LYMINGTON

 

 

 

1480

 

Es war ein warmer Aprilmorgen, und der frische Fisch duftete köstlich. Kaufmannsgattinnen in Gewändern mit bauschigen Ärmeln drängten sich auf dem Fischmarkt von Lymington. Bei Tagesanbruch war eine große Ladung an der kleinen Mole an Land gebracht worden. Es gab Aale und Austern von der Flussmündung; Seehecht, Kabeljau und andere Weißfische aus dem Meer und auch Goldfische, wie man damals den Goldbarsch nannte.

Der Gutsverwalter hatte gerade seine Glocke geläutet, um das Ende des Fischmarkts anzukündigen, als vom Pier her zwei Gestalten erschienen.

Alle kannten den mageren Mann, der da an diesem warmen Aprilmorgen durch die Straßen schritt. Schon sein Gang verriet, dass er sich nicht um die Meinung seiner Mitbürger scherte. Eine weite Leinenhose umflatterte seine Waden, sodass seine nackten Knöchel zu sehen waren. An den Füßen trug er Sandalen mit Lederriemen. Seine nicht allzu saubere Weste bestand aus rot-weiß-gestreiftem Tuch. Auf dem Kopf trug er einen selbst genähten Lederhut.

Alan Seagulls fröhliches Gesicht ging vom Mund direkt in den Hals über. Der spärliche schwarze Bart reichte hinunter bis zum Adamsapfel, ohne dabei den Umweg über ein Kinn zu nehmen.

Es roch nach Teer, Fisch und Meerwasser. Wie so oft summte er eine Melodie vor sich hin. An seiner Seite marschierte der kleine Jonathan Totton, der den Seemann vergötterte. Gerade hatten sie das Rathaus an der abschüssigen kleinen Straße erreicht, als ihn eine ruhige, aber befehlsgewohnte Stimme zu sich rief: »Jonathan, komm her.«

Bedauernd ließ Jonathan den Seemann stehen und ging zu dem hohen Holzhaus hinüber, wo ihn sein Vater erwartete.

Kurz darauf fand er sich, von einer kräftigen Hand hineingeschoben, im Inneren des Hauses wieder und lauschte den gemessenen Worten seines Vaters. »Mir wäre es lieber, wenn du nicht so viel Zeit mit diesem Mann verbringst.«

»Warum, Vater?«

»Weil es in Lymington gewiss bessere Gesellschaft für dich gibt.«

Nun, dachte Jonathan, das könnte schwierig werden.

 

 

Zuweilen machte Henry Totton sich Sorgen um seinen Sohn. »Ich weiß nicht, ob er wirklich versteht, was ich ihm sage«, beklagte er sich einmal bei einem Freund.

»Bei einem zehnjährigen Jungen ist das nichts Ungewöhnliches«, beruhigte ihn dieser. Doch Totton gab sich damit nicht zufrieden. Und als er nun seinen Sohn betrachtete, empfand er Ungewissheit und Enttäuschung, die er sich jedoch nicht anmerken ließ.

Henry Totton war ein knapp mittelgroßer, zurückhaltender Mann. Er trug ein langes houppelande – einen vom Kragen bis zu den Knöcheln durchgeknöpften, langärmeligen lockeren Mantel ohne Gürtel, der aus bestem braunem Tuch bestand. Für besondere Gelegenheiten besaß er einen zweiten aus Samt mit einer seidenen Schärpe. Er war glatt rasiert, und sein milder Blick aus grauen Augen konnte nicht verbergen, dass ihm am Vorwärtskommen seiner Familie gelegen war. Seit Jahrhunderten trieben die Tottons in Southampton und Christchurch Handel, und er wollte unter allen Umständen verhindern, dass der Zweig der Familie, der in Lymington lebte, hinter seine Vettern zurückfiel.

Er gab sich redlich Mühe, Jonathan nicht zu sehr einzuschüchtern, denn es wäre dem Jungen gegenüber ungerecht gewesen. Außerdem liebte er ihn von ganzem Herzen. Seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr war der kleine Jonathan alles, was er hatte.

Wenn Jonathan seinen Vater ansah, wusste er, dass dieser enttäuscht von ihm war, obwohl er sich keinen Grund dafür denken konnte. An manchen Tagen strengte er sich an, ihm eine Freude zu machen, doch an anderen vergaß er es einfach. Wenn sein Vater nur begriffen hätte, warum ihm so viel an den Seagulls lag.

Im Jahr nach dem Tod seiner Mutter hatte er sich angewöhnt, allein zum Hafen hinunterzulaufen. Unten an der High Street, wo die alten Landparzellen endeten, führte ein steiler Abhang zum Wasser. Das Gebiet am Fuße des Hügels wurde nicht nur geographisch als tiefer liegend betrachtet. Da an dieser Stelle die Stadtgrenze verlief, endeten für Leute wie die Tottons hier auch Anstand und gute Sitten. Denn an dem Hügel drängten sich die schmuddeligen Hütten der Fischer. »Und das übrige Treibgut, das es vom Meer oder aus dem New Forest hierher verschlagen hat«, wie Jonathans Vater zu sagen pflegte.

