Kapitel 3
I
Nyvysk war kein besonders empfindlicher Mensch, was er dankbar hinnahm. Immerhin hatte er im Laufe der Jahre schon so einiges mitgemacht. In Ninive etwa schickte man ihn in den 1980ern vor den Irakkriegen zur Stätte der Bibliothek des Aššurbanipal, wo ihm ein Exorzismus an einer einheimischen Frau misslang, die zraetisch zu sprechen schien, den ersten Protodialekt des göttlichen Tabernakels. Angeblich handelte es sich um die Sprache, die schon vor Adam und Eva benutzt worden war. Nyvysk hatte in seinen katholischen Gewändern, Die Riten des Exorzismus in der herabgesunkenen Hand, beobachtet, wie ein junger Kurde Mitte 20 ein widerliches Sekret aus den Augen der Frau ableitete. Danach hatte sie einen Haufen lebendiger Frösche erbrochen. Nyvysk erinnerte sich noch an den Namen des jungen Mannes – Saeed – und an die Wirkung seiner Behandlung. Die Einheimische war schlagartig geheilt gewesen und Nyvysk hatte als faszinierter Versager da gestanden.
All das und vieles mehr hatte er gesehen.
Nachdem er von der 275 abgefahren war, lenkte er den Van zu einer Citgo-Tankstelle. Ich habe keine Ahnung, wo ich hinmuss, wurde ihm mit einem Kichern bewusst. Eigentlich hatte er diesen Auftrag gar nicht annehmen wollen. Er betrachtete sich gern als Teilzeitrentner. Und das Geld brauchte er nicht wirklich – trotz der 50 Prozent, die er an die Kirche abführte, verdiente er mit seinen Büchern genug. Aber irgendetwas an der Einladung der Frau ...
Und um ehrlich zu sein, musste Nyvysk zugeben, dass er sich schrecklich langweilte.
Er fuhr einen weißen, unscheinbaren Ford-Kastenwagen. Offenbar war er falsch abgebogen und so in dieser schmuddeligen Strandortschaft gelandet. Einige Bauarbeiter beluden gerade ihre Fahrzeuge. Einer nickte ihm zu, als wären sie alte Kollegen. Natürlich hätte man Nyvysk in dem verbeulten Van und mit seinem ungepflegten Bart ohne Weiteres für einen Tagelöhner aus der Provinz halten können. Der Gedanke belustigte ihn. Dein Wagen ist voll Werkzeug. Willst du raten, was ich transportiere?
Sein Vorname lautete Alexander. Er war 1,95 Meter groß und 60 Jahre alt. Durch die viele Feldarbeit für die Diözese machte sein Körper einen abgehärteten Eindruck. Nicht wie bei einem typischen Priester. Wenn die mich jetzt sehen könnten, dachte er, als er sein Spiegelbild in der Scheibe des kleinen Tankstellengebäudes erblickte. Ich könnte locker als Bandmitglied von ZZ Top durchgehen. Graues Haar, das als Flaum seinen gesamten Oberkörper bedeckte, dazu ein Bart in gleicher Farbe, der bis zum Brustbein wuchs. Arbeitsschuhe, ausgewaschene Jeans, ein schlabbriges T-Shirt. Er zog sich meistens so an. Ein Berater im Pfarramt für psychische Kranke in Richmond hatte das mal als Beweis seiner Bußfertigkeit gewertet. Er versuche bewusst, unattraktiv zu erscheinen »für andere ... äh, für jene, die sich auf unkeusche Weise zu Ihnen hingezogen fühlen könnten« – ein Seitenhieb auf seine Schwäche. Den Bart und die langen Haare interpretierte er ähnlich. Jahrzehntelang hatte Nyvysk einen Kurzhaarschnitt getragen und sich bis auf einen Schnurrbart glatt rasiert.
Ich schätze, ich wirke wie ein rundum zufriedener Chaot, dachte er.
Das Einzige, was nicht ins Bild passte, war das große schwarze Kreuz, das um seinen Hals hing.
Ein Paar mittleren Alters, das den Parkplatz zu Fuß überquerte, stritt miteinander – eine blonde Frau mit einem Amethysthalsband und ein Mann mit Kinnbart und einem Shirt von Joy Division. Die beiden hielten Händchen, sahen jedoch aus, als könnten sie einander nicht ausstehen. Die frage ich besser nicht, beschloss Nyvysk. Drinnen zahlte er sein Benzin, und der alte Mann am Schalter, der ebenfalls ein Kreuz trug, bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick, als er sagte: »Könnten Sie mir wohl erklären, wie ich nach Prospect Hill komme? Ich suche nach der sogenannten Hildreth-Villa.«
»Keine Ahnung. Nächster!«
Ah ja, dachte Nyvysk und rief sich den ersten Petrusbrief in Erinnerung. »Ehrt jedermann, habt die Brüder lieb.« Möge der Herr trotzdem mit dir sein. Draußen stand das Pärchen bei den Zapfsäulen, umarmte sich und küsste sich leidenschaftlich. »Scheiße, ich liebe dich über alles«, hauchte der Mann mit dem Kinnbart seiner Begleiterin zu.
Das ging aber schnell. Liebe ist überall. Nyvysk fragte die beiden: »Entschuldigen Sie, kennen Sie Prospect Hill? Ich suche den Weg zum ...«
»Hildreth-Haus?«, nahm ihm die Frau die Worte aus dem Mund. Ihre grünen Augen leuchteten wie Smaragde.
