Kapitel 5

I

Das Cover sprang ihn förmlich an: eine langbeinige, schlanke Brünette mit strahlend blauen Augen vor einem weißen Hintergrund. Sie präsentierte ein breites Lächeln und ein hautenges T-Shirt, das sich über stramme Brüste der Körbchengröße 75C spannte. Auf dem T-Shirt prangten eine Viagra-Pille und die Worte: STÄNDER GEFÄLLIG? Am oberen Rand der DVD-Hülle stand: T&T ENTERPRISES PRÄSENTIERT: GABRIELLE COX IN GABRIELLES GROSSER FICK. Das glänzende Zellophan schien Westmore einen Moment lang regelrecht zu hypnotisieren. Doch es lag nicht nur an der unübersehbaren Schönheit der Frau oder der unverhohlenen sexuellen Provokation. Es liegt daran, dass sie echt wirkt, dachte er. Das ist ein Mensch aus Fleisch und Blut auf dem Cover.

Ein toter Mensch.

Er erkannte das Gesicht der Frau auf Anhieb wieder. Es sah dem Foto aus der Polizeiakte, die Karen ihm gegeben hatte, und der deutlich weniger schmeichelhaften Aufnahme aus dem Leichenhaus unheimlich ähnlich. Ihr richtiger Name lautete nicht Gabrielle Cox, sondern Jane Johnson. Sie war 1,67 Meter groß, 24 Jahre alt und wog 54 Kilo. Die Tochter einer soliden Mittelklassefamilie aus Green Bay, Wisconsin. Nach zwei Semestern brach sie das College ab, um dem steinigen Weg zum Ruhm in Hollywood zu folgen.

Ihr hübsches Gesicht und der umwerfende Körper wurden sofort von einer mittelmäßigen, in Redondo Beach ansässigen Pornoklitsche namens T&T Enterprises entdeckt und unter Vertrag genommen. Im Anschluss daran ließ sie sich für 4500 Dollar Brustimplantate einsetzen, entwickelte eine Kokainabhängigkeit, hatte drei Abtreibungen, beteiligte sich an sexuellen Handlungen mit über 500 Männern und 100 Frauen und spielte in exakt 106 Hardcore-Pornos mit, bis ihre Karriere vor drei Wochen in der Villa eines Exzentrikers auf der anderen Seite des Landes ein abruptes Ende nahm.

Und jetzt ist das hier das Einzige, was noch von Gabrielle Cox alias Jane Johnson aus Green Bay, Wisconsin, übrig ist, dachte Westmore, der den Blick immer noch nicht vom Coverfoto lösen konnte, in einem Anflug von Melancholie. Ein Stück Hochglanzpapier in einer Plastikhülle.

Ihre Leiche war am Morgen des 3. April, einem Samstag, mit abgetrennten Händen und Füßen in der Hildreth-Villa gefunden worden. Ihr Körper wies Spuren von intensivem Geschlechtsverkehr mit mehreren Partnern auf. Todesursache: »Trauma infolge eines 15 Zentimeter breiten Hiebs in den Unterleib«, teilte der Autopsiebericht nüchtern mit – eine Axt im Bauch. »Mit potenzieller perimortaler transvaginaler Eviszeration.«

Westmore schloss die Augen und holte tief Luft.

An dem düsteren Ort roch irgendetwas süßlich – vermutlich ein Raumspray. Westmore war erst einmal in diesem Sexshop gewesen, um ein Gag-Geschenk für die Junggesellenparty eines Freundes zu kaufen. Von Pornovideos verstand er ungefähr so viel wie von euklidischer Geometrie. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Branche mittlerweile Jahresumsätze in Höhe von mehreren Milliarden Dollar erzielte. Nun fand er sich hier vor mehreren Regalmetern mit Videos und DVDs wieder, allesamt indiziert oder zumindest mit strengstem Jugendverbot. Das ist eine eigene Welt. Eine Unterwelt, dachte er.

Eine raue, aber weibliche Stimme drang zu ihm herüber. »Wir haben noch mehr von ihr.«

Westmore schielte zur Besitzerin des Ladens, die auf einem erhöhten Podest an der Kasse thronte. »Wie bitte?«

»Mehr Filme mit Gabrielle. Ich kann im Computer nachsehen, welche wir auf Lager haben.«

Westmore ging zu ihr. Eine Frau mit üppigen Brüsten und fürchterlich aussehenden, schmutzig-blonden Rastalocken, verlebt und stämmig. Die hat schon bessere Zeiten gesehen, befand er. »Ich nehme den hier. Und ja, bitte suchen Sie mir noch weitere Filme von T&T raus.«

»Gern.« Sie rauchte ein schwarzes Zigarillo. An der Wand hinter ihr klebten etliche Werbeposter mit fast schon lächerlich attraktiven Frauen in betörenden Posen, entweder nackt oder spärlich bekleidet. Ein schmuckloses Schild ganz oben an der Wand riet: FRAGEN SIE NACH UNSEREN DESSOUSMODELS! Das verstand Westmore nicht.