Für Jonathan hingegen war es ein kleines Paradies: die klinkergebauten Schiffe mit ihren schweren Segeln, die umgedrehten Boote auf dem Kai, die Schreie der Möwen, der Geruch nach Teer, Salz und getrocknetem Seetang, die Reusen und Netze. Er liebte es, dort umherzustreifen. Die Hütte der Seagulls, wenn man sie denn so bezeichnen wollte, stand dicht am Ufer. Eigentlich handelte es sich weniger um ein Gebäude, als um eine Ansammlung von Gegenständen, von denen einer faszinierender war als der andere und die sich hier in einem wilden Haufen türmten. Das Sammelsurium sah aus, als wäre es durch Zauberhand entstanden, denn man konnte sich nur schwer vorstellen, dass Alan Seagull so viel Mühe auf etwas verwendete, das nicht schwimmen konnte.

Dabei hätte sich die Hütte der Seagulls wahrscheinlich sogar über Wasser gehalten. Auf der einen Seite bildeten die Überreste eines alten Segelbootes mit nach außen gewendeten Seiten eine Art Laube, in der Seagulls Frau häufig saß und eines ihrer kleinen Kinder stillte. Das Dach bestand aus verschiedenen Planken und Latten, immer wieder unterbrochen von Flicken aus Segeltuch. Hie und da erinnerten Ausbuchtungen an ein Ruder, einen Schiffskiel oder an eine alte Truhe. Aus einem Gegenstand, der einem alten Hummertopf ähnelte, quoll Rauch. Dach und Außenwände waren zum Großteil schwarz von Teer. Draußen, neben der Hütte, lag ein Boot. Fischernetze und verschiedene Schwimmer waren zum Trocknen aufgehängt. Dahinter befand sich ein großes, von Schilf bewachsenes Gelände, das manchmal fischig stank. Für einen kleinen Jungen war es eine Welt voller Abenteuer.

Den Besitzer dieser Bretterbude am Meer konnte man jedoch keinesfalls einen armen Mann nennen. Alan Seagull besaß ein Schiff, einen klinkergebauten Einmaster, größer als ein Fischerboot, mit ausreichendem Frachtraum, sodass er kleinere Lasten nicht nur durch die Küstengewässer, sondern selbst bis hinüber nach Frankreich schaffen konnte. Sein Schiff war zwar nicht sonderlich ansehnlich, aber ausgezeichnet in Schuss, und seine Mannschaft gehorchte ihm aufs Wort. Es ging das Gerücht, dass Alan Seagull irgendwo ein wenig Geld versteckt hatte. Obwohl er lange nicht so wohlhabend war wie die Tottons, fiel auf, dass er alles, was er brauchte, auch bezahlen konnte. Seine Familie hatte immer genug zu essen.

Der kleine Jonathan hielt sich oft bei den Seagulls auf und beobachtete die sieben oder acht Kinder, die ständig um das Haus wimmelten wie Fische um eine Unterwasserhöhle. Der liebevolle Umgang zwischen ihnen und ihrer Mutter vermittelte ihm eine familiäre Vertrautheit und Wärme, die ihm zu Hause fehlten. Als er eines Tages allein an der Hütte vorbeischlenderte, folgte ihm eines der Kinder, ein Junge, etwa in seinem Alter. »Hast du Lust, mit mir zu spielen?«, fragte er.

Willie Seagull war ein komischer Knirps. Mager, aber ziemlich kräftig und zu jedem Streich bereit. Jonathan musste wie die anderen Söhne wohlhabender Kaufleute eine kleine Schule besuchen, denn Totton und sein Freund Burrard hatten einen Schulmeister eingestellt. Doch nach dem Unterricht tollten er und Willie zusammen herum und erlebten immer wieder neue Abenteuer. Manchmal spielten sie im Wald oder gingen an einen Bach zum Angeln. Willie zeigte ihm, wie man Forellen fischte. Hin und wieder liefen sie auch zum Strand hinunter.

»Kannst du schwimmen?«, erkundigte sich Willie.

»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Jonathan und stellte bald fest, dass sein neuer Freund schwimmen konnte wie ein Fisch.

»Keine Angst, ich bringe es dir bei«, versprach Willie.

Eigentlich konnte Jonathan schneller rennen als Willie, doch der kleine Junge schlug Haken, sodass er ihn nie erwischte. Willie nahm ihn auch mit zu den Kindern der anderen Fischer am Kai, worauf Jonathan sehr stolz war.

Und als sie eines Nachmittags am Wasser Alan Seagull begegneten, meinte Willie zu dieser sagenhaften Gestalt: »Das ist mein Freund Jonathan.« Der kleine Jonathan Totton schwebte im siebten Himmel. »Willie Seagull sagt, dass ich sein Freund bin«, verkündete er an diesem Abend stolz seinem Vater. Aber der schwieg nur eisig.

Manchmal begleitete Willie seinen Vater auf dessen Schiff und blieb einen oder zwei Tage lang fort, worum Jonathan ihn glühend beneidete. Er wusste genau, es wäre sinnlos, wenn er fragen würde, ob er mitfahren dürfe.

»Komm, Jonathan«, forderte sein Vater ihn eines Tages auf. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Sie standen im Kontor, einem kleinen Raum mit einem massiven Holztisch in der Mitte und verschiedenen Schränken und Truhen aus Eichenholz an den Wänden. Der besondere Stolz des Kaufmanns war das große Stundenglas, das es ihm ermöglichte, die genaue Uhrzeit abzulesen. Jonathan sah die verschiedenen Gegenstände auf dem Tisch seines Vaters und erkannte mit einem Seufzer, dass heute wieder eine Unterrichtsstunde an der Reihe war.