»Ja«, bestätigte Nyvysk. »Gut geraten.«
Der Mann mit dem Kinnbart schob eine Brille mit Bartgestell die Nase hoch. »Der Ort ist ziemlich berühmt ... und es ist das einzige Gebäude auf dem Hügel. Biegen Sie von der 66th Street nach links auf die Prospect Hill Road ab, die führt Sie dann direkt hin. Aber wenn Sie dort ankommen, wird man Sie später nie wiedersehen.«
Nyvysk runzelte die Stirn.
»Dort spukt es«, fügte die Frau hinzu.
»Wir machen bloß Spaß!«, sagte der Mann. Er hatte auf dem Unterarm eine Tätowierung, die besagte: REDE NICHT, HANDLE. »Letzten Monat hat dort ein Massenmord stattgefunden. Ein durchgeknallter reicher Kerl hat einen Haufen Gäste mit der Axt erschlagen.«
Nyvysk lächelte. »Hab ich gehört. Danke für die Wegbeschreibung.« Unbewusst spielte Nyvysk mit dem großen Kreuz um seinen Hals. »Gestatten Sie mir, Sie mit den Worten von Mose zu verlassen: ›Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der Herr euch heute rettet.‹ Ach ja, fast hätte ich’s vergessen: ›Devil Rays vor!‹«
»Cool«, meinte der Typ.
»Warum wollen Sie denn zur Hildreth-Villa?«, erkundigte sich die Frau.
»Ich bin Dämonologe und technischer Ermittler für paranormale Phänomene«, antwortete Nyvysk, stieg in seinen Van und brauste davon.
Fünf Meilen und eine Brücke weiter erspähte Nyvysk an der Hauptstraße ein winziges Schild, das auf die Prospect Hill Road hinwies. Als der Wagen über ein Schlagloch holperte, hörte er, wie hinten etwas klapperte. Wahrscheinlich die Zuflussröhren des Chromatografen, fürchtete er. Oder mein 50.000-Dollar-Barometer. Dann entdeckte er einen weiteren Hinweis: JCT – STATE ROUTE 666. Das meint ihr doch wohl nicht ernst, zuckte er angesichts der Nummerierung zusammen. Ungläubig spähte er auf die Landkarte und stellte fest, dass es die Straße tatsächlich gab, sie jedoch zum Glück woandershin führte. Dann verlangsamte er auf der rechten Spur und hielt Ausschau nach der richtigen Ausfahrt.
Ein muslimischer Anhalter – 19 oder vielleicht 20 Jahre alt – stand am Straßenrand. Nyvysks Blick heftete sich auf ihn, und er spürte, wie sich seine Brust verengte. Der Anhalter erinnerte ihn an den jungen Kurden, der den Exorzismus an der Frau in Ninive vollzogen hatte, den Jungen namens Saeed. Die Erinnerung toste wie Nebelschwaden durch seinen Kopf: Als das Ritual vorbei war, hatte der junge Mann den damals jüngeren, schlankeren und deutlich weniger zotteligen Nyvysk angelächelt. Ihre Blicke verschmolzen regelrecht miteinander. Die Lippen des Kurden hatten eine stumme Einladung geformt und seine Augen hatten ungeheuer verletzt gewirkt, als sich Nyvysk mit einem lauten Seufzer von ihm wegdrehte und ging.
Nyvysk berührte sein Kreuz. Danke, Gott, dass du mir die Kraft gibst, mein Gelübde nie zu brechen ...
Er wusste, dass kein Zusammenhang bestand, aber es machte den Anschein, als wäre seine bezwungen geglaubte Libido in den vergangenen Tagen wieder aufgeflammt – seit er den Brief von Vivica Hildreth erhalten hatte.
Wohin er auch ging, überall schien ihm aus weit geöffneten Augen die Lust entgegenzustrahlen.
Er biss sich auf die Unterlippe, fuhr weiter und beobachtete, wie der Junge im Rückspiegel zusammenschrumpfte.
Eine Zeit lang dachte Nyvysk an gar nichts mehr.
»Das kann es nicht sein«, murmelte er kurze Zeit später, bog aber trotzdem scharf nach links ab. Er wusste, dass er in Kürze auf die nördliche Interstate stoßen würde. Bis dahin konnte es nicht mehr viele Abzweigungen geben. Die Straße, die er suchte, war nicht in der Karte verzeichnet, immerhin gab es einen Telefonbucheintrag. Wahrscheinlich lachen sich die zwei von der Tankstelle gerade scheckig über den alten Kerl, den sie geleimt haben ... Doch als er den Glauben schon verlieren wollte, tauchte nach weniger als 30 Metern auf der Schotterstraße, in die er eingebogen war, ein krummes Schild auf: PROSPECT HILL ROAD. Wer ist auf die dämliche Idee gekommen, es hier aufzustellen? Wäre ja zu einfach gewesen, es an der Ecke zu postieren, wo man es auch sieht! Dann drängte ein anderer Gedanke in seinen Kopf.
Vielleicht will man ja gar nicht, dass es gesehen wird ...
