steigerung geben. Du hättest gerade den Olymp bestiegen und hättest vor Glück und vor Wollust sterben können.« Erneut streichelte Carmen Sarahs Unterarm. Langsam liefen die Finger weiter nach oben, zur Schulter, über das Schlüsselbein weiter zum Hals. Sarah drückte sich in die Ecke des Sofas.
»Bist du …, bist du etwa …
»Nein.« Carmen zog ihre Hand zurück. »Ich bin nicht lesbisch.«
Es schien, als sei Sarah beruhigt. Sie schlug die Beine übereinander, achtete aber darauf, dass der Bademantel geschlossen blieb.
»Trotzdem habe ich meine Erfahrung mit dem gleichen Geschlecht gemacht«, fügte Carmen hinzu.
Sarah hatte, nach dem, was in den letzten Minuten geschehen war, mit dieser Eröffnung gerechnet. Reserviert schaute sie Carmen an, verschränkte die Arme vor der Brust und signalisierte Abwehr.
»Es war zu meiner Studentenzeit. Mit zwanzig hast du die ersten Freunde, die ersten mehr oder weniger erfolgreichen Versuche im Bett hinter dir gehabt. Zweifellos war es schön und aufregend, war es befriedigend und erfüllend, einen Orgasmus zu haben zusammen mit einem Partner, der dir gefiel. Und ich dachte damals, es wäre immer so, wenn ich in Zukunft mit Männern zusammen sein würde. Zehn Minuten Aufregung, wenige Sekunden Ekstase, anschließend Erschöpfung und einen schnarchenden Partner neben dir, der auch noch im Schlaf deine Brust umklammert hält. Nie hätte ich vermutet, dass es noch eine andere Ebene, eine wesentlich höhere Gefühlsebene geben könnte.« Carmen blickte zu Sarah. »Kann ich bitte etwas zu trinken bekommen? Ein Cognac wäre gut. Dabei lässt sich besser reden.«
Wenig später war das Glas für Carmen eine Hilfe, ihre Nervosität zu überspielen. Sie konnte sich mit ihm beschäftigen, es zwischen den Fingern drehen.
»Ich wohnte in einem Studentenheim. Nebenan war Cynthia, es war Sympathie von der ersten Sekunde an. Und noch vieles mehr. Wir waren im gleichen Semester, studierten jedoch unterschiedliche Fächer. Cynthia studierte Mathematik und Physik. Was für ein Widerspruch zu ihrem inneren Vulkan.«
Carmen nippte an dem Alkohol.
»Anlässlich eines Universitätsfestes zogen wir über den Campus. Wir tranken an verschiedenen Ständen, rauchten auch etwas, von dem ich heute annehme, dass es Hasch war. Wir quatschten über Gott und die Welt und machten uns über unsere Kommilitonen lustig, die versuchten, uns anzumachen. An diesem Abend bildeten Cynthia und ich eine Allianz der Abwehr gegen das andere Geschlecht. Spät in der Nacht spazierten wir mehr oder weniger aufrecht und gerade zu unserem Studentenwohnheim und gingen auf unsere Zimmer.
Irgendwann wachte ich auf und registrierte im Halbschlaf, dass jemand in meinem Bett war. Cynthia hatte einen Schlüssel von meinem Apartment und lag nackt neben mir. Und sie streichelte meinen Körper. Ich hatte einen von diesen monströsen, molligen Schlafanzügen an, die man nur trägt, wenn man genau weiß, man ist allein. Cynthia machte Licht, verdeckte die Lampe mit einem Slip, zog langsam meinen Schlafanzug aus. Und ich war über mich ungemein erstaunt, weil ich mich nicht sträubte. Cynthia legte einen Arm um meine Schulter, zog mich zu sich und massierte mir den Nacken. Ich atmete flach vor innerer Anspannung, verhielt mich jedoch ruhig und ließ es geschehen. Cynthia streichelte meinen Hals, meine Brüste. Ihre Hände glitten tiefer zwischen meine Beine. Als wäre das ein Signal gewesen, begann auch ich, zaghaft ihren Körper zu streicheln. Vorsichtig, um ja nichts falsch zu machen und um ja nicht an eine falsche Stelle zu geraten, tastete ich mich Zentimeter für Zentimeter vor. Ich hatte ja keine Erfahrung.«
Sarah hatte mit zunehmendem Interesse zugehört. Und es dauerte ihr fast zu lange, bis Carmen endlich etwas getrunken, ihren Blick von der Saar abgewandt hatte und weiter sprach.
»Ich war aufgewühlt und unsicher und neugierig und erregt, ich war alles zusammen. Bisher hatte ich ja nur die Empfindungen gekannt, die Männer mir bereitet haben, die also vom anderen Geschlecht kamen. Nun jedoch war es eine Frau, die mich, gleichfalls eine Frau, auf eine Art berührte, die man normalerweise nur Männern zugesteht. Und genauso ungewohnt war es für mich, auf die Art, wie Männer Frauen berühren, eine andere Frau zu berühren. Zum ersten Mal sah ich, wie die Brüste einer Frau reagieren, wenn man die Brustwarzen berührt, ganz leicht mit dem Finger darüber streicht. Wie sie sich aufrichten und eine andere Farbe annehmen. Wie sie hart werden und sich durch das umliegende Gewebe nach außen drücken.
Cynthia küsste mich überall, meine Brüste, den Bauchnabel, kroch tiefer, verteilte meine Schamhaare, und ihre Zunge …«
Carmen schluckte und senkte den Kopf, um nicht Sarahs Augen zu begegnen.
»Ich war im Himmel und hörte Engelchöre und sah Sterne auf mich zuschießen und mich durchbohren. Ich wurde zu einem Stern, der sich im Universum verlor, ich wurde zu einem Engel, der mit leichten Flügelschwingen in eine neue Welt eintauchte. Vielleicht klingt es seltsam, aber ich hätte sterben können vor Glück und Erfüllung. Und weil ich nicht gestorben bin, habe ich getobt und geschrien. So laut, dass man es überall gehört haben musste. Jetzt, wo ich davon spreche, höre ich mich wieder.«
Carmen atmete tief ein. »Was ich bekommen hatte, wollte ich zurückgeben. Und da ich wusste, was ich empfand, wenn ein Mann in mich eindrang, konnte ich mir auch vorstellen, was Cynthia dabei empfand, als meine Finger in die Wärme ihres Körpers krochen.«
Carmen machte eine Pause, lächelte verklärt und warf einen flüchtigen Blick zu Sarah. Dann schaute sie auf ihr Glas und betrachtete die braungelbe Flüssigkeit. Leicht schwenkte sie das Glas und beobachtete, wie sich am Glasrand feine Schlieren bildeten.
»Durch Männer wusste ich, wie ich auf bestimmte Arten der Stimulierung reagierte. Aber was ich bisher kannte und erfahren hatte, war nichts gegenüber dem, was Cynthia mir in dieser Nacht bereitete. Es war so … fremd und so … aufregend. Aufputschend und erregend. Mein Körper war mit einer ungeheuren und unbekannten Spannung aufgeladen und wartete darauf, in einem Funkenregen zu platzen. Mir war, als bestünde ich aus einem einzigen G-Punkt. Wo Cynthia mich auch anfasste und berührte, ich zerfloss vor Gefühlen und sprühte vor Eruptionen. An Schlaf war selbstverständlich nicht zu denken.
In mir wuchs der Wunsch, die Zeit still stehen zu lassen und meine Lust permanent zu genießen. Unersättlich zu sein und sie bis zuletzt zu genießen. Und das Bild, wir zwei Frauen nebeneinander im Bett mit diesem wunderbaren Sex, bei dem beide Seiten das Bestreben hatten, mehr zu geben als zu nehmen, sehe ich vor mir, als wäre es gestern gewesen.«
Carmen schloss die Augen und strich sich mit einer Hand über die Oberschenkel. Ihre Hand wanderte weiter nach oben und blieb kurz unter dem Gürtel liegen.
Sie öffnete die Augen und sprach mit belegter Stimme weiter: »Was danach kam, mit Männern meine ich, besonders mit meinem Mann, war deshalb so unbefriedigend, weil an mich ständig die Erwartung herangetragen wurde, ich habe den Wunsch meines Partners zu erfüllen. Diene deinem Herrn. Verschaffe ihm einen Orgasmus, vielleicht fällt auch noch etwas für dich ab. Meist war das jedoch nicht der Fall. Und dann liegst du aufgewühlt neben einem müden Kloß und träumst und träumst und weißt, deine Träume werden nie in Erfüllung gehen.«
Carmen wandte sich ab und schwieg.
»Wie ist eure Beziehung weitergegangen?«
» Cynthia habe ich danach nur noch einmal gesehen. Am nächsten Tag beim Auszug aus dem Studentenwohnheim. Heute ist sie Staatssekretärin in Hessen, verheiratet und hat zwei Kinder. Aber glücklich ist sie wohl genauso wenig wie ich.«
Carmen stand auf und ging im Wohnzimmer umher. Nach einer Weile blieb sie vor dem Bücherregal stehen und las die Titel. Wenig später wanderte sie weiter.
»Du fragst dich sicherlich, Sarah, warum ich dir das erzählt habe. Ich dich in meine Geheimnisse, in meine intimen, überaus privaten Geheimnisse einweihe.« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter: »Zum einen, weil ich dir vertraue. Bisher habe ich noch mit niemandem darüber gesprochen. Und zum anderen, um zwischen uns ein … ein Gleichgewicht herzustellen.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Sarah mit belegter Stimme, die von Carmens Offenheit betroffen und zugleich berührt war. »Was verstehst du unter Gleichgewicht?«
Carmen schaute auf sie hinunter. »Von dir habe ich so viele private und intime Dinge erfahren, anfangs zwar in meiner Funktion als Ärztin, später jedoch auch als deine Freundin, dass ich dachte, du hättest auch ein Recht auf den Inhalt eines meiner Schatzkästchen. Mehr nicht.«
»Trauerst du Cynthia nach? Und den Gefühlen, die du damals empfunden hast?«
»Ja.« Carmen nickte. »Ja, ich trauere, weniger um Cynthia als um die Gefühle. Aber ich möchte sie nicht mit einer Frau erleben. Ich bin keine Lesbe. Mit einem Mann wird es jedoch nie dazu kommen. Deshalb trauere ich ihnen nach.«
Carmen war am kommenden Tag unbehaglich zumute, weil sie zu viel von sich selbst preisgegeben hatte. Noch meinte sie, die Zeit sei nicht gekommen, um mit Sarah über solch intime Dinge zu reden, die allein sie betrafen und somit auch nur sie berührten. Außerdem war sie unsicher, wie ihre Beichte auf Sarah gewirkt hatte. Erkannte Sarah sie als Vertrauensbeweis, als ein Gespräch unter Frauen, um eine stetige Belastung einmal deutlich auszusprechen, oder hatte sie Sarah damit überfordert, ihr zu den eigenen Problemen noch eines von sich aufgehalst?
Sarah rief am Nachmittag an und meinte, man könne doch einen Kaffee trinken und etwas plaudern. Carmen spürte die Erleichterung, weil sie dachte, Sarah würde sich möglicherweise in den kommenden Tagen von ihr fernhalten.
Zwei Stunden später begrüßten sie sich so unbefangen, als hätte es die gestrige Offenbarung nicht gegeben. Sarah entschuldigte sich, sie müsse sich noch umziehen.
Carmen ging auf die Terrasse und schaute hinunter auf ein großes weißes Fahrgastschiff mit Promenadendeck, das gerade angelegt hatte. Touristen strömten zielstrebig an Land. Auch heute würden sie die zwei Stunden Aufenthalt nutzen zu einem typischen Stadtrundgang. Zuerst die Burg, dann die Graf-Siegfried-Straße, die einzige Einkaufsstraße, danach zum Wasserfall und durch die Altstadt an der Saar entlang zurück zum Schiff. Alles in zwei Stunden zu erledigen, einschließlich eines Kännchen Kaffees und eines Stück Kuchens.
Sarah stand in der Tür, gekleidet in ein körperbetontes, dunkelblaues Kostüm und eine fahlgelbe Bluse. Sie hatte die Hände auf die Hüften aufgestützt. »Na, wie gefalle ich dir?«
Carmen zuckte zusammen.
»Entschuldige bitte, so war es nicht gemeint.« Sarahs Gesicht hatte sich gerötet. »Ist mir so rausgerutscht.« Sie stellte sich vor Carmen und schaute sie lange an. »Ich kann mir vorstellen, wie aufgewühlt du bist. Was du mir gestern erzählt hast, ist für mich ein Kompliment. Weil du mir vertraust. Und ich werde dein Vertrauen nicht missbrauchen.«
Carmens Augen bedankten sich. Als wolle sie ihre Verlegenheit kaschieren, fragte sie: »Wie wäre es mit einem Kaffee? Hast du auch ein Stück Kuchen im Haus?«
Sarah legte erschrocken eine Hand auf den Mund. »Entschuldige, das habe ich total vergessen. Der Kaffee ist längst fertig. Und Kuchen gibt es auch.«
Während Sarah den Tisch deckte, sagte Carmen: »Bevor ich es vergesse, am Wochenende möchte ich dir einen Mann vorstellen. Im Vergleich zu Henry fällt er ganz aus der Art.«
Sarah versteifte sich, alles an ihr war Ablehnung. »Von Männern habe ich genug. Sie können mich mal.« Das klang deutlich und entschieden und spiegelte ihre momentane Auffassung wieder. Aber die flüchtige Erinnerung an ihre Reise nach Südafrika und an Enrique Pasquada strafte sie Lügen. Von ihm, war Sarah überzeugt, hätte sie noch nicht genug.
»Nun, ich würde ihn gerne für mich abzweigen, aber er möchte unbedingt mit dir bekannt gemacht werden. Was heißt bekannt gemacht werden, ihr kennt euch bereits.«
Aber so sehr Sarah auch drängte, Carmen möge ihr bitte mitteilen, wer es denn sei, die Ärztin schmunzelte und schwieg.
Nachdem sie Kaffee getrunken und Carmen wieder einmal, wie sie betonte, zu viel Kuchen gegessen hatte, stellte sie, während Sarah abräumte, den CD-Player an. Musik, die, wenn man der Werbung glaubte, Millionen bewegte, bewegte die beiden Frauen jedoch nicht. Carmen suchte eine andere CD und entdeckte die Kassetten.
»Sarah, Buddy Holly«, las sie vor. »Und Elvis. Und Fats Domino. Sind die von dir?«
»Nein.«
Carmen wollte Elvis hören, aber im Fach lag noch eine Kassette von den Beach Boys.
»Mal schauen, welchen Geschmack dein verdammter Henry hatte«, meinte sie und schaltete das Gerät ein.
Aber es kam keine Musik. Eine Stimme war zu hören, die nicht in ein Mikrofon sprach, sondern irgendwo in den Raum. Deshalb klang sie gedämpft, undeutlich, und es waren störende Nebengeräusche auf dem Band.
»Ist das nicht Henry?«, fragte Carmen.
Sarah stand in der Tür zum Esszimmer. »Pscht. Lass uns doch mal hören.«
»Sprich doch endlich zu mir. Wie lange soll ich denn noch warten. Ober muss ich zuerst wieder eine Geschichte erzählen?« Trommeln erklang, als wenn jemand gegen einen Karton klopfte.
Und jetzt etwas ungeduldiger: »Sprich mit mir. Sei nicht so wie mein Papa, der nie mit mir gesprochen hat. Außer wenn er schimpfte. Sonst hat er nie etwas gesagt. Immer nur gelesen und vor sich hingestarrt und Zahlen verglichen. Ich weiß gar nichts aus der Jugendzeit meines Papas. Nur über geschäftliche Dinge hat er mich informiert. Und das war immer so langweilig. Aber das habe ich dir schon erzählt. Du weißt schon so viel von mir, und ich noch nichts über dich.« Henry kicherte. »Eine Geschichte kennst du bestimmt noch nicht. Oder kennst du sie doch? Ach so, du weißt nicht, welche ich erzählen will? Wenn du ein Engel bist, dann kannst du meine Gedanken lesen. Zugegeben, das ist sehr mühsam. Streng dich bitte an. Engel sollen auch mal etwas arbeiten und nicht nur immer da oben rumfliegen.« Und nach einer kleinen Pause sprach Henry weiter: »Also gut, wenn du mich so darum bittest. Hier also meine Geschichte.« Henry räusperte sich. »Als Kind habe ich oft in einer kleinen Kammer neben meinem Zimmer gehockt. Was heißt hier kleine Kammer? Man hatte einfach die Dachschräge senkrecht abgemauert, um gerade Wände zu bekommen, und ich habe stundenlang in dieser Schräge gehockt. Da war es gemütlich und klein, niemand konnte zu mir. Und niemand konnte sich von hinten anschleichen und mich erschrecken oder angreifen. Da habe ich mich richtig wohl gefühlt. Allein mit meinen Gedanken, und niemand hatte Zutritt. Nur ich und meine Gedanken. O ja, es ist schön kuschelig, wenn man in einem kleinen Raum sitzt und überlegt. Dann hast du das Gefühl, du könntest dich viel besser konzentrieren, weil deine Gedanken auch nicht flüchten können und in diesem Raum bleiben müssen.« Erneut kicherte Henry.
»Ich habe da so gesessen und überlegt. Warum ich später einmal Autos verkaufen sollte und so. Oder dass ich ein anständiges Mädchen heiraten sollte, wie Mami meinte. Ein sauberes und anständiges Mädchen aus gutem Hause. Und Geld, so meint Mami, gehöre nun mal dazu. Anständige Familien hätten immer Geld. Nur die Unanständigen hätten keines. Wie die im Hasenberg, die Hilde aus dem Kindergarten. Aber ich kenne dort auch einige, die anständig sind, obwohl sie kein Geld haben. Aber davon will Mami nie etwas wissen. Ich sitze da und denke also. Plötzlich kamen sie, Mami und Papa. In mein Zimmer kamen sie, und zwar auf Zehenspitzen. Sie schlichen und schauten nach, wo ich sein könnte. Sie riefen sogar nach mir. Und dann habe ich es gesehen. Mami hat sich aufs Bett fallen lassen, Papa ist über sie und hat ihr die Kleider vom Leib gerissen. Und dann haben sie sich geküsst und geliebt. Dass sie sich geliebt haben, wusste ich damals noch nicht so recht. Erst später bin ich darauf gekommen. Durch Walli. Plötzlich fing Mami an zu stöhnen, und Papa auch. Und beide wurden lauter. Zum Schluss schrie Mami, und da habe ich mich so erschrocken, dass ich gegen die Wand geklopft habe. Mami sollte nicht schreien. Sie sollte keine Schmerzen haben. Papa kam mich suchen und war sehr böse auf mich. An den Haaren hat er mich gezogen und mich geschlagen. Und Mami hat immer wieder gesagt: schau mich nicht an, schau mich nicht an. Mach die Augen zu und stell dich in die Ecke, Gesicht zur Wand. Los, schnell. Dabei hat sie sich die Bluse vor den nackten Oberkörper gehalten. Ich wusste gar nicht, dass sie am Bauch zwei dicke Speckrollen hatte. Aber ich konnte sowieso nicht richtig sehen, weil ich am Weinen war. Und immer wieder hat Papa mich an den Haaren gezogen und mich geschlagen. Nach zehn Minuten kam Mama zu mir, angezogen und geschminkt wie sonst auch. Kein Härchen lag quer. Sie sah richtig schön aus. Kein Speckröllchen zu sehen. Schlank und rank war sie. Und dann hat sie mich auch noch geschlagen. Was ich doch für ein ungezogener Bengel sei, der herumspioniere und andere Leute beobachte. Die eigenen Eltern beobachte! Aber ich sei doch in meinem Zimmer gewesen, habe ich geantwortet. Weißt du was dir ist, hat mein Papa mich gefragt. Mache mal die Augen zu. Was du dann siehst, ist dir. Und dann wurde ich bestraft. Ich musste mich unter die Dusche stellen, und Papa hat abwechselnd immer ganz heiß und ganz kalt gemacht.
Wie viel sind zehn Hände voll, hat er mich gefragt. Fünfzig, habe ich geantwortet. Gut, du kriegst heute fünfzig. Und für jedes Mal, wenn du schreist oder stöhnst, kommen fünf hinzu. Ein von Rönstedt stöhnt und schreit nicht, hast du das verstanden? Und wie ich verstanden hatte. Fünfzig mal hat Papa das Wasser heiß und kalt gemacht. Und ich habe nicht geschrien. Und ich habe nicht gestöhnt. Obwohl mein Rücken wie Feuer brannte. Als er fertig war, habe ich zu ihm gesagt, das waren aber erst acht Hände. So, hat er verwundert geantwortet und mir noch zwei gegeben. Aber seit diesem Tag hat er mich so seltsam angeschaut.«
Henry hatte aufgehört, Sarah und Carmen sahen sich irritiert an.
»Na, meine Engelstimme, ist das nicht eine schöne neue Geschichte für dich gewesen?«, war Henry wieder zu hören. »Und kein Ton kam über meine Lippen. Ich war damals, glaube ich, dreizehn oder vierzehn. Oder zwölf? Ich weiß es nicht mehr so genau. Kein Ton kam über meine Lippen. Noch am gleichen Abend bin ich zu meinem Papa gegangen und habe zu ihm gesagt: Papa, soll ich dir mal was zeigen? Was willst du mir denn zeigen, mein Junge, hat er geantwortet. Ich will dir zeigen, dass ich erwachsen bin. Schau doch nur. Ich hatte ein Messer genommen, und mir einen tiefen Schnitt in den Unterarm beigebracht. Sofort schoss das Blut hervor. Siehst du, habe ich gesagt, ich bin erwachsen. Kein Ton kommt über meine Lippen. Und da habe ich ein zweites Mal geschnitten und meinem Papa den Arm hingehalten. Er ist blass geworden und nach hinten gekippt. Und ich habe für ihn den Doktor gerufen, der mich dann auch verarztet hat. Noch insgesamt viermal habe ich mich später in den Unterarm geschnitten. Und immer ist mein Papa blass geworden. Kannst du mir sagen, wieso? Er war doch ein Mann. Aber wieso ist er blass geworden? Er war doch auch ein Jäger und hat Tiere getötet und ihnen das Fell abgezogen. Aber wieso ist er bei mir blass geworden? Weil er es nicht erwartet hat?« Henry war zu hören, wie er kratzende Geräusche verursachte. Und er kicherte erneut. »Mein Papa«, sprach er lachend weiter. »Er tat so stark und war so schwach. Ich habe ihn durchschaut. Ich war viel stärker als er. Und seit dem Tag konnte er mir nicht mehr weh tun, das wusste er. Und er hatte Angst, ich könnte ihm weh tun.«
Sarah und Carmen schwiegen, nachdem sich der Recorder ausgeschaltet hatte, und überlegten. Nur ihr Atmen war zu hören. Als benötigten sie eine Bestätigung, ließen sie das Band erneut laufen.
»Was Henry sagt, stimmt wirklich«, meinte Sarah anschließend. »Er hat am rechten Unterarm etliche kleine, gerade Narben. Jetzt weiß ich auch, woher sie stammen.«
Die anderen Kassetten wurden überprüft. Schnell kamen die beiden Frauen dahinter, dass auch sie von Henry besprochen worden waren. Sie wunderten sich, weil die Polizei die Kassetten nicht entdeckt hatte. Vielleicht, so mutmaßten sie, weil sie so offen herumstanden. Was hatte die Polizei auch für einen Grund, diese Kassetten von Elvis, Buddy Holly und den Beach Boys zu überprüfen?
»Sarah, es ist besser, wenn wir sie uns gemeinsam mit Ludevik anhören. Was meinst du?«
Sarah war einverstanden, sie telefonierte mit Ludevik. Er habe erst nach achtzehn Uhr Zeit. Das war den beiden recht. Ob er, Ludevik, hier bei ihnen vorbeikommen könne, fragte Sarah. Ludevik stimmte zu und sagte, er würde auch das eine, von Henry besprochene Tonband mitbringen.
Mitternacht war vorüber, als sie alle Aufzeichnungen gehört hatten. Die Stimmung im Wohnzimmer war gedrückt. Sie sahen sich flüchtig an, schauten aber schnell wieder weg, als sei es jedem unangenehm, in Anwesenheit der anderen Zeuge von Henrys intimer Beichte geworden zu sein. Intim deswegen, weil Henry sich entblößt und einen Blick in sein Innerstes freigegeben hatte. In ein zerrissenes, unstetes, wechselhaftes und bedauernswertes Inneres. Ein Blick in Henrys kranke Zone, die er so lange vor allen verborgen gehalten hatte.