»Ja, Gabrielle war cool. Soll ich nur nach ihren Filmen suchen oder ...«

»Nach allem von T&T«, fiel Westmore ihr ins Wort. »Klingt so, als kannten Sie Gabrielle persönlich.«

»Nicht gut. Hin und wieder kamen sie und andere Mädchen vom Label zu Autogrammstunden in den Laden.« Sie deutete hinter sich auf ein Poster mit mehreren Unterschriften und vier nackten Frauen, die in Drei Engel für Charlie-Manier für den Fotografen posierten. »Ein wilder Haufen, aber sie waren alle schwer in Ordnung. Wahrscheinlich wissen Sie das nicht, aber die ganzen Hauptdarsteller wurden Anfang dieses Monats ermordet.«

»Ja, ich ... habe davon gehört. Von einem Kerl namens Hildreth.«

»M-hm.«

»Aber erklären Sie mir etwas.« Er betrachtete die Rückseite der ersten DVD. »Laut offiziellen Aufzeichnungen ist T&T Enterprises ein Unternehmen mit Sitz in Florida. Warum steht auf dieser DVD Redondo Beach?«

»Dort hatte die Firma ihren Standort, bevor sie von Hildreth übernommen wurde. Ein Psycho-Milliardär. Hat das komplette Unternehmen gekauft, weil er eine von dessen DVDs gesehen hatte und ihm die Schauspielerinnen gefielen. Dann hat er das Studio kurzerhand in sein eigenes Haus verlegt, ist das zu glauben? Vor der Übernahme brachte T&T 50 Filme im Jahr auf den Markt, danach nur noch ganz wenige.« Kurz verstummte sie. »Ähm ... genau genommen gar keine mehr.«

»Warum ist das so? Ergibt doch keinen Sinn, dass ein reicher Bonze ein erfolgreiches Pornounternehmen kauft und dann keinen Profit daraus zieht. Wenn jemand eine Firma kauft, schielt er doch normalerweise nur auf die Rendite.«

»Das spielte wohl keine Rolle für ihn. Hildreth hatte Geld wie Heu.« Sie klickte sich durch die Datenbank auf dem Bildschirm, während das Zigarillo unvorteilhaft von ihren Lippen hinunterbaumelte. »Denke, das war einfach ein spontaner Kauf, weil ihm die Mädchen gefielen. Er ließ alle in sein Haus einziehen und dort kostenlos wohnen, wie in der Playboy-Villa. Gabrielle meinte immer, er sammelte schöne Frauen wie andere Leute Möbelstücke.«

Möbel, dachte Westmore, den die Vorstellung deprimierte. Die kann man auch mit der Axt zertrümmern.

Schließlich suchte er sich noch vier weitere DVDs von T&T aus, die letzten Veröffentlichungen, in denen die meisten der Mordopfer mitwirkten. Er zog seine Brieftasche hervor. »Wie viel kosten die überhaupt?«

»Jeweils 49,95.«

Westmore traf beinahe der Schlag. VERDAMMT! Die fünf DVDs waren zusammen halb so teuer wie seine Monatsmiete. Er betrachtete den letzten Film, den sie hervorgeholt hatte. Eine weitere atemberaubende Frau – eine Rothaarige mit einem Zungenpiercing – stand nur mit Schlagsahne auf den Nippeln und im Schambereich da, während hinter ihr vier muskulöse Männer lüstern grinsten. SAHNE FÜR JEANNIE hieß das Machwerk. Ihren Körper sah er zum ersten Mal. Zuvor hatte er in den Akten lediglich den abgetrennten Kopf der Schauspielerin auf einem Autopsietisch liegen sehen.

»Danke. Beehren Sie uns bald wieder«, sagte die Frau und verstaute seinen Einkauf in einer schwarzen Plastiktüte.

Unwahrscheinlich, dachte Westmore.

»Oh, und nur falls es Sie interessiert ...«, fügte sie hinzu und deutete auf das Schild, das ihm vorher bereits Fragezeichen in den Kopf gezaubert hatte: FRAGEN SIE NACH UNSEREN DESSOUSMODELS!

Verwirrung. »Was heißt das?«, erkundigte er sich.

»30 Mäuse für die halbe Stunde, 50 für die Stunde ...« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, beugte sich über die Theke und spähte nach vorn. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ladens befand sich ein Durchgang mit einem schwarzen Vorhang. »He, Natalie?« Dann zu Westmore: »Wahrscheinlich ist sie da drin eingedöst. Wir sind beide ziemlich verkatert von gestern Nacht.«

Westmore hatte keine Ahnung, was für ein Film hier gerade ablief, bis sich der Vorhang teilte und eine junge Frau im Gruftistil mit Topfschnitt und Strähnchen in Metallicrosa und Metallicviolett im schwarzen Haar heraustrat. Dunkle Augen, schwarzer Lidschatten, roter Lippenstift. Sie verfügte über eine grobknochige, aber keineswegs übergewichtige Statur und bedachte Westmore mit einem wölfischen Lächeln, während sie ihn unverwandt ansah. Unverbrauchte weiße Haut bildete die Kulisse für schwarze Spitzenunterwäsche.