In Henry Tottons wohl geordneter Welt bestand alles aus Formen und Zahlen, also aus Dingen, die man verstehen konnte. Oft faltete er für Jonathan geometrische Körper aus Pergament oder Papier. »Schau«, pflegte er dann zu sagen, »wenn du es umdrehst, sieht es ganz anders aus.« Er verwandelte Dreiecke in Kegel und Quadrate in Rechtecke oder Zylinder. »Beim Falten«, erklärte er, während er seinem Sohn ein Viereck zeigte, »erhältst du ein Dreieck, ein Rechteck oder ein kleines Zelt.« Außerdem erfand er für seinen Sohn Zahlenspiele, in der Hoffnung, ihm damit eine Freude zu machen. Aber der arme Jonathan, der sich bei diesen Gelegenheiten schrecklich langweilte, träumte währenddessen nur vom hohen Gras auf den Feldern, dem Vogelgezwitscher im Wald und dem Salzgeruch unten am Hafen.

Dennoch gab er sich große Mühe, dass sein Vater mit ihm zufrieden war. Und je stärker er sich anstrengte, desto mehr verkrampfte er sich, bis er überhaupt nichts mehr verstand und mit hochrotem Gesicht Unsinn stammelte, woraufhin sein Vater kaum noch seine Verzweiflung verbergen konnte.

Jonathan sah die Münzen auf dem Tisch und wusste sogleich, dass die heutige Lektion sich mit Alltäglichem befassen würde.

»Kannst du mir sagen, was für Münzen das sind?«, fragte Totton mit leiser Stimme.

Die erste war ein Penny. Das war nicht weiter schwer. Bei der nächsten handelte es sich um einen halben Groschen, der zwei Pence wert war. Also entsprach ein Groschen vier Pence. Diese Geldstücke waren in England allgemein bekannt. Darauf folgte ein Shilling, für den man zwölf Pence bekam. Einen goldenen Rial konnte man gegen mehr als zehn Shilling einwechseln. Das nächste Geldstück allerdings, eine prächtige Goldmünze, auf der der Erzengel Michael gerade den Drachen tötete, war Jonathan völlig unbekannt.

»Das ist ein Angel«, erklärte Totton. »Er ist sehr wertvoll und selten. Und was« – er zog eine weitere Münze hervor – »ist das?«

Jonathan hatte keine Ahnung. Es war eine französische Krone. Dann zeigte sein Vater ihm einen Dukaten und einen Doppeldukaten. »Diese Münzen eignen sich am besten für den Seehandel«, erläuterte Totton. »Spanier, Italiener, Flamen, sie alle nehmen Dukaten an.« Er lächelte. »Und nun sage ich dir, was sie alle wert sind. Denn du wirst lernen müssen, sie zu benutzen.«

Nicht nur Kaufleute, die in Übersee Geschäfte betrieben, kamen mit den verschiedenen europäischen Währungen in Berührung. Man fand sie auch in den inländischen Marktstädten, und zwar aus einem einfachen Grund: Ihr Wert war vielfach höher.

Im fünfzehnten Jahrhundert hatte England einige Niederlagen verschmerzen müssen. Der Triumph über die Franzosen bei Agincourt war nur von kurzer Dauer gewesen, denn die Visionen der allseits bewunderten Jeanne d’Arc hatten die Franzosen beflügelt, die Engländer wieder aus dem Land zu werfen. Nach Ende des Hundertjährigen Krieges gegen Mitte des Jahrhunderts waren die Preise kräftig gestiegen, worunter die Geschäfte litten. Es folgte der eine Generation währende Streit zwischen den beiden Zweigen des Königshauses, York und Lancaster. Auch wenn es sich bei diesen so genannten Rosenkriegen eher um eine Reihe von feudalen Zwistigkeiten handelte als um einen Bürgerkrieg, waren sie der Ruhe und Ordnung im Lande nicht eben förderlich. Da auf Grund der Aufstände die Pachtzinsen fielen, war es nicht weiter erstaunlich, dass die königliche Münze – wie immer, wenn der Staat knapp bei Kasse ist – die Währung abwertete. Natürlich hatte man in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, der englischen Währung wieder zu einem Aufschwung zu verhelfen. Doch Henry Totton hatte Recht, wenn er sagte, dass gute englische Münzen schwer zu finden waren. Deshalb wurden Geschäfte wenn möglich in der stärksten Währung abgewickelt, und das war für gewöhnlich eine ausländische.

All das erklärte Henry Totton seinem Sohn. »Diese Dukaten, Jonathan«, schloss er seine Ausführungen, »sind das, was wir am nötigsten brauchen. Hast du mich verstanden?«

Und Jonathan nickte, obwohl er sich nicht ganz sicher war.

»Gut«, sagte der Kaufmann und lächelte seinem Sohn aufmunternd zu. Da Jonathan heute in aufnahmebereiter Stimmung zu sein schien, beschloss er, ihm noch einen kleinen Vortrag über Häfen zu halten.

Denn Henry Totton hatte eine besondere Schwäche für dieses Thema. Der wichtigste Hafen war natürlich der in Calais, der über Stapelrechte verfügte. Dort wurden die meisten Geschäfte abgewickelt. Auch die leidige Frage Southampton durfte man nicht aus den Augen verlieren. Doch zuerst sollte Jonathan alles über Calais erfahren.