»Ein Tonband müssen wir der Polizei vorspielen. Aus deren Sicht könnten Straftatbestände angesprochen worden sein. Aber die anderen gehen nur uns etwas an. Sind wir da einer Meinung?«
Carmen und Sarah nickten gleichzeitig.
»Sarah, dann möchte ich dich bitten, diese anderen Bänder unter Verschluss zu nehmen.«
»Klaus, nimm du sie bitte mit. Bei dir sind sie besser aufgehoben. Außerdem kannst du auch eher ermessen als wir, welche Bedeutung sie haben.«
Sarah stand auf ging zur kleinen Bar und fragte übertrieben lustig, um ihre eigene Befangenheit zu überspielen: »Wer möchte etwas trinken?«
Ihnen war nach Cognac. Um einiges mehr als normal. Den Umständen angepasst und ihrer Stimmung, die einer Aufmunterung, gleichgültig in welcher Form auch immer, bedurfte.
Carmen, selbst Ärztin und Psychiaterin, hatte Henry nicht therapiert, nie mit ihm mehr als einige belanglose Sätze gesprochen. Zwar konnte sie ihn mit Hilfe von Sarah und einigen wenigen persönlichen Begegnungen einschätzen, aber sie maßte sich nicht an, ihn aus beruflicher Sicht zu beurteilen. Dazu war sie zu voreingenommen und es fehlten ihr äußerst wichtige Indizien. Deshalb fragte sie Ludevik als Henrys Therapeuten: »Habe ich das richtig verstanden, dass Henry in unseren Augen so lange überheblich, selbstsicher und alert geblieben ist, bis ihm sein Ordnungsgerüst abhanden kam?«
Ludevik stimmte zu und beschränkte sich in seiner Erklärung wegen Sarah auf die wesentlichsten Fachbegriffe. »Wie wir ja gehört haben, hatte Henry Angst. Der große, starke Henry hatte Angst, und das schon seit seiner Kindheit. Und seine Eltern hatten auch Angst. Deshalb bauten sie für sich und ihren Sohn dieses Ordnungsgerüst auf. Es war wie eine Art Ritterrüstung, die half, sich zu verstecken und die gleichzeitig auch Schutz nach außen bot. Und Henry hat diesen Schutz sehr, sehr nötig gehabt.«
»Und weil sein Ordnungsgerüst funktionierte, alles an seinem Platz war, der ganze Tagesablauf von ihm so akkurat eingerichtet wurde, dass er sich daran anlehnen konnte, deshalb auch seine komischen Ausbrüche und emotionalen Erregungen, wenn einmal etwas nicht stimmte? Wenn einer unerlaubt oder unerwartet in sein schönes Gefüge eingebrochen war?«, wollte Carmen wissen.
»Ich bin zwar nur Schulpsychologe«, gab Ludevik zu bedenken, »aber die Merkmale sind so signifikant, dass man dies ohne weiteres sagen kann. Henry fühlte sich bloßgestellt und provoziert, wenn jemand in seine Ordnung eingriff. Und da er ja selbst nie Fehler machte, waren es immer die anderen, die seine Ordnung zerstörten. Für ihn war das wie ein persönlicher Angriff. Später, als sein Gerüst an Standfestigkeit verloren hatte, musste es ihm vorgekommen sein, als zöge man einem Ertrinkenden den Rettungsring weg. Und genau wie ein Ertrinkender tat er das Falsche, indem er wild um sich schlug. Physisch und auch verbal.«
»Und weshalb die Gewalttätigkeiten gegen Sarah? Die Schläge, die Vergewaltigungen?«
Ludevik überlegte einige Sekunden. »Einmal aus Angst, die seit vielen Jahren sein ständiger Begleiter gewesen ist, und dann auch noch aus einer seltsamen Lust heraus, Macht auszuüben. Henry war von Seiten des Elternhauses Macht gewohnt. Und Sarah als seine Ehefrau, die er täglich sah, musste eben diese Machtdemonstrationen ausbaden. Und sein Angstgefühl. Er benötigte den permanenten Beweis der Macht, sozusagen als Schutzschild, um seine Angst im Zaum zu halten. Auch im Geschäft und als Vorsitzender des SUV.«
»Erklärt das wirklich Henrys krankhaftes Verhalten gegenüber Sarah? Seine Machtspiele, die sexuellen Quälereien? Oder gibt es vielleicht nicht noch einen anderen Anlass für Henrys Perversionen?«
Ludevik überlegte und zuckte mit der Schulter. Einmal setzte er an, als wolle er eine Erklärung abgeben, ließ es dann jedoch. Er schien sich unschlüssig zu sein. Oder er hütete sich davor, falsche Vermutungen anzustellen.
»Ich glaube, wir machen es uns zu leicht, wenn wir immer nur Henrys Fehlhandlungen aufzählen und dabei vergessen, dass es dafür eine Ursache geben muss. Eine Fehlhandlung ist, Sarah zu schlagen. Was aber genau ist in seinem Unterbewusstsein abgespeichert, was eben diese Fehlhandlung provoziert?«
Ludevik schaute die Frauen an und erwartete keine Antwort. »Henry hat bereits als Kind sehr viel Kraft aufwenden müssen, um Bewusstseinsinhalte zu verdrängen. Sein Ich hat das Vergessen oder Verdrängen als einfache Fehlschaltung registriert. Wir versuchen nun, Henrys Fehlleistungen zu analysieren. Jede Fehlleistung ist auf einen kurzen Nenner gebracht ein Kampf zwischen bewussten und unbewussten Absichten.«
Carmen wollte konkrete Antworten und nicht zu viel Unterweisung in der Theorie. »Und wie kam es dann zu diesem Wandel? Dem Zusammenbruch von Henry? Dieses sich gehen lassen?«
»Frau Dr. Sigallas, dies war für Henry aus seiner Sicht die logische Konsequenz. Wann genau hat denn sein Zusammenbruch begonnen?«
Carmen wusste es nicht und Sarah meinte: »Ich glaube in dem Augenblick, als er niemandem mehr die Schuld an seiner Lebensunordnung geben konnte. Henry also ganz deutlich sah, er allein war der Verursacher. Es gab keine Schuldzuweisung mehr an Dritte.«
»So sehe ich es auch, Sarah. Um auf deine Beispiele im Haus mit dem Eindecken des Tisches zurückzukommen: Wen hat er verantwortlich gemacht?«
»Mary und mich. Zum Schluss nur noch mich. Seine ganze Wut konzentrierte sich auf mich.«
»Ja, schlimm, sehr schlimm. Und was haben wir vorhin gehört? Henry hat an sich gezweifelt, weil er nicht mehr wusste, wer mit seinem Handy telefoniert, wer in seinem Auto gesessen, sein Arbeitszimmer benutzt und den Monitor angelassen hat. Alles Dinge, die allein seiner Kontrolle unterlagen. Und seiner Verantwortung. Er stellte sich selbst, seine Korrektheit, seine Verlässlichkeit in Frage. Er fühlte sich von sich selbst hintergangen und verraten. Er war von sich enttäuscht und hat schließlich die Kontrolle verloren. Das war der Beginn vom Ende.«
»Eines ist mir immer noch unverständlich«, begann Sarah. »Warum hat Henry überhaupt diese Bänder besprochen? Falls jemand außer ihm sie zu hören bekam, dann waren diejenigen ja automatisch über sein Fehlverhalten informiert. Hat er das denn nicht bedacht?«
Ludevik hatte ein Problem und überlegte einige Sekunden. »Wenn wir versuchen, uns in ihn hineinzuversetzen, dann geschah auch dies wiederum aus einem für Henry logischen Grund. Er wollte Ordnung in sein Leben bringen. Und seine Art der Ordnung bestand darin, diese Bänder zu besprechen, Dinge zuzugeben, die ihn im Unterbewusstsein so sehr beschäftigt hatten – um sich dadurch zu entlasten. Einmal ausgesprochen und auf Bänder aufgezeichnet – andere schreiben sich ihre Probleme von der Seele –, hatte er aus seiner Sicht die Ordnung wiederhergestellt. So wie er jeden Tag mehrmals duschte, nicht um sich zu reinigen, sondern um alles Unangenehme wegzuspülen, spülte er mit den auf Band gesprochenen Worten seine Schuld weg. Und um keine zeitliche Beziehung zur Gegenwart aufkommen zu lassen, das hätte ihn ja wiederum an sich selbst zweifeln lassen, ihn ja vor sich selbst verdächtig gemacht, sprach Henry meist aus der Sicht eines Kindes, aus der eines Heranwachsenden. Seine Wortwahl war diejenige, die er zum tatsächlichen Zeitpunkt der Vorfälle benutzte.«
Ludevik schaute die beiden Frauen an. Sein Blick verweilte bei Carmen. »Sie sind nicht meiner Meinung?«, fragte er.
»Doch, doch«, entgegnete Carmen, die aus ihren Gedanken hochgeschreckt war. »Ich bin voll und ganz ihrer Meinung. Nur frage ich mich, ob diese Meinung schon endgültig ist, ob wir sie nicht noch einmal revidieren müssen.«
»Weil neue Erkenntnisse hinzukommen?«
Carmen nickte.
»Das ist mein Beruf«, lachte Ludevik. »Ich muss ständig meine Meinung revidieren.«
Carmen stand auf. »Ich bin gleich wieder hier.« »Wohin gehst du?«
Carmen gab Sarah mit einem Blick zu verstehen, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. »Zwei Minuten, mehr nicht.«
Und als Ludevik sich erheben wollte, sagte Carmen, sie wolle allein gehen.
Es dauerte höchstens fünf Minuten, bis Carmen wieder ins Wohnzimmer trat. Sie stellte einen Pappkarton mitten auf den Tisch und schaute in die Runde.
»Wo hast du das her?«
»Aus der Garage, Sarah.«
»Und was ist drin?«
»Sieh nach.«
Sarah öffnete den Karton und verteilte die Kleidungsstücke auf Tisch, Stühle und Boden. Es handelte sich überwiegend um feine, durchsichtige Unterwäsche, schwarze Strümpfe mit Naht aus Nylon, einen Strumpfhalter, einen Hüfthalter, Slips, einige Büstenhalter, zwei eng geschnittene Röcke und zwei ärmellose Abendkleider.
»Was soll das?«, wollte Sarah wissen.
»Von dir ist das doch nicht, oder?«, fragte Carmen unnötigerweise, denn alle, auch Ludevik, hatten sofort erkannt, dass es sich um ältere Modelle handelte.
»Natürlich nicht.« Entrüstet warf Sarah ihr einen Blick zu. »Ich brauche keinen Hüfthalter. Und ich trage ausschließlich Strumpfhosen. »Manchmal allerdings auch«, fügte sie leise hinzu, »welche mit einer Naht.«
Carmen berichtete, auf welchem Wege sie von den Kleidungsstücken erfahren hatte und meinte, es seien wohl welche von Henrys Mutter.
Für einige Sekunden schien ihnen diese Erklärung zu genügen. Unvermittelt stürmte Sarah aus dem Zimmer, kam mit einem Fotoalbum zurück und begann zu blättern.
»Sieht sie nicht zu kräftig dafür aus?«
»Wie willst du das herausfinden?«
Sarah entkleidete sich bis auf die Unterwäsche, ohne Ludeviks überraschten und zugleich neugierigen Blick zu beachten, und zog nacheinander die Röcke und die beiden Kleider an. Zum Schluss auch noch den Hüfthalter.
»Ich bin sehr schlank«, stellte sie fest. »Und diejenige, der diese Dinge hier gehört haben, war kaum kräftiger als ich. Vielleicht drei oder vier Kilogramm. Henrys Mutter jedoch wog mindestens zwanzig mehr als ich. Das weiß ich von Henry. Und ich habe sie früher gesehen, im Badeanzug. Das war Henrys Mutter überhaupt nicht recht. Fünfundsiebzig bis achtzig Kilogramm hatte sie mindestens. Eher mehr.«
»Aber auf den Fotos …«
»Herr Ludevik«, amüsierte sich Carmen. »Gewisse Dinge zu verbergen, gehört nun mal bei uns Frauen dazu. Die Männer mögen so etwas. Sie etwa nicht?«
Ludevik nickte abwesend, rieb sich das Kinn und stellte sich vor das Bücherregal, als suche er dort nach einer Lösung.
Carmen blätterte in dem Album und entdeckte Aufnahmen von Henry als Kind und als Jugendlicher.
»Und wer ist diese gut aussehende junge Frau mit dem kurzen Rock und den schönen Beinen hier auf dem Bild?«, wollte sie wissen. »Dreißig wird sie vielleicht schon sein, hat eine tolle Figur«, fügte Carmen hinzu.
Sarah schaute sich die Aufnahme an. Henry war im Alter zwischen zwölf und vierzehn zu sehen, wie er lächelnd von der Seite die gleich große Frau anschaute. Und sie lächelte zurück und hatte ihm einen Arm auf die Schulter gelegt.
Sarah nahm das Bild aus dem Album und betrachtete die Rückseite. »Henry an seinem dreizehnten Geburtstag mit Walli im Saarbrücker Zoo«, las sie laut vor.
»Wer bitte?«, fragte Ludevik erstaunt.
»Henry mit Walli, seinem Kindermädchen«, verdeutlichte Sarah.
Ludevik nickte geistesabwesend, äußerte sich jedoch weiter nicht, ließ sich in einen Sessel fallen und brütete mit gerunzelter Stirn vor sich hin.
Als die beiden Frauen nach einer Weile baten, an seinen Überlegungen teilhaben zu wollen, wiegelte er ab und meinte, seine Gedankengänge seien nicht so wichtig. Obwohl ihn das mit den Frauenkleidern irgendwie beeindruckt habe, wie er zugab.
Gemeinsam mit Oberkommissar Breuer hörten sie sich am nächsten Tag das Band an, welches als einziges eventuell strafrechtlich relevant sein könnte. Die Frage, ob es außerdem noch andere Bänder gäbe, verneinten die drei wie verabredet. Von allem musste die Polizei auch nicht wissen.
Auch auf diesem Band klang er so, als stünde Henry irgendwo im Raum oder als gehe er auf und ab. Man musste stellenweise konzentriert zuhören, um alles verstehen zu können.
»Weißt du was Schande ist?« Diese Frage richtete Henry an seine Engelstimme. »Mami und Papa haben das Wort Schande immer groß geschrieben. Nie haben sie mir gegenüber erwähnt, dass ich eigentlich drei Monate zu früh geboren bin. Das war eine große Schande für sie. Aber davon wussten nur wenige. Je mehr von einer Schande wussten, sagten sie, desto größer wäre die Schande. Und durch die Zeitung, so hat es Papa gesagt, erfährt es jeder. Nicht nur hier in Saarburg. Überall. In der ganzen Gegend. Bis nach Trier und weiter. Da habe ich gemeint, es kann doch immer mal passieren, dass die Geschäfte nicht so gut laufen, eine Firma Schwierigkeiten hat. Papa hat mich angeguckt, als käme ich vom Mars. Aber nicht bei uns von Rönstedts, hat er geantwortet. Hier in Saarburg wartet doch jeder auf so etwas, Henry, hat er gesagt. Das sind doch alles Neider und Geiferer, die dir freundlich ins Gesicht reden und hinter deinem Rücken schlimme Lügen erzählen. Henry, verstehst du das? Natürlich habe ich das verstanden und wollte wissen, ob denn Papas Freunde nicht in der Not zu ihm stehen würden. Die Ärzte und andere Geschäftsleute, mit denen er sich regelmäßig treffe und die sich gegenseitig immer einladen würden. Und die aus der Politik. Er kenne doch alle aus dem Stadtrat. Bei jedem Empfang und bei jeder Veranstaltung sei er immer mit ihnen am Scherzen und am Reden. Und wenn er in der Firma zum Tag der offenen Tür eingeladen habe, mit kostenlosen Getränken, dann seien doch immer alle gekommen. Da hat mein Papa nur gelacht und gemeint: Natürlich sind sie gekommen. Weil es nichts gekostet und weil die Presse Fotos gemacht und alles einen Tag später in der Zeitung gestanden hat. Jeder wollte auf das Foto. Am liebsten hätten sie sich gegenseitig weggeschubst. Und dann hat Papa mir erklärt, nur ein Sieger habe viele Freunde, überall nur noch Freunde, die sich dann mit dem Sieger brüsten wollten. Aber ein Verlierer der merke dann, wenn es ihm schlecht gehe, wie viele Freunde er wirklich habe. Vielleicht zwei oder drei, wenn überhaupt, hat Papa gesagt.
Wenn das so ist, dann könnten meine Eltern doch nach Spanien gehen und in ihrem Haus bei Marbella weiter leben wie bisher. Da hat Papa gemeint, ein von Rönstedt ergreift nicht die Flucht. Er steht zu dem, was er zu verantworten hat. Das hätte schon sein Großvater getan, der wegen seiner enormen Körpergröße im Ersten Weltkrieg rechter Flügelmann bei den Preußen gewesen sei. Bei Paraden immer gleich neben dem Kaiser. Ihm treu ergeben. Bis in den Tod. Das gehörte sich so, das war die Art der von Rönstedts, Verantwortung zeigen. Sich nicht drücken.
An diesem Abend haben meine Eltern zum ersten Mal lange mit mir gesprochen. Mama hat einen Arm um mich gelegt, und Papa mir immer wieder auf die Schulter geklopft. Du wirst es schon schaffen, mein Sohn, hat er gesagt. Wenn ich erst mal kein Hindernis mehr bin, du wirst es schon schaffen.«
Sie hörten Henry hastig atmen. Er musste nun näher am Mikrofon stehen. Und er murmelte einige Worte vor sich hin. Es hörte sich fast an wie ein Gebet. Dann wiederum wurde seine Stimme schwächer. Schlurfende Geräusche zeigten an, dass er sich entfernte.
»Papa hat mir in der letzten Zeit sehr viel zugetraut«, sprach Henry weiter. »Ich hätte ja auch den Umsatz im Geschäft schon maßgeblich nach oben geschraubt. Und wenn er kein Hindernis mehr sei, dann könne ich, wie er meinte, auch Kontakt zu einem Japaner oder Koreaner aufnehmen. Ich, der Juniorchef könne das. Und dann hat er weiter ausgeführt, dass mit der Firma alles geregelt werde. Und privat auch. Die Banken würden sich wegen ihrer Forderungen nicht an mich wenden, sondern allein an ihn, Hugo von Rönstedt, und ihn als den Verantwortlichen sehen. Sie würden sogar, so hatte man ihm verdeutlicht, mit mir zusammenarbeiten, um eventuell das Geschäft wieder zum Laufen zu bringen. Sonst würden sie viel Geld verlieren. Welche Bank möchte das schon.«
Henry stockte. Deutlich war das Abschrauben eines Verschlusses zu hören. Er trank und stellte etwas auf einen harten Untergrund.
»Wenn das Mami sehen könnte«, kicherte Henry. »Ich trinke aus der Flasche und ohne Glas. Und wische mir mit dem Ärmel den Mund ab. Gut, dass Mami nichts sehen kann. Gut, dass sie mich überhaupt nicht sehen kann. Sie wäre sehr unglücklich.« Er rülpste.
Die Flasche wurde wieder zugeschraubt. »Ob es denn keinen anderen Ausweg gäbe, habe ich Papa und Mami gefragt. Papa hat nein gesagt und Mami hat gesagt, da wo Papa hingehe, da gehe sie auch hin. Schließlich sei sie mit ihm verheiratet, und das nicht nur in guten Zeiten. Und Papa hat sie angelächelt und ihr die Wange gestreichelt. Er war froh über ihre Antwort. Denn dann müsse er nicht allein gehen. Allein sei er so einsam, nach so vielen Ehejahren. Aber so viele waren es noch nicht, habe ich gesagt. Und dann hat Papa zugegeben, dass er schon einmal verheiratet gewesen war. Aber darüber möchte er nicht reden.« Henry machte eine Pause und sprach nach wenigen Sekunden weiter: »Nun, ich konnte Papa nicht überzeugen. Außerdem war er auch alt genug und wusste genau, was er tat. Papa wusste das immer. Und Mami gab ihm in allem Recht. Nur auf diese Art und Weise, hat Papa gemeint, könne er seine Ehre behalten. Das mache man schon so seit Jahrhunderten. Ein Großonkel hätte es auch getan. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Und dann habe ich Papa noch geholfen, die Möbel wegzurücken und eine Plastikfolie auszulegen. Ordnung muss sein, hat er gemeint. Es soll doch nichts unnötig schmutzig werden. Das siehst du doch auch so, Henry, hat er mich gefragt. Ja, habe ich geantwortet. Dann lasse uns jetzt allein, mein Junge. Wir, deine Mami und ich, wollen noch miteinander reden. Und dann hat mich mein Papa in die Arme genommen und fest an sich gedrückt. Noch nie hat er mich in die Arme genommen. Als ich in sein Gesicht schaute, da habe ich die Tränen gesehen. Papa hatte Angst, ganz große Angst. Und er hat mich auf die Wange geküsst. Ich war verwirrt und wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Mami kam dann noch zu mir, hat sich von mir verabschiedet, aber ich habe die ganze Zeit an Papa denken müssen. War er vielleicht doch nicht so stark, wie er immer getan hat? Oder hatten ihm vor Jahren meine Messerschnitte in den Unterarm die Angst gebracht?
Ich bin dann gegangen. Papa hat gesagt, ich solle zu Freunden gehen. Aber ich wusste nicht, zu wem. Wer war schon mein Freund? Da habe ich Marek Achterbusch aufgesucht, und wir haben uns einen Film angeschaut. Wir hatten uns nicht viel zu sagen. Das war mir auch recht, denn ich musste immer an Papa denken, und an seine Tränen. Mitten im Film bin ich aufgesprungen und nach Hause gelaufen. Ich wollte Papa unbedingt noch einmal sehen. Auch mit Tränen, das wäre mir egal gewesen. Ich wollte Papa unbedingt sehen. Und mit ihm reden. Vielleicht zum ersten mal richtig reden, wie das Männer so tun. Aber als ich hinkam, da war die Polizei schon da. Und man ließ mich nicht ins Haus. Da bin ich hinten herangeschlichen, habe eine Leiter ans Haus gestellt und im ersten Stock ins Zimmer geschaut. Und da sah ich sie liegen, viele fremde Menschen um sie herum, die eigentlich dort nichts zu suchen hatten. Papa lag neben Mami, er hatte sie im Arm. Und er sah trotz des vielen Blutes irgendwie zufrieden aus. Und seine Augen schauten genau in meine Richtung. Er hat mich gesehen. Und ich habe ihm zugewinkt. Und mich von ihm verabschiedet. Dann bin ich in die Garage gegangen, habe mich im Dunkeln in eine Ecke gesetzt und geweint. Es konnte ja niemand sehen. Und Mami und Papa waren ja tot.«
Breuer war der erste, der sich regte. Er ging zum Recorder, nahm das Tonband und gab es Sarah.
»Frau von Rönstedt, ich habe von diesem Band keine Kenntnis. Was auf ihm zu hören ist, hat mit uns, der Polizei, nichts zu tun, geht uns auch nichts an. Das hier«, er deutete auf das Band, »ist privat. Sehr privat.«
Sarah schaute den Beamten verwundert an, der eine Größe zeigte, die sie ihm eigentlich nicht zugetraut hatte.
»Wie alt war Henry, als sich seine Eltern umgebracht haben?«, fragte Ludevik, der sich mit Sarah und Carmen in seine Praxis zurückgezogen hatte, wo man ungestörter war.
»Zweiundzwanzig«, antwortete Sarah.