»Wie jetzt? Ich gehe da rein und sie posiert für mich?«

Die Frau lachte. »Klar, wenn es das ist, was Sie möchten. Aber sie hat eine Menge Stammkunden.«

Ein Pfennigabsatz klackte auf dem Boden, als Natalie mit routinierter Geste ein Bein abspreizte. Eine Hand wanderte zur Brust im Spitzenkörbchen, holte sie daraus hervor und stellte einen aufgerichteten Nippel zur Schau.

Die Besitzerin des Ladens fuhr fort: »Was Sie an Extras wollen, ist separat zu bezahlen. Ihre Preise sind ziemlich günstig. Wichsen, Blasen, Ficken.«

Verdutzt schaute Westmore zurück zu der Frau.

»Oder falls eher ich Ihr Typ bin ...«, fügte sie hinzu.

Dieser Laden muss oft hochgenommen werden, schoss ihm durch den Kopf. »Woher wissen Sie, dass ich kein Bulle bin? Nur weil ich DVDs gekauft habe? Ich könnte verdeckt ermitteln. Sind Sie verrückt?«

Die Frau lachte. »Ich weiß, dass Sie kein Bulle sind. Früher, vor ein paar Jahren, habe ich Sie ständig gesehen.«

Westmore war überzeugt davon, dass das nicht stimmte. »Wo haben Sie mich gesehen?«

»So ziemlich in jeder Kneipe der Gegend.« Sie lächelte. »Wer so ausgiebig die Sau rauslässt, kann kein Bulle sein.«

Großer Gott. Sie erinnert sich aus den schlechtesten aller Zeiten an mich. Wahrscheinlich hat sie mich besinnungslos in der Hälfte der Kneipen im Viertel in einer Pfütze aus billigem Fusel liegen sehen ... Er stand in einem Pornoschuppen, und ihm wurden die Dienste von Prostituierten angeboten, dennoch war er es, der sich moralisch verkommen fühlte. »Tja, ich passe.« Er schnappte sich die Tüte mit den DVDs. »Aber danke für Ihre Hilfe.«

Damit wandte er sich zum Gehen. Er warf der Prostituierten am Vorhang einen letzten Blick zu und lächelte verlegen. Sie nickte ihm zu und stopfte ihren üppigen Busen zurück in den BH. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Westmore hielt inne und konzentrierte sich. Er wusste, dass ihm das schummrige Licht einen Streich spielte, aber als die junge Frau lächelte, schien ihr Gesicht breiter zu werden und Furchen zu bilden. Ihr Mund sah aus, als wäre er voller Reißzähne ...

Ich hätte am College nie LSD ausprobieren sollen. Westmore eilte zum Ausgang und zuckte dankbar zusammen, als ihn draußen das grelle Sonnenlicht empfing.

»Sie sind der Letzte, den ich als pornosüchtig eingestuft hätte«, sagte jemand, kaum dass er durch die Tür getreten war. Ein von gleißender Helligkeit umrahmter, schwarzer Umriss zeichnete sich vor ihm ab. Westmore schirmte die Augen ab. Es war Karen.

Ihm missfiel, dass er sie nicht sehen konnte; es verunsicherte ihn. Er trat in den Schatten einer Markise, um nicht länger geblendet zu werden. »Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«

»Ich besitze übersinnliche Fähigkeiten«, antwortete sie unumwunden.

Ein Moment verstrich. »Jetzt hören Sie aber auf! Ist das Ihr Ernst?«

»Nein. Ich war auf dem Weg zu Ihnen ein wenig zu früh dran, deshalb habe ich vorher da drüben noch einen Kaffee getrunken.« Sie deutete auf einen Coffeeshop auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Hab gesehen, wie Sie in den Laden reingegangen sind.« Karen kicherte. »Sie sind wirklich komisch.«

Schlagartig fühlte er sich doppelt verlegen. »Ich war da drin, um mir einige DVDs von Hildreths Firma zu besorgen. Die meisten Mädchen in diesen Filmen gehören zu den Mordopfern. Ich weiß nicht viel über die Pornoindustrie und wollte sehen, worum es dabei geht.«

»Um Hardcore-Sex, darum geht es. Aber Sie hätten sich das Geld sparen können. Im Haus sind überall DVDs – die können Sie sich ansehen, bis Ihnen von selbst einer abgeht.«

Ihr Tonfall brachte ihn durcheinander. »Sie verstehen das nicht. Ich will mir keine Pornografie ansehen, das interessiert mich nicht. Und ich habe mir diese DVDs auch nicht gekauft, damit mir einer abgeht. Ich will nicht, dass Sie mich für einen Perversen halten, der besessen von solchen Dingen ist. Ich habe mir diese Filme nur gekauft, um die ganze Szene besser zu verstehen.«

»Jaja, schon klar«, beendete sie das Thema und drehte sich um. »Holen Sie, was Sie mitnehmen möchten. Ich warte im Auto auf Sie.«