»Vater?«

»Ja, Jonathan?«

»Ich habe mir etwas überlegt. Wenn ich mich von Alan Seagull fern halte, darf ich doch trotzdem weiter mit Willie spielen, oder?«

Henry Totton starrte seinen Sohn entgeistert an. Für einen Augenblick fehlten ihm die Worte. Dann zuckte er verärgert die Achseln. Er war machtlos dagegen.

»Tut mir Leid, Vater.« Der Junge wirkte bestürzt. »Sollen wir weitermachen?«

»Nein, ich glaube nicht.« Totton betrachtete die Münzen auf dem Tisch und blickte aus dem Fenster. »Spiel, mit wem du willst, Jonathan«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.

 

 

»Du hättest es sehen sollen, Vater.« Willie Seagull strahlte übers ganze Gesicht, während er seinem Vater beim Flicken eines Fischernetzes half.

Am Morgen nach dem Gespräch zwischen Totton und seinem Sohn hatte Jonathan zum ersten Mal Willie Seagull zu sich nach Hause mitgenommen.

»War Henry Totton da?« Der Seemann unterbrach sein Summen, um diese Frage zu stellen.

»Nein. Nur Jonathan und ich. Und die Dienstboten, Vater. Sie haben eine Köchin und eine Küchenmagd und noch zwei Frauen, die…«

»Totton ist reich, mein Sohn.«

»Und eines habe ich gar nicht gewusst, Vater. Nämlich, wie tief diese Häuser sind, obwohl sie doch von vorne so schmal aussehen. Hinter dem Kontor liegt eine riesige Halle, zwei Stockwerke hoch, mit einer Empore an der Seite. Und dann gibt es noch mehr Zimmer.«

»Ich weiß, mein Sohn.« Totton bewohnte ein typisches Kaufmannshaus, wie es der kleine Willie noch nie betreten hatte.

»Und der Keller ist riesengroß und so lang wie das ganze Haus. Da unten bewahren sie alle möglichen Sachen auf. Weinfässer, Stoffballen und Säcke mit Wolle. Ganze Schiffsladungen voll«, fuhr Willie aufgeregt fort. »Und der Speicher unter dem Dach ist gewaltig. Dort oben stehen Säcke mit Mehl und Malz und noch vieles mehr.«

»Das ist kein Wunder, Willie.«

»Und draußen, Vater. Ich habe gar nicht geahnt, wie lang die Gärten sind. Sie reichen von vorne bis zu der Gasse hinter der Stadt.«

Die Landparzellen in Lymington hatten eine für mittelalterliche Städte typische Form. Die Front zur Straße hin war fünfeinhalb Meter breit, ein Maß – auch Rute genannt –, das man gewählt hatte, weil es einer Pflugspur auf einem englischen Feld entsprach. Ein zweihundertzwanzig Meter langer Streifen ergab eine Achtelmeile, vier Achtelmeilen ergaben null Komma vier Hektar. Deshalb waren die Grundstücke lang und schmal wie ein gepflügtes Feld. Henry Totton besaß zwei zusammenhängende Parzellen. Auf der zweiten bildeten seine Stallungen und eine vermietete Werkstatt einen Hof. Dahinter befand sich ein etwa hundert Meter langer, elf Meter breiter Garten, der sich über beide Parzellen erstreckte.

Alan Seagull nickte. Er fragte sich, ob Willie sich wohl auch nach einer solchen Lebensweise sehnte, doch soweit er es beurteilen konnte, war sein Sohn damit zufrieden, den Wohlstand des Kaufmanns von außen zu betrachten. Dennoch beschloss er, ihm zwei Warnungen mit auf den Weg zu geben. »Weißt du, Willie«, sagte er leise, »du darfst nicht glauben, dass Jonathan für immer dein Freund bleiben wird.«

»Warum nicht, Vater? Er ist doch sehr nett.«

»Schon. Aber eines Tages werden sich die Dinge ändern. So ist das Leben.«

»Das fände ich schrecklich.«

»Mag sein. Und da wäre noch etwas.« Alan musterte seinen Sohn eindringlich.

»Ja, Vater?«

»Es gibt Dinge, die du ihm nie erzählen darfst, obwohl er dein Freund ist.«

»Meinst du damit…?«

»Unser Geschäft, mein Sohn. Ist dir das klar?«

»Ach, das.«

»Du hältst den Mund, oder?«

»Aber natürlich.«

»Du darfst mit niemandem darüber reden, der zur Familie Totton gehört. Hast du das verstanden?«

»Ja«, erwiderte Willie. »Ich sage kein Wort.«

 

 

In jener Nacht wurde im Angel Inn eine Wette abgeschlossen. Geoffrey Burrard hatte sie vorgeschlagen.

Und Henry Totton nahm sie nach reiflicher Überlegung an. Halb Lymington war Zeuge.