»Und wie hat er geredet? Ich meine, die Art?«
»In der Überleitung normal wie ein Erwachsener, dann eher als Kind oder Jugendlicher.«
»Genau.« Ludevik nickte mehr zu sich selbst. »Er spricht nicht als zweiundzwanzigjähriger, sondern als jemand, der jünger ist. Vielleicht, um sich selbst eine Ausrede zu liefern, als sei ein Jüngerer nicht reif genug gewesen, die Tragweite der Ereignisse zu erahnen oder vorauszusehen. Und sie zu beeinflussen, sie zu verhindern. Dadurch möchte er sich indirekt entschuldigen.«
»Oder es hat bei Henry in diesem Alter einen markanten Vorfall gegeben, den man als Auslöser für sein späteres Verhalten betrachten könnte«, warf Carmen ein. »Und in der Folgezeit spricht immer wieder dieser damals gequälte oder bestrafte Henry.«
»Ja, klingt logisch.« Ludevik stützte das Kinn auf, starrte die Schuhspitzen an, wirkte abwesend und zog sich in seine Gedankenwelt zurück. Nach wenigen Sekunden und einem Seufzer kam er wieder auf das Tonband zu sprechen. »Was Henry dort gesagt hat, ist ein einziger Schrei nach Liebe und Beachtung. Er hat um Liebe und Anerkennung seiner Eltern gebuhlt und sie nicht erhalten. Er hätte alles getan, genauer gesagt er hat alles getan, um sie zufriedenzustellen. Besonders seinen Vater. Ihm war er kurz vor dessen Tod am nächsten.«
»Und als braver Sohn hat er ihnen auch noch dabei geholfen«, bemerkte Carmen mit bitterem Unterton. »Eine Plastikfolie, damit nicht so viel verschmutzt wurde, sich das Blut nicht verteilte. Sie hatten an alles gedacht.«
Ludevik sah das anders. Für Henry sei es eine Pflicht gewesen, den Eltern beizustehen. Und ihren Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, zu respektieren. Nie hätte er es gewagt, etwas gegen den Willen seiner Eltern zu unternehmen. Diese Unterwürfigkeit, diese Kritiklosigkeit sei ihm schließlich über Jahrzehnte anerzogen worden.
»Einmal drin, immer drin.« Carmen tippte sich an die Stirn. Sie sah alles pragmatischer. »Henry war gefangen in seinen eigenen Vorstellungen und denen seiner Erziehung. Und die Kraft der Vorstellung ist die wohl größte, leider auch meist die irrationalste.«
Sarah war als Schülerin einmal hinzugekommen, wie eine Klassenkameradin etwas gestohlen hatte, aber eine andere dafür bestraft wurde. Sie behielt diesen Vorfall für sich, weil die Diebin ihre Freundin war. Und genau diese Unterlassung, um Schuld zu wissen und sich durch eine selbst auferlegte Untätigkeit Schuld aufzuladen, hatte sie lange beschäftigt und gequält, bis sich der Vorfall endlich von selbst aufklärte. Dadurch war ihr Gewissen erleichtert worden, sie brauchte keine Abbitte zu leisten. Und die Schmach hatte ja nicht sie, sondern die andere zu spüren bekommen.
An diesen Vorfall erinnerte sich Sarah im Augenblick und fragte sich: Was habe ich unterlassen? Und je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, einen Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch ihre Ehe und das Erlebte zog, nicht genug gewürdigt zu haben: Träume. Im Grunde genommen wusste sie nicht viel über deren Entstehungsweise und Bedeutung, obwohl sie selbst wiederholt welche hatte, die ihr den Schweiß auf die Stirn trieben und ihr Herz rasen ließen. Ihr war bisher nur die Erinnerung geblieben, Henrys dagegen waren auf Band aufgezeichnet und konnten zu jeder Zeit abgehört werden. So, wie sie es bei Ludevik getan hatte.
Natürlich hätte sie mit Carmen oder mit Ludevik, auch mit beiden gemeinsam, sprechen können, aber sie wollte sich nicht ihnen gegenüber entblößen. Ihre Träume und deren Ursache waren ganz privat und gingen nur sie allein etwas an.
Sarah verabredete sich in Saarbrücken mit einem Psychoanalytiker, dessen Spezialgebiet die Traumdeutung war. Als sie die großzügigen Räumlichkeiten in einem exklusiven Geschäftshaus im Zentrum der Stadt betrat, nicht weit von Karstadt und der Fußgängerzone entfernt, die teure und geschmackvolle Einrichtung sah, gewann sie den Eindruck, zumindest, was die geschätzte Einkommensgröße und das Ambiente anbelangte, die richtige Wahl getroffen zu haben.
Sarah war erstaunt, von einem gerade einmal dreißigjährigen Mann mit längeren Haaren begrüßt zu werden, der einen gleichfalls teuren und geschmackvollen Eindruck hinterließ und so leise sprach, dass jedes Nebengeräusch zu unterbleiben hatte.
Er bot ihr einen bequemen Sessel an, setzte sich ihr gegenüber, schlug die Beine übereinander, schaute sie an und wartete einfach.
Um möglichst gezielt beraten zu werden, beschrieb Sarah ihre Träume und auch die von Henry sehr genau.
»Sollte das ein kleiner Test sein, Frau Rudolph?«
Sarah, die sich wieder unter diesem Namen angemeldet hatte, sah den schlanken Mann verwundert an.
»Ich habe nicht gewusst, dass es eine Familienberatung werden sollte«, eröffnete er ihr schmunzelnd.
Auf ihre Frage, wie sie das zu verstehen habe, meinte er gut gelaunt: »Entweder sind Sie eine multiple Persönlichkeit oder Sie haben mir Träume von mindestens zwei verschiedenen Personen erzählt.«
Sarah war an einer schnellen Traumdeutung gelegen und an einer für sie verständlichen Benennung der Ursache, wie Träume entstehen könnten.
»Herr Munzinger. Meine Träume, die ich Ihnen erzählt habe, sind fast beliebige Beispiele und dienen nur dazu, abschätzen zu können, worin die Ursache liegen könnte.«
Munzinger meinte, ihr Bilderrätsel lösen, denn jeder Traum sei ein Bilderrätsel, mit dessen Hilfe man auf das Original kommen möchte, könne er nicht so auf die Schnelle. Erst als Sarah gestand, es handele sich tatsächlich um zwei verschiedene Personen, willigte er ein, die Träume auf allgemeine Art einzuordnen, verkniff sich aber nicht die Bemerkung, besonders die letzten, gemeint waren die von Henry, interessierten ihn besonders. Natürlich nur im Zusammenhang mit der betreffenden Person.
Munzinger sah in Sarah einen Laien, der zuerst einmal über Grundsätzliches aufgeklärt werden müsse. Wie ein Dozent erläuterte er, Träume seien optische und akustische Phantasieerlebnisse, die während des Schlafes oder einer Schlafphase aufträten und etwas Unwirkliches oder etwas Wunderschönes, sozusagen als Wunschvorstellung, weitergäben. Alle Menschen würden träumen, drei bis viermal die Nacht mindestens mit einer Dauer zwischen wenigen Sekunden und vierzig Minuten, auch wenn sie sich am kommenden Morgen nicht daran erinnern könnten. Hochstehende Tiere, wie man inzwischen zweifelsfrei wisse, auch. Sich an Träume zu erinnern, könne man trainieren, indem man sich vor dem Schlaf vornähme, sie nicht zu vergessen. Der Traum unterscheide sich zum Wachsein dadurch, dass in ihm das Emotionale, also unangenehme Gefühle wie Angst und Enttäuschung, vorherrsche und man zwischen dem eigenen Ich und der Umwelt nicht unterscheiden könne. Die Zeiten würden verschwimmen, rasche Ortswechsel kämen vor, vieldeutige mythen- und märchenhafte Bilder könnten den Trauminhalt verzerren und eine surreale Erlebniswelt schaffen. Die Traumdeutung, führte Munzinger weiter aus, sei bereits 2000 Jahre vor Christi in Ägypten eine Art Wissenschaft gewesen.
Munzinger merkte, dass Sarahs Interesse an seinem Vortrag und der Historie nachließ. Er unterdrückte die Griechen, die Römer und das Mittelalter und kam gleich auf Freud zu sprechen, dessen Forschungen die wohl nachhaltigsten Impulse gegeben hätten. Gemäß Freud seien für Träume verantwortlich die nächtlichen Sinneseindrücke, Gedanken und Vorgänge des aktuellen Tagesgeschehens und ein Verdrängungsmechanismus, wobei letzterem unzweifelhaft die wichtigste Bedeutung zukomme.
»Mein Traum, in dem ich den Tisch nicht richtig gedeckt, das Besteck vertauscht hatte und deshalb mein Partner ausrastete, weil seine Ordnung gestört war – ich hatte ihn nur ein Mal, und zwar fast zwei Jahre nach dem Vorfall. Warum nicht gleich danach, oder eine Woche später?«
»Ich gehe davon aus, es handelt sich um ihren Mann und die Ehe ist vielleicht, wenn zwei Jahre dazwischen liegen, nicht mehr zu retten«, mutmaßte der Psychoanalytiker richtig. »Dann hat es aus meiner Sicht einen Impuls gegeben, ein Vorfall, ein Telefonat oder sonst etwas, vielleicht auch ein ahnungsvolles Gefühl, der diesen Traum ausgelöst hat.«
Sarah erinnerte sich, dass sie kurz vorher Carmen getroffen und den Abend mit dem alltäglichen Ritual des Vergessens, ein paar Cognac im Wohnzimmer mit Blick auf den gegenüberliegenden Stadtteil, eingeleitet hatte.
»Alkohol könnte auch ein Impuls sein«, bemerkte Munzinger, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Alkohol kann gewisse Verdrängungsmechanismen neutralisieren und aufheben. Schon liegt die Psyche blank, der Weg zum Unbewussten ist geebnet.«
Als Sarah nicht antwortete, sprach Munzinger weiter: »Freud geht meist von einem sexuellen Impuls aus. Dieser Vorfall ist jedoch total ohne Sex und genauso anregend wie eine … Bahnfahrt.«
»Und wie ist es mit dem Partner? Ist er auch langweilig wie … eine Bahnfahrt oder vielleicht doch eher eine kleine erotische Bombe?«
Ein Blick in Sarahs Gesicht zeigte Munzinger, dass er richtig lag.
Sarah sträubte sich, den für Außenstehende widersprüchlichen Traum von der Vergewaltigung durch Henry zu erzählen. Zuerst die erotisierende, sexuelle Erregung, weil sie dachte, sie träume tatsächlich, und dann wie ein Faustschlag die Erkenntnis, es war Wirklichkeit.
»Und was besagt der Traum mit dem Weinkeller? Mit dem Einsperren?«
»Der jedoch nicht von Ihnen stammt, sondern von Ihrem … Ehemann. Habe ich recht?«
»Egal. Was besagt er?«
Munzinger zögerte mit der Antwort. »Es könnte sein, dass er in einer Traumkaskade eingebettet war. Dabei kann es vorkommen, dass ein Traum auf dem anderen aufbaut. Ich kenne nun die vorangegangenen nicht. Außerdem könnte ein Traum auch ein Transportmittel sein, um das Unbewusste ans Tageslicht, sprich ins Bewusste zu bringen. Ein Traum wäre somit in seiner Funktion ähnlich einem Katalysator, also eine Art Umleitung oder Umwandlung, weil wir uns nicht direkt aus der Ebene des Bewussten in die des Unbewussten begeben können. Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja, ich glaube schon. Das bedeutet in meinen Augen, wir können nur über den Vertreter des Unbewussten, also die Fehlhandlung, auf den dynamischen, sie auslösenden Vorgang schließen.«
Munzingers Augen wurden groß, er nickte anerkennend. »Hatten Sie schon mal mit dem Metier zu tun gehabt?«
»Nein«, antwortete Sarah. Dass sie sich schon wiederholt mit Psychoanalyse beschäftigt hatte, auf einem für Normalbürger verständlichen Niveau, brauchte der Psychoanalytiker nicht zu wissen.
»Jeder Vorgang der Verdrängung ist mit einem bestimmten psychischen Prozess gekoppelt, Frau Rudolph. Um auf den Keller zurückzukommen: Dort eingesperrt und allein zu sein, bedeutet in diesem Fall Angst. Die Engelstimme hat der Träumende wirklich gehört, weil sie ihm das Gefühl gab, da gibt es noch jemand. Und es war ja auch eine Frauenstimme. Frauen wagen sich ja nicht in solch gefährliche Situationen vor wie Männer, meint man landläufig, dadurch wurde für den Träumenden die Gefahr als nicht so schlimm eingestuft.«. »Ist die Engelstimme nicht auch eine Art Sehnsucht?«, gab Sarah zu bedenken. »Sehnsucht danach, dass sich endlich einmal eine Frau mit ihm beschäftigt?«
»Zweifellos«, gab ihr Munzinger Recht. »Einmal Sehnsucht – sie geht zurück auf einen unbewussten, meist sexuellen Impuls, wie Sie richtig bemerkten –, zum anderen jedoch auch Erinnerung. Vielleicht gab es im Leben des Träumenden eine Stimme, die er als Engelstimme in Erinnerung hat und gerne wieder hören würde. Weil sich mit ihr angenehme Momente verbinden? Schöne, aufregende und erfüllende Stunden? Könnten Sie nicht damit gemeint sein?«
Sarah fühlte, wie sie unter dem Blick des Psychoanalytikers errötete. Und sie gestand sich ein, gegenüber Henry in der weit zurückliegenden Vergangenheit vielleicht auch einmal eine Engelstimme gehabt zu haben.
Sarah kam auf einen weiteren Traum im Weinkeller zu sprechen, Henry nackt und mit einer Schleife um seinen Penis.
»Der von Ihnen beschriebene Traum ist eindeutig sexueller Natur. Das blaue Schleifchen um den Penis, der Träumende ist ja nackt, symbolisiert, dass eine Frau ihm dieses Schleifchen umgebunden hat. Und er drückt auch die Hoffnung für den Träumenden aus, dass es eine Frau gewesen sein soll. Frauen oder Mütter nehmen für Jungen meist etwas Blaues.
Davon zu trennen ist der Vorfall mit dem Pippimännchen. Es ist mit einem Holzstab geschlagen worden, von seiner Mutter, weil er in die Hose gemacht hat. Hier hat eine Mutter ihren Sohn bestraft für das Versagen des Ehemannes. Und sie hat ihn genau dort bestraft, an der gleichen Stelle, wo der Ehemann in ihren Augen versagt. Getröstet worden ist er von dem Kindermädchen.«
Munzinger machte eine Pause, schaute zuerst zu Sarah dann an ihr vorbei aus dem Fenster. »Mich würde interessieren, welche Rolle dieses Kindermädchen im Leben des Träumenden gespielt hat oder immer noch spielt. War die Mutter durchgängig die Erziehende, die Bestrafende, und damit auch die Unnahbare, brachte sie ihm permanent keine Zärtlichkeit entgegen, zeigte sie permanent keine Gefühle? Wenn dem so ist, und für mich deutet vieles darauf hin, dann war der Träumende auf der Suche nach Anerkennung und Liebe. Vielleicht hat er beides bei dem Kindermädchen gefunden?«
Carmen wollte Sarah etwas Ablenkung verschaffen und lud sie ins Theater ein. Romeo und Julia werde gespielt, modern und der Zeit angepasst, solle aber im Ursprung, wie sie gehört habe, doch noch auf Shakespeare zurückgehen.
Sie hatten einen guten Platz in der fünften Reihe. Und neben Sarah saß ein Mann, etwas größer als sie, mit Brille und leicht schütterem Stirnhaar, der den ganzen Text auswendig zu kennen schien. Mehrfach hörte sie, wie er ihn leise vor sich hin murmelte: »Und bist du in des Teufels Bahn, dann unterliegst du deines Ruhmes Wahn.«
In der Pause, Sarah und Carmen tranken ein Glas Sekt, stellte sich ihr Nachbar neben sie.
»Wie gefällt Ihnen das Stück?«
»Ich weiß nicht so recht«, antwortete Sarah und betrachtete sich den Mann. Er trug eine karierte Jacke mit Lederflicken auf den Ellenbogen. Und darunter ausgewaschene Jeans.
»Es kommt Ihnen so vor, als versuche jemand mit Graffiti die Mona Lisa zu verschönern. Ist es nicht so?«
»Ob das Shakespeare so gewollt hat?«, antwortete Sarah ausweichend.
»Nun, auch er wird der Zeit angepasst und sprachlich gepierct. Dramaturgisch gepierct«, fügte der Mann mit der Brille hinzu. »Es ist nicht eine Frage des Geschmacks, es ist eher eine Frage der Extravaganz einen Regisseurs oder Intendanten, der meint, er könne einem alten Klassiker noch etwas beibringen. Und zwar etwas Zeitgemäßes. Dabei merkt der Betreffende nicht, dass jeder diesbezügliche Versuch ein Widerspruch in sich selbst ist. Sonst wären sie ja keine Klassiker. Verstehen Sie, was ich meine?«
Carmen, die etwas abseits gestanden hatte, trat näher. »Wie ich sehe, habt ihr euch bekannt gemacht.«
Sarah schaut die Ärztin irritiert an.
»Ihr kennt euch doch schon seit geraumer Zeit«, verdeutlichte Carmen. Der Mann lächelte, als wisse er, worauf Carmen anspielte. Aber Sarah verstand immer noch nicht.
»Ich sehe diesen Herrn heute zum ersten Mal.«
»Falsch.« Carmen sprach dieses eine Wort so betont aus, dass Sarah ihr wiederum einen seltsamen Blick zuwarf. »Um deinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen, das hier ist Herr Wellstein. Helmut Wellstein.«
»Sarah von Rönstedt.« Sie nickte dem Mann verunsichert zu.
»Ich weiß«, antwortete Wellstein. »Es freut mich, dass es Ihnen gut geht.«
Sarah schaute zwischen den beiden hin und her.
Mit ernster Stimme löste Carmen das Rätsel. »Herr Wellstein hat dich vor zwei Monaten auf der Brücke gesehen und vor etwas sehr Schlimmem bewahrt. Ich habe mir gedacht, dass du ihn vielleicht persönlich kennenlernen willst.«
»O ja, natürlich«, murmelte Sarah, die sich überrumpelt fühlte.
Der Gong ertönte zum dritten Mal, sie gingen wieder auf ihre Plätze. Verstohlen musterte Sarah den neben ihr sitzenden Mann. Sie kam sich entblößt vor, so ohne Vorwarnung mit ihrem Retter konfrontiert zu werden. Aber der hatte nur Augen und Ohren für Shakespeare, murmelte seinen Text vor sich hin und schien in seiner Rolle des Mitspielenden aufzugehen.
Sarah hätte gerne nein gesagt, als Carmen anschließend vorschlug, doch noch gemeinsam auf ein Bier in eine Kneipe zu gehen. Aber ihrem Retter gegenüber wäre das unhöflich gewesen. Er konnte nichts für ihren inneren Gefühlszustand. Und als Carmen genau im richtigen Augenblick die Toilette aufsuchte, bedankte sich Sarah bei ihm.
»Bedanken Sie sich wirklich, oder fühlen Sie sich nur verpflichtet?«, fragte Wellstein. »Vielleicht habe ich Ihnen damals überhaupt keinen Gefallen getan?«
»Doch, schon, im Nachhinein schon.«
»Interessant, die Umschreibung. Also eher auf die jüngste Vergangenheit bezogen«, mutmaßte Wellstein und Sarah bestätigte dies.
»Dann war also Ihr damaliger Entschluss wohlüberlegt. Für Sie eine logische Konsequenz aus dem Vorgefallenen.«
»Ja, genau so ist es gewesen.«
»Wenn ich die Art, wie sie dies sagen, richtig interpretiere, dann wird Sie mein Eingreifen nicht gerade begeistert haben.«
»Damals nicht«, gab Sarah zu. »Woran haben Sie eigentlich erkannt, dass ich von der Brücke springen wollte?«
»Auf der Autobahn trifft man selten Spaziergänger. Und noch seltener welche, die sich anschicken, ein Geländer zu ersteigen. Ich habe Sie aus einiger Entfernung bemerkt, wie Sie etwas hinunter geworfen haben. Als notorisch neugieriger Mensch bin ich langsamer gefahren und konnte gerade noch meine gute Tat für diesen Tag vollbringen. Es war doch eine gute Tat?«
»Ja.« Sarah schaute in die Augen von Wellstein, die trotz der graugrünen Farbe Wärme und Verständnis zeigten. Und sie schaute in ein Gesicht, dem die typischen Falten um die Mundwinkel fehlten, wie sie die Unternehmer des SUV zur Schau trugen als Zeichen von Durchsetzungsstärke. Zumindest Ellwanger und Achterbusch, die Henrys Mimik kopierten, indem sie den Unterkiefer leicht nach vorn schoben und fest auf den Oberkiefer pressten.
»Ich weiß nicht, ob es Sie interessiert«, sagte Wellstein und lächelte. »Ich bin nicht verheiratet.«
»Ich bin verheiratet«, antwortete Sarah.
»Aber nicht glücklich«, vollendete Carmen, die die letzten Worte gehört hatte. »Oder würdest du es anders sehen, Sarah?«
Sarah antwortete nicht. Später sprach sie Carmen darauf an. »Warum stellt du mir meinen Retter vor?«, empörte sie sich. »Ohne mich zu fragen und ohne mich zu warnen?«
Carmen hatte mit dieser Frage gerechnet. »Zum einen, weil es endlich Zeit wird, dass du ihn kennen lernst. Ich habe mich zweimal mit ihm getroffen, aber er scheint nur an dir interessiert zu sein. Habe ich dir schon gesagt, dass er bereits im Krankenhaus nach dir gefragt hat?«
»Nein.«
»Dann weißt du es jetzt. Und zweitens, liebe Sarah, aus dem einfachen Grund, dass du dich etwas mehr dir gegenüber verpflichtet fühlst. Aus dem Leben zu gehen, sich freiwillig zu verabschieden, das ist eine Art von Anmaßung. Zumindest in deinem Fall, wo keine schlimme Krankheit dahinter steckt. Würdest du mir in diesem Punkt zustimmen?«
»Hätte ich Krebs, dürfte ich es also tun.« Sarahs Bemerkung klang patzig.
»Hast du aber nicht. Würdest du mir zustimmen?«
Sarah antwortete nicht.
»Würdest du mir in diesem Punkt zustimmen, wenn du nun die augenblickliche Situation bedenkst? Henry in einer Anstalt, du allein und frei, kannst dich zu jeder Zeit scheiden lassen. Würdest du mir endlich zustimmen?«
Zögernd antwortete Sarah: »Ja.«
»Mehr wollte ich nicht von dir hören.« Carmens Gesicht war undurchdringlich. Irgendwie kam es Sarah vor, als lache sie innerlich. Oder als hätte sie gerade einen Sieg errungen. Frage war nur, welchen!
Sarah hatte in den vergangenen Tagen den Eindruck, als fühlte sich Carmen wegen ihrer intimen Beichte immer noch unbehaglich. Einen Spaziergang im Kammerforst, dem Stadtwald auf der gegenüberliegenden Seite der Saar mit Reitstadion und Jugendzeltplatz, benutzte sie zu einer Aussprache.
»Falls es dich beruhigt, Carmen, eine kleine lesbische Erfahrung habe auch schon gemacht. Aber wirklich nur eine kleine«, fügte Sarah lächelnd hinzu, als sie das erstaunte Gesicht von Carmen sah.
»Stimmt das tatsächlich oder willst du mich nur beruhigen? Mir die Angst nehmen, weil ich mich letzte Woche so weit vorgetraut und dir von einem meiner best gehüteten Geheimnisse erzählt habe?«
»Sollte ich dich deshalb etwa belügen?«
»Nein. Bitte entschuldige.«
»In vielem gebe ich dir Recht, denn ich habe etwas Ähnliches erlebt. Deshalb war ich vor Tagen auch so schweigsam, als du mir deine Erfahrungen mitgeteilt hast. Im Grunde genommen war es nämlich ein Teil meiner eigenen Erfahrungen.«
Sie setzten sich auf eine Bank nahe einer kleinen Quelle, die sich durch einen Felsspalt an die Oberfläche drückte.
»Mir ging es wie dir. Manchmal ist man ungemein erstaunt, wenn man an sich, an seinem Körper, Dinge und Reaktionen erfährt, die einem bisher verschlossen geblieben sind«, begann Sarah. »Bevor du etwas Falsches denkst, Carmen, ich war nie mit einer Frau intim gewesen. Vielleicht ist mir da was entgangen. Aber es hat mich trotzdem ungemein berührt und mitgenommen.«
Sarahs Stimme hatte sich verändert. Sie war dunkler und kehliger geworden, als fiele es ihr schwer, darüber zu reden. Als erinnere sie sich wieder an das, was sie so bewegt und mitgenommen hatte. Vielleicht durchlebte sie auch im Augenblick die Situation.
»Wenn man mir vorher gesagt hätte, ich könne so intensiv auf eine Frau reagieren, ich hätte sie oder ihn einen Lügner genannt. Es kam wie eine Woge. Wellen von ungeahnten Schwingungen, meine Haut brannte, ich fühlte mich schwach, konnte kaum noch auf den Beinen stehen. Mein ganzer Körper vibrierte. Und ich hatte den Kopf gesenkt, um ja nicht in die Augen der anderen schauen zu müssen. Ich fühlte mich schuldig und schmutzig, weil ich so empfunden hatte. Und niemand sollte das in meinem Gesicht sehen.«
Sarah wandte sich ab und atmete heftig. »Mir, einer verheirateten Frau, musste so etwas passieren. Und auch noch in aller Öffentlichkeit. Bei einer Ausstellung. Hier in Saarburg.