Westmore rannte über die Straße zu seiner Wohnung, schnappte sich seine Reisetasche und den Laptop und lief zurück. Erst jetzt nahm er Karen richtig wahr, eine verspätete Reaktion – vermutlich vor Schreck, weil er dabei ertappt worden war, wie er einen Sexshop verließ. Diesmal trug sie das sandblonde Haar zurückgebunden und kombinierte ein feldmausgraues Schlauchtop mit schwarzen, zu engen Lederjeans, die eher flittchenhaft als sinnlich wirkten. Durch ihre Sonnenbrille versprühte sie ein irgendwie unpersönliches Flair, erschien noch phlegmatischer. Mühsam löste Westmore den Blick von dem Busen im Schlauchtop und dem Ansatz von Brustwarzen, die sich unter dem eng anliegenden Stoff abzeichneten.

Als er bemerkte, in welches Auto sie einstieg, runzelte er die Stirn: ein brandneues, schwarzes Cabrio. Ein sündhaft teurer Cadillac ETC.

»Schon komisch«, scherzte er, um seinen Neid zu überspielen. »Ich habe genau denselben Wagen ... nur steht meiner noch beim Händler.«

Sie stiegen ein und schlossen die Türen hinter sich. »Also, Mr. Westmore, zu den ersten Dingen, die wir über Sie in Erfahrung gebracht haben, gehörte die Tatsache, dass Ihnen der Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer entzogen wurde.«

»Das war doch bloß ein Witz«, erwiderte er stöhnend. Der Beifahrersitz des Fahrzeugs fühlte sich bequemer an als jeder Sessel. »Es geht mich zwar nichts an, aber ... na ja, diese Karre lässt darauf schließen, dass Hildreth Sie ziemlich gut bezahlt hat.«

»Sie haben recht. Es geht Sie wirklich nichts an, und ja, das hat er.« Karen fuhr los. Westmore zuckte zusammen, als sie beschleunigte, um eine gelbe Ampel noch rechtzeitig zu passieren, und über die Brücke raste. »Mrs. Hildreth wird mich weiter beschäftigen – wenn ich Glück habe. Jedenfalls weiß ich, dass sie mich zumindest noch eine Zeit lang behalten wird.«

»Sie sind Buchhalterin«, meinte Westmore. Der Fahrtwind wirbelte seine Haare durcheinander. »Sie könnten überall einen Job finden.«

»Ich bin keine Buchhalterin, ich bin ein gestrandeter Pornostar«, stellte sie richtig und starrte auf die Fahrbahn. Sie fuhr zwar schnell, aber nicht leichtsinnig. »Wie man die Bücher von T&T führt, habe ich nur gelernt, indem ich sie mir oft genug angesehen habe. Jahrelanges Drehen von Fickfilmchen macht sich nicht sonderlich gut in einem Lebenslauf.«

»Ich bin sicher, Sie kommen zurecht«, meinte er, weil ihm keine passendere Bemerkung einfiel.

»Oh, und es tut mir leid wegen gestern Abend«, fügte sie hinzu und wechselte die Fahrspur, um einen langsamen Lastwagen zu überholen.

»Was genau meinen Sie?«

»Dass ich Sie angebaggert habe. Sie müssen mich für ein völliges Flittchen halten. Ich merke, dass Sie ziemlich auftragsorientiert und sachlich sind. Das muss Sie fürchterlich in Verlegenheit gebracht haben.«

»Meine labile Psyche hat keinen Schaden genommen«, sicherte er ihr zu. »Es hat mich einerseits in Verlegenheit gebracht, andererseits hat es mir den Tag versüßt.«

Karen lachte nicht. »Ich war betrunken und deprimiert. Wenn ich deprimiert bin, trinke ich immer zu viel.«

Westmore fand ihre plötzliche Offenheit anregend. »Jeder betrinkt sich hin und wieder – lassen Sie sich das von jemandem sagen, der den Großteil seines Erwachsenenlebens im Suff verbracht hat.« Kurz dachte er darüber nach, dann gelangte er zu dem Ergebnis, dass es nicht schaden konnte, sich zu erkundigen. »Weswegen waren Sie deprimiert?«

Ihre Lippen zuckten unmerklich. »Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich mit einem der Mädchen, die ermordet wurden, wirklich befreundet war, aber viele von ihnen waren nett und jetzt sind sie alle tot.«

»Was ist mit Hildreth? Waren Sie mit ihm befreundet?«

»Gute Frage.« Von einer Sekunde auf die andere wirkte sie völlig verschlossen. Die Sonnenbrille tarnte ihre Gedanken. »Bevor er T&T kaufte, brachten wir eine Menge Filme raus und konnten uns gerade so auf dem Markt behaupten. Niemand verdiente daran viel Geld. Dann wurde schlagartig alles anders. Wir wohnten in dem Haus, die Firma blühte auf. Neues Equipment, ein neues Studio und dank höherer Gagen lebten wir auf ganz großem Fuß. Wenn das jemand für einen tut, betrachtet man ihn als Freund ... aber ...«

»Aber irgendetwas stimmte nicht«, beendete Westmore den Satz für sie.