Die Straße wand sich durch einen dichten Wald aus Trauerweiden und äußerst skurrilen, hochgewachsenen Kiefern. Ihm fiel keine einzige Palme auf, wie sie als typisch für Florida galten. Louisianamoos wucherte von den Ästen der Bäume entlang der Straße und schuf einen grünen Vorhang. Wer würde ein Haus – noch dazu eine Villa – mitten im Wald bauen? Die Fahrbahn schlängelte sich weiter den Berg hinauf und verengte sich. Zweige kratzten wie Skeletthände gegen die Seiten des Kastenwagens, breitere Äste erstreckten sich über den Pfad, verflochten sich ineinander und bildeten eine Art Tunnel, durch den nur vereinzelt Sonnenlicht drang. Bald war sich Nyvysk sicher, auf der falschen Straße gelandet zu sein, bis er schließlich auf eine grüne, von einem Ring aus Bäumen umgebene Lichtung gelangte.
Und dort stand die Hildreth-Villa, als hätte sie auf ihn gewartet.
Mein Gott, der Kasten ist ja riesig ...
Nyvysk bremste, brachte den Wagen dann vollständig zum Stehen und starrte das Gebäude an. Seinem Blick präsentierte sich ein gewaltiges Bauwerk in gotischem Stil aus grauen Ziegeln, das sich über fünf Etagen erstreckte. Buntglasfenster funkelten wie bizarre, dunkle Juwelen; sonderbar platzierte Steinveranden schienen regelrecht in den dicken Mauern abzutauchen. Bestanden die hohen Eckpfeiler des Gebäudes tatsächlich aus Eisen? Kreaturen, bei denen es sich vermutlich um dekorative Wasserspeier handelte, kauerten wie entstellte Krähen auf komplexen Simsen. Erkerfenster mit schrägen Schieferdachvorsprüngen ragten aus dem Ost- und dem Westflügel des Erdgeschosses heraus und die Flanken des zentralen Teils der Villa säumten weitere Buntglasfenster, diesmal in Karoform. An beiden Seiten der Fassade erstreckten sich Brüstungen über schräge Mansardenfenster im oberen Stockwerk, bewehrt mit spitzen Firsten.
Obwohl Nyvysk keinerlei übersinnliche Fähigkeiten besaß, spürte er die bösen Vorahnungen, die wie eine trübe Gewitterwolke über diesem Ort hingen.
Etwa hundert Meter vor der Villa stieg er aus dem Wagen aus, um sie weiter zu begutachten. Das Gefühl in seiner Magengegend und der Anblick der Sonne, die von der höchsten Stelle des Gebäudes halb verdeckt wurde, weckten Erinnerungen an einen Aufenthalt in Jerusalem, unmittelbar nördlich des Damaskustors. Dort war ihm ein Exorzismus an einem Säugling gelungen. Als er anschließend zum Himmel blickte, war ihm unmittelbar über dem Gebiet, wo Jesus Christus vermutlich begraben worden war, eine ähnliche Düsternis aufgefallen. Jetzt schloss er die Augen, konnte das Sonnenlicht durch die Lider dabei nach wie vor sehen und betete: Ja, Herr, diesmal werde ich wirklich Mut brauchen. Bitte verleih mir die nötige Stärke.
Als er die Augen wieder öffnete, bemerkte er, dass sich die riesige Bogentür des Hauses geöffnet hatte. Jemand stand genau in der Mitte und winkte ihm zu.
II
»Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich attraktiv finden«, sagte Vivica Hildreth mit verengten Augen. Sie schlug auf dem Drahtgeflechtstuhl die überkreuzten Beine erst auseinander, dann wieder übereinander. »Jeder wird gern bewundert, auch wenn er so tut, als wäre das nicht so.«
Westmore kippte beinahe aus dem Sitz; die Plötzlichkeit der Äußerung – ein völliger Themenwechsel – brachte ihn total aus dem Konzept. Er errötete, denn er wusste, weshalb sie das gesagt hatte. »Ich ... entschuldige mich. Ich muss Sie wohl angestarrt haben. Das wollte ich nicht.«
»Nicht angestarrt – eher gemustert. Keine Sorge, Mr. Westmore. Ich fühle mich dadurch besser. Die meisten Männer schrecke ich eher ab.«
Allmählich gewöhnte sich Westmore an die Merkwürdigkeit des gesamten Tages. »Ich wüsste nicht, weshalb. Sie sind eine überaus interessante Frau.«
Sie nahm das Halstuch mit dem Paisleymuster ab. Unter dem T-Shirt zeichneten sich ihre Brüste ab. Er vermutete, dass sie jetzt ganz unverhohlen mit ihm flirtete. »Und Sie sind ein äußerst faszinierender Mann. Es ist bedauerlich, dass wir rein gar nichts miteinander gemein haben.«
Nun konnte Westmore nur noch den Kopf schütteln und lachen. »Ach was! De Kooning?«
»Ganz zu schweigen davon, dass ich meinen Gatten nie betrügen würde. Falls es Ihnen aber gelingt, nachzuweisen, dass er tot ist ... wer weiß, was die Zukunft dann bereithält?«
Ich glaub das einfach nicht ...
Ihre Stimme wurde etwas leiser. »Wissen Sie, was die Zukunft bereithält?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Nun denn. Die Zeit ... wird es weisen.« Ihre vorstehenden Brüste eilten den Worten voraus – die Popbaronin in Flipflops mit den strahlenden Augen. »Ein seltsamer Tag, was, Mr. Westmore?«
»Ja.«
Sie stand auf und wies mit der Hand zum Ausgang. »Ihnen steht eine äußerst seltsame Woche bevor. Viel Glück.«
Ich schätze, das bedeutet, dass ich jetzt gehe. Er erhob sich ebenfalls und schüttelte erneut ihre Hand. Als sie sich berührten, spürte er ein statisches Knistern.