Rizzi hatte ausgestellt. Im Amüseum. Der Raum knalle voll. Es war Sommer und sehr warm. Ich trug nur ein leichtes Leinenkleid und nichts darunter.«
»Keinen Slip?«
»Keinen Slip«, bestätigte Sarah.
»So hätte ich dich nicht eingeschätzt. Aber entschuldige, ich habe dich unterbrochen.« Carmen nickte aufmunternd.
»Vor einiger Zeit traf ich Klara, eine alte Freundin. Wir hatten uns Jahre nicht gesehen. Und in ihrer Begleitung war Vanessa, wohl zehn Jahre älter als ich. Vanessa war äußerst gepflegt, sehr dezent und gut geschminkt und sah auf ihre Art phantastisch aus. Aber etwas an ihren Augen irritierte mich. Es kam mir vor, als schaue Vanessa durch mich hindurch und dann auch wieder ganz tief in mich hinein. Und sie lächelte kaum merklich. Nur ihre Lippen bewegten sich dabei leicht und gaben einen Blick auf ihre weißen Zähne frei.
Klara besorgte uns etwas zu trinken, und Vanessa hakte sich bei mir unter, zog mich einfach mit in das obere Stockwerk, um mir dort einige Exponate zu zeigen. Nebeneinander gingen wir die enge Treppe hinauf, und ich spürte, wie Vanessas Hüften an den meinen rieben. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, die Treppe war wirklich eng. Unerwartet drehte sich Vanessa in meine Richtung, um mir etwas ins Ohr zu flüstern, obwohl es dazu keinen Anlass gab. Heute weiß ich auch nicht mehr, was sie mir gesagt hatte. Ich glaube, auch damals hatte ich nicht zugehört, nicht zuhören können. Scheinbar zufällig berührten sich unsere Brüste und ich spürte, wie wir beide reagierten. Vanessas Gesicht war ganz nah, sie roch verführerisch, schaute mich an, griff ungeniert meine Finger und verschränkte sie mit den ihren. Jeder, der uns zufällig beobachtete, musste den Eindruck gewinnen, wir wären gut miteinander bekannt und hätten uns etwas Vertrauliches zu sagen.
Oben auf dem Treppenabsatz angekommen wandte sie sich mir zu und legte mir wie selbstverständlich eine Hand auf die Hüfte. Vanessa kam näher und ich fühlte den Druck ihres Oberschenkels zwischen meinen Beinen. Ich war verwirrt, brachte keinen Ton über die Lippen und schaute sie nur an. Grüne Augen hatte sie, mit glitzernden Sprenkeln. Und in diesen Augen erkannte ich eine Lust, die mich erwartungsvoll erschauern ließ. Ohne mich dagegen wehren zu wollen fühlte ich auch Lust in mir aufsteigen und ein zwanghaftes Bedürfnis, sie gleichfalls anzufassen, meinen Körper an den ihren zu drücken.
Außer uns war niemand im oberen Stockwerk. Vanessas Mund kam näher, ich konnte ihren Atem riechen. Sie schloss die Augen und war nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt. Ihre Hand rutschte von meiner Hüfte und schob sich zwischen unsere beiden Körper. Ich ließ mich treiben, gab alle Vorbehalte auf und wartete mit vibrierendem Körper, was Vanessa mir hoffentlich antun würde.
Dann schlagartig die Ernüchterung. Wir hörten meine Freundin Klara mit den Getränken die Treppe hinaufsteigen und trennten uns. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass die beiden ein Paar waren. Und meine Freundin registrierte mit zwei schnellen Blicken, was geschehen war. Hastig lief ich die Treppe hinunter, um ein Haar wäre ich gestürzt. In mir war ein gefühlsmäßiges Chaos, ich wollte nur weg und mich in einer dunklen Ecke verstecken. Aber im Erdgeschoß wurde ich von Bekannten aufgehalten. Und das war eigentlich das Schlimmste. Ich, voll mit den verwirrenden, mich überlistenden und mich erfüllenden, neuen Gefühlen und Empfindungen, mit einem Gesicht, auf dem all meine Gedanken und Regungen und Geheimnisse geschrieben waren und das vor Erregung glühte, mit Beinen, die zitterten, ich musste mich zu meinen Bekannten stellen und mir deren dümmliche Sprüche über Kunst und alles andere anhören.«
Sarah stand auf, stellte sich an einen Baum. Sie legte ihre Stirn gegen den Stamm, die Hände hatte sie gefaltet wie eine Betende. Oder eine Büßerin, die darauf hoffte, man würde endlich ihr Flehen erhören.
»Hat dein Mann davon erfahren?«
Sarah verneinte. »Im Fernsehen schaute er sich Lesben gerne an, wir kennen auch ein lesbisches Paar und er fand es aufregend und chic, aber für mich hätte er kein Verständnis gehabt.«
»Genau wie mein ehemaliger«, bemerkte Carmen sarkastisch. »Die große Freiheit für sich selbst und ihre toleranten Ansichten, das Biedere und Konservative für die braven Hausmütterchen, so wie wir.«
Sarah löste sich von dem Stamm, stellte sich hinter Carmen und legte ihr die Hände auf die Schulter. »Außerdem lernte ich Vanessa gerade in der Zeit kennen, als Henry immer wieder mit mir ins Bett gehen wollte, um aus mir eine richtige Frau, eine Mutter zu machen. Zum einen wollte ich die Gefühle mit Vanessa auskosten, zum anderen war alles, was mit meinem Körper geschah, ekelhaft und gegen meinen Willen. Eben deswegen war ich so irritiert und verwundert, weil ich bei mir spontan eine bedingungslose, fordernde Bereitschaft feststellte, meine Gefühle mit einer wildfremden Frau zu teilen.«
»Verstehe. Hast du Vanessa noch mal getroffen?«
»Nein. Und ich habe noch nicht einmal ein Wort mit ihr gesprochen. Ich weiß nicht, welchen Klang ihre Stimme hat.«
»Aber du würdest sie gerne wiedersehen.«
Sarah antwortete nicht.
»Damals, in Südafrika, mit …«
»… du meinst Enrique?«
»Ja. Mit Enrique. Ich erinnere mich an deine Schilderung, das muss ja fast wie ein Erdbeben gewesen sein. War das ähnlich wie mit Vanessa?«
»Ähnlich von der Intensität, ja, aber es war ein total anderes Gefühl.«
Wohl zwei Minuten noch stand Sarah schweigend hinter Carmen, als sie sich abwandte und einige Schritte zur Seite ging. Laub raschelte, ein Ast knackte unter ihren Füßen. Übergangslos kam sie auf ein anderes Thema zu sprechen.
»Breuer war gestern bei mir gewesen. Ob ich Anzeige erstatten würde gegen Henry. Er hat mir ein paar Paragraphen vorgelesen.«
Der Wechsel konnte nicht abrupter und desillusionierender sein. Als legte Sarah es bewusst darauf an, die Vergangenheit abzuwürgen, ihren eigenen Gefühlen einen brutalen Dämpfer zu verpassen, sich im Nachhinein für die schönen Momente mit Vanessa zu kasteien.
»Du hast nein gesagt.« »Zumindest werde ich mich zuerst mit meinem Anwalt beraten.«
»Und wie steht es mit der Scheidung, die du ja schon angeleiert hast?«
»Wird auch mit ihm beraten.« Sarah lachte. Carmen sah sie zum ersten Mal seit dem schrecklichen Vorfall lachen. Und eine scheinbare Leichtigkeit ging von ihr aus, die Carmen verwunderte. Oder war diese Leichtigkeit nur gespielt, um zu zeigen, schau her, mir geht es gut, auch ohne Vanessa?
»Gehst du Henry besuchen?«
»Nein.«
»Nie und nimmer?«
Sarah wandte sich ihr zu. »In den nächsten Monaten nicht. Dazu ist noch alles zu frisch.«
»Er ist krank.«
»Hast du nicht einmal zu mir gesagt, dass wir irgendwie alle krank sind?«
»Sarah, du weißt, was ich meine.«
»Wir sind schon ein seltsames Pärchen«, meinte Sarah und schaute lange in Carmens Augen. »Vom Schicksal Betroffene, von unseren Liebhabern Enttäuschte, eine kleine Allianz gegen die Männer.«
Ludevik wirkte am Telefon ernst und reserviert, als er Sarah bat, umgehend in seine Praxis zu kommen. Es gehe, wie nicht anders von ihr erwartet, um Henry. Er möchte dringend mit ihr über ihn reden. Ob sie Carmen mitbringen dürfe, wollte Sarah wissen. Er hatte dagegen nichts einzuwenden. Zwei Stunden später saßen sie ihm in seinem Besprechungszimmer gegenüber und er wollte in Erfahrung bringen, ob sich noch was ergeben habe, sie noch etwas im Haus gefunden hätten, was eventuell von Bedeutung sein könnte.
»Nein. Aber ich habe auch nicht weiter gesucht«, antwortete Sarah. »Was hätte ich denn noch finden können?«
Ludevik zuckte mit der Schulter. Er wusste es nicht.
»Oder anders gefragt: Gibt es aus deiner Sicht als Psychologe noch Unklarheiten, die beseitigt werden müssten? Wartest du noch auf spezielle Details, auf Wendungen und Ereignisse?«
»Nein.« Ludevik verstärkte das Nein mit Kopfschütteln und vermittelte den Eindruck, als sei für ihn alles geklärt. Im Gegensatz dazu stand jedoch seine Frage. Hoffte er denn, sich durch weitere Indizien bestätigt zu sehen, überlegte Sarah. Und wenn er sich bestätigt sehen will, dann hat er, im Gegensatz zu unserem letzten Treffen, heute vielleicht eine dezidierte Meinung über Henry. Über dessen Verhaltensmuster und über mögliche Ursachen. Will er uns dies heute mitteilen? So eine Art Zustandsbericht?
Nach einer Weile räusperte sich Ludevik. Die beiden Frauen schauten ihn an. Er wirkte unschlüssig und unruhig zugleich, seine Augen irrten zwischen ihnen hin und her, um schließlich einen Punkt an der Wand zu fixieren.
»Sie haben doch etwas«, stellte Carmen fest. »Was bedrückt sie so?«
Ludevik zuckte mit der Schulter, nahm umständlich seine Brille ab und begann, sie akribisch zu reinigen. Wiederholt begutachtete er gegen das Licht die Gläser. Genau so umständlich setzte er sie wieder auf und verrückte sie mehrfach, bis sie richtig saß.
»Wenn es um Henry geht, haben wir …« Carmen verbesserte sich sofort, »… hat Sarah da nicht das Recht, alles zu erfahren? Auch die unbedeutendste Kleinigkeit?«
Ludevik nickte. »Ja, dieses Recht hat sie.«
»Nun, dann los. Oder soll ich mich vielleicht besser vorher verabschieden?«
»Nein, wenn es Sarah nicht stört.« Ludevik schaute sie erneut an und schien abzuwägen. Innerlich focht er einen Kampf, wie er sich verhalten, was er sagen sollte und durfte.
»Natürlich haben sie ein Recht, auch Sie, Frau Sigallas, aber es ist nicht so leicht, über Dinge zu sprechen, die man im Vertrauen erzählt bekommen hat, die sehr intim sind, zwar schon viele Jahre zurückliegen, aber wirklich sehr, sehr intim sind. Und die mit Sicherheit dazu beigetragen haben, dass sich Henrys Persönlichkeitsgefüge so entwickelt hat. Die sozusagen Meilensteine und Wegweiser für sein späteres Verhalten sind und vieles, vielleicht sogar alles erklären.«
Sarah und Carmen gaben Ludevik Zeit, sich zu sammeln und sich zu einer Entscheidung durchzuringen.
Unvermittelt stand der Psychologe auf, ruckartig und entschlossen, als könne nichts auf der Welt ihn abhalten, schnappte sich eine Akte aus dem Regal, setzte sich wieder und begann zu lesen und zu blättern. Mehr als zehn Minuten vergaß er seine Umwelt und seine Besucherinnen.
Ludevik schob wieder einmal die Brille zurecht, hob langsam den Kopf, hatte seinen zweiten innerlichen Kampf beendet und orientierte sich in dem Zimmer, ohne etwas zu registrieren. Erneut stand er auf, nun jedoch langsam, zögerlich, als benötige er noch Zeit, seine letzte, seine endgültige Entscheidung zu überdenken. Mit kleinen Schritten ging er umher, den Kopf gesenkt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
»Was Sie nun zu hören und zu sehen bekommen, mit Henrys Einwilligung habe ich unser Gespräch auch gefilmt, hat Henry in der letzten Sitzung am Nachmittag vor seiner angeblichen Abreise in den Urlaub zu mir gesagt. Ich habe ihn zu Hause aufgesucht. In dem Gespräch davor erzählte er von seinem Hund, den er dressierte. Und der dann plötzlich verschwunden war. Von seinem Vater erschossen. Henry hat auf meine Frage, was sein Vater mit dem Hund gemacht habe, geantwortet: Er hat mich erschossen. Sie erinnern sich?« Ludevik blieb stehen und sah die Frauen an.
Sarah und Carmen antworteten fast gleichzeitig mit »Ja«. Henrys Worte hatten sie seltsam berührt.
»Ich musste es tun. Ich musste ihn noch unbedingt vor seinem Urlaub sprechen. Noch waren seine Erinnerungen frisch, noch war seine Bereitschaft, mit mir zusammenzuarbeiten, vorhanden.« Ludevik ließ sich in einen Sessel fallen, nahm sofort eine zusammengesunkene Haltung ein, als fühle er sich wegen seiner Vorgehensweise schuldig. Hatte er so schlimme Dinge erfahren, die ihm erspart geblieben wären, falls er nicht zu Henry gegangen wäre? So zumindest kam es den Frauen vor.
»Henry öffnete sofort die Tür, nachdem ich geklingelt hatte. Aber es liefen mir keine Hunde entgegen. Alles wirkte ruhig, still – mir kam das Grundstück, das Haus im Schatten der Burg irgendwie … sterbend vor. Und Henry erweckte auf mich den Eindruck, als sei er ebenfalls ruhig und still. Er begrüßte mich ohne irgendeine sonst von ihm gewohnte Reaktion, weder freundlich noch ablehnend. Jedoch so, als hätte er mit meinem Besuch gerechnet, obwohl ich unangemeldet kam, ganz spontan einer Eingebung folgend. ›Schön dass du da bist‹, sagte er. Das war alles, während er mich ins Haus führte. In der Diele sah ich tatsächlich einen Koffer. Wir gingen hinaus auf die Terrasse. Getränke standen auf dem Tisch, auch hochprozentiges, und ein Glas. Henry war also allein gewesen. Und dann setzten wir uns und plauderten zuerst über Nebensächlichkeiten. Seine Firma, den geplanten Urlaub, über die Saarburger und das Wetter. Es war warm an diesem Tag. Henry trug Jeans und ein kurzärmeliges Hemd. Irgendwann stockte unsere Unterhaltung, er sah mich erwartungsvoll an.«
»Henry war nicht aufgeregt? Unsicher oder nervös?«
Ludevik verneinte Sarahs Frage. »Heute würde ich sagen, er hat Beruhigungsmittel genommen. Seine Bewegungen erschienen mir langsam und bedächtig.«
»Aber ich war doch zu diesem Zeitpunkt gleich nebenan im Keller. GefesseltundinmeinemeigenenDreckhausend, mit Tabletten vollgepumpt.«
Ludevik rechtfertigte sich erneut: »Henrys Ruhe kam mir zwar ungewöhnlich vor, aber nicht irgendwie beängstigend, als versuchte er, etwas zu kaschieren oder zu überspielen.«
»Und er gab sich kooperativ? Sprach mit Ihnen bereitwillig? Beantwortete all Ihre Fragen?«, wollte Carmen wissen.
Ludevik nickte. »Ich hatte den Eindruck, als sähe Henry in mir mehr und mehr einen Beichtvater für seine Psyche.
Ludevik schob eine CD in seinen Laptop, drehte das Gerät in Sarahs und Carmens Richtung und klickte auf »Start«.
»Wie soll ich das verstehen, ich solle all meine Probleme aufstapeln, eines auf das andere.« Henry sprach langsam und überlegt, seine Stimme klang ruhig und überdeutlich, als wolle er präzise sein und jedes Missverständnis vermeiden.
»Zum einen, damit du sie alle sehen kannst, und zum anderen, um Ordnung in deine Probleme zu bringen.« Ludevik hoffte, die richtigen Worte und den richtigen Tonfall gefunden zu haben. Noch wusste er nicht, sollte er zu Henry wie zu einem Erwachsenen oder eher wie zu einem Kind oder Jugendlichen reden.
Henry überlegte einige Sekunden. »Und wenn ich sie alle gestapelt habe, was dann?«
»Henry, wir suchen uns das Problem heraus, welches am wichtigsten ist. Das Initialproblem. Aus einem Initialproblem können viele andere Probleme erwachsen, sie verursachen.«
»Ich verstehe«, antwortete Henry. »Aber welches ist mein Initialproblem?«
Ludevik hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich kann es deshalb noch nicht wissen, weil auf dem Stapel noch einige Probleme fehlen. Meist legt man die tiefsten und schlimmsten und wichtigsten und quälendsten Probleme erst beim zweiten oder dritten Versuch obenauf.«
»Willst du damit andeuten, ich hätte dir nicht alles gesagt?« Deutlich war der ärgerliche Unterton herauszuhören.
»Du hast mir alles gesagt, Henry«, beschwichtigte Ludevik ihn sofort. »Aber in dir selbst können Mechanismen sein, die ein Problem blockieren, es quasi vor dir selbst verstecken, damit du dich nicht unnötig und permanent mit ihm beschäftigen musst. Dann erkennst du es selbstverständlich nicht. Sogar wenn du wolltest, du könntest mir dieses Problem nicht nennen.«
»Wenn das so ist, dann kommen wir einfach nicht weiter«, konstatierte Henry.
Ludevik schaute zu ihm, aber Henrys Augen waren in die Ferne gerichtet. »Möglicherweise hast du Recht. Aber mit deiner Hilfe können wir es eventuell überlisten, können wir deine Mechanismen überlisten, wenn ich dir einige Fragen stelle und du dich bemühst, sie mir aufrichtig zu beantworten.«
»Ich lüge nie.« Immer noch schaute Henry in die Ferne.
»Natürlich Henry. Du belügst mich nicht. Aber etwas in dir könnte es tun. Ohne dein Zutun. Sollen wir beginnen.«
»Ja.«
Ludevik griff in seine Jackentasche, legte zusammengefaltetes Papier und einen Stift vor sich auf den Tisch.
»Wofür brauchst du Papier?«, wollte Henry wissen. »Das Band läuft doch mit. Und die Kamera. Eine japanische?«
Ludevik nickte..
»Und so handlich. Teuer?«
»Es geht.«
»Und warum schreibst du dann noch mit?«
Nur so eine Angewohnheit von mir«, brummte Ludevik. »Wie ein Raucher sich an der kalten Zigarette festhält, halte ich mich an meinem Stift fest.«
»Du müsstest mal zum Psychologen gehen.«
Sie lachten beide.
Ohne Überleitung begann Ludevik: »War dein Kindermädchen … wie heißt sie noch mal?«
»Walli. Mit richtigem Namen heißt sie Walburga. Aber wir nannten sie alle Walli.«
»War Walli oft dabei, wenn du deinen Hund dressiert hast?«
»Ja, eigentlich immer. Besonders am Wochenende.«
»Und wo waren dann deine Eltern?«
»Am Wochenende oft unterwegs. Von Samstag auf Sonntag. Bei Bekannten und Freunden. Und auch schon mal in Paris oder einer sonstigen Stadt. Aber Walli passte gut auf mich auf. Meine Mami war sehr zufrieden mit ihr.«
Henrys Stimme veränderte sich während der ersten Sätze. Er sprach nun abgehackter und schneller, und er war wieder, was die Wortwahl betraf, ein Junge von vielleicht zwölf oder vierzehn.
»Wie lange war denn Walli schon bei euch als Kindermädchen?«
Henry schien zu überlegen. »Walli und Mami, das war eins. Ich weiß nicht, wer zuerst da war. Manchmal habe ich als Kind gedacht, Walli sei meine Mami. Sie war immer so lieb zu mir. Hatte immer Zeit. Beschäftigte sich mit mir und wurde nie ungeduldig. Sie hat mich als Baby gefüttert – aber das weiß ich nur vom Erzählen – hat mich fürs Bett fertig gemacht und mir eine Geschichte vorgelesen oder auch schon mal ein Lied gesungen. Daran erinnere ich mich noch genau. Und sie hat dabei meine Hand gehalten, mir den Kopf gestreichelt und mir einen Gute Nacht Kuss gegeben.«
Ludevik machte sich trotz des mitlaufenden Bandes ständig Notizen. Aus den Augenwinkeln schaute er zwischendurch zu Henry, in dessen Gesicht sich nichts regte.
»Walli hat alles mit mir geteilt. Sie hatte mich so gern, dass sie mir auch ihre Kleider und Strümpfe angezogen hat. Zuerst war alles ein bisschen groß, später jedoch nicht mehr.«
»Und wie lange war Walli bei euch im Hause? Wie lange war sie dein Kindermädchen?«
Henry antwortete nicht.
»Henry, hast du meine Frage nicht verstanden?«
Henrys Kopf sackte nach vorn. »Er hat mich erschossen und Walli weggeschickt. Ich hatte niemanden mehr. Ich war allein.«
»Hat dein Vater Walli weggeschickt, nachdem er dich erschossen hat?«, ging Ludevik auf Henry ein.
»Ja, später. Irgendwann später.«
»Ein Jahr später?«
»Weihnachten und Ostern und noch mal Weihnachten später. Sie war einfach nicht mehr da.«
»Du hast um sie getrauert?«
»Ja, ich habe um meine Mami Walli getrauert. Ohne Mami Walli war es nicht mehr so schön. Es wurde immer trauriger.«
»Deine Mami Walli? War Walli für dich wie eine Mami?«
»Sie war meine Mami.«
»Das verstehe ich nicht. Wieso war sie deine Mami?«
»Weil sie mich behandelt hat wie eine Mami. Sie hat mich ausgezogen, gewaschen und gebadet, mich abgetrocknet, mir die Haare gekämmt, mich zu Bett gebracht und gestreichelt. Alles, was eine Mami macht.«
Ludevik beobachtete Henry, der nichts um sich herum wahrzunehmen schien. »Wo hat sie dich gestreichelt?«
»Überall.«
»Auch am Po?«
»Ja.«
»Und an den Oberschenkeln?« »Ja.«
»Und zwischen den Beinen?«
Henry zögerte. »Ja. Mit der Zeit immer mehr. Mein Pippimännchen hat ihr gefallen. Ich streichle es, hat sie gesagt, damit es groß und stark wird. Das hat sie gesagt.«
Und als Ludevik schwieg, sprach Henry weiter: »Wir waren immer zusammen. Wir sind geschwommen in unserem Bad, sind getaucht, haben Ringkämpfe gemacht. Und meine andere Mami war oben und hat mit Freundinnen Kaffee getrunken. Papa hat gearbeitet. Und nach dem Schwimmen haben wir uns gegenseitig abgetrocknet. Walli hat gemeint, ein Pippimännchen müsste immer nusstrocken sein. Dann hat sie mir einen Bademantel angezogen und wir sind nach oben in mein Zimmer gegangen. Dort hat sie sich aufs Bett gelegt und ich durfte neben ihr liegen. Walli hat auch einen Bademantel angehabt. Aber der Gürtel hat nicht richtig gehalten. Sie hat dann meinen Kopf genommen und ihn zu sich gezogen. Ich durfte ihn auf ihre beiden Höcker legen. Dann hat sie gesagt, wenn ich den Kopf bewege, ganz sanft bewege, dann würden ihre Höcker auch wachsen, so wie später mein Pippimännchen. Und sie hat mir mit ihren Händen geholfen, damit ich ihn richtig bewegt habe. Walli hat dann immer ganz schnell geatmet, manchmal auch gestöhnt und sich dabei gewälzt. Wenn du jetzt auch noch hier reibst, hat sie gesagt, meine Hand genommen und sie nach unten zwischen ihre Beine geführt, dann wächst alles in mir. Und ich fühle mich so warm und es ist so schön. Und so habe ich zwischen ihren Beinen gerieben. Walli hat mir genau die Stelle gezeigt. Dort war es feucht. Ich dachte, das wäre noch vom Baden. Sie hat gemeint, wenn es dort feucht ist, dann bedeutet das, dass man denjenigen, der reibt, ganz lieb hat. Und ich hatte Walli ganz lieb. Und so habe ich immer mehr gerieben und Walli wurde immer mehr feucht. Und dann hat sie mir auch ihre Höhle gezeigt. Dort war es feucht und warm.«
Henry hatte die Ellbogen auf seine Oberschenkel gestützt und starrte auf seine Schuhe. »Walli war so feucht«, murmelte er wiederholt vor sich hin.