»Nichts hat gestimmt, und wir alle hielten es für das Beste, nicht genauer darüber nachzudenken. Wir waren nicht mal mehr wirklich ein Filmunternehmen. Es kamen nur noch ein paar Titel pro Jahr raus, weil Hildreth das so wollte. Solange Rechnungen bezahlt werden, stellt niemand Fragen. In der Villa wurde genug Material gefilmt, um mehrere Hundert Streifen pro Jahr zu veröffentlichen, aber so gut wie nichts davon kam je auf den Markt.

Hildreth schien es nicht zu kümmern. Er hatte nicht in eine Pornoproduktion investiert, um damit Kohle zu verdienen, er brauchte uns für etwas anderes und das verdrängten wir alle äußerst erfolgreich. Wir waren zu beschäftigt damit, nachts wilde Partys zu feiern und tagsüber zu schlafen. Ja, wir alle wollten ihn für unseren besten Freund halten, weil er uns ein neues Leben geschenkt hatte. Dann fanden wir auf die harte Tour raus, dass alles nur auf den ersten Eindruck glänzte. Hildreth war ein exzentrischer Psychopath mit Unmengen von Geld, und er hat uns für seinen Wahnsinn benutzt.« Kurz verstummte sie und starrte weiter stur geradeaus. »Er schien der netteste Kerl der Welt zu sein, aber in Wirklichkeit war er der böseste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.«

Diese neue Information weckte Westmores Neugier. »Er wollte Sie für etwas anderes? Wofür?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Symbolik, glaube ich. Er hat immerzu von Symbolik gefaselt, der Symbolik des Fleisches, der Energie der Lust – einer stimulierenden Umgebung. Das klingt verrückt, nicht wahr?«

»Ja, und er war verrückt.«

»Davon bin ich nicht überzeugt.«

»Sie haben gerade gesagt, dass er böse und ein Psychopath war.«

»Beides ist nicht gleichbedeutend mit verrückt. Er war ... etwas anderes. Sie müssten dort gewesen sein, um zu verstehen, was ich meine. Ich schätze, Dreiei und Jaz sind ihm in dieser Hinsicht deutlich näher gekommen – die Männer.«

»Aber jetzt sind alle tot. Niemand ist übrig, um die Geschichte zu erzählen.«

Darauf erwiderte sie nichts. Ihre schlechte Stimmung lag wie ein Schatten auf ihr.

»Die Symbolik des Fleisches?«, fuhr Westmore fort. »Eine stimulierende Umgebung? Für mich klingt das verrückt. Was soll das alles bedeuten?«

»Das wusste nur Hildreth.«

»Ja, aber was denken Sie?«

»Warten Sie einfach, bis wir beim Haus eintreffen und Sie dort die erste Nacht verbracht haben.« Ihre Stimme wurde rau. »Es wird anfangen, in Sie einzusickern.«

Westmore verstand nicht, was sie damit meinte, aber er wollte sie nicht weiter bedrängen; sonst würde sie sich dauerhaft vor ihm verschließen. Das Thema schien sie anzustrengen. Wahrscheinlich rief es ihr die grauenhaften Erlebnisse des 3. April in Erinnerung zurück. Also sagte er stattdessen: »Ich freue mich schon darauf. Sie haben meine Neugier angestachelt.«

Weiteres Schweigen. Westmore ließ es dabei bewenden. Einkaufszeilen und der Verkehr zogen schemenhaft vor dem Fenster vorbei. Er versuchte, sich zu entspannen, den Kopf freizukriegen und schloss die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen.

Einige Meilen später lachte sie verhalten und sagte: »Sie haben mich vorhin gefragt, ob ich wirklich übersinnliche Fähigkeiten besitze.«

»Und?«

Sie bog in einen lang gezogenen Waldweg ab.

»Ich nicht, aber die Leute, die Sie gleich kennenlernen werden.«

II

Nach einem ausgiebigen Bad in einer der luxuriösen Suiten im zweiten Stock spazierte Cathleen über das Grundstück. Sie hatte sich in solchen Situationen immer für praktisch veranlagt gehalten, aber jetzt ... fühlte sie sich unbehaglich. Allerdings erzählte sie niemandem davon, um nicht schwach oder verletzlich zu wirken. Das wollte sie unbedingt vermeiden. Aber sie spürte es ... sie spürte es auf der Haut.

Irgendetwas ist mit diesem Haus.