»Wie gesagt, neben Ihnen werden noch andere im Haus sein, aber vergessen Sie nie, für wen Sie arbeiten.«
Westmore zog eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, ich arbeite für Sie.«
»Das tun Sie, und falls Sie während Ihres Aufenthalts im Haus meines Mannes auf etwas ... Heikles stoßen, sollen Sie das niemandem sonst mitteilen. Erstatten Sie mir Bericht, nur mir. Ich bin jederzeit auf meinem Mobiltelefon erreichbar. Geben Sie die Nummer auf keinen Fall weiter.«
»Verstanden«, sagte Westmore, obwohl er eigentlich immer noch nicht viel verstand. Ich schätze, sie will, dass ich so viel wie möglich darüber herausfinde, was in jener Nacht passiert ist und wo ihr Mann steckt. Derzeit wusste er praktisch nichts über Reginald Hildreth ... abgesehen davon, dass seine Todesanzeige gefälscht war. Und er konnte keiner Menschenseele davon erzählen, wenn er nicht wollte, dass Vivicas Anwälte ihm das Leben zur Hölle machten. Sie hatte es erst vor einer Minute treffend zusammengefasst: Es würde eine äußerst seltsame Woche werden.
Sie begleitete ihn ins Foyer. »Ich möchte, dass Sie morgen anfangen. Ist das für Sie annehmbar?«
»Klar.«
»Das freut mich. Dann gehen Sie jetzt und bereiten sich in Ruhe vor. Karen wird Sie nach Hause fahren. Sie gibt Ihnen einige Unterlagen mit und natürlich dürfen Sie sie mit Fragen löchern. Übrigens verbringt sie die kommenden Wochen ebenfalls in dem Haus.«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Westmore und wünschte sofort, er hätte es nicht getan. Sein reaktives Flirten mutete – im Gegensatz zu ihrem – unheimlich laienhaft an. »Bekomme ich Sie dort auch zu Gesicht?«
»Ich habe noch nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt, Mr. Westmore«, erwiderte sie und ließ ihn stehen wie einen dummen Schuljungen.
Als Westmore über die Straße ging, dachte er darüber nach, was Vivica Hildreth über die Motivation, ihn zu beauftragen, gesagt hatte: Mein Gatte hat sich auf irgendetwas vorbereitet, von dem er glaubte, dass es sich in Zukunft ereignen würde. Mich interessiert, worum es sich handelt und wann es passieren wird. Verlieren Sie das bei Ihrer Arbeit bitte nie aus dem Blick.
»Worauf um alles in der Welt könnte sich dieser Irre vorbereitet haben?«, murmelte Westmore bei sich. Dann tastete er nach dem Umschlag in seiner Tasche, der Geldbündel enthielt, denen noch viele weitere folgen würden.
Wen interessiert’s? Er war nicht fürchterlich entsetzt über die Erkenntnis. Wenigstens bin ich ehrlich, wenn ich nicht abstreite, dass ich für Geld so ziemlich alles tun würde.
»Bin echt in Not, Bruder!«, sagte da eine raue Stimme. »Ich könnt alles brauchen, was de erübrigen kannst.«
Westmore sah sich um und konnte niemanden entdecken. Es wurde allmählich dunkel. Dann bemerkte er zu seinen Füßen einen heruntergekommenen Mann mit fettigen Haaren, der hinter der Mülltonne neben dem Bushäuschen saß, in dem Westmore an diesem Tag glücklicherweise nicht mehr warten musste.
Wässrige Augen richteten sich flehentlich auf ihn. »Mir haben se im Irak das Bein zerschossen.«
Das bezweifelte Westmore allerdings. Das Bein, das aus der fleckigen kurzen Hose ragte, schien eher verdreckten Nadeln zum Opfer gefallen zu sein. »Klar«, sagte er und griff in seine Tasche. Ich habe einen Arsch voll Geld dabei, erinnerte er sich. Er drückte dem Penner eine 100-Dollar-Note in die Hand.
»Is das alles, was de hast?«
Meine Fresse, dachte Westmore nur und ging weiter.
Mal sehen, sie hat gesagt, sie wartet in der Austernbar auf mich – ausgerechnet dort. Er spähte durch die matte Flachglasscheibe und sah Karen an der edlen Kirschholztheke sitzen. Er rief sich in Erinnerung, dass er das Lokal seit rund drei Jahren nicht mehr betreten hatte. Früher war er wegen der vornehmen Düsternis im Gastraum geradezu verrückt danach gewesen – angenehmer Nebeneffekt des Ambientes: Man konnte sich im Spiegel hinter den Alkoholregalen kaum erkennen.
An einigen Tischen saßen Gäste, Karen erwartete ihn an der Bar. Na toll, die besäuft sich gerade, dachte er. Sie warf die langen blonden Strähnen zurück und trank einen Schluck aus einem lächerlich großen Martiniglas voll blau schimmerndem Eis.
Westmore zuckte zusammen, als er sah, was unmittelbar danebenstand: zwei Gläser, ein Dewar’s mit Eis und ein Ginger-Ale.
Woher zum Teufel weiß sie ...
Karen schien ins Leere zu starren, während sie an ihrem XXL-Drink nippte.