Das Angel Inn war ein gemütliches Gasthaus oben an der High Street, in dem alle Bevölkerungsschichten der Stadt verkehrten. Also war es nicht weiter verwunderlich, dass Burrard und Totton sich an diesem Abend zufällig dort trafen. Die beiden Männer waren von Geburt an Freisassen, freie Bauern mit eigenem Landbesitz oder wohlhabende Kaufleute. Und sie waren beide wichtige Männer in der Stadt, Stützen der Gesellschaft, wie man so schön sagt. Sie bewohnten Häuser mit Giebeln und überhängenden oberen Stockwerken, besaßen Anteile an zwei oder drei Schiffen, handelten mit Wolle und benutzten den großen Stapelhafen von Calais als Umschlagplatz. Die Burrards wohnten zwar schon ein paar Generationen länger in Lymington als die Tottons, aber das Wohl der Stadt lag beiden Familien gleichermaßen am Herzen. Außerdem hatten die zwei Männer ein gemeinsames Anliegen.

Der große Hafen von Southampton hatte schon eine bedeutende Rolle gespielt, als Lymington noch ein kleiner Weiler gewesen war. Vor vielen Jahrhunderten hatte man Southampton die Oberhoheit über alle kleineren Häfen an diesem Teil der Südküste eingeräumt; unter anderem gehörte dazu das Recht, für alle ein- und ausgeführten Güter die königlichen Steuern und Zölle einzutreiben. In königlichen Dokumenten wurde der Bürgermeister von Southampton sogar als Admiral bezeichnet. Doch nachdem Lymington dem König im Hundertjährigen Krieg eigene Schiffe zur Verfügung gestellt hatte, erschien es wie ein Affront, dass man sich immer noch der Vorherrschaft Southamptons beugen musste. »Wir treiben selbst die Zölle ein«, erklärte die Bürgerschaft von Lymington. »Schließlich brauchen wir Geld für unsere eigene Stadt.« Und so kam es in dieser Frage seit mehr als hundertsechzig Jahren immer wieder zu Disputen und Gerichtsverhandlungen.

Dass er mit einigen Mitgliedern der Bürgerschaft von Southampton verwandt war, trübte Tottons Parteinahme für Lymington keineswegs. Schließlich betrieb er hier seine Geschäfte. Er beurteilte die Lage mit seinem messerscharfen Verstand und teilte der Bürgerschaft mit: »Was die königlichen Steuern angeht, ist Southampton immer noch im Vorteil. Aber wenn wir unsere Forderungen auf Kielgeld und Kaigeld beschränken, werden wir sicher gewinnen.«

»Was würden wir ohne dich tun, Henry«, lautete Burrards Lob.

Burrard war ein stattlicher, rotgesichtiger Mann und ein paar Jahre älter als Totton. Im Gegensatz zu Totton, der eher zu Zurückhaltung und Vorsicht neigte, war er ein temperamentvoller und leidenschaftlicher Mensch. Doch erstaunlicherweise hatten die beiden eine gemeinsame Schwäche.

Burrard und Totton wetteten leidenschaftlich gern und häufig miteinander. Während Burrard sich auf seinen Instinkt verließ und damit oft erfolgreich war, berechnete Totton seine Gewinnchancen sehr genau.

In gewisser Weise war für Totton das ganze Leben eine Wette. Man kalkulierte die Möglichkeiten wie bei jedem Geschäft. Selbst große historische Ereignisse waren in seinen Augen nur eine Reihe von Wetten, die einmal so und einmal so ausgingen. Man brauchte dazu nur die Geschichte von Lymington zu betrachten. Zu Rufus’ Zeiten waren die Feudalherren noch mächtige normannische Adelige gewesen. Doch nach Rufus’ Tod im New Forest und der Thronbesteigung seines jüngeren Bruders Heinrich waren die Grundherren so leichtsinnig gewesen, Robert, Herzog der Normandie, zu unterstützen. Zur Strafe hatte der König dieser Familie Lymington und weitere Ländereien abgenommen und sie einer anderen Familie übertragen. In den darauf folgenden drei Jahrhunderten war der Titel durch Erbfolge weitergegeben worden – bis die Familie sich während der Rosenkriege auf die Seite des Hauses Lancaster schlug. Im Jahre 1461 wandte sich das Blatt, als die Anhänger des Hauses Lancaster eine wichtige Schlacht verloren. Daraufhin hatte der neue König, ein Mitglied des siegreichen Hauses York, den Grundherrn köpfen lassen. Inzwischen herrschte wieder eine andere Familie über Lymington.

Selbst die bürgerliche Familie Totton war an diesem gewaltigen Glücksspiel beteiligt gewesen. Kaufmann Totton hegte insgeheim großen Stolz, dass sein Lieblingsonkel zum Gefolgsmann des edelsten Abenteurers überhaupt geworden war. Bei diesem Herrn handelte es sich um den Earl von Warwick, der wegen seiner Fähigkeit, die Seite, für die er sich entschieden hatte, stets zum Sieg zu führen, auch »Königsmacher« genannt wurde. »Jetzt bin ich Freisasse«, sagte der Onkel beim Abschied zu Henry, »doch zurückkommen werde ich vielleicht als Adeliger.« Wer dem mächtigen Königsmacher diente, hatte große Aussichten, sein Glück zu wenden. Vor neun Jahren aber, kurz nach Ostern, hatte sich eine neue Nachricht wie ein Lauffeuer im New Forest verbreitet: »Es hat wieder eine Schlacht gegeben. Der Königsmacher ist gefallen. Die Witwe hat in Beaulieu Schutz gesucht.« Auch sein Lieblingsonkel war also ums Leben gekommen. Henry Totton hatte das zwar sehr bedauert, doch er sah es nicht als Tragödie oder Grausamkeit des Schicksals. Sein Onkel hatte eine Wette abgeschlossen und verloren. Mehr war nicht dabei.