Behutsam, wie es sich anhörte, formulierte Ludevik seine Frage: »Wie alt warst du, als du Walli gezeigt hast, wie lieb du sie hast?«
»Ich weiß nicht mehr.«
»Bist du schon aufs Gymnasium gegangen?«
»Ja.« Nach wenigen Sekunden verbesserte sich Henry: »Oder noch nicht direkt. Aber wenig später.«
»Wie oft hast du Walli gezeigt, dass du sie lieb hast?«
»Ich weiß es nicht genau. In den Ferien auch schon morgens. Und dann immer abends.«
»Und deine andere Mami? Hat sie davon was gewusst?«
»Nein. Sie hätte es uns verboten. Walli hat gesagt, niemand darf das wissen. Nur wir beide allein. Nur wir beide allein, hat sie gesagt. Sonst hätte sie mich nicht mehr lieb.«
»Hat Walli dich auch gerieben?«
»Und geküsst. Gerieben und geküsst. Überall geküsst.«
»Auch dein Pippimännchen?«
»Überall. Und sie hat mir ein Schleifchen darum gebunden, damit man es immer findet. Und weil es so schön aussähe. Wie bei einem Geschenk.«
»Ein blaues Schleifchen?«
»Ja, Jungen bekommen doch immer ein blaues. Dann gab es auch schon mal ein gelbes. Was sie gerade in ihrem Haar hatte.«
»Und was hat sie noch getan?«
»Sie hat mir auch meine Höhle gezeigt. Gleich hinter dem Pippimännchen.«
»Wie hat sie das gemacht?«
»Mit den Fingern. Weil meine Höhle aber so eng war, hat sie Butter genommen und ihre Finger damit eingerieben. Dann ging es ganz leicht.«
»Hat sie dir weh getan?«
»Manchmal am Anfang hat es weh getan. Später aber nicht mehr.«
»Hat sie nur ihre Finger genommen?«
»Ich weiß nicht. Ich konnte es nicht sehen. Aber immer häufiger habe ich gemeint, dass ihre Finger dicker geworden sind. Und härter.«
Ludevik schien sich seine nächste Frage genau zu überlegen, weil er nicht riskieren wollte, Henrys Mitteilungsbedürfnis zu stören.
»Walli hat zu dir gesagt, wenn jemand reibt, den man lieb hat, dann wird es feucht. Hast du Walli auch gezeigt, dass du sie lieb hast?«
Henry nickte. »Aber erst später. Sie hat mir dabei geholfen. Sie hat mein Pippimännchen gerieben und es ist wirklich groß geworden, so wie sie es vor langer Zeit mal gesagt hat. Es ist gewachsen und hart geworden. Und dann habe ich ihr auch gezeigt wie lieb ich sie habe und bin ganz feucht geworden. Mein Pippimännchen hat gespuckt wie ein Springbrunnen. Das war schön. Es hat mir sehr gefallen. Und Walli hat mich dort dann auch geküsst und mein Pippimännchen mit dem Mund gewärmt. Und es ist gewachsen und hat wieder gespuckt. In Wallis Mund. Und sie hat sich über mich gebeugt und es zwischen ihre Höcker gedrückt und gerieben. Ihr ganzes Gesicht ist feucht geworden. Sie hat mich mit halb geöffneten Augen seltsam angeschaut, als sähe sie mich nicht und plötzlich gelächelt. Dann hat Walli gemeint, sie kenne eine Stelle, da könnte er noch viel besser spucken. Sie hat mir ihre Höhle gezeigt. Dort war es warm und feucht. Und dort hat es dann immer gespuckt.«
Ludevik erweckte auf dem Laptop den Eindruck, als sei er erschrocken und fasziniert zugleich. Fasziniert über die Vorgehensweise und den Ablauf, wie geschickt das Kindermädchen Henry missbraucht hat und erschrocken, dass er bisher bei Henry keinen Anhaltspunkt dafür festgestellt hatte.
»Als du von deinem Vater erschossen worden bist, hat Walli dich getröstet? Hast du ihr gezeigt, wie gerne du sie hast?«
»Ja. Und Walli hat es mir gezeigt. Ich habe es ihr auch gezeigt. Manchmal, wenn sie nicht wollte, habe ich es ihr trotzdem gezeigt. Und dann wollte sie auch. Außer Walli gab es niemanden mehr für mich.«
»Da waren doch deine Eltern.«
»Papa hatte nie Zeit und Mami trank mittags immer Kaffee mit anderen Frauen und hat mich weggeschickt. Ich solle mit Walli spielen.«
»Du solltest mit Walli spielen?«, fragte Ludevik verwundert.
»Ja, Federball, Monopoly und so. Aber wir haben was anderes gemacht und uns gezeigt, wie lieb wir uns haben.«
»Und weshalb ist Walli verschwunden?«
Henry zuckte mit der Schulter.
»Hat deine Mami sie weggeschickt?«
»Ich weiß nicht.«
»Oder dein Papa?« »Ich weiß nicht.«
»Hat Walli mit deinen Eltern Streit gehabt?«
»Nein. Keinen Streit.«
Ludevik lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen. Zuviel war auf ihn eingestürmt. Er musste sich konzentrieren.
»Hast du mit deiner Mami Streit bekommen?«
»Ja. Sie war böse auf mich.«
»Was hast du getan?«
»Ich wollte ihr zeigen, wie lieb ich sie habe.«
»Und wie hast du es gezeigt?«
»Ich bin zu ihr ins Bett gekrochen, als sie noch geschlafen hat. Und da habe ich ihre Höcker gerieben und auch zwischen den Beinen und bin in ihre Höhle gegangen. Da war sie sehr böse auf mich.«
Und weil Ludevik nichts sagte, fügte Henry hinzu: »Aber meine Mami hatte mich nicht lieb. Sie war nicht feucht.«
Eine bedrückende Stille lastete in Ludeviks Praxis. Eine Stille, wie sie immer schlimmen und schrecklichen Nachrichten folgte, als müsse das Schicksal sich von der eigenen Courage, zugeschlagen zu haben, erholen. Eine Stille, die man benötigte, um auch mit dem letzten, sich sträubenden Winkel des Verstandes die Tragweite zu erfassen. Die Körper und Geist etwas Zeit ließ, ein neues Mosaik zusammenzusetzen, Verbindungen zu erkennen und zu reagieren.
Sie atmeten flach und vermieden jede Bewegung. Sarah und Carmen schienen von den Worten gebannt zu sein und ihrem inneren Echo nachzulauschen. Henrys Geständnis lichtete für sie den Nebel um seine Psyche, ein Vorhang nach dem anderen wurde gelüftet. Sie sahen klarer, erfassten die Bedeutung, erkannten die Auswirkungen, die sich daraus ergeben hatten. Ihre Gesichter waren ernst und nachdenklich und wirkten zugleich verstört. Die Augen hatten sich jeweils einen Punkt ausgesucht, der sie fesselte und der ihnen befahl, sich zu nichts anderem zu bewegen. Als würde jeglicher Kontakt sie zu ungewollten Mitwissern machen.
Sarah warf Carmen nach einer Weile einen schnellen Blick zu und senkte sofort wieder den Kopf, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Und sie fühlte sich auch ertappt, denn nun kannte sie das Geheimnis um Henrys Aversion gegen Butter. Walli hatte damit ihre Finger eingerieben, um besser in seine Höhle zu gelangen.
Ludevik stand mühsam auf wie ein alter Mann, ging zu einer Anrichte und füllte drei Gläser. Sie tranken schweigend und vermieden es immer noch, sich anzuschauen. Sie, die Zeugen, trugen schwer an dem Gehörten, an einer Beichte, die sie beunruhigte. Niemand von ihnen hatte bisher in diese Richtung gedacht, weil es keinen Hinweis gab. Keine Vorzeichen hatten aus ihrer Sicht auf eine solche Entwicklung hingedeutet.
Ludeviks Worte, obwohl leise ausgesprochen, durchschnitten die Stille. »Henry hat mit keinem Wort erwähnt, dass sein Kindermädchen ihn zu etwas gezwungen hat. Für ihn war alles, was er oder sie getan haben, ein Zeichen dafür, dass sie sich mochten. Und er klammerte sich an diese Liebe oder wie immer man es nennen mag. Er wollte seine Liebe zeigen und hat darauf gewartet, dass Walli sich mit ihm beschäftigte.«
»Weil ihn sonst niemand beachtete, weil sonst niemand Zeit hatte und sich mit ihm befasste«, warf Carmen sarkastisch ein. »Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, Henry ist nun mal missbraucht worden.«
»Natürlich«, pflichtete Ludevik ihr bei. »Ein frühkindliches psychisches Trauma. Lang andauernde seelische Belastungen haben auf Henry eingewirkt, die er nicht verkraften konnte und die bei ihm psychosomatische Schäden verursacht haben.«
»Spricht man in diesem Fall nicht auch von einer Neurose?«, fragte Sarah.
»Ja, könnte man sagen«, konstatierte Ludevik. »Henry zeigte eine psychische Verfassungsanomalie zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen, geprägt durch Unsicherheit und Labilität, die er zu verstecken suchte. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Und vielleicht ist es genau das, was auf Henry zutrifft. Meiner Meinung nach sind es Angstneurosen, die ihre Ursache in einem Stau oder einem Mangel sexueller Energie haben. Auf den heutigen Henry bezogen klingt das paradox, nicht jedoch auf Henry als Kind und Jugendlicher. Bei ihm liegt als Ursache seiner psychischen Neurose ein Konflikt zwischen seinem Wunschdenken des Es und dem Abwehrdenken des Ich vor. Genau in dieses Muster passen auch seine Träume, wenn sie denn wirklich Träume sind. Aber über diesen Punkt haben wir ja schon ausführlich gesprochen.«
»Von Berufswegen akzeptiere ich Ihre Darlegungen«, meinte Carmen. »Man kann ja alles so schön erklären, so wohl gewählt und wissenschaftlich verbrämt. Ihre Erklärungen sind schlüssig. Aber als Freundin von Sarah bleibe ich dabei, der Kerl ist irre und hat einen gewaltigen Knall.«
»Bedenken Sie bitte Folgendes«, entgegnete Ludevik. »Ausgerechnet das Kindermädchen Walli hat ihm eine Art von Gefühl gezeigt, an das er sich geklammert hat. Weil er sonst keines kannte, seine Eltern ihm keine Liebe zeigen konnten. Walli hat das Defizit auf ihre Art ausgefüllt.«
»Und den Jungen für immer kaputt gemacht.« Carmen schüttelte sich. »Andere mussten es später ausbaden.« Sie warf einen Blick zu Sarah, die in sich gekehrt in einem Sessel saß und nicht reagierte.
»Sarah musste alles ausbaden. An ihr hat er seine krankhaften Verhaltensweisen ausgelebt. Sie ist bestraft worden für das, was Walli mit ihm getan hat.«
»Oder was seine Eltern – im übertragenen Sinne – nicht mit ihm getan haben«, korrigierte Ludevik. »Ihn in den Arm zu nehmen, ihm einen Kuss zu geben. Ihm zu zeigen, dass sie ihr Kind Henry mochten.«
Carmen ließ diese Erklärung im Raum stehen und fragte den Psychologen: »Aus welchem Grund sind Sie auf das Kindermädchen gekommen? Haben in ihr möglicherweise Henrys Hauptproblem gesehen? Wegen der damaligen Situation, als Henry den Hund dressierte, sie daneben auf einer Decke lag? Wegen der Bemerkungen über Schminken, schöne Kleider und das er sehr fein angezogen sei?«
Anerkennend nickte Ludevik. »Sie haben ein gutes Gedächtnis und ein Gespür für das Wesentliche. Und dass seine Eltern übers Wochenende verreist waren und es mir schien, als nähme das Kindermädchen die Position von Henrys Mutter ein. Sie hat sich meiner Meinung nach wie die Hausherrin aufgeführt.
Aber der entscheidende Impuls waren die Kleider in dem Karton gewesen, den Sie aus der Garage gebracht haben. Wallis Kleider, die sie ihm angezogen hat. Mein Puzzle war fertig, nur wusste ich es noch nicht.«
In der drauffolgenden Woche trat etwas ein, was Sarah innerlich jauchzen und juchzen ließ und ihr unvergessliche Momente der Zufriedenheit verschaffte. Sie wurde zu einem Notar in Merzig gebeten, der ihr eröffnete, mit ihr einige Dinge besprechen zu wollen.
»Ich habe von Ihrem Mann den Auftrag, Ihnen einige Verfügungen und Erklärungen abzugeben, die er hier bei mir vor Zeugen gemacht hat. Zugegeben, mich haben die Umstände auch etwas erstaunt, aber die notariellen Akte sind nun mal unwiderruflich gemacht worden.«
»Wann war mein Mann bei Ihnen gewesen?«
»Vor etwa vier Wochen, am 4. Mai.«
Eine halbe Stunde später war alles erledigt.
»Würden Sie bitte hier den Erhalt der Verfügungen und Erklärungen quittieren?«
Sarah, die eine innere Unruhe verspürte, unterschrieb, ging, sich zur Ruhe zwingend hinaus, setzte sich ins Auto, fuhr schneller als erlaubt nach Saarburg und eilte dort in ein Eiskaffee gleich am Wasserfall. Ihr war nach frischer Luft und einem klaren Kopf, ihre Wangen glühten. Heute war ein besonders schöner Tag. Nicht nur, dass die Sonne schien, sich viele Touristen in der Stadt tummelten, was den Geschäftsleuten ausgesprochen gut gefiel. Nicht nur, weil man ihr gestern mitgeteilt hatte, dass man Henry wohl in absehbarer Zeit kaum entlassen werden könne und man sie, seine Ehefrau, als seinen Vormund bestellt habe. In Sarah war ein Glücksgefühl, wie sie es schon lange nicht mehr hatte. Wenn überhaupt, dann kurz vor der Ehe und in den ersten Wochen danach. Und in der Intensität, aber auf eine andere Art, annähernd vergleichbar mit Vanessa, der schönen verführerischen Unbekannten im Amüseum, die sie so verwirrt und erregt hatte.
Sarah legte die Dokumente des Notars vor sich auf den Tisch, richtete sie exakt aus, bestellte einen Kaffee und trank mit geschlossenen Augen. Sie war zufrieden, äußerst zufrieden. Was heißt zufrieden, sie könnte zerplatzen vor Freude, auf den Tischen tanzen und jeden umarmen.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, entschuldigte sich Carmen.
»Macht nichts«, antwortete Sarah großzügig.
»Und, hat es sich beim Notar gelohnt?«
»Du bist ja gar nicht neugierig.«
Carmen lächelte. »Ich kann mir ausrechnen, um was es geht. Du bist sein Vormund.«
»Das war die gute Nachricht von gestern.«
»Und heute?«
»Hier, schau es dir doch an.« Sarah schob die Urkunden über den Tisch.
Carmen überflog die in gestelztem Deutsch verfassten Texte.
»Ein Schuldanerkenntnis über 2 Millionen Euro. Abgesichert durch Bankeinlagen und Grundschuldbriefe. Als Schmerzensgeld noch nicht einmal so schlecht«, fügte sie sarkastisch hinzu.
Carmen, die einen flüchtigen Blick zu Sarah warf, las weiter und fragte nach wenigen Augenblicken erstaunt: »Henry hat dir seinen Gesellschafteranteil an der Firma übertragen?«
»Ja, seinen Anteil, den einzigen Anteil. Die Firma gehört mir.« Stolz sah Sarah die Ärztin an.
»Gratuliere.« Aber dieses gratuliere klang irgendwie beiläufig und seltsam unbeteiligt aus Carmens Mund. Ohne Freude und emotionslos ausgesprochen, als könne sich noch etwas Ahnungsvolles ereignen. Als erwarte sie noch eine grundlegende Wendung.
»Außerdem hat Henry die Gütertrennung aufgehoben, dich als Erbin eingesetzt und dir Verfügungsgewalt über all seine Konten gegeben.«
Sarah nickte voller Zufriedenheit: »Ja, wie du sehen kannst.«
Carmen klappte die Urkunden zu, legte eine Hand darauf und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem harten, hellgrauen Deckpapier.
»Sarah, das verstehe ich nicht. Zuerst behandelt dich dieses Schwein wie den allerletzten Dreck, vergewaltigt dich, schändet dich, quält dich, und nun erbst du später alles von ihm und erhältst sein Geschäft obendrein. Als wolle er etwas gutmachen.«
Sarah hatte dafür eine Erklärung. »Nenne es Einsicht.«
»Nein, das nehme ich ihm nicht ab. Und dieser Akt«, Carmen tippte auf eine Urkunde und suchte eine bestimmte Stelle, »ist am 4. Mai vollzogen worden. Das war …«, Carmen überlegte, »… fünf oder sechs Tage, bevor wir Henry und dich gefunden haben. Das verstehe ich nicht.«
Sarah sah keine Veranlassung, sich zu äußern. Ihr kam die Entwicklung mehr als gelegen.
»Zuerst … ach lassen wir das.« Carmen winkte ab. Und dann, als hätte sie einen Punkt vergessen: »Wenn jemand seinen Gesellschafteranteil überträgt, muss da die andere Person nicht anwesend sein?«
»Nein, es geht auch mit Vollmacht.«
»Und die konnte Henry vorweisen?«
»Ja«, antwortete Sarah ohne lange zu überlegen.
»Aber zu dem Zeitpunkt warst du offiziell tot.«
»Das wusste der Notar nicht.«
»Schön, er wusste es nicht«, gab Carmen zu. »Aber Henry hat zumindest deine Unterschrift benötigt.«
Als müsste Sarah einen bekannten Umstand erklären, sprach sie wie zu einem kleinen Kind: »Ich war doch für ihn zu jeder Zeit greifbar.«
»Aber er musste sich die Unterschrift amtlich beglaubigen lassen.«
»Ach Carmen, was bist du so penibel. Auch Unterschriften von Toten werden amtlich beglaubigt. Wo ist da das Problem? Vor allem, wo ist da das Problem, wenn man Henry von Rönstedt heißt und hier in Saarburg alles bekommen kann. Er brauchte nur mit dem Finger zu schnieken.«
Dieses Argument überzeugte Carmen.
»Außerdem habe ich mich heute beim Notar ausweisen und alle Unterschriften in seinem Beisein wiederholen müssen«, fügte Sarah hinzu.
»Dann scheinst du ja jetzt am Ziel deiner Wünsche zu sein«, stellte Carmen mit traurigem Unterton fest.
»Das klingt ja so, als würdest du es mir nicht gönnen?«
Aber davon wollte Carmen nichts wissen. »Wenn ich es jemandem gönne, dann dir, nach all dem Leid. Wann fahren wir heute Abend?«
»Willst du wirklich in die Diskothek nach Trier?«
»Natürlich, Sarah. Gerade deswegen haben wir uns doch verabredet. Wollten wir nicht mal eine andere Umgebung haben? Uns etwas amüsieren, den Alltag vergessen?«
»Gut, auf nach Trier. Stürzen wir uns in das Nachtleben. Kommt mein Retter Wellstein auch?«
»Wer weiß?« Carmen hob vielsagend die Schultern. »Aber heute nehmen wir den Schlitten deines Mannes. Der macht was her. Heute geht es rund.«
Sarah und Carmen hatten sich zurechtgemacht, waren guter Laune, scherzten und stiegen in Henrys Achtzylinder. Bereits zwei Kilometer hinter Saarburg war die Fahrt beendet. Carmen schaltete das Radio ein, aber an Stelle von Musik vernahmen sie plötzlich Henrys Stimme. Sarah steuerte den Wagen kurz vor Biebelhausen, einem Vorort von Saarburg, in einen Feldweg. Und dann hörten beide Henry zu.
Am Anfang plauderte er unbefangen über seine Freunde und die Mitglieder des SUV. Eine allzu gute Meinung schien er nicht von ihnen zu haben. Henrys Stimme klang klar und deutlich. Mit der Zeit jedoch sprach er leiser, undeutlicher und mit längeren Pausen zwischen den Sätzen. Und er richtete wieder Fragen an die unbekannte Stimme.
»Vorhin, das hat dir gefallen, nicht? Oder war es gestern?«
Sarah glaubte Henry in seiner typischen Haltung vor sich zu sehen, wie er überlegte. Leicht breitbeinig stehend, um allen Stürmen des Lebens zu trotzen, einen Arm vor der Brust verschränkt, das Kinn auf die andere Hand gestützt, den Kopf zur Seite geneigt.
»Ja, es war gestern«, beantwortete sich Henry seine Frage selbst. »Meine Eltern, das war gestern. Aber Sarah hat auch Eltern gehabt. Die Mutter früh gestorben, blieb für sie nur noch der Vater übrig. Aber der hat sie wenigstens geliebt. Ich war dabei. Ich habe es gesehen. Sag mal, wirst du auch geliebt? Wo du herkommst, gibt es da auch Liebe?«
Einige Sekunden hörten sie nichts, Henry schien auf eine Antwort zu warten.
»Verstehe. Bei euch ist es also anders als bei uns. Mehr platonisch, ohne Körper und so. Verstehe.« Henry hatte seine Antwort erhalten.
»Nur mich, mich konnte dieser David nicht leiden. Dieser David Zucker. Dabei hat er meine Eltern sehr gut gekannt. Meinen Vater besonders. Aber mich konnte David nicht leiden. Was? Du willst wissen, warum er mich nicht leiden konnte? Keine Ahnung. Oder doch, natürlich habe ich eine Ahnung. Ich habe ihm seine Tochter weggenommen. Deshalb konnte er mich nicht leiden. Ist doch ganz klar. Wenn man einem Vater die Tochter wegnimmt, ist das immer so, nicht? Das habe ich gespürt. Und weil er von mir Geld haben wollte. Stell dir mal vor, der David wollte von mir Geld haben. Dabei hat er doch mehr gehabt als ich. Viel mehr. Wie meinst du das? Ich hätte ihm noch was zu geben? Ich hätte ihm sein Geld zurückzugeben, was ich unrechtmäßig erhalten haben soll? Moment mal, jetzt aber langsam. Nichts war unrechtmäßig, alles legal und alles auf Ehrenwort. Gut, ich hätte ihm ja auch das Geld wiedergegeben, irgendwann. Aber er hat es ja überhaupt nicht gebraucht. Was macht denn einer allein mit so viel Geld? Und außerdem sollte ich seine Tochter heiraten. Mitgift sagt man dazu, nicht? Natürlich hätte ich so etwas nicht nötig gehabt. Aber wenn doch, warum ablehnen? Nimm, was du kriegen kannst, hat mein Papa immer gesagt. Bei euch ist es doch bestimmt genauso, nicht?«
Henry machte eine Pause, Carmen beobachtete Sarah, die wie hypnotisiert auf das Radio starrte und allmählich näher rückte, um kein Wort zu versäumen.
»Also gut, ich gebe es zu. David hat mir Geld gegeben. Irgendwie hat mein Papa zu dem Zeitpunkt, obwohl er schon tot war, noch seine Finger im Spiel gehabt. Vielleicht hatten sie eine Abmachung? Einen Vertrag? David hat mir Geld gegeben, und das war dann mein Eigenkapital. Sozusagen. Der Bank hat das genügt. Sie gab den Rest, ich habe das Autohaus übernommen. Und seit dem Zeitpunkt läuft der Laden. Warst du mal in meinem Geschäft? Hast du dir die schönen Autos angeschaut? Das glatte Blech, die blitzenden Lacke? Das edel duftende Leder? Ich hätte dir Sonderkonditionen eingeräumt. Was, bei euch fährt man kein Auto? Interessant. Und wie kommst du an dein Ziel? Wie? Ich verstehe dich nicht. Du willst es mir nicht sagen? Ist das ein so großes Geheimnis? Gut, ist mir recht. Dann behalte es doch für dich.«
Sie hörten Geräusche, als schlurfe Henry umher. Er schnäuzte sich. Und er rülpste. Sarah warf Carmen einen schnellen Blick zu, als sei das die schlimmste Verfehlung gewesen, die Henry je begangen hatte. Schon auf der letzten Kassette hatte er gerülpst. Allerdings kurz zuvor auch Mineralwasser getrunken.