»Da bin ich«, sagte Westmore.
»Habe ich das Richtige bestellt?« Sie deutete auf die zwei Gläser neben sich.
»Ja, aber ich trinke nicht mehr.«
»Ach, das weiß ich doch. Aber Sie bestellen immer einen Scotch und trinken ihn nicht. In der Bar in dem Viertel, wo Sie wohnen. Jeden Abend. The Sloppy Heron, so heißt der Laden, glaube ich? Aber vor einigen Jahren hätten Sie das Ginger-Ale links liegen gelassen und acht bis zehn Dewar’s getrunken. Hier genauso. Die Austernbar, in der wir gerade sind – Sie sind hier früher oft hergekommen, nicht wahr?«
»Ja. Und ich wurde hier oft rausgeworfen. Ich bin sehr froh darüber, dass ich nicht mehr trinke.« Seufzend ließ sich Westmore auf einen Barhocker sinken. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich durch die Begegnung mit Vivica – so anregend sie gewesen sein mochte – erschöpft.
»Wenn Sie versuchen, mit dem Trinken aufzuhören ...«
»Nicht versuchen«, berichtigte Westmore sie. »Ich habe damit aufgehört.« Er wusste, was als Nächstes kommen würde.
»Warum gehen Sie dann immer noch in Bars? Warum stellen Sie einen Drink vor sich hin? Ich könnte mir vorstellen, dass die Versuchung manchmal überwältigend sein muss.«
»Ist sie nicht. Und ich tue es, weil es mir beim Nachdenken hilft. Ich bin Schriftsteller. Schriftsteller haben merkwürdige Rituale.« Er griff nach dem Glas und spähte in die gelbe Flüssigkeit hinein. »Ich sehe es mir gern an. Ich höre gern das Eis klirren. Ich rieche gern daran. So bekomme ich den Kopf frei.« Er lächelte das Glas an. »Das ist meine Zerstreuung. Quasi meine Kristallkugel.«
»Interessant, dass Sie das sagen. Unter den Leuten im Haus ist eine Hellseherin.«
»Wirklich?«
»Vielleicht hat sie auch solche Rituale.« Karen rührte mit einem Finger ihren Drink um, dann zeigte sie auf Westmores Scotch. »Haben Sie schon mal die Zukunft darin gesehen?«
»Jetzt nicht mehr. Aber früher. Ich habe in diese Gläser mit acht Dollar teurem Schnaps geschaut und sah darin meinen Tod. Gleich da draußen neben der Bushaltestelle ist ein Obdachloser. Er sieht aus, als ob er verrottet. Früher habe ich in meiner Zukunft genauso einen Kerl gesehen.«
»Tja, das ist interessant. Aber ich kann es kontrollieren: Ich bin keine Alkoholikerin. Ich glaube, dass man durch alles, was man mit Maß und Ziel tut, zu einem besseren Menschen wird.«
Schätzchen, du bist eine Alkoholikerin, dachte er, als er sah, wie sie den Martini in sich hineinschüttete. »So etwas wie Maß und Ziel gibt es nicht, jedenfalls nicht für mich. Die klinische Abhängigkeitsrate für Alkohol liegt bei etwa 15 Prozent. Ich gehörte zu diesen 15 Prozent.«
Wehmütig wandte sie den Blick ab. »Aber das ist eine falsche Romantik, oder? Wie bei Hemingway. In allen kreativen Menschen steckt ein Dämon, der stärker ist als sie.«
»Eine interessante Beobachtung.«
»Und lassen Sie mich raten: Sie sind ein Alkoholiker mit einem Schreibproblem.«
Westmore lächelte. »Hey, das ist ein tolles Zitat.«
Sie orderte einen weiteren Martini. »Diesmal mit Blauschimmelkäse in der Olive«, forderte sie den Barkeeper ziemlich unwirsch auf. Dann meinte sie zu Westmore: »Ich bin froh, dass Sie Versuchungen widerstehen können. Diese Kraft werden Sie brauchen.«
Westmore schnupperte an seinem Drink. Die scharfen Dämpfe erregten ihn angenehm. »Wo? In dem Haus? Oh, entschuldigen Sie, in der Hildreth-Villa?«
Sie erwiderte nichts, sondern lächelte nur dem Spiegel hinter den Alkoholregalen zu.