Während sie in der Sonne stand, schaute sie auf die Villa zurück. Ein Motorengeräusch durchbrach die Stille, und ein schwarzes Cabrio bahnte sich den Weg zum Außenhof vor dem Haupteingang herauf. Sie zupfte instinktiv einige Blütenblätter von einem einsamen Rhododendronbusch ab und ließ sie ins Gras zwischen ihren Füßen fallen, ohne dabei den Blick vom Auto abzuwenden. Es handelte sich um eine uralte, einfache Methode der Prophezeiung, die ihren Ursprung bei den Azteken hatte. Wiesen zwei oder mehr Blütenhalme von ihr weg, galt das als gutes Omen; wiesen sie zu ihr: ein schlechtes Omen. Sie blickte nach unten. Na toll, dachte sie. Die Halme sämtlicher Blüten zeigten auf sie. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie noch einmal zu dem Auto und glaubte, eine Blondine hinter dem Lenkrad und einen Mann mit Brille auf dem Beifahrersitz zu erkennen. Ich frage mich, wer die sind ...

Cathleens Interessen waren vielfältig, sie kannte sich mit zahlreichen Dingen aus. Persönlich betrachtete sie sich als Medium – zumal sie vor langer Zeit weitere Versuche in Richtung Telekinese aufgegeben hatte –, aber sie verfügte noch über andere übersinnliche Fähigkeiten: Kristallologie, Weissagungen, Chiromantie. Auf dem Höhepunkt der Leidenschaft – oder Lust – konnte sie Gedanken lesen. Überwiegend arbeitete sie jedoch als Medium – keine allzu komplizierten Sachen. Mal kommunizierte sie mit Verstorbenen, mal tauchten deren Seelen kurzzeitig in ihren Körper ein und übernahmen die Kontrolle.

Sie verehrte Gott und Buddha, Nergal und Ra, Mohammed und die Erdmutter ... weil sie wusste, dass es sich bei allen um dieselbe höhere Macht handelte.

Ihr einziges großes Problem bestand darin ... doch das war eine andere Geschichte.

Gott, es ist wunderschön, dachte sie, während sie über das Gelände schlenderte. Sie ließ die Villa hinter sich und spazierte in ihrem lindgrünen, eng anliegenden Sommerkleid barfuß in den Wald. Das Licht der Sonne spielte mit ihrem blonden Haar. Als Cathleen an einer Trauerweide vorbeilief, die gut und gerne hundert Jahre alt sein mochte, wurde es schlagartig kühler. Ihr fiel auf dem Hügel keine einzige Palme auf, es gab nur 30 Meter hohe Kiefern und die allgegenwärtigen Weiden, von deren Ästen Louisianamoos hing. Tiefer im Wald entdeckte sie wunderschöne Wildblumenbeete – regelrechte Teppiche aus Diapensia und rosaroten und weißen Maiglöckchen. Seht mich an, ich bin Mutter Natur, der glückliche Elementargeist des Waldes, dachte sie, dann: Scheiße!, als ihr nackter Fuß auf einem Halm aus Büffelgras landete. Sie humpelte weg und kam sich lächerlich vor, als sie sich gegen einen Baumstamm lehnte, um den stacheligen Dorn aus der Sohle zu zupfen. Verdammt, tut das weh!

Weiter vorn schien der Wald noch dichter zu werden. Schlingpflanzen und sonstige Ranken zogen sich wie verworrene Absperrketten zwischen den Bäumen hindurch. Die Gerüche des Waldes lockten sie, aber zunächst sah sie keinen Sinn darin, weiterzugehen. Die Ranken schienen zu dicht, die Wucherungen zu wild zu sein. Dann jedoch bemerkte Cathleen einen Durchgang und etwas, das nach einem Tor aussah.

Vermutlich hatte sie ihre übernatürliche Wahrnehmung hierhergeführt, denn eigentlich war sie gar nicht gezielt zu einem Spaziergang aufgebrochen.

Sie suchte nach etwas.

Das ist es ...

Das rechteckige Stück Land wirkte, als habe es jemand in den dichten Wald hineingemeißelt: ein Friedhof, gesäumt von einem rostgesprenkelten Eisenzaun mit Spitzen. Ungleichmäßige Reihen von Grabsteinen ragten aus der braunen Erde auf. Einige datierten in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, während es sich bei den Exemplaren im hinteren Bereich um willkürlich zugeschnittene Granitblöcke mit handgemeißelten Namen zu handeln schien, die man nicht mehr entziffern konnte.

Mit knirschenden Schritten ging Cathleen bis zum äußersten Winkel, wo sie sogar auf einen Stein aus dem 17. Jahrhundert stieß.

Dieser Ort ist VERFLUCHT alt.

Sie fragte sich, wofür das noch gelten mochte.

REGINALD HILDRETH stand auf einem neuen, eher schlichten Grabmal aus schwarzem Granit. GESTORBEN: 4.3.2004. Cathleen wunderte sich nicht darüber, dass ein Geburtsdatum fehlte. Hildreth ließ die Menschen gern im Dunkeln tappen, vermutete sie. Ein Blender. Es war das Haus, das sie beunruhigte, nicht der Mann – zumindest bislang.