»Du kennst dich aber gut aus«, ging Henry wieder auf die Stimme ein. »Von wem hast du davon gehört? Das willst du mir nicht sagen? Und woher weißt du von den zwei Millionen, he? Verdammt, das muss dir einer gesteckt haben. Es gibt nämlich zwischen ihm und mir offiziell keine Verträge und nichts. Bei so einem Geschäft macht man eben keine offiziellen Verträge. Diskretion ist alles. Das muss dir also einer gesteckt haben.« Nach zwei Sekunden gab Henry zu. »Ja, es waren zwei Millionen. Genau zwei Millionen. Auf den Kopf. Die habe ich mir verdient, sauer verdient. David wollte seine Gesellschaft verkaufen, und ich habe ihm einen Käufer besorgt. Zwei Millionen, das war meine Provision. Nein, zu viel war das nicht. Es ging ja immerhin um …« Henry machte eine Pause. »Es ging ja immerhin um fünfzehn Millionen. Stell dir mal vor, fünfzehn Millionen! Wou! Das ist kein Pappenstiel. Und David meinte, die zwei Millionen hätte ich mir auch wirklich verdient. Ihm ist ja auch noch ne Menge geblieben. Fällig ist das Geld geworden bei Unterschrift vor dem Notar. David hat seiner Bank eine unwiderrufliche Zahlungsanweisung gegeben. Nein, wo denkst du hin. Natürlich keine deutsche. Zwei Tage später habe ich das Geld gehabt. Hast du schon mal zwei Millionen auf einen Schlag verdient, he?«
Henry schien keine Antwort bekommen zu haben. »Was kann ich dafür, dass der Käufer später abgesprungen ist. Mein Job war es, einen Käufer zu finden. Und das habe ich getan. Ich habe nicht zu ihm gesagt, springe ab. Bestimmt nicht. Das war kein abgekartetes Spiel. Nichts war getürkt. Natürlich habe ich ihn gekannt. Er kam aus Saarbrücken. Und er hat Geld wie Heu. Die Bankauskunft war hervorragend. David wollte sie unbedingt vor der Unterschrift sehen. Wirklich hervorragend. Ich hätte David über den Tisch gezogen? Jetzt hör aber auf.«
Wieder die schlurfenden Geräusche. »Jetzt hör aber auf. Ich habe dem Käufer … ich sage es dir zum letzten Mal, hast du verstanden? Ich habe dem Käufer nur fünfhunderttausend von meinem Anteil gegeben, um ihn ruhig zu stellen. Das war der einzige Grund. Verstehst du? Hätte ich wirklich nicht machen brauchen. Nur um ihn ruhig zu stellen. Der war ja auch verärgert, weil es nicht zum Kauf gekommen ist und hat mit Rechtsanwälten und Gericht gedroht. Entgangener Gewinn und so. Und da habe ich ihm das Geld gegeben. Ich wollte Ruhe haben, verstehst du?«
Einige Sekunden war nichts zu hören. Unvermittelt lachte Henry schrill auf und grummelte unverständliches Zeug vor sich hin.
»Das ist aber jetzt fies von dir«, war er wieder deutlicher zu hören. »Was du mir da unterstellst, ist eine Schweinerei. Eine infame Unterstellung. Das geht wirklich zu weit. Nichts war abgekartet, alles seriös, alles ehrlich. Das hat Sarahs Vater auch so gesehen. Er hat keinen Rechtsanwalt eingeschaltet. Keine Anzeige, nichts. Du meinst, weil ich seine Tochter heiraten wollte? Das ich nicht lache.« Henry lachte trotzdem. Es klang unnatürlich. »Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Geschäft ist nun mal Geschäft. David hat das auch so gesehen. Und was dann kam, darauf hatte ich keinen Einfluss. So sind nun mal die Banken. Käufer abgesprungen, mir die Provision ausgezahlt – ich habe sie mir ja auch verdient – und nun wollten die Banken bei David nicht mehr mitspielen. Kreditlinie überschritten, heißt das bei denen. Nichts geht mehr. Rien ne vas plus. Blutsauger sind das, richtig Blutsauger. Kriegen den Hals nicht voll. Und wenn du in der Scheiße steckst, dann scheißen sie noch auf dich drauf. Wie bei dem armen David. Die haben ihm gedroht, den Kredit unverzüglich zurückzuverlangen. Das hätten die glatt gemacht. Dann wäre David entehrt worden. Alle Welt hätte gewusst, David ist zahlungsunfähig, David hat sich übernommen. Den schlechten Ruf hast du dann ein Leben lang. Deshalb hat er den Banken alles verkauft. Der einen Bank alles verkauft. Die mit dem grünen Band und so. Sympathisch war die aber ganz und gar nicht. Die konnten doch den Preis diktieren, David hatte ja kein Geld. Ich hätte ihm ja geholfen, wirklich, ich hätte ihm ja geholfen, wenn ich meine Provision nicht bereits in mein Geschäft gesteckt hätte. Und ich habe ja auch noch fünfhunderttausend abzwacken müssen. Habe ich dir schon erzählt, dass ich fünfhunderttausend …, ach so, das weißt du schon. Also, die haben David ausgenommen. Die Bank, meine ich. Richtig ausgenommen. Haben ihm sechs Millionen geboten, genau so viel wie die Schulden waren, die Hypotheken, dabei war seine Gesellschaft unter Freunden zehn bis zwölf wert. Wieso lüge ich? Du meinst, vorhin fünfzehn und nun zehn bis zwölf? Der Markt macht den Preis, nicht ich. Wenn das mit den fünfzehn geklappt hätte, David wäre aus allem raus gewesen. Und meine Mitgift wäre viel höher ausgefallen als die läppischen zwei Millionen, nicht? So hat er für die Bank bluten müssen. Nichts blieb übrig, absolut nichts. Bis auf ein paar tausend oder so. Sein Haus, ein wunderschönes Haus, haben sie ihm auch genommen, obwohl es im Privatbesitz war. Aber Banken scheren sich darum einen Dreck. Für die gibt es keinen Privatbesitz. Wenn die am Drücker sind, tun sie alles, um an ihr Geld zu kommen. Selbstverständlich habe ich mich daran gehalten und Sarah nichts davon erzählt. Und ich habe sie trotzdem geheiratet. Auch ohne Geld. Na, hast du jetzt eine andere Meinung von mir? Ich war also gar nicht aus auf die Mitgift. So etwas habe ich nicht nötig.«
Carmen sah im schwachen Lichtschein des Armaturenbrettes, wie Sarah die Tränen über die Wange liefen. Und sie sah den starren Gesichtsausdruck, wie gemeißelt. Aus Enttäuschung und aus Wut.
»Jetzt höre aber auf«, protestierte Henry laut. »Die zwei Millionen, es waren ja keine zwei, die kannst du doch nicht als Mitgift bezeichnen. Das habe ich mir verdient.«
Sie hörten Henry schnauben. »Alles legst du mir negativ aus.
Alles. Ich kann sagen, was ich will. Warum bist du eigentlich so fies zu mir? Habe ich dir etwa etwas getan, he?«
Wieder war eine Weile nichts zu hören. »Ja, das stimmt«, gab Henry zu. »Das stimmt leider. Die Bank hat David kurz vor der Hochzeit zu verstehen gegeben, man habe viele Monate gewartet, nun sei Schluss. Hat ihn zur Unterschrift gezwungen. Zwei oder drei Tage vorher. Es war ein Donnerstag, da waren wir auf dem Standesamt. Und am Samstag haben wir geheiratet. Zwei Tage also. Natürlich ist die Bank Schuld an dem Desaster. Geht der arme David doch hin und nimmt Gift in der Hochzeitsnacht. Dafür kann ich doch nichts. Hätte mit mir reden sollen. Vielleicht wäre uns eine Lösung eingefallen. Die arme Sarah. Hat sie schlimm getroffen. Ist doch auch verständlich. Stirbt der Vater in der Hochzeitsnacht. Besser gesagt, bringt sich um. In der Hochzeitsnacht. Als wolle er seine Tochter bestrafen.«
Carmen fuhr das Auto zurück nach Saarburg und stellte es in die Garage. Sie stützte Sarah auf dem Weg zum Haus und brachte sie gleich ins Schlafzimmer. Sie zog Sarah aus, legte sie ins Bett und ging nach nebenan ins Bad. Beruhigungsmittel gab es in der Hausapotheke genügend. Mit zwei Aspirin und einer Noveril kam sie zurück. Eine Schlaftablette würde Sarah nicht benötigen. Das Noveril wirkte entspannend und ermüdend.
Und dann stellte sich Carmen einen Stuhl neben das Bett und setzte sich zu Sarah. Die lag ruhig mit geschlossenen Augen und schien zu schlafen.
»Vergiss das dumme Gequatsche von Henry, Sarah«, bemühte sich Carmen, sie zu trösten. »Wir wissen doch, wie es um ihn steht.«
»Das mit meinem Vater hätte er nicht tun dürfen«, war Sarah schwach zu hören. »Dieses Schwein. Das hätte er nicht tun dürfen. Wie ich ihn hasse. Und mit dem Schuldanerkenntnis über zwei Millionen will er alles gut machen. Sich bei mir freikaufen.«
Carmen nahm Sarahs Hand und streichelte sie. »Bitte, rede nicht darüber. Es ist alles ausgestanden. Dein Vater ist nun seit drei Jahren tot. Du kannst es nicht mehr ändern.«
»Aber ich kann meine Trauer in Hass umschlagen lassen«, wurde Sarahs Stimme fester. »Hass kann auch ein schönes Gefühl sein. Es frisst zwar an dir, aber ich empfinde es als schön.«
»Und rede dir um Himmels Willen nicht ein, dein Vater habe dich bestrafen wollen mit seinem Tod.« Carmen beugte sich näher und betrachtete Sarah. Unter den Augenlidern sah sie, wie sich ihre Augäpfel heftig bewegten. »Er wollte Henry bestrafen. Dein Vater konnte nicht mit ansehen, dass Henry dich geheiratet hat. Dieser Schmerz war für ihn zu groß. Sein liebstes Stück an der Seite von Henry, der ihn ruiniert hat.«
»Ich zahle es ihm heim.«
»Das brauchst du nicht mehr. Henry hat es sich selbst heimgezahlt. Er ist für alle Zeit aus deinem Leben verschwunden. Henry ist auch tot.«
Carmen bemerkte, wie Sarah flüchtig lächelte. Diese Vorstellung schien ihr zu gefallen. »Ja, Henry ist für mich auch tot. Und trotzdem hasse ich ihn. Auch Tote kann man hassen. Wenn man um sie trauern kann, dann kann man sie auch hassen.«
Der Sommer kündigte sich an mit blauem Himmel und gleißender Sonne. Im Garten blühte und grünte es, der Weg zum Haus war von Rosen unterschiedlicher Farben eingerahmt. Im Gästehaus wohnte wie in den Jahren zuvor der Gärtner, der das große Grundstück wieder zu dem machte, was es immer schon war: eine duftende, farbenprächtige Augenweide, vor der Fremde stehen blieben, um es sich anzuschauen und zu fotografieren.
Im Haus deutete schon lange nichts mehr auf die schrecklichen Vorfälle hin. Mary versah ihren Dienst wie eh und je, allerdings mit wesentlich mehr Freude und Elan, weil sie nicht mehr so zurechtgewiesen wurde. Manchmal konnte man sie sogar singen und pfeifen hören. Mary hatte sich auch längst andere Schuhe gekauft. Die Gesundheitssandalen habe sie, wie sie Sarah augenzwinkernd gestand, einfach weggeworfen. Was nützten ihr gesunde Füße und bequeme Schuhe, wenn sich kein Mann nach ihr umschaue? Und so alt sei sie mit ihren zweiundfünfzig ja noch nicht.
Außerdem trug Mary nun eine andere Frisur. Keinen unförmigen, altmodischen Zopf, sondern die blonden Haare mittellang, modern auf der Seite gescheitelt und mit Dauerwellen.
Schon vor einigen Wochen war Sarah aufgefallen, dass Mary ihre Nickelbrille gegen eine modische eingetauscht hatte. Etwa zur gleichen Zeit registrierte sie auch zum ersten Mal, dass Mary sich schminkte und engere Kleider trug.
»Mary, Sie haben sich enorm zu ihrem Vorteil verändert«, hatte sie gesagt. »Ich wusste nicht, dass Sie so schlank sind und eine so gute Figur haben.«
»Ja, man kann sogar noch im Alter aufblühen«, hatte Mary tiefsinnig geantwortet und sich für das Kompliment bedankt.
Sarah schien auch die Vergangenheit verkraftet zu haben. Sven Dornwald, ihr Anwalt, hatte alles geregelt, die Scheidung war nicht eingereicht worden. Sarah erkannte deutlich die Gründe, die dagegen sprachen und die Dornwald ihr erläutert hatte, falls sie die Vormundschaft für Henry behalten wolle.
Als neue Firmeninhaberin führte sie nun die Verhandlungen mit den Koreanern. Erstaunlicherweise wurde sie von ihnen akzeptiert, obwohl sie immer noch von Henry schwärmten, besonders von dessen weltmännischem Auftreten.
Aber in Norta hatte Sarah einen ausgezeichneten Geschäftsführer zur Hand, der seit Henrys Einweisung in die Anstalt richtig aufzublühen schien. Über Jahre hatte Henry ihn bei jeder sich gebenden Gelegenheit zurechtgestutzt, um gegenüber den anderen zu dokumentieren, wer der Chef sei. Macht und Ohnmacht sind nun mal Geschwister!
Auch das übrige Personal war motiviert. Nicht zuletzt deswegen, weil mittlerweile jeder Saarburger wusste, was Sarah widerfahren war. Und weil der Ton in den Geschäftsräumen freundlicher und ruhiger wurde, ohne das von Henry gewohnte Anschnauzen und Zurechtweisen – leider auch häufig vor Kunden.
Der Saarburger Unternehmer Verband hatte keine Einwände, Sarah als Henrys Vertretung zu akzeptieren. Allerdings könne sie nicht erwarten, meinte Ellwanger, auch gleich dessen Vorsitz mit zu übernehmen. Da seien zuerst mal andere dran. So wie er zum Beispiel, der ja schon seit Wochen kommissarisch den Vorsitz führe. Susi, seine Frau, hatte dazu heftig genickt. Vorsitzender des SUV, das war schon was. Und die Ehefrau eines Vorsitzenden auch. Jetzt durfte sie neben ihrem Jonas immer in der Mitte sitzen. Dort, wo einst Henry gesessen hatte. Und die Gille Achterbusch unterhalb von ihr. Das würde sie bestimmt wurmen.
Sarahs Leben schien wieder in geordneten Bahnen zu laufen. Einige Male war sie mit Wellstein essen gewesen und ins Theater gegangen. Zu mehr war sie jedoch nicht fähig. Wellstein zeigte Verständnis.
Carmen meinte, sie könne sich in Zukunft wohl nicht immer zurückziehen. Männer seien doch auch manchmal etwas Schönes, wenn man sie richtig zu nehmen wisse. Sie betonte das »auch manchmal« besonders, und Sarah wusste wegen Vanessa, warum.
»Inzwischen müssten wir doch bei unseren Erfahrungen langsam wissen, wie wir mit ihnen umzugehen haben, nicht?«
»Weißt du es wirklich?«, wollte Sarah wissen. »Oder meinst du nicht doch, wir könnten wieder den gleichen Fehler machen?«
»Nie und nimmer«, war Carmen überzeugt. »Du hast mir die Augen geöffnet.«
»Ich habe dir die Augen geöffnet?«
»Ja.« Carmen nickte heftig. »Jetzt weiß ich nämlich, wie es gemacht wird.«
Aber so sehr Sarah auch drängte, um zu erfahren, wie Carmen dies meinte, die Ärztin schwieg. Aber sie sah sie vielsagend an. Ein Blick, dem nichts zu entgehen schien, der eintauchte bis in ihre Seele. »Vielleicht später einmal«, meinte sie ausweichend. »Vielleicht später.«
Der Sommer brachte der Stadt weit mehr Touristen als all die Jahre zuvor. Eindeutig führte man das auf die vielen neuen Parkplätze zurück, die als Folge eines neuen Geschäftszentrums gleich neben der Stadthalle geschaffen wurden. Alle lobten sie die Weitsicht der Investoren. Und am lautesten lobten nun diejenigen, die noch vor Jahren so vehement dagegen waren und in Kassandrarufen die einzige Möglichkeit der Kritik sahen. Aber warum sollte es in Saarburg anders sein als überall in Deutschland? Zuerst wird einmal jede Innovation kritisiert und demontiert. Das hat Methode. Und die größten Demontierer sind nachher die größten Befürworter. Schließlich haben sie es immer schon gewusst. Kein Wunder, bei ihrer Weitsicht!
Mit dem Bau des Autohauses Shogun war begonnen worden. Sarah erkannte die Notwenigkeit, gewisse Geschäftspraktiken von Henry zu übernehmen und arrangierte sich bei der Auftragsvergabe in gewohnter Weise mit den Saarburger Unternehmern. Natürlich versuchten diese zuerst einmal, sie, eine unbedarfte Frau, die von allem keine Ahnung hatte, über den Tisch zu ziehen. Aber in diesem Punkt zahlte sich Henrys Ordnungssinn sehr positiv aus. Er hatte über jeden seiner Freunde und Geschäftspartner ein kleines Dossier angelegt. Auch die unwichtigsten Verfehlungen waren dort nachzulesen. Genau das kam Sarah sehr gelegen.
Und weil alles in geordneten Bahnen verlief, Sarah zum Erstaunen der Kritiker die Zügel fest in der Hand hielt, sich zum noch größeren Erstaunen auch in den diffizilsten Fragen auskannte und die richtigen Entscheidungen traf, was ihr keiner zugetraut hatte, konnte sie es sich erlauben, in Urlaub zu fahren. Mit Carmen. Beide waren inzwischen gute Freundinnen geworden, worunter Sarah verstand, dass man Distanz bewahrte, sich trotzdem gegenseitig die Meinung sagte und vorbehaltlos und uneigennützig über alles sprechen konnte.
Der Spätsommer war so heiß, dass sie sich die Nordseeküste, nahe der belgisch – französischen Grenze, als Ziel aussuchten. Nach einigen Tagen des Entspannens, sie waren im Meer geschwommen, hatten abends lange Spaziergänge am Strand gemacht und sich von der französischen Küche verwöhnen lassen, fragte Carmen, während sie auf der Terrasse sitzend die Möwen beobachteten und dem Meer lauschten: »Sarah, bist du nun glücklich?«
»Was heißt Glück? Irgendwie bin ich ans Ziel gekommen. Ich bin frei. Und Freiheit ist doch auch eine Art Glück, findest du nicht?«
»Aber ist es das, was du erreichen wolltest?«
Sarah überlegte einige Sekunden: »Wie soll ich die Frage verstehen?«
»Nun, Henry wird in der Anstalt bleiben, du bist die Inhaberin eines Autohauses, wirst respektiert, man möchte deine Meinung hören und akzeptiert deine Entscheidungen. Du wirst zu allen Festivitäten eingeladen, hast Macht, und deine Stellung in der Saarburger Gesellschaft ist unangefochten. Du bist eine richtige Glücksfee, könnte man meinen. Ist es das, was du erreichen wolltest? Oder fehlt nicht doch noch etwas zum Glück? Etwas Entscheidendes?«
»Es gibt kein perfektes Glück«, wich Sarah aus. »Natürlich fehlt mir etwas. Und zwar die Liebe zu … einem Mann. Wellstein wird es wohl nicht sein. Er ist amüsant, gebildet, humorvoll und jeder Situation gewachsen, aber das allein genügt mir nicht. Es fehlt der … der Kick.«
»Welcher Kick? Etwa der, den dir Vanessa, die schöne Unbekannte bereitet hat? Ein Reiten auf der Schneide der Gefühle? Dieses prickelnde Kitzeln, welches dich unbeholfen und anfällig macht? Diese Empfindungen, die dir kein Mann, egal, wie geschickt er mit seinem Penis oder seinen Händen umgeht, bereiten kann?«
Sarah zuckte mit der Schulter und drehte das Gesicht in den Wind. Ihre Haare flatterten leicht.
»Einmal in deinem Leben hast du an die Pforte der höchsten und schönsten Gefühle angeklopft. Man hat dir einen kleinen Einblick gewährt, sozusagen eine Kostprobe, und dir zugleich einen Schlüssel mitgeliefert, mit dem du diese Pforte ganz weit aufsperren könntest. Möchtest du denn überhaupt einmal dieses neue, wogende, dich erfüllende Gefühl zu Ende leben? Zugleich Mann und Frau sein, geben und nehmen und genau wissen um all das, was du dir erträumst, um es an deine Partnerin weiterzugeben?«
Sarah schaute ihre Freundin an. »Willst du mich anbaggern?«, scherzte sie.
»Nein.«
»Du redest aber so. Dabei liegt deine Erfahrung doch fast zwanzig Jahre zurück.«
Carmen lächelte auf eine verinnerlichte Art, als sei es für eine andere Welt bestimmt, die Sarah stutzen ließ.
»Sie liegt doch zwanzig Jahre zurück, nicht?«
Carmen schloss die Augen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem feinen Schmunzeln. Sie schluckte. Leicht benetzte sie mit der Zunge ihre Lippen. Es schien, als amüsierte sie sich.
»Nein, Sarah, meine Erinnerungen sind frisch. Gerade mal ein paar Monate alt.«
Sarah richtete sich auf. »Du …« Sie suchte nach Worten. »Du hast ein Verhältnis mit einer Frau?«
»Was bist du so entrüstet? Ja, ich hatte ein Verhältnis mit einer Frau«, wurde sie von Carmen verbessert. »Ein schönes, erfülltes und zufriedenes Verhältnis. Sie war verheiratet.«
»Und ihr Mann?«
»Hat nichts davon mitbekommen. Ein Jahr lang hat er nichts mitbekommen. Was sind die Männer doch so von sich überzeugt. Fühlen sie Spannung zwischen den Beinen, dann meinen sie, jede Frau haben und sie befriedigen zu können. Dabei sind ihre optimistischen zwanzig Zentimeter, wenn sonst nichts dazu kommt, und meistens kommt nichts dazu, so unbedeutend wie eine verschrumpelte Möhre. Und mit der Zeit genauso aktiv. Aber mach das mal den Männern klar. Sie verstehen es einfach nicht.«
»Wenn es doch so schön war, warum ist es dann zu Ende gegangen?«
Carmen schaute Sarah lange in die Augen. Ihr Blick war traurig. »Ich habe mich belogen. Ich bin keine Lesbe. Was ich wollte, das waren Gefühle, die mir bisher kein Mann geben konnte und wohl auch nie geben wird. Aber ich möchte diese Gefühle nicht immer nur mit einer Frau erleben. Ich will eine behaarte Brust, einen kräftigen Oberkörper, und einen Penis anfassen, der nur für mich allein da ist und nur auf mich reagiert. Ich will Bartstoppeln und eine hochgestellte Klobrille. Ich will After-Shave und Unterhosen mit einem Schlitz. Und Schuhgröße 45 und manchmal einen lauten Fluch, dass die Wände zittern. Und in starke Arme genommen werden, die mir Zeit lassen zum Träumen und die nicht gleich herumfummeln und mich betatschen.«
Sarah verstand ihre Freundin nicht. »Du redest, als könntest du heute mit einer Frau und morgen mit einem Mann zusammen sein. Oder mit beiden gleichzeitig. Ich bin da ganz anders.«
Carmen sah sie zweifelnd an. »Bedeutet das, du wärest nicht mit der Schönen mitgegangen? Ich meine Vanessa aus dem Amüseum?«
Sarah reagierte nicht.