Westmore bestellte ein Dutzend Austern, dann fragte er Karen: »Also haben Sie mich beschatten lassen, einen Detektiv auf mich angesetzt? Ich kann mir nicht vorstellen, woher Sie sonst wüssten, dass ich früher oft in diese Bar kam, dass ich immer einen Dewar’s bestelle, ohne ihn zu trinken, und wie meine Stammkneipe heißt.«
»Natürlich«, bestätigte sie. »Vivica ist eine vorsichtige Frau. Und eine entschlossene.«
Westmore blieb leicht verwirrt. Der Kräuterduft ihrer Haare wehte zu ihm herüber und lenkte ihn ab. Gut, dass ich Rätsel mag, dachte er. Als sein Teller mit den Austern kam, lächelte Karen und sagte: »Verheimlichen Sie mir etwas?«
»Was?«
»Austern. Es stimmt, was man über sie sagt.«
»Ach ja?«
»Ja.« Sie lachte prustend. »Ich werde davon immer tierisch geil.«
Das Wort erwischte ihn eiskalt. Aus dem Mund einer vermeintlich steifen, züchtigen Geschäftsfrau hörte es sich nicht richtig an. Noch verwirrender fand er, dass sie nach dieser unerwarteten Eröffnung wortlos an ihrem Drink nippte und nach vorne starrte. Ich schätze, ich sollte ihr besser keine Austern anbieten, dachte er scherzhaft. Er schlürfte selbst einige und meinte: »Ist wahrscheinlich alles rein psychologisch.«
»Die Bedeutung des Wortes ›psychologisch‹ kennen Sie erst, wenn Sie eine Nacht in dem Haus verbracht haben. Das wird Sie dazu bringen, einen ... ausgiebigen Blick auf sich selbst zu werfen.«
»Ich habe zwar keine Ahnung, wovon Sie reden, aber ich schätze, morgen finde ich es heraus. Holen Sie mich ab? Ich würde mir ja ein Taxi nehmen, allerdings weiß ich nicht, wo die Villa genau ist.«
»Ich hole Sie ab.« Sie drehte sich um und bückte sich nach etwas, das auf dem Boden lag. Westmore musterte ihre langen, sonnengebräunten Schenkel, die den schwarzen Rock spannten, und beobachtete den Effekt, den die Schwerkraft auf ihre offensichtlich mit Implantaten vergrößerten Brüste ausübte. Was sexuelle Anspielungen angeht, ist der Tag heute wohl kaum zu übertreffen. Zuerst baggert Vivica mich praktisch an und jetzt sitze ich neben dieser Sexbombe, die sich besäuft und darüber plaudert, dass Austern sie scharf machen.
Sie reichte ihm eine kleine Aktentasche. »Hier sind einige Informationen über die Opfer, wenn man sie so nennen will. Lebensläufe, Szenenfotos, Polizeiberichte – vorwiegend im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch – und Autopsieberichte. Alle ziemlich ähnlich.«
»Und die meisten Opfer waren ...«
»Pornostars, ja. Zwei Männer, der Rest Frauen – alle sehr attraktiv. Mr. Hildreth umgab sich gern mit ›positiver visueller Energie‹, wie er es nannte. Deshalb hat er T&T Enterprises gekauft. Er sah die Leute in den Filmen, ihm gefiel ihr Äußeres und so kaufte er die Firma. Danach verlegte er den Geschäftsbetrieb in die Villa.«
»Ein Pornostudio in einer gotischen Villa?«
»Ja.«
Westmore musste einfach fragen. »Wie passen Sie da rein?«
»Ich war die Buchhalterin der Firma.«
»Na ja, irgendwie besitzen Sie schon den Look einer Buchhalterin. In gewisser Weise.«
Karen verstand den Wink. »Ja, Mr. Westmore, ich war früher auch eine der Darstellerinnen. Von 20 bis 25. Nach 25 gilt man in der Branche als chancenlos.«
Eine weitere interessante Information, aber Westmore fragte sich, was er damit anfangen sollte. »Erzählen Sie mir von Hildreth. Hatten er und Vivica Kinder?«
»Gott, nein. Ich kann mir kaum ein Paar vorstellen, das ungeeigneter wäre, um Kinder zu erziehen.«
»Wie alt war er? Wie hat er ausgesehen?«
»Er war um die 60. Groß gewachsen. Ein bemerkenswert attraktiver Mann.«
Westmore achtete darauf, die Vergangenheitsform zu verwenden, weil er nicht sicher war, ob Karen von der gefälschten Todesanzeige wusste. Eine heikle Angelegenheit.
Sie zog eine 20 mal 25 Zentimeter große Hochglanzaufnahme hervor und reichte sie ihm. »Darf ich vorstellen: Reginald Hildreth.«
Beinahe ein Klischee. Längeres, zurückfrisiertes Haar, »würdevolles« Grau an den Schläfen, offensichtlich penibel gefärbt. Forschende Augen, dünne Lippen, ein langes schmales Gesicht. Charmant, aber verdorben, fand Westmore. Er sieht aus wie ein reicher Schwindler. »Und Sie glauben, dieser Kerl hat all diese Leute umgebracht? Mit einer Axt?«
»Ja.«
»Warum? Weil er wahnsinnig war?«
»Ich glaube nicht, dass er wahnsinnig war.« Karen starrte geradeaus und kippte ihren nächsten Martini.
»Entschuldigen Sie, falls ich da voreingenommen rüberkomme, aber wenn jemand einen Haufen Leute mit einer Axt in Stücke hackt – dann ist das für mich ein ziemlich deutliches Zeichen von geistiger Instabilität.«
Langsam richtete sie ihre eisblauen Augen auf ihn. »Sie wissen nicht, was Instabilität ist.« Mehrere Sekunden lang hielt sie das ausdruckslose Starren aufrecht ... dann lächelte sie.
Wow.