Dafür bin ich hier, also keine falsche Scheu!, sagte sie sich. Sie kniete sich eineinhalb Meter vom Grabstein entfernt hin und legte ihre Tasche ab. Aus der Vorratskammer der Villa hatte sie einiges mitgenommen und holte nun einen der Gegenstände aus der Tasche: ein Ei. Nichts Besonderes, einfach ein großes Hühnerei, das zweifellos aus dem nächstgelegenen Supermarkt stammte. Mit einem Nagel aus Sandstein – einem Relikt, das ihr ein Archäologe geschenkt hatte – klopfte sie behutsam gegen beide Enden und brach Löcher in die Schale. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, hob das Ei an die Lippen und blies. Der Inhalt stieg wie eine flüssige Wolke nach oben, ehe er platschend zu ihrer Rechten landete.

Das war halbherzig, erkannte sie. Cathleen glaubte an Vorhersehungen und hatte entsprechende Methoden schon oft erfolgreich eingesetzt, doch sie wusste, dass ihr momentan die richtige Einstellung fehlte. Ich nehme es nicht ernst.

Sie stand auf und durchlöcherte mit dem senkschraubenartigen Nagel ein weiteres Ei. Plötzlich dachte sie an ...

Sex.

Cathleen schloss die Augen und füllte ihren Geist damit aus, stellte sich vor, wie sie nackt, schwitzend und entfesselt vor Lust auf dem Boden lag, während ein gesichtsloser Mann ihre Knie gegen die Schultern drückte und hier im Wald in sie eindrang, wobei ihr nackter Hintern über die Erde schabte. Sie malte sich aus, wie sein Gewicht sie nach unten drückte, seine Haut über ihre glitt. Das schlichte Bild erregte sie innerhalb weniger Sekunden; sie spürte, wie ihre Brustwarzen kribbelten, als würden sie von harten Fingern gedrückt. Cathleen begann, sich wie neugeboren zu fühlen. Sexualität war ihr ganz persönlicher Treibstoff – sie kitzelte ihre Veranlagung wach und weckte ihre Lebensgeister.

Schwitzend und vor lauter imaginärer Lust ziemlich außer Atem blies sie mit weiterhin geschlossenen Lidern den Inhalt des Eis aus und zielte dabei auf Hildreths Grab.

Als sie hinsah, traute sie ihren Augen kaum.

Die zähflüssige Masse war weit nach rechts geflogen, weg vom Grab.

»Na schön«, flüsterte sie. »Dann versuchen wir es mal mit Halomantie.« Sie stand auf, warf kurz einen Blick auf den Pfad, der zum Friedhof führte, und sah niemanden.

Cathleen streifte die Schulterriemen ab und ließ das Sommerkleid zu Boden gleiten. Darunter präsentierte sie sich splitternackt. Ihr Inneres spürte sofort, wie sich etwas regte, etwas außerhalb ihres Körpers. Seikthas oder Lieppyas – gutmütige Geister, die Bäume bewohnten oder sich in der Nähe von Gräbern scharten – oder schlichtweg neugierige Phantome, angezogen durch ihre plötzliche Nacktheit. Geister oder sogar treibende Seelen. Es spielte keine Rolle; Cathleen wusste, dass etwas gegenwärtig war, weil es in ihr widerhallte.

Sie holte drei weitere Gegenstände aus ihrer Tasche: ein Feuerzeug, ein fünf mal fünf Zentimeter großes Stück Aluminiumfolie und einen kleinen Beutel, der Meersalz enthielt.

»Verdammt«, machte sie ihrer Überraschung Luft. Eine unvermittelte Brise blies das Folienstück weg. Es landete in drei Metern Entfernung.

Ohne nachzudenken, schaute sie hin, hielt kurz den Atem an und rief es mit Willenskraft zurück. Wie von einer identischen, aber umgekehrten Brise erfasst, segelte die Folie wieder in ihre Hand.

Es war einfach. Über solche Dinge brauchte sie nicht einmal mehr nachzudenken.

Na schön ...

Cathleen formte aus der Folie eine grobe Schale, in die sie eine Prise Salz rieseln ließ. Sie machte ihren Verstand frei von jeglicher Ablenkung und schritt langsam die Grenzen des Friedhofsgeländes ab. Dabei dachte sie intensiv an körperliches Verlangen und Geister. Cathleen rief sie, lockte sie herbei. Ihre Füße knirschten über das Unterholz. Ihre Haut glänzte durch einen Schweißfilm und sie nahm wahr, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte. Im Gehen strich sie mit den Fingerspitzen über ihre Schenkel, über ihren Bauch ...

Schließlich kehrte sie konzentriert und entschlossen zum Grabmal zurück. Ihre nackten Brüste hoben und senkten sich in beschleunigter Atmung. Sie stellte sich vor, sich auf der Opferplattform des höchsten Tempelturms zu befinden und flüsterte ein Gebet zu Ea, dem Gott des Himmels und des Waldes, dann hielt sie das Feuerzeug unter die Folienschale mit Salz und entzündete die Flamme.

Das Salz begann sofort zu knistern, zu spritzen und zu brennen. Großer Ea, dachte sie. Erhöre mich ... Als eine blasse Rauchranke von der Schale aufstieg, legte Cathleen den Kopf schief und inhalierte sie.

Sie kämpfte, um nicht zu husten, und behielt den Rauch im Körper. Doch bevor sie ihren Geist nach einem Omen durchsuchen konnte ...