Dank dieser Haltung konnte Henry allen Widrigkeiten mit Ruhe und Gelassenheit begegnen, was er selbst als seine Stärke ansah. Seine Frau hingegen hielt es für ein Zeichen von Gefühlskälte.

Als Burrard ihm nun diese Wette vorschlug, wog er die Vorund Nachteile sorgfältig gegeneinander ab.

»Ich wette mit dir, Henry!«, rief sein Freund aus, »dass ich dich, wenn du das nächste Mal ein beladenes Schiff zur Insel Wight schickst, mit einem ebenfalls beladenen überholen und noch vor dir zurückkommen werde.«

»Du hast mindestens ein Schiff, das viel schneller ist als alle, die ich besitze«, entgegnete Totton.

»Ich werde keines von meinen eigenen benutzen.«

»Was für eines dann?«

Burrard überlegte eine Weile und schmunzelte schließlich. »Ich lasse Seagull gegen dich antreten.« Er stellte fest, dass die Augen des Kaufmanns aufleuchteten.

»Seagull?« Totton schlug die Stirn in Falten. Er dachte an die Freundschaft seines Sohnes mit dem Seemann. »Ich habe keine Lust, mit Seagull zu wetten, Geoffrey.«

»Das tust du auch nicht. Wie du weißt, wettet Seagull sowieso nie.« So erstaunlich das auch klang, es entsprach der Wahrheit. Der Seemann war zwar in den meisten Dingen ein ziemlicher Schwerenöter, doch aus unbekannten Gründen ließ er die Finger vom Wetten. »Die Wette gilt also zwischen uns beiden, Henry, nur du und ich«, verkündete Burrard. »Jetzt zier dich nicht so«, rief er dann aufmunternd.

Totton überlegte. Warum wollte Burrard denn unbedingt Seagull gegen ihn antreten lassen? Wusste er, wie schnell dessen Schiff verglichen mit seinem war? Unwahrscheinlich. Ganz sicher hatte er nur eine Vermutung, dass ein Draufgänger wie Seagull es irgendwie schaffen würde. Andererseits hatte er, Totton, Seagulls Boot schon oft beobachtet. Und vor allem kannte er natürlich das hübsche kleine Schiff in Southampton, von dem er seit kurzem ein Viertel besaß. Eindeutig war das Schiff in Southampton das schnellere.

»Die Wette gilt für Seagulls Schiff«, erwiderte er. »Aber du musst Seagull zu der Fahrt überreden, sonst blasen wir alles ab.«

»Einverstanden«, entgegnete sein Freund.

Totton nickte langsam. Gerade stellte er weitere Berechnungen an, als plötzlich der kleine Jonathan in der Tür erschien. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sein Sohn miterlebte, wie sein Held, der Seemann, ein Rennen verlor. »Gut. Fünf Pfund«, sagte er.

»Oho! Henry!«, polterte Burrard, sodass sich einige andere Gäste nach ihm umdrehten. »Das ist aber ein hoher Einsatz.« Fünf Pfund waren tatsächlich eine beträchtliche Summe.

»Zu hoch für dich?«, fragte Totton.

»Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint.« Selbst der sonst so fröhliche Burrard wirkte ein wenig befremdet.

»Wenn du lieber einen Rückzieher…«

»Die Wette gilt. Fünf Pfund!«, rief Burrard. »Aber dafür musst du mir jetzt einen ausgeben, Henry.«

Als Jonathan hereinkam, merkte er den Gesichtern der Anwesenden an, dass sein Vater die Männer von Lymington gerade mächtig beeindruckt hatte.

Um sein Unbehagen zu verbergen, begrüßte Geoffrey Burrard den Kaufmannssohn mit seiner üblichen Leutseligkeit. »Ho! Junger Mann! Welche Abenteuer hast du denn heute bestanden?«

»Keine, Sir.« Jonathan war nicht sicher, was er darauf antworten sollte, doch er wusste genau, dass man Burrard mit Respekt begegnen musste.

»Ach, und ich dachte schon, du hättest heute wieder ein paar Drachen getötet.« Er lächelte Jonathan aufmunternd zu, und als er die Verlegenheit des Jungen bemerkte, fügte er hinzu: »Als ich so alt war wie du, gab es im New Forest einen Drachen.«

»In der Tat«, stimmte Totton zu. »Er wurde der Drache von Bisterne genannt.«

Jonathan betrachtete misstrauisch die beiden Männer. Natürlich kannte er wie alle Kinder im New Forest die Geschichte vom Drachen von Bisterne. Aber da sie von einem Ritter und einem urzeitlichen Tier handelte, hatte er sie für eine Legende gehalten, etwa so wie die von König Arthur. »Ich dachte, das wäre schon lange her«, meinte er.