Westmore schüttelte den Kopf, als sie sich einen weiteren Martini bestellte. »Natürlich hat Mr. Hildreth nicht alle getötet – ihm kam nur die Auflösung zu, der letzte Akt. Die Prostituierten hat er nicht selbst umgebracht.«
»Prostituierte?«
»Die Crack-Huren im oberen Stockwerk.« Sie deutete auf die Aktentasche. »Steht alles da drin. Ich glaube, es war Dreiei, der sie umgebracht hat.«
»Dreiei?« Westmore verzog das Gesicht. »So heißt jemand?«
»Ja, einer der ... Schauspieler. Er hatte drei Hoden. Eine Laune der Natur, aber natürlich perfekt für das Pornogeschäft.«
Westmores Verstand arbeitete auf Hochtouren, um die Information zu verarbeiten, doch bevor er seine nächste Frage stellen konnte, deutete sie erneut auf die Aktentasche. »Seine Fingerabdrücke wurden auf den Messern im Salon gefunden. Steht alles in den Polizeiberichten. Hildreths Fingerabdrücke beschränkten sich auf die Axt.«
»Wo ...«, setzte er an, dann ermahnte er sich: Vorsicht! »Wo wurde Hildreth nach seinem Selbstmord begraben?«
»Auf dem hauseigenen Friedhof.«
Das ist heftig, schoss es Westmore durch den Kopf.
»Der andere Typ war Jaz.«
»Der andere ... ach so, das andere männliche Opfer?«
»Sie werden schon sehen. Jaz war ein weiteres Naturtalent. Hatte einen Schwanz wie eine Knackwurst.«
Westmore zuckte erneut zusammen.
Karen fuhr fort: »Es war fast komisch, wie man diese Kerle nur anhand der Körperteile auseinanderhalten konnte – viele wurden enthauptet und zerstückelt. Bei den Frauen war es natürlich nicht so einfach, aber die künstlichen Titten und ihre Muschis lieferten Hinweise. Und die Kerle – einem wurde der Kopf abgehackt, der andere in zwei Hälften zerteilt. Aber man konnte anhand der Schwänze eindeutig erkennen, welcher Körper zu wem gehörte.«
Westmore saß wie benommen da, überwältigt von der Kombination der grässlichen Bilder und ihrem plötzlichen Schwenk auf Gossensprache. Einige Momente lang konnte er nichts erwidern, dann formulierte er die Frage, die ihm am offensichtlichsten erschien: »Woher wissen Sie das alles?«, fragte er sehr langsam.
»Ich war diejenige, die damals die Leichen entdeckt hat«, antwortete Karen und zuckte dabei mit keiner Wimper. »Ich fuhr am Morgen danach wie immer zur Arbeit. Kurz nach Sonnenaufgang. Ich ging ins Haus und fand sie. Alle tot, alle abgeschlachtet. Überall Blut, und es war noch feucht.«
Westmores Verstand raste. Hildreth hat den Ort in ein Schlachthaus verwandelt, und ich soll herausfinden, was in der Nacht genau passiert ist. Es fühlte sich makaber an. Ein bisschen so, als würde man nach der Verbrennung aller Leichen in ein Konzentrationslager geschickt. Schlagartig verlor dieser Traumjob trotz der fürstlichen Bezahlung seinen Glanz.
Stille. Unbehagen beschlich ihn in der dunklen Bar angesichts der bevorstehenden Aufgaben. Der Barkeeper unterhielt sich am anderen Ende des Raums mit dem Austernkoch. Westmore fühlte sich abgekapselt, als gehörten die wenigen Menschen rings um ihn einer anderen Existenzebene an. Sein Blick fiel auf das volle Scotch-Glas – seine Kristallkugel –, und in dem goldstichigen Eis erblickte er etwas Chaotisches, etwas Undefinierbares.
Westmore erschauerte, als Karens Hand seinen Oberschenkel berührte. Ihre Finger drückten ihn, dann wanderten sie zielstrebig auf seinen Schritt zu.
»Was ...«
Ihr betrunkener Blick wirkte zugleich abwesend und hoch konzentriert. Etwas schien darin zu lodern. Natürlich ist sie betrunken, suchte er nach einer vernünftigen Erklärung. Außerdem ein bisschen neben der Spur. Immerhin hat sie die Leichen entdeckt ...
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
Westmore wollte ihre Hand nehmen und wegschieben. Er fühlte sich verlegen, stand unter Strom ...
»Keine Bange, niemand kann es sehen.« Ihre Finger arbeiteten sich weiter an der Innenseite seines Oberschenkels hinauf. »Schauen Sie mal.«
Westmore sah nach unten. Sie hatte den schwarzen Rock hochgezogen und die Schenkel gespreizt. Kein Höschen.
Fantastisch. Eine betrunkene Nymphomanin.
»Lassen Sie sich von mir nach Hause fahren. Wir treiben es bei Ihnen.«
Schließlich sprudelten die Worte aus Westmores Mund. »Das ist doch verrückt. Was machen Sie da?«
»Ich baggere Sie an. Wir sind in Florida, schon vergessen? Alle Männer sind schwanzgesteuert, alle Frauen sind Schlampen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, diesen Slogan je in einem Tourismusprospekt gelesen zu haben.« Wieder riet ihm eine Stimme in seinem Inneren, die Hand wegzuschieben, doch er blieb bewegungslos sitzen. Mittlerweile streichelte sie unverhohlen seine Beule. Westmores Magen krampfte sich in wilder Erregung zusammen.
»Was ist? Widerspricht das Ihrem Moralempfinden?«, scherzte sie. Ihre Stimme glich dabei einem einlullenden Flüstern. »Haben Sie noch nie eine Frau in einer Bar aufgerissen und sie dann gefickt?«
»Schon oft und es war immer ein Fehler.« Nach wie vor schielte er verlegen zum anderen Ende der Theke und sah, dass der Barkeeper und der Austernschäler zu weit weg standen, um etwas mitzubekommen.