Etwas packte sie. Nicht Hände, keine Person, sondern etwas nur halb Greifbares, als hätte sich die Luft plötzlich verhärtet. Als sie die Augen aufschlug, bekam sie lediglich einen tüllartigen schwarzen Schleier zu Gesicht. Mesoplasma?, rätselte sie und war nicht sonderlich beunruhigt. Das sollte sich gleich ändern. Worum es sich auch handeln mochte, es verfügte nicht über spirituelle Leuchtkraft und konnte deshalb keinen übernatürlichen Ursprung besitzen. Was ist das bloß?, überlegte sie und spähte in den vermeintlichen Dunst.

Dann konnte sie plötzlich nichts mehr sehen; ihre Augen schienen sich von selbst zu schließen oder eine Hand hatte sich vor sie geschoben. Ein Kichern schwirrte um ihren Kopf herum, ein düsterer, kehliger und hämischer Laut, allerdings gedämpft wie aus einem geschlossenen Mund. Dann wurde sie blind von den Füßen gerissen. Ihr Rücken bog sich durch, während sie hilflos herumwirbelte. Jetzt war sie beunruhigt und fürchtete sich. Cathleen versuchte zu brüllen und im selben Atemzug die Salzdämpfe auszuatmen, aber ...

Nicht schnell genug.

Etwas presste ihr Kinn nach oben, etwas anderes verschloss ihre Lippen, dann versiegelte etwas Körperloses, das sie nur als schrecklichen Mund voller totem Atem beschreiben konnte, ihre Nase und sog alle Dämpfe aus ihr hinaus.

Weiteres an- und abschwellendes Gelächter umschwirrte sie, während der Geistermund saugte und saugte, ihr die Fähigkeit zum Atmen nahm, stärker und stärker, bis ihr Körper gefühllos wurde und ihre Lungen aufgrund des Unterdrucks zu kollabieren drohten.

Als der Mund endlich von ihr abließ, wurde sie hart auf den nackten Rücken geworfen. Hatte sie etwa in der Luft geschwebt? Ihr Hinterkopf prallte so heftig auf den Boden, dass ihr Bewusstsein schwand. Immer noch umfing sie eine undurchdringliche Schwärze, die noch dunkler zu werden schien. Sie spürte, wie etwas sie begrapschte, ihr in die Brustwarzen kniff, ihre Brüste und Pobacken durchknetete wie einen Teigklumpen. Eine undurchschaubare Kraft packte ihre Fußgelenke, zerrte an ihnen und spreizte ihre bebenden Beine, dann begann etwas an ihrer Scheide herumzuspielen. In diesem Moment fiel sie in eine tiefe Ohnmacht.

Als Cathleen erwachte, lag sie seitlich ausgestreckt am Boden, die Arme verdreht, ein Bein in ungesundem Winkel nach vorne gestreckt. Laub und kleine Zweige hatten sich in ihrem Haar verfangen. Als ihr Bewusstsein nach und nach zurückkehrte, hatte sie das Gefühl, in Windeseile aus einem Abgrund voll heißem, schwarzem Wasser aufzutauchen.

Oh ... Scheiße ...

Eine Weile blieb sie erschöpft liegen und nahm gierig Sauerstoff in ihre Lungen auf. Als sie einen Marienkäfer über eine ihrer Brüste kriechen sah, schnippte sie ihn weg. Dabei bemerkte sie leichte Verletzungen, die ihr Finger zugefügt haben mussten, die länger als gewöhnlich waren. Hinzu kamen Bisswunden an ihrem Unterleib und ihren Oberschenkeln. Um eine Brustwarze prangte ein Bluterguss in Schwarz und Blau, der wiederum zu groß war, um von einem menschlichen Mund herbeigeführt worden zu sein. Cathleen wusste sofort, was passiert war:

Paraplanare Vergewaltigung ...

Trotzdem versuchte sie die Situation unvoreingenommen zu analysieren; sie hatte all das schon früher gesehen und sogar einige Male selbst erlebt, weil ihre ausgeprägte Sexualität launische Geister anzulocken schien. Das Einzige, was sie beunruhigte, waren die emotionalen Nachwirkungen. Sie fühlte sich weder vergewaltigt noch benutzt oder als Opfer.

Mann, ich bin so was von krank im Kopf ...

Cathleen fühlte sich befriedigt – ihr zügelloses Verlangen nach Ekstase und Erlösung war völlig gestillt. Dann dachte sie:

Hildreth.

Es musste so sein. Alles hatte sich unmittelbar am Fuß seines noch frischen Grabs zugetragen.

Zumindest glaubte sie das.

Als sie sich aufsetzte, um den Schmutz des Waldbodens von der nackten Haut zu klopfen, ging sie davon aus, Hildreths schwarzen Grabstein vor sich zu haben. Stattdessen fand sie sich außerhalb des Friedhofs wieder, mindestens drei Meter vom umgrenzenden Eisenzaun entfernt.

Weit rechts vom Grab.