»Das stimmt nicht ganz.« Totton schüttelte den Kopf. »Und es ist alles wahr«, fügte er mit ernster Miene hinzu. »Als ich noch klein war, gab es wirklich einen Drachen, so hieß es wenigstens. Und der Ritter von Bisterne hat ihn getötet.«

Als Jonathan das Gesicht seines Vaters musterte, erkannte er, dass dieser die Wahrheit sagte. »Oh«, erwiderte Jonathan. »Davon hatte ich keine Ahnung.«

»Und darüber hinaus«, ergänzte Burrard ernst und mit einem Zwinkern zu seinem Freund, das dem Jungen entging, »wurde vor einigen Tagen drüben in Bisterne wieder ein Drache gesichtet. Wahrscheinlich ein Nachkomme des damaligen. Ich glaube, man wird Jagd auf ihn machen. Also solltest du ihn dir rasch noch ansehen.«

»Wirklich?« Jonathan starrte ihn entgeistert an. »Ist er denn nicht gefährlich?«

»Ja, aber der letzte wurde ja auch getötet. Bestimmt ist er im Flug ein gewaltiger Anblick.«

Lächelnd schüttelte Henry Totton den Kopf. »Du gehst jetzt besser nach Hause«, sagte er freundlich und küsste seinen Sohn. Also machte sich Jonathan gehorsam auf den Heimweg.

Henry Totton selbst hatte den Drachen längst vergessen, als er nach Hause zurückkehrte.

 

 

Kurz nach Morgengrauen brachen sie auf. Willie hatte schon am Vortag, gleich als er es erfuhr, loslaufen wollen, aber Jonathan hatte ihn darauf hingewiesen, dass sie einen ganzen Tag Zeit brauchten. Schließlich war es bis nach Bisterne, wo der Drache lebte, hin und zurück ein Fußmarsch von jeweils achtzehn Kilometern.

»Ich gehe zu Willie, bis es dunkel wird«, sagte Jonathan zur Köchin und machte sich rasch aus dem Staub, bevor jemand weiter nachfragen konnte.

Es war zwar ein weiter Weg, doch kein sonderlich beschwerlicher. Das Gut Bisterne lag im südlichen Teil des Avontals zwischen Ringwood und Christchurch. Also mussten die beiden Jungen nur die Westhälfte des New Forest durchqueren und an seinem Südrand entlanggehen, um das Tal zu erreichen. Da sie früh losgezogen waren, würden sie selbst zu Fuß noch am Vormittag ankommen und erst am späten Nachmittag umkehren müssen.

Willie erwartete Jonathan oben an der Straße. Da sie nicht von Erwachsenen aufgehalten werden wollten, nahmen sie rasch den Weg, der durch die Felder und Wiesen von Old Lymington führte, und passierten schon nach einer halben Stunde das Gut Arnewood zwischen den Dörfern Hordle und Sway.

Es war ein klarer, sonniger Morgen, der einen warmen Tag verhieß. Die Landschaft westlich von Lymington bestand aus kleinen Feldern, Hecken und Eichen in einem hügeligen Gelände. An den Zweigen zeigten sich bereits die ersten hellgrünen Blätter; eine leichte Brise wehte die weißen Blüten der Hecken über den Weg. Sie kamen an einem gepflügten Feld vorbei, in dessen Furchen eine flügelschlagende Horde Möwen pickte.

Jeder, der in Lymington Bescheid wusste, hätte die beiden Jungen sofort erkannt, die da am Gut Arnewood vorbeigingen, denn sie waren ihren Vätern wie aus dem Gesicht geschnitten. Dass der eine Junge an den ernsten Kaufmann erinnerte, während der andere die fröhlichen Züge seines Vaters hatte, wirkte fast komisch. Eine Stunde später hatten sie Lymington weit hinter sich gelassen. Sie erreichten einen schmalen Pfad, der durch den Wald führte. Zwischen verkrüppelten Eschen und Birken bahnten sie sich ihren Weg zur offenen Heide.

»Glaubst du, der Drache kommt bis hierher?«, fragte Willie.

»Nein«, erwiderte Jonathan. »Ganz bestimmt nicht.« Er hatte seinen Freund noch nie ängstlich erlebt. Und er wollte genauso mutig sein.

Anderthalb Stunden lang gingen sie auf dem federnden Boden weiter. Sie hatten fast sieben Kilometer am Rand der Heide zurückgelegt, als sie bei der großen Anhöhe namens Shirley Common ankamen. Oben am Gipfel blieben sie stehen.

Unter ihnen erstreckte sich das Avontal.

Hier war die Vegetation üppiger. Zuerst kam eine kleine Wiese, wo der Farn bereits geschnitten war und wo nun einige Ziegen grasten. Dahinter lagen Eichen- und Birkenwälder und weitere Felder, die in anmutigem Schwung die Hügel hinunter verliefen. Unten im Tal befanden sich die saftig grünen Wiesen an den breiten Ufern des Avon, dessen silbriges Wasser hie und da verlockend funkelnd durch die Bäume zu sehen war. Schon auf den ersten Blick war klar, dass sich diese Landschaft vorzüglich für Ritter und ihre Damen eignete, aber auch für Drachen.

Im Norden, etwa drei Kilometer jenseits einer braunen, baumlosen Heide, lag im dunklen Wald das Dorf Burley.

»Ich glaube, wir werden den Drachen bald sehen«, sagte Jonathan und blickte zu seinem Freund. »Fürchtest du dich?«

»Du etwa?«

»Nein.«

»Wo lebt der Drache eigentlich?«, fragte Willie.

»Da drüben.« Jonathan zeigte auf den lang gestreckten Hügel von Burley, wo im Norden der Castle Hill aufragte. Die Anhöhe wurde inzwischen Burley Beacon genannt.

»Oh.« Willie blickte hin. »Das ist aber ziemlich nah«, meinte er.