»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen im Auto einen blase ...«
Dann setzte sein gesunder Menschenverstand so schnell ein wie eben noch seine Erregung. Er packte ihre Hand, schob sie auf ihren eigenen Schenkel und zog ihren Rocksaum wieder nach unten.
»Wir arbeiten beide für dieselbe Frau ...«
»Moralische Verworfenheit?« Sie lachte etwas lallend.
»Ja.« Er legte Geld auf die Theke, stand auf und griff nach der kleinen Aktentasche, die sie mitgebracht hatte. »Ich muss heute Nacht noch Nachforschungen anstellen.«
»Natürlich. Ganz der pflichtbewusste Reporter.«
»Und ich nehme den Bus nach Hause. Sie sind zu betrunken, um mich oder sich selbst irgendwohin zu chauffieren.« Er holte sein Handy aus der Tasche. »Ich rufe Ihnen ein Taxi.«
»Nicht nötig.« Träge starrte sie auf ihren fast leeren Drink. »Ich übernachte in Vivicas Gästezimmer. Morgen früh hole ich Sie ab und bringe Sie zur Villa.«
»Prima.« Durch die Nachwehen der peinlichen Situation klang seine Stimme gekünstelt. Westmore wollte nur noch raus hier. »Dann sehen wir uns morgen«, sagte er, schüttelte ihr rasch die Hand und ging.
Unglaublich, dachte er. Ich bin ein Magnet für Durchgeknallte.
Ein Anflug von Erleichterung, als er auf die Uhr blickte: Der Bus zurück fuhr um diese Zeit nur noch stündlich, aber er musste nur fünf Minuten auf den nächsten warten. Die Stadt kühlte im Licht der untergehenden Sonne herunter. Nur noch wenige Autos waren unterwegs. Man konnte eine Stecknadel fallen hören, so ruhig war es auf den Straßen.
Die Szene mit Karen gab ihm zu denken; in seinen Tagen als Trinker wäre er sofort dafür zu haben gewesen. Nun jedoch blieben nur die abklingende Erregung und ein tief sitzendes Bedauern zurück. Kneipenaufrisse entsprachen nicht mehr seinem Stil; so etwas erschien ihm oberflächlich und unreif.
»Jemand anders wird sie ficken«, schnarrte eine Stimme.
Es war der Obdachlose, der immer noch zusammengesunken an derselben Stelle neben der Mülltonne vor der Bushaltestelle kauerte.
»Bist du ’ne Schwuchtel oder so? Die Schlampe ist ein heißes Gerät. Hättest sie mal in ihren Filmen sehen sollen.«
»Woher weißt du, dass sie in Filmen mitgespielt hat?«, stieß Westmore gereizt hervor. Von hier draußen konnte der Mann ihre Unterhaltung an der Theke unmöglich mitgehört haben.
»Ich weiß ’ne Menge Scheiß, Mann.« Sein Gesicht versank unterhalb von Westmores Gürtellinie im Schatten. »Man erzählt mir ja so einiges.«
»Ach ja? Wer?«
»Dein Vater.«
Kurz kniff Westmore die Augen zusammen. »Mein Vater ist tot.«
»Ich weiß.«
Klar doch. »Überrascht mich, dass es dir nicht meine Mutter gesagt hat – sie ist auch tot.«
Der Obdachlose zögerte. »Das wusst ich nich’.«
Westmore ließ es dabei bewenden. Seine Mutter erfreute sich bester Gesundheit und lebte in San Angelo, Texas. »Hör mal, Mann, ich weiß, dass du Hilfe brauchst. Ich ruf gern für dich bei der Kreisverwaltung an und erkundige mich, wo das nächste Asyl ist.«
»Drauf geschissen. Gib mir mehr Kohle. Du hast einen Arsch voll bei dir.«
Obdachlose Irre schienen sich stets Westmore auszusuchen – so war es schon immer gewesen. Für diesen Mann allerdings konnte er nichts tun. Der Bus fuhr zischend vor und die Türen klappten auf. Als Westmore einstieg, krächzte der Penner weiter: »He! He!« Es hörte sich eher wie ein kläffender Hund an.
Westmore löste ein Ticket. Der Obdachlose hörte nicht auf zu jammern.
»Von diesen Verrückten stranden hier immer mehr«, meinte der Fahrer. »Vermehren sich wie die Schmeißfliegen.«
»M-hm«, murmelte Westmore. Mittlerweile wirkte der Penner geradezu hysterisch. »Ich verstehe den armen Teufel nicht mal.«
»Fahren Sie zu einem Haus?«
Westmore verharrte im Gang und drehte sich um. »Was?«
Der Chauffeur fuhr los. »Der Verrückte. Er hat gebrüllt: ›Viel Spaß in dem Haus!‹«
Westmore setzte sich. Er fühlte sich überwältigt von den Erlebnissen des Tages und ihm war übel. Er starrte aus dem Fenster des Busses und blinzelte unkontrolliert.
Der Obdachlose wirkte im Schatten völlig verändert. Das Gesicht in der Kapuze schien kantig wie ein Keil zu sein. Anstelle der Nase klaffte ein Loch darin und Zähne bleckten aus einem lippenlosen Mund hervor. Augen wie Messerschlitze in Fleisch blitzten ihn aus der Schwärze an. Die Arme hoben sich und ein klauenbewehrter Finger deutete auf Westmore, als der Bus langsam davonrollte.