Carmen wusste es besser. »Du wärest mitgegangen, meine liebe Sarah. Genau wie ich auch. Erst recht nach all den Enttäuschungen und Demütigungen, die wir erlebt haben. Du und ich, wir sind zwei ausgetrocknete Schwämme, süchtig nach Zärtlichkeit, nach Liebe. Nach Vertrauen und Verständnis. Und glaube mir, schöne Gefühle entwickeln sich unglaublich schnell. Und ich bin überzeugt, Vanessa hätte dir, so wie du sie mir geschildert hast, eine Gefühlswelt gezeigt, von der du noch keine Ahnung hast. Von der du bisher noch nicht einmal zu träumen gewagt hast. Weil du nur eine schmale Einbahnstraße der Gefühle kennst, und zwar die holprige und voller Schlaglöcher versehene mit Henry.«
Sarah ließ die Worte wirken. Ihre Stimme war dunkler als sonst und klang belegt, als sie antwortete. »Vielleicht hast du Recht, Carmen. Vielleicht hast du wirklich Recht und ich wäre mitgegangen und hätte etwas erlebt, was ich mir bisher nur in meinen kühnsten Phantasien ausgemalt habe. Aber es ist vorbei, eine zweite Vanessa gab es nicht und wird es wahrscheinlich nicht geben.«
Während Carmen sie skeptisch anschaute, sprach Sarah weiter: »Ist es nicht sonderbar, dass du und ich und Henry im Grunde genommen das gleiche Problem haben? Immer auf der Suche nach einer erfüllten Beziehung, der größtmöglichen Befriedigung, nach dem schönsten und höchsten Gefühl, das schon jeder für sich einmal kennen gelernt hat? Und sich unter anderen Vorzeichen und mit einem anderen Partner wiederholen sollte? Immer aufs Neue wiederholen sollte? Du warst verheiratet und hattest eine lesbische Beziehung in einer Intensität, die alles, was dir anschließend die Ehe geboten, was dir dein Mann Kristian geboten hat, in den Schatten stellte. Ich bin verheiratet und habe zu einem Zeitpunkt, als Henry und ich schon entfremdet waren, zuerst mit Enrique und danach ansatzweise mit Vanessa etwas Ähnliches empfunden. Habe für einen Augenblick, wie du es vorhin so schön gesagt hast, an die Glückspforte geklopft und möglicherweise zweimal versäumt, hindurchzugehen. Und ich kann mir nicht helfen, aber Henry ging es ähnlich. Er war wohl mit seinem Kindermädchen Walli wesentlich glücklicher gewesen als mit mir.«
Carmen wollte protestieren, aber Sarah hob beschwichtigend eine Hand. »Erinnerst du dich an das Band? In welch warmem Tonfall Henry von Walli gesprochen, er sie als seine Mami bezeichnet hat?«
Carmen war anderer Auffassung und entgegnete fast unwirsch: »Als Ludevik bei Henry vorbeischaute, einen Tag vor dessen angeblicher Abreise in den Urlaub, da war der schon nicht mehr normal. Alles nur Gewäsch eines Kranken. Das kannst du doch nicht ernst nehmen.«
»Krank sein ist nur eine Frage der Definition, hat mal eine Ärztin zu mir gesagt.«
»Henry, dieses perverse Schwein hat dich fast umgebracht. Und wenn wir dich nicht gefunden hätten, dann wärest du nicht hier.«
»Fühlst du dich ertappt, oder warum ereiferst du dich so?«, fragte Sarah spöttisch. »Natürlich stimmt das mit Henry. Aber darum geht es mir im Augenblick nicht. Glaube mir, Carmen, Walli hat mich in letzter Zeit sehr beschäftigt. Vor allem deswegen, weil ich dachte, zumindest zu Beginn hätten Henry und ich eine glückliche Ehe geführt. Das erste halbe Jahr. Aber Henry war nur auf der Suche. Auf der Suche nach einer neuen Walli. Geliebte und Mutter in einem. Und weil ich es nicht werden, sie nicht ersetzen konnte, deswegen ist unsere Ehe in die Brüche gegangen.« Sarahs Brust hob und senkte sich, als sie gestand: »Zugeben zu müssen, nicht die richtige Partnerin gewesen zu sein, fällt mir nicht leicht.«
Carmen versprühte unvermittelt eine Unnahbarkeit, als sei sie in einen Panzer gehüllt. »Willst du damit etwa andeuten, meine erste lesbische Beziehung mit Cynthia, meine Walli, wenn du so willst, habe dazu geführt, dass es mit meinem Mann Kristian nicht gut gehen konnte? Ich immer auf der Jagd nach einer zweiten Cynthia war? Und noch bin?«
Sarah brauchte nicht zu antworten, ein Blick in ihr Gesicht genügte.
Am späten Vormittag des kommenden Tages gingen sie in Richtung Strand spazieren. Am Meer angelangt und die auslaufenden Schaumkronen der Wellen beobachtend, die im Sand ihr Leben aushauchten, fragte Carmen: »Was würdest du, wenn du es könntest, ungeschehen machen wollen?«
Sarah schaute auf ihre nackten Füße, die sich in den weichen Sand eingruben, und spielte mit den Zehen.
»Den Tod meines Vaters«, meinte sie nach wenigen Sekunden. »Den wollte ich ungeschehen machen.«
»Sonst nichts?« Carmen hatte allem Anschein nach mehr erwartet.
»Nein, sonst nichts.«
Carmen zuckte mit der Schulter, als akzeptiere sie die Antwort. »Ich habe dir einmal gesagt, in dir tobt ein schlimmer Krieg. Tobt er immer noch? Vielleicht jetzt mehr im Geheimen? Du gegen dich selbst?«
Sarah schaute über die Weite des Meeres. Unzählige Spiegel glitzerten im Sonnenlicht. »Nein, ich glaube er tobt nicht mehr. Es ist eher ein Waffenstillstand.«
»Kein Friede?«
»Waffenstillstand«, wiederholte sie.
»So lange, wie es Henry noch gibt.«
»Ja.« Sarah war sich vollkommen sicher.
»Und dann habe ich auch gesagt, dass Männer nur Kriege führen, die sie gewinnen können. Die gegen uns Frauen. Weil sie im Grunde genommen feige sind.«
Sarah nickte. »Bei einem Spaziergang an der Saar! Ich erinnere mich.«
»Aber manchmal überschätzen Männer sich auch und führen Kriege gegen Frauen, die sie verlieren müssen. Zwangsläufig verlieren müssen. So, wie Henry gegen dich. Er hat dich total unterschätzt.«
»Henry hat sich selbst besiegt«, meinte Sarah leichthin.
Carmen schüttelte den Kopf und lächelte vielsagend. »Henry war gut, aber er hatte nicht dein Format. Du hast ihn besiegt.«
»Ich?« Verwundert schaute Sarah zu ihrer Freundin. Und dann fragte sie erneut: »Ich?«
Carmen lächelte, als wüsste sie es besser. Und entsprechend fiel auch ihre Antwort aus. »In uns Frauen schlummern allerlei Kräfte. Und in dir besonders. Wir sind duldsame Wesen. Manchmal auch berechenbare … Luder. Lange können wir uns zurückhalten und leiden und alles über uns ergehen lassen. Aber wehe, wenn ein bestimmter Punkt …« Sie ließ den Satz unausgesprochen.
»Du meinst Hass. Meinen Hass.«
»Nicht nur. Auch die Kraft der Berechnung. Und die Kraft, warten zu können, um im richtigen Augenblick zuzuschlagen. Sarah, ich konnte damals nicht warten. Und man gönnte mir keine Verschnaufpause, keine Möglichkeit, mich zu sammeln und meine Vorgehensweise zu überlegen. Ich war ständig in der Defensive und nur noch damit beschäftigt, mich zu rechtfertigen. Das genügte der Gegenseite. Deshalb ging die Scheidung auch für mich nicht gut aus. Mein Mann bekam alles. Du allerdings konntest warten.«
»Das verstehe ich jetzt aber wirklich nicht.«
Sie gingen immer noch barfuß weiter. Die leichten Sommerschuhe trugen sie in den Händen. Der Wind verfing sich in ihren weiten luftigen Kleidern und die Sonne zeichnete im Gegenlicht ihre Körperumrisse ab. Sarah hatte einige Pfund zugenommen, und zwar an den richtigen Stellen, wie Carmen meinte. Sie dagegen würde nur allzu gern einige an den richtigen Stellen verlieren.
Mit leiser Stimme und mehr zu sich selbst begann Carmen zu sprechen. Sarah hatte Mühe, jedes Wort zu verstehen. »Jeder Sportler weiß es. Jeder, der einen langen Weg hinter sich hat, ob im Beruf oder sonst, weiß es. Abgesehen vom Ziel und der Strategie ist die Einteilung der Kraft wohl das wichtigste Kriterium. Und du hast deine Kraft sehr gut eingeteilt. Du bist an deinem Ziel angelangt. Und der Weg dorthin ist sekundär. Allein das Erreichen des Ziels zählt. Siehst du es nicht auch so?«
»Du sprichst in Rätseln«, beschwerte sich Sarah. »Außerdem sind wir in Urlaub. Ich dachte, wir hätten die unangenehmen Dinge zu Hause gelassen?«
»Nun, dann will ich es dir anders erklären. Und du wirst mir nicht böse sein für meine Offenheit?« Von der Seite beobachtete Carmen das Gesicht der Freundin, die ein gelbes Band um ihr Haar trug und konzentriert nach vorn schaute, als gäbe es dort etwas ungemein Wichtiges zu sehen. Etwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.
»Wir haben keine Zeugen«, fügte Carmen hinzu, um Sarah die Offenheit schmackhaft zu machen.
»Ehrenwort, ich werde nicht böse sein.« Wie zum Schwur hob Sarah ihre rechte Hand. Spott blitzte nun in ihren Augen auf, die Mundwinkel zuckten.
Carmen dagegen blieb ernst. »Und wenn ich richtig liege mit meiner Einschätzung und meiner Analyse, dann hilfst du mir auch bei meinem Problem. Das werden wir dann gemeinsam lösen.«
»Welches Problem?«
»Kristian, mein ehemaliger Mann. Aber dazu später. Hilfst du mir dabei?«
»Wenn du richtig liegst?« Sarah beobachtete von der Seite Carmens von der Sonne gebräuntes Gesicht mit den kleinen Sommersprossen auf der Nase. »Wobei richtig liegst?«
Carmen hielt Sarah am Kleid fest und zog sie näher zu sich. Amüsiert schaute nun sie zu der Jüngeren, deren Augen übermütig und voller Lebensfreude funkelten. Und zärtlich streichelte sie Sarahs Wange. »Wie verletzlich du aussiehst. Und wie stark du trotzdem bist, meine Sarah. Mit deiner scheinbaren Verletzlichkeit kannst du jeden täuschen.« Nach wenigen Sekunden fügte sie bedeutungsvoll hinzu: »Nur mich nicht.«
Sarah war zu verwundert, um zu antworten.
»Wenn man seine Schwächen kennt, dann kann man seine Kraft viel besser einsetzen. Und du hast deine hervorragend eingesetzt.«
»Carmen, du wirst für mich immer unverständlicher. Bist du auf irgendeinem Trip? Hast du Fieber? Hitzewallungen?«
»Werde ich das wirklich? Werde ich wirklich immer unverständlicher?«
Sie steuerten zur Düne, kämpften sich den fließenden Sand hinauf und setzten sich auf eine Bank.
»Herrlich hier, nicht Sarah?«
Sie ging nicht darauf ein. »Bitte, was ist mit dir?«
Carmen ließ die Sandalen fallen, stellte die Füße darauf, legte die Hände in den Schoß und schaute sie lange an. »Deine Lebensgeschichte, ich meine die der vergangenen drei Jahre, ist bestimmt spannend. Aber spannend allein genügt ja heute nicht mehr. Es muss noch etwas Besonderes her. Angenommen, ich dürfte deine Lebensgeschichte verfilmen, dann würde ich sie etwas ändern.«
»Und warum?«
»Es gibt viele, die gute Filme machen. Und bewegende und spannende. Ich würde einen besonderen machen wollen und noch etwas hinzufügen. Einen dramaturgischen Kniff sozusagen. Das Tüpfelchen auf dem i.«
»Das Tüpfelchen auf dem i«, machte Sarah ihren Tonfall nach. »Klingt interessant. Was wäre das denn bitte, dieses Tüpfelchen?«
»Meine Heldin, ich würde sie auch Sarah nennen, hätte in einigen Situationen anders gehandelt. Wie gesagt, allein unter dem Gesichtspunkt, ich würde einen Film drehen. Einen unterhaltsamen und inhaltsreichen Film mit Tiefgang, der unter die Haut geht und die Zuschauer vielleicht sogar betroffen macht.«
»Wie hätte sie gehandelt, deine Sarah?«
»Nun«, begann Carmen und betrachtete das Dünengras, das dem Druck des Windes nachgab und sich verneigte, »sie hätte alles genau so erlebt wie du. Jede Kränkung, jede Schande, jede Demütigung. Und zwar exakt bis …«, Carmen überlegte, »… bis einige Tage vor dem Zeitpunkt, als die Nachricht kam, du wärest in Frankreich bei einem Unfall ums Leben gekommen.«
Sarah wartete einige Sekunden mit ihrer Frage, um nicht zu zeigen, wie neugierig und innerlich angespannt sie war. »Was hätte deine Heldin anders gemacht?«
»Sie wäre von zu Hause ausgerissen, hätte ihren Mann verlassen. Gedemütigt, hilflos, fast mittellos wäre sie geflüchtet, nur weg von diesem Scheusal, weg von diesem perversen Schwein.
Sie hätte ihre Flucht lange geplant, wäre zum Bahnhof gegangen, vielleicht von Saarburg nach Saarbrücken mit dem Zug gefahren. Aber dort wäre ihre Spur verloren gegangen.«
»Das heißt, sie nimmt keinen weiteren Zug, sondern den Bus. Oder ein Flugzeug? In Saarbrücken gibt es einen Flughafen.«
Carmen zuckte mit der Schulter, als wüsste sie es nicht oder als sei es nicht von Belang. »Vielleicht fährt sie auch per Anhalter. Von Saarbrücken ist man schnell in Südfrankreich. Oder sie macht es noch cleverer und schließt sich unter falschem Namen einer Reisegesellschaft an. Nun, es gibt viele Möglichkeiten. Irgendwo in der Provence jedoch taucht sie für einige Tage unter. Sie braucht Ruhe und Zeit, um zu sich selbst zu finden, um Abstand zu gewinnen und um zu überlegen. Sie möchte weiter, nur weg von ihm, und trotzdem möchte sie sich rächen. Mit jeder Faser ihres Körpers möchte sie sich rächen, um die Schande ungeschehen zu machen, um es diesem Schwein heimzuzahlen. Münze für Münze, und sich anschließend befreit zu fühlen. Endlich frei!
Aber beides zur gleichen Zeit, Flucht und Rache, geht nicht. Zuerst einmal muss sie deshalb eine Strategie entwickeln. Wenn eine große Liebe in Hass umschlägt, hat man viel Kraft, sich eine Strategie auszudenken. Denn der Hass ist gegen jemanden gerichtet, den man sehr, sehr gut kennt. Aber immer noch unentschlossen, wie sie weiter vorgehen soll, fährt meine Heldin vorerst weiter in Richtung Spanien. Und zwar per Anhalter. Über Nebenstrecken. Irgendwie genießt sie die Fahrt und fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei und ungebunden. Sie fährt mit einem Pärchen. Vielleicht hat sie es an der Küste kennengelernt. In der Nähe von Sète oder so. Und sie wechseln sich beim Fahren ab. Als meine Heldin am Steuer sitzt, da geschieht es. Ein Unfall. Das Auto ist zuerst einen kleinen Abhang hinunter gerast, noch ist nichts passiert, und hat dann frontal einen Felsblock gerammt. Der Airbag geht auf. So steht es im Polizeibericht. Sie steigt unverletzt aus, oder fast unverletzt, die andere Frau ist aus dem Auto geschleudert worden und tot, der Mann auf dem Beifahrersitz eingeklemmt, nicht angegurtet, kein Airbag, ist auch schon tot. Genickbruch. Das steht gleichfalls im Bericht. Und Benzin läuft aus. Sie sieht das und sie riecht es. In ihrem Kopf, der nur darauf wartet, eine endgültige Lösung zu finden, was ihren Mann und ihre Ehe betrifft, macht es Klick. Sie schnappt sich das Gepäck der Toten, verstreut ihres mit den Ausweisen etwas vom Auto entfernt, zieht ihren Ehering ab, streift ihn der Toten über. Und sie schleift die Tote halb auf den Fahrersitz. Entweder entzündet sich das Benzin von selbst, oder sie legt Feuer. Die beiden anderen sind ja sowieso tot. Zwei Menschen verbrennen, sie überlebt. Sie überlebt deswegen, weil sie als Fahrerin einen Airbag hatte. Sie ist noch nicht einmal schwer verletzt. Zumindest ist sie in der Lage, logisch zu denken.
Und dann verschwindet sie und hofft, man würde sie mit der fremden Frau verwechseln. Was anschließend ja auch geschehen ist. Na, wie klingt meine spannende Geschichte?«
Sarah hatte interessiert zugehört. »Ja«, gab sie zu, »man könnte sie dir abnehmen. Vielleicht lief auch noch der Motor des Autos und das Benzin hat sich, während sie ihre Vorbereitungen traf, am Auspuff entzündet«, fügte Sarah hinzu. »Aber das ist ja nicht so wichtig. Wie geht es weiter?«
»Nun, meine Heldin hat jetzt alle Zeit der Welt«, fuhr Carmen fort. »Es gibt sie offiziell nicht mehr, sie hat ihre Spur endgültig verwischt und könnte nun untertauchen, für immer untertauchen und ein neues Leben beginnen. Und vergessen, alles vergessen könnte sie. Das hätte sie vielleicht auch getan, wenn da nicht tief in ihr nur noch Hass gewesen wäre. Und eine Stimme, die förmlich nach Rache geschrien hat. Je länger sie überlegt, desto mehr entwickelt sich ihr Hass und ihre Rache. Wie groß muss das Leid gewesen sein, welches diesen Hass geboren hat«, wurde Carmen pathetisch. »Eigentlich schade, denn ich kann es nicht nachvollziehen, ich kann höchstens versuchen, sie zu verstehen. Und glaube mir, ich verstehe sie. Meine Heldin möchte also nicht nur untertauchen. Eine Frage, Sarah: Als wir dich gefunden haben, hattest du kurze Haare. Wer hat dir denn die Haare geschnitten? Henry etwa? Und wer hat sie so blond eingefärbt? Auch Henry?«
Sarah war irritiert. »Ich natürlich«, antwortete sie knapp. »Ich habe sie geschnitten und gefärbt. Wer denn sonst.«
»Durftest du denn aus dem Verließ?«
»Nur mit Henrys Zustimmung. Weil meine langen Haare immer so dreckig waren, eine Dusche gab es ja nicht oft, habe ich sie mir geschnitten. Mit Henrys Einwilligung. Im Abfluss des Weinkellers findest du bestimmt noch einige.«
»Nun«, meinte Carmen gedehnt, »dieser Punkt ist ja auch nicht so wichtig. Meine Heldin jedenfalls verändert sich auch äußerlich, ganz kurze Haare, dazu gefärbt, zieht sich anders an als früher, Jeans, Hemden, flache Schuhe, und ist, weil sie zusätzlich noch eine Brille trägt, nicht mehr zu erkennen. Auch nicht von Freunden und Bekannten. So wenig zu erkennen wie du, Sarah. Als ich dich fand, habe ich dich ja auch zuerst nicht erkannt. Und meine Heldin kehrt zurück. An den Ort zurück, wo ihr die schlimmsten Demütigungen widerfahren sind. Sie kehrt zurück und niemand merkt etwas davon. Mit Ausnahme der Hunde, sie allein erkennen sie und schlagen nicht an. Immer, wenn ein Fremder kommt, bellen sie und schlagen an. Nur nicht bei ihr, weil sie ihre Herrin erschnüffeln, auch mit kurzen und gefärbten Haaren. Und weil die Hunde sie mögen, sie von ihr immer das Fressen bekommen haben und sie die Hunde gestreichelt und nicht getreten hat. Kommst du so weit mit, Sarah?«
»Natürlich.« Sie nickte. »Und ich muss zugeben, deine Geschichte klingt auch irgendwie logisch. Zumindest dramaturgisch logisch.« Sarah nickte bestätigend, in ihrem Gesicht war keine Regung. Lediglich ihre Nasenflügel entfalteten ein kleines Eigenleben und bebten.
»Das freut mich.« Carmen sah sie abschätzend an. »Das freut mich besonders aus deinem Mund, Sarah. Aber warum gibst du dich so unbeteiligt?«
»Tue ich das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach Sarah weiter: »Ich könnte mir vorstellen, dass deine Sarah sogar in dem Gästehaus übernachtet und gewohnt hat, ohne dass es aufgefallen ist. Es gibt einen Fußweg von der Burg, den man nicht einsehen kann. Und in der Küche hat sie sich mit allem versorgt. Schließlich wusste sie doch am besten, zu welchen Zeiten die Haushälterin im Hause war. Und die Hunde hat sie auch gefüttert. Waren sie nicht gut genährt, als ihr sie gefunden habt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, forderte sie Carmen auf: »Nun, wie geht es weiter?«
»So genau weiß ich das nicht, Sarah. Aber meine Heldin hat um die Schwächen ihres Ehemannes, bleiben wir bei dem Namen Henry, gewusst, und um dessen Ordnungstick. Schließlich hat sie ihn über Jahre ertragen müssen. Um an ihr Ziel zu gelangen, hat sie angefangen, zuerst dessen Ordnungsgefüge zu zerstören, um Henry zu verunsichern, ihn zweifeln zu lassen, ihn besonders an sich selbst zweifeln zu lassen.« Carmen machte eine Pause und vermittelte den Eindruck, als grübelte sie. »Ach, was mir in diesem Zusammenhang gerade einfällt: Für wen sind eigentlich im Gästehaus diese medizinischen Bücher über die Anwendung und Auswirkungen von bestimmten Medikamenten? Und dann die über Schizophrenie und psychologische Sachthemen? Einführung in die Psychoanalyse? Etwa für den Gärtner?« Carmen lächelte so offen, dass Sarah keinen Hintergedanken zu erkennen glaubte.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, die stehen schon immer dort. Zumindest, seit ich mich daran erinnern kann.«
»So?« Carmen stülpte die Lippen auf. »Aber in einem Buch liegt noch der Bestellzettel. Und zwar vom Februar diesen Jahres. Ich glaube, es ist die Einführung in die Psychoanalyse.«
Sarah hob bedauernd die Hände. »Keine Ahnung. Vielleicht wollte Henry wissen, wie es um ihn steht.«
»Ja, so wird es wohl gewesen sein.«
Sarah deutete hinaus auf das Meer. »Carmen, schau nur das Segelschiff. Das mit den drei Segeln, das große dort hinten. Hättest du nicht auch mal Lust, Urlaub auf einem Segelschiff zu machen?«
»Auf See? Bei diesen hohen Wellen? Tag und Nacht? Nein danke, mir wird immer schlecht. Schon auf der Saar wird mir schlecht.« Carmen verzog das Gesicht.
»Dann könntest du auch von keiner Brücke springen.«
»Tabletten wären mir angenehmer. Aber wir schweifen vom Thema ab.«
»Das möchte ich keineswegs, Carmen. Komm, lass uns dort unten zu der Bude gehen. Eine Cola und eine Portion Fritten. Ohne Gabel, mit den Fingern. Und viel Mayonnaise. Henry hat das gehasst. Wir nehmen richtig viel Mayonnaise.«
»Und machen ein Foto und schicken es Henry.«
Sie schlenderten hinunter und Carmen betrachtete Sarah verstohlen von der Seite. Nichts war aus ihrem Gesicht herauszulesen. Sie wirkte unbefangen und erholt, hatte wieder Kraft getankt und schien für die Zukunft gewappnet zu sein. Aber das brauchte sie eigentlich nicht, denn Sarahs Zukunft würde ihr, so wie es im Augenblick aussah, nicht mehr viel an Kraft abverlangen. Angenehmes kostete keine Kraft, im Gegenteil. Man schöpfte welche daraus.
Sie setzten sich auf einen Holzsteg, tranken und aßen und scherzten und machten sich über andere Urlauber lustig. Besonders übergewichtige und untrainierte, die plattfüßig und schnaufend durch den tiefen, fließenden Sand watschelten, um sich endlich erschöpft auf der Terrasse in einen Plastiksessel fallen zu lassen, den Schweiß von der Stirn zu wischen und ein großes Bier zu bestellen.