 

 

Wahrscheinlich war es ein Wildschwein gewesen. Ein Einzelgänger. Mittlerweile gab es nur noch wenige Wildschweine in England, da sie durch die Jagd fast vollständig ausgerottet worden waren. Natürlich liefen im Herbst, zur Mastzeit, Hausschweine im New Forest herum. Und hin und wieder verwilderte eines und wurde mit einem Wildschwein verwechselt. Doch ein wirkliches Wildschwein mit seinen grau melierten Borsten, dem massigen Körper und den blitzenden Stoßzähnen stellte ein Furcht erregendes Geschöpf dar. Selbst die tapfersten Adeligen, mochten sie nun Plantagenets oder Normannen sein, empfanden trotz ihrer Hunde und ihres Jagdgefolges Furcht, wenn sich eines dieser wilden Tiere wie rasend aus dem Gebüsch auf sie stürzte. Allerdings versprach die Jagd auf Wildschweine auch die größte Aufregung. In ganz Europa galt die Wildschweinjagd als der edelste Zeitvertreib für die Aristokratie, gleich nach dem Zweikampf im Turnier. Bei jedem großen Festmahl diente ein Wildschweinkopf als Tischdekoration.

Doch dem Inselkönigreich England fehlten trotz der zahlreichen Wälder die unbesiedelten Weiten, wie es sie in Frankreich oder Deutschland gab. Und deshalb wurde jedes Wildschwein sofort von den Adeligen aufgestöbert und gejagt. Vier Jahrhunderte nach dem Eintreffen des normannischen Eroberers existierten im Süden von England nur noch wenige Wildschweine. Doch hin und wieder stieß man auf eines, das aus irgendeinem Grund von den Jägern verschont geblieben war. Im Laufe der Jahre konnte so ein Einzelgänger eine gewaltige Größe erreichen.

Und genau das war vermutlich im Avontal um das Jahr 1460 herum geschehen.

Der Herrensitz Bisterne lag in einer malerischen Umgebung auf dem Grund des Tals, und zwar auf der Waldseite des Avon, ein wenig nördlich von Tyrrells Furt. Zur Zeit der Angelsachsen hatte man das Gut Bede’s Thorn genannt, und dieser Name war über die Jahre hinweg zu Bisterne verändert worden. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen war der Herrensitz in angelsächsischem Besitz geblieben und durch Erbschaft an die adelige Familie Berkeley übergegangen, die aus der westlichen Grafschaft Gloucestershire stammte. Sir Maurice Berkeley – seine Gattin war übrigens die Nichte keines Geringeren als des mächtigen Königsmachers Warwick – hielt sich in der Zeit kurz vor dem Rosenkrieg gern in Bisterne auf, um mit seinen Hunden im Avontal zu jagen.

Offenbar hatte das Wildschwein seinen Bau irgendwo auf dem Burley Beacon, der das Tal überblickte, und es hieß, dass es die Bauernhöfe in der Umgebung plünderte. Kurz vor dem Martinstag, wenn das Vieh geschlachtet wurde, war das Wildschwein den Bächen gefolgt, die vom Castle Hill herunterflossen, und so nach Bisterne gekommen. Irgendwann erschien es am Bunny By Brook, einem Bach unweit des Gutshauses, wo es die Milchkannen entdeckte, die zum Kühlen im Wasser standen. Das Wildschwein vertilgte nicht nur die Milch, sondern tötete auch noch eine der wenigen Kühe, die der Bauer besaß.

Also war es nicht weiter verwunderlich, dass der tapfere Sir Maurice Berkeley in einer kalten Novembernacht loszog, um das Untier zu bekämpfen. Die blutige Schlacht fand im Tal statt. Der Keiler gab markdurchdringende Schreie von sich und wirkte im fahlen Mondlicht wie ein Gespenst. Zwei der Lieblingshunde des Ritters kamen bei dem Gemetzel ums Leben. Sir Maurice gelang es zwar, das Ungeheuer zu töten, doch er trug dabei einige Wunden davon, die sich entzündeten. Er erlebte das Weihnachtsfest nicht mehr.

Einige Legenden geraten erst viele Jahre nach einem fast vergessenen Ereignis in Umlauf. Andere hingegen entstehen auf der Stelle. Schon ein Jahr später wusste die ganze Grafschaft von Sir Maurice Berkeleys Kampf mit dem Drachen von Bisterne. Man hatte den Drachen von Burley Beacon aus über die Felder fliegen sehen. Und alle waren darüber im Bilde, dass der Ritter das Ungetüm mit einem Streich getötet hatte, anschließend aber dessen Gift erlegen war. Auch wenn der Rest der Welt von den ritterlichen Dramen um die Rosenkriege erschüttert wurde, im New Forest und im Avontal sprachen die Leute noch jahrelang nur über eines: »Bei uns gab es vor nicht allzu langer Zeit einen Drachen.«

Vom Gipfel des Shirley Common nach Bisterne waren es noch einmal drei Kilometer. Die Jungen ließen sich beim Abstieg Zeit. Hin und wieder konnten sie einen Blick auf die Felsspitze von Burley Beacon erhaschen. Und sie hielten die ganze Zeit Ausschau in diese Richtung, für den Fall, dass sich der Drache vom Gipfel erhob und mit ausgebreiteten Schwingen auf sie zufliegen sollte.

»Was machen wir, wenn er kommt?«, fragte Willie.

»Dann werden wir uns verstecken«, erwiderte