»Willst du wissen, wie die Geschichte meiner Heldin weitergeht?«
»Aber ja doch. Ich bin ungemein gespannt.« Sarah leckte sich die fettigen Finger ab. »Hier, nimm doch etwas Mayo.«
»Um Himmels Willen keine Mayo.«
Carmen lehnte sich mit dem Rücken an die Holzwand der Imbissbude. »Meine Heldin kennt ihren Peiniger genau. Über Jahre hat sie ihn studiert. Jeder würde meinen, sie hätte doch schon längst aus der Eheklammer fliehen sollen. Aber sie blieb. Sie blieb aus Berechnung. Und ihr Peiniger denkt, seine Frau sei tot, in Frankreich verbrannt. Und wir denken, nachdem wir sie gefunden haben, er hat sie seit Wochen im Weinkeller eingesperrt. Das noch mal zur Verdeutlichung. Zuerst geht meine Heldin also hin und zerstört seinen schönen Ordnungsrahmen. Ein Rahmen, der auch Henry in Ordnung hält. Ein Gerüst, in dem er sich wohl fühlt. Weil alles an seinem Platz ist. Übrigens, Sarah, genau so hat uns Ludevik deinen Henry geschildert. Als einen Mann, der Angst hat, übermäßige Angst hat und unsicher ist. Mit Hilfe der Ordnung und seinen eigenen Regularien überwindet er diese Angst. Und meine Heldin geht nun hin und zerstört diese Ordnung.«
»Wie macht sie das?«
»Sarah, da gibt es viele Möglichkeiten. So genau weiß ich das nicht. Zuerst einmal verunsichert sie ihn, weil die Dinge nicht mehr an ihrem angestammten Platz liegen. Wie es Henrys Natur entspricht, macht er zuerst einmal alle anderen dafür verantwortlich. Er macht ja keine Fehler. Aber dann merkt Henry, dass nur er allein die verhasste Unordnung geschaffen haben kann. Genau das gibt ihm zu denken. Er grübelt und zweifelt und er stellt sich selbst auf die Probe. Henry, kein Kostverächter, was Alkohol anbelangt, beginnt immer häufiger zu trinken. Besser gesagt, er besäuft sich regelmäßig und hat anschließend so seltsame Träume. Henry hört im Traum Stimmen.«
»Das passiert mir auch«, scherzte Sarah. »Ich höre auch Stimmen. Und manchmal laufe ich vor den Stimmen davon.«
»Nun, Henry weiß anfangs nicht, ob er träumt oder alles wirklich erlebt. Für ihn wird es mit der Zeit jedoch zur Gewissheit, er erlebt es wirklich. Für seine Umwelt wird Henry dadurch mehr und mehr unverständlich, verschroben, unberechenbar. Seine Reaktionen widersprechen seinem bisherigen Verhalten total. Alle schütteln über Henry den Kopf. Als hätte er irgend eine Macke.«
»Und wodurch ist alles ausgelöst worden? Etwa durch die angeblichen Träume?«
Carmen verneinte. »Durch Angst, meint Ludevik. Die alte Angst brach durch, Henrys Angst aus der Kindheit. Über Jahre hat er sie im Zaum gehalten, konnte sie und sich in seiner Ordnung verstecken, die ihm den entsprechenden Halt gab. Wir haben doch die Tonbänder gehört. Du und ich. Henry hat immer nur gesprochen, wie ein Wasserfall gesprochen, um sich die Angst von der Seele zu reden, sich all das von der Seele zu reden, was ihn so lange belastet hat. Hattest du nicht auch das Gefühl, dass er am Ende irgendwie erleichtert war?«
Sarah zögerte mit der Antwort. »Ja, jetzt wo du es sagst, kommt es mir auch so vor. Nun hat er keine Verantwortung und deshalb auch keine Angst mehr, oder?«
»Angst wird Henry immer haben«, widersprach Carmen. »Wenn überhaupt, dann schlummert sie für eine Weile, um zu gegebener Zeit erneut aufzutauchen. Wieder zurück zu meiner Heldin. Sie hat ihn also zuerst verunsichert. Ungemein verunsichert. Hat Henry dich nicht auch mal in den Weinkeller gesperrt? Ich meine, bevor der letzte Akt begonnen hat?«
»Das habe ich dir doch erzählt.«
»Ludevik hat es unabhängig von uns auch herausgefunden. Henry hat ihm einmal den Weinkeller gezeigt und er entdeckte ein Stück von einem Taschentuch. Ein Stück von deinem Taschentuch, Sarah. Und nun findet ausgerechnet Henry sich in diesem Weinkeller wieder. Eingesperrt. Allein. Die Angst wird sein Partner. Zuerst denkt er, er träumt, wenig später wird er vielleicht unsicher, wer weiß? Und eine Engelstimme spricht zu ihm. Nur ist diese Stimme nie auf den Tonbändern zu hören. Aber Henry unterhält sich mit ihr. Und er redet und redet, möchte die Stimme zufrieden stellen und sie daran hindern, dass er allein gelassen wird. Nichts ist für Henry schlimmer, als allein zu sein, allein im Dunkeln.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, dann hat deine Heldin, die auch Sarah heißt …«, Sarah betonte besonders den letzten Satzteil und sprach ihn gedehnt, »… Henry in den Weinkeller gesperrt. Einfach so. Mir nichts dir nichts.«
»Nicht einfach so«, protestierte Carmen. »Meine Heldin ist clever und gerissen. Sie ist eine Frau. Vergiss das bitte nicht. Und sie hasst. Und sie möchte sich rächen. Meine Heldin hat natürlich etwas nachgeholfen und dem lieben Henry einiges ins Glas getan.«
»Hui, das klingt jetzt aber ein bisschen trivial.« Sarah verdrehte die Augen.
»Was heißt hier trivial«, entgegnete Carmen. »Wenn ich mir deinen Medikamentenschrank anschaue, da gibt es viele schöne Tabletten, die man einsetzen könnte. Von Valium angefangen über Noveril, Dominal bis hin zu Tranxilium. Gib Henry zwei Valium und zwei Noveril, dazu etwas Alkohol, schon ist er wie ein Sack Mehl und du kannst ihn überall hinschleppen. Und er kann kaum noch richtig denken. Denn er kommt sich vor wie im Tran. Erst recht unter verstärktem Alkoholeinfluss. Er fängst an zu reden, zusammenhanglos und manchmal auch wieder ganz klar, beantwortet all deine Fragen, macht gedankliche Sprünge von der Kindheit bis zur Jetztzeit. Alles ein bisschen wirr und verschwommen, aber, wenn man richtig nachfragt, verständlich und nachvollziehbar. Und Alkohol verstärkt bei dieser Art von Medikamenten die Wirkung enorm. Aber Erinnerungslücken tun sich später auf, Fiktion und Realität verschwimmen. Man selbst hat das Gefühl, als habe man geträumt.«
»Wo du gerade davon sprichst: deine Heldin, eine Frau, wie ich, du nennst sie auch Sarah. Und Henry, ein großer, schwerer Mann. Wie hat sie ihn immer geschleppt? Vom Schlafzimmer bis in den Weinkeller?«
Carmen umfasste Sarahs Schultern als prüfe sie, ob ihre Muskeln dazu in der Lage gewesen wären. »Wenn du ein schweres Stück Möbel allein verschieben müsstest, was würdest du tun?«
»Mir jemanden rufen, der mir hilft.«
»Nun, das konnte meine Heldin aus verständlichen Gründen nicht. Aber sie hat auch jemanden gerufen, der ihr geholfen hat. Und zwar steht in eurer Abstellkammer ein dickes Brett mit vier Laufrollen darunter.«
»Genau«, erinnerte sich Sarah. »Das nehmen wir manchmal für schwere Sachen. Für Wein- und Bierkisten und so was.«
»Nun, meine Heldin hat Henry auf dieses Gerät gesetzt und ihn gefahren. So einfach ist das für mich.«
»Vom Bett bis in den Weinkeller.« Sarah wollte es genau wissen.
»Vom Bett bis in den Weinkeller. Alles ebenerdig, keine Stufe. Und morgens wieder zurück. Oder wann immer sie mit ihm fertig war.«
»Und deine Heldin hat demnach auch die Tonbänder aufgenommen.«
Carmen nickte. »Dabei war sie verdammt geschickt. Sicherlich hat sie Henry immer lange warten lassen, bis er es nicht mehr aushalten konnte, er einfach reden musste. Ohne Medikamente, ohne die richtigen Medikamente hätte sie es allerdings wohl kaum geschafft. Valium, Tranxilium, Noveril, alles schön und gut. Ob das jedoch genügt hat? Leider habe ich kein Rudicor entdeckt. Kennst du Rudicor?«
Sarah verneinte.
»Man bezeichnet dieses aus Amerika stammende Medikament als Wahrheitsdroge. Zusammen mit Alkohol ist Rudicor fast jedem Rauschgift überlegen. Du gehst auf einen Psychotrip und plauderst alles aus, was dein Gegenüber wissen will. Und du kramst in deinem eigenen Seelenleben wie ein Goldgräber. Nichts bleibt verborgen. Aus einem Schweigsamen wird ein Wasserfall. Hunderte Tonbänder hätte Henry besprechen können. Und diese Bänder wurden ausgelegt wie eine Fährte. In seinem Auto, im Wohnzimmer, überall.«
»Vergiss Ludevik nicht. Dort hat er auch welche besprochen.«
Ja. Zuerst aber in seinem Verließ, sozusagen als Probe, später bei Ludevik, als hätte er geträumt. Aber es waren tatsächlich keine Träume. Apropos Tonbänder: Ich bin der Meinung, dass es noch andere gibt. Ganz private mit Details, die sonst keinen etwas angehen.«
Sarah ging nicht auf diese Anspielung ein. »Jetzt kommt aber der entscheidende Teil. Und du musst dir für deine Heldin etwas einfallen lassen, sonst stimmt deine Logik nicht. Wenn ich dich richtig verstehe, hat also sie ihn, deine Heldin Sarah, den armen Henry …«
»… Henry ist nicht arm. Er hat alles verdient, was ihm widerfahren ist«, unterbrach Carmen sie.
»… den armen Henry zwei Wochen in diesem Dreckloch gefangen gehalten.«
»Ja.« Carmen war sich sicher.
»Und irgendwann bist du mit Klaus Ludevik gekommen, und ihr habt Henry gefunden. Aber nicht im Weinkeller, sondern in der Wohnung. Wie ist er dort hingekommen?«
Carmen hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Er war nicht ansprechbar. Henry hätte von jedem in die Wohnung gebracht werden können, ohne das er es merkte.«
»Von jedem, das mag ja stimmen. Auch von deiner Heldin Sarah? Auch von mir?«
Carmen antwortete nicht.
»Gut, das war Henry. Und einen Tag später habt ihr mich gefunden. Eingeschlossen im Weinkeller. Wie habe ich ausgesehen?«
»Schlimm und schrecklich und so abgemagert, und total verdreckt. Und dann diese komischen hellroten Flecken am ganzen Körper.« Carmen schüttelte sich.
»Wohl wegen der mangelhaften Hygiene«, erklärte Sarah.
Carmen nickte. »Unter anderen Umständen würde ich sagen, die Flecken hätten auch eine Allergie sein können.«
»Allergie?«
»Ja. Du bist doch allergisch, nicht?«
Sarah nickte. »Auf Tomatensaft. Steht bestimmt in deinem Arztbericht.«
»Dem ist so«, bestätigte Carmen.
»Hat der Schlüssel nicht auch noch von draußen gesteckt?«
»Ja, Sarah. Leider.«
»Was heißt hier leider.«
»Weil ich keine Möglichkeit sehe, die Logik zu überlisten. Meine Heldin kann sich nicht eingesperrt haben. Und sie kann nicht, auch wenn sie es wollte, ohne fremde Hilfe diesen Raum verlassen haben. Ich habe ihn mir genau angeschaut. Sogar mit einem Schraubenzieher wäre es nicht gegangen, denn die Schrauben der Scharniere waren eingerostet. Das hat mir Breuer bestätigt. Eingerostet und kaum noch zu lösen.«
»Wann hast du nachgesehen? Als ich im Krankenhaus war?« Sarah schien das Atmen zu vergessen. Die Anspannung lies ihren Blick starr erscheinen.
»Später. Erinnerst du dich, als wir in die Diskothek fahren wollten?«
Carmen bemerkte nicht, wie Sarah erleichtert aufatmete. »Ja, und du Henrys Band im Radio abspieltest.«
»Mich hat der Weinkeller wie magisch angezogen. Ich musste ihn unbedingt noch mal sehen und genau inspizieren. Leider war er sehr penibel gesäubert worden. Nichts deutete mehr auf die schlimme Vergangenheit hin.«
»Und schon damals wolltest du für deine Heldin ein anderes, ein spannenderes Ende konstruieren?«, wunderte sich Sarah. »Ist denn meines nicht spannend genug?«
Carmen zögert mit der Antwort und meinte ausweichend: »Komm, wir gehen zurück ins Hotel. Es gibt bald Abendessen.«
Die beiden Frauen erhoben sich. Und während sie die Düne erstiegen, die Füße sich in den weichen Sand eingruben und die feinen Körner zwischen den Zehen kitzelten, sagte Carmen: »Sarah, dein Ende ist das spannendste Ende, was man sich vorstellen kann. Denn nur du allein kennst es.«
Von Mal zu Mal hatte Sarah immer noch diesen Traum. Vor Monaten war sie deswegen verängstigt, weil er ihr sehr real vorkam. Sie sah sich in dem Weinkeller, von Henry eingesperrt. Sie sah sich gequält und gepeinigt, musste ihm sexuelle Dienste leisten, sich ihm unterwerfen, gefügig und ihm hörig sein. Und immer wieder schloss Henry sie anschließend in diesen dunklen, modrigen Weinkeller. Wie ein Stück Vieh. Um sie zu rufen, wenn ihm danach war. Eingesperrt wie ein Stück Vieh. Vom eigenen Mann noch weniger respektiert als der letzte Hund.
Und sie hatte viel Zeit. Zeit, sich umzuschauen, zu denken, sich davoneilen zu sehen wie ein Geist, der einfach durch die Wand schlüpfte. Aber sie war kein Geist, sie konnte nicht durch die Wand schlüpfen. Und trotzdem wollte sie hinaus. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich nach Freiheit. Aber es gab nur diese eine Tür. Aus Holz gezimmert, viel zu massiv für ihre schmalen Hände und ihren schwachen Körper. Aber sie wollte hinaus. Henry jedoch hatte die Tür immer sorgfältig verschlossen. Von außen. Und ließ den Schlüssel stecken.
Zuerst war es nur ein Gedankenspiel. Was wäre, wenn. Was wäre, wenn es mir gelänge, am Rahmen die drei Schrauben der Scharniere zu lösen, an der die Tür befestigt ist. Dann, so sagte sie sich, ginge sie auf. Zwar wäre sie verschlossen, aber sie ginge auf der anderen Seite auf. Also muss ich die Schrauben lösen, überlegte Sarah. Aber womit. Nur Regale, überall nur mit der Wand verschraubte Regale. Und dann dieses verstaubte, alte Kühlaggregat mit vielen Lamellen, gewundenen Kupferrohren und runden Gefäßen. Vielleicht funktionierte es überhaupt nicht mehr. Aber es gab daneben auch noch einen Schaltkasten mit einer kleinen Klappe aus Blech. Und die konnte man aushängen. Und die Blechkante passte genau in den Schlitz der Schrauben. Nun, die Prozedur war zeitaufwendig und mühsam, aber es bereitete Sarah kein sonderliches Problem, mit Hilfe der Klappe die Schrauben aufzudrehen. Ganz leicht ließ sich die Tür dann öffnen. Und später auch wieder schließen. Sie brauchte nur die Tür mit dem Zapfen in das Schloss zu schieben und sie auf die richtige Höhe zu bringen, die Schrauben der beiden Scharniere einzudrehen, anschließend wieder die Klappe am Schaltkasten einzuklinken, schon war sie eingesperrt.
Um zukünftig die wundersame Flucht zu beschleunigen und zu erleichtern, schmuggelte sie einen Schraubenzieher in den Weinkeller. Sie befestigte einen dünnen Nylonfaden an seinem dicken Ende und verknotete den Faden im Bodenablauf unter dem Sinkkasten an einem verdeckt im Abflussrohr liegenden Schutzgitter gegen Mäuse und Ratten.
Und wenn Henry nach ihr schaute, stand er oft kopfschüttelnd vor ihr, als könne er nicht glauben, dass sie da war. Sie war für ihn wie ein Geist. Und sie bewegte sich auch wie ein Geist. Sie kam und ging, wann sie wollte. Und sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Mit Henry. Denn Henry hatte Angst vor Geistern. Erst recht, weil der Geist, der ihn ständig plagte, seiner Frau so ähnlich sah. Deshalb suchte er Trost und Beistand. Immer mehr Alkohol, dann auch Tabletten und später die Engelstimme. Aber die Stimme gehörte auch zu einem Geist, dem gleichen Geist. Eigentlich jedoch sind Geister immer stumm. Sogar Henry war das aufgefallen. Aber der wusste ja nicht, träumte er oder lag er wach.
Wenn Sarah nun an den Weinkeller dachte, dann war es für sie auch wie ein Traum. Ein angenehmer, schöner, sie zu neuem Leben erweckender Traum. Ein Traum, der all ihre Wünsche und Vorstellungen und Gefühle verwirklichte. Auch die nach Hass und Rache.
Mit der Zeit merkte sie jedoch, dass der Traum seine Schuldigkeit getan hatte. Sie nahm sich vor, nie mehr an diesen Weinkeller zu denken. Und das gelang ihr auch. Sie nahm sich vor, alle Tonbänder von Henry, deren Inhalt nur sie allein kannte, genau zu studieren. Und es erfüllte sich wieder ein Traum. Nicht weit von Saarburg entfernt. In Luxemburg, wo es viele Banken gibt. Ganz anonym. Und Henry war dort nicht als Henry bekannt, sondern unter einer Nummer. Wenn man die wusste, dann öffneten sich auch alle Türen. Wie im Weinkeller. Jedoch ohne Schraubenzieher. Aber das mit der Nummer ist wieder ein anderer Traum. Und von diesem würde sie garantiert niemandem erzählen. Auch Carmen nicht.
Nur eine Kleinigkeit bereitete ihr seit geraumer Zeit Kopfzerbrechen. Zuerst war er nicht da, als sie vor Monaten nach ihm suchte, um ihn für immer und endgültig verschwinden zu lassen. Gut, der dünne Nylonfaden, er hätte sich lösen oder abreißen können, als man mit viel Wasser den Weinkeller gereinigt und ausgespült hatte. Dabei wird der Schraubenzieher wohl einfach im Abfluss weggeschwemmt worden sein, sagte sie sich.
Aber vor einer Woche lag er mitten auf dem Küchentisch. Und daneben stand eine Flasche mit Salzsäure. Mit diesem gefährlichen Inhalt musste man vorsichtig umgehen. Und Sarah war auch vorsichtig gewesen, als sie die Schrauben der Scharniere in die Salzsäure getaucht, sie dann zum letzten Mal in das Holz gedreht und anschließend mit einem Pinsel die Scharniere bemalt hatte. Bereits am nächsten Tag konnte man einen feinen braunroten Film auf dem Metall sehen. Und wenige Tage später war das Scharnier komplett verrostet.
Da lag also dieser Schraubenzieher auf dem Küchentisch und daneben stand eine Flasche mit Salzsäure. Nicht die richtige Flasche, die hatte sie in der Saar verschwinden lassen, aber gefüllt mit Salzsäure. Der Schraubenzieher jedoch war das Original mit dem grünen Griff und dem Loch darin. Ein Stück des Nylonfadens hing an ihm.
Außerdem gab es da auch noch drei Fotos. Auf dem einen lächelte sie eine junge Frau an. Sarah erkannte sofort Walli, das Kindermädchen. Auf dem anderen war Mary zu sehen. Bieder, mit Nickelbrille und Zopf, einem weiten Kleid und einer Schürze. Die Gesundheitssandalen blieben verborgen, weil das Bild in Kniehöhe endete.
Und auf dem dritten erkannte sie ebenfalls Mary, die, wieder aufgeblüht, viel jünger als zweiundfünfzig aussah. Höchstens Anfang vierzig würde man ihr geben, wegen des Kostüms, das ihre schlanke Figur betonte, der Stöckelschuhe und der Art, wie sie sich zurechtgemacht hatte und lässig mit verschränkten Armen an einem Sportwagen lehnte. Vielleicht hätte sich Sarah weniger Gedanken gemacht, wenn es da nicht diese ungewöhnliche Ähnlichkeit zwischen Walli, dem Kindermädchen und der neuen, wieder aufgeblühten Mary gegeben hätte. Eine Ähnlichkeit, viel mehr als Mutter und Tochter. So wie unter Zwillingen, oder …
Wie gesagt, diese Kleinigkeit bereitete ihr Kopfzerbrechen. Wer hatte Schraubenzieher und Salzsäure vor einer Woche auf den Küchentisch gestellt und die Fotos dazu gelegt, während sie für eine halbe Stunde ins Gästehaus schwimmen gegangen war? Alles, ohne dass die Hunde anschlugen, auf den Küchentisch stellen können? Mary, die Haushälterin? Wohl kaum. Der Weinkeller – und damit der Schraubenzieher – war für sie immer noch tabu. Außerdem hatte sie an diesem Tag frei und war zu einer Freundin gefahren. Sarah hatte selbst die Vorwahl von Trier gewählt, mit ihr am Telefon gesprochen.
Carmen kam auch nicht in Betracht. Sie war im Dienst gewesen. Auch das hatte sie überprüft.
Aber sonst kam niemand in Frage. Höchstens noch Ludevik. Aber der befand sich in Urlaub. Und Breuer war zwischenzeitlich zum Polizeirat befördert und nach Trier versetzt worden. Ruhiger Innendienst mit nahtlosem Übergang zur automatischen Frühpensionierung.
Also doch nur Mary …, nein, Mary nicht. Nur … Carmen. Und …, ja, und Henry. Aber Henry lebte in der Anstalt. Für immer in der Anstalt. Sie besuchte ihn schon seit fast einem halben Jahr zweimal im Monat. Henry war nicht mehr Henry. Er wandelte in einer anderen Welt. Und bekam regelmäßig Besuch. Nicht nur von ihr, sondern auch von einer anderen Frau, wie man Sarah sagte. Gepflegte Erscheinung, wohl doch etwas älter als sie soll sie sein, aber ohne Brille. Wahrscheinlich eine Psychologin, wie Sarah vermutete. Mit beruflichem Interesse an Henrys Innenleben. Oder … Egal, damit wollte sie sich nicht länger beschäftigen. Auch wenn sich diese Frau immer mit dem Namen von Rönstedt anmeldete. Aber Henry hatte keine Schwester und war nur einmal verheiratet gewesen. War immer noch verheiratet, mit ihr. Und nahe Verwandte gab es auch nicht.
Schon wieder dieser Traum. Sie fand sich im Weinkeller. Die Tür verschlossen. Aber nichts einfacher als das, da gab es ja den Schraubenzieher. Und die Schrauben ließen sich leicht heraus drehen. Kein Rost, nichts. Und nun stand sie in der Diele vor der Anrichte mit dem Telefon. Daneben lagen die drei Fotos. Sarah betrachtete sich die Rückseiten. Auf der des ersten Bildes stand Walli Nathem. Auf der des zweiten Mary Oberhausen. Und auf der des dritten Maria Walburga von Rönstedt, geschiedene Oberhausen, geborene Nathem. Gebannt und zugleich fasziniert starrte sie auf das dritte Bild. Henrys Vater hatte keinen Bruder, überlegte sie. Gab es da einen entfernten Vetter oder Verwandten, von dem sie nichts wusste, mit dem das Kindermädchen Walli verheiratet gewesen war? Eine andere Möglichkeit gab es für Sarah nicht. Oder doch? Nein … unmöglich … Aber war Henry nicht zu Beginn seiner Studentenzeit mehrere Monate im Ausland gewesen? Hatte nicht auf die vielen Briefe und Telefonate seiner Eltern reagiert?
Sarahs Augen lösten sich von der dritten Fotografie. Nun starrte sie auf das Telefon. Wer kann mir helfen, überlegte sie. Wen kann ich um Auskunft fragen. Aber bevor sie wählen konnte, schlug es an. Sie kannte den Ton. So schlug es immer an, wenn man vom Gästehaus anrief. Sarah hob den Hörer ab. Eine Männerstimme. Und leiser im Hintergrund die einer Frau. Der Mann sagte etwas. Es war Henry, ohne Zweifel Henry. Und Sarah hörte die Frau kichern. Sarah erschrak und ließ den Schraubenzieher fallen. Und dann sagte sie sich: alles nur ein Traum. Alles nur ein Traum. Sie schaute auf ihren Fuß. Zwischen den Zehen steckte der Schraubenzieher im dünnen Fleisch. Es blutete. Und nun verspürte sie auch den rasenden Schmerz. Aber im Traum spürt man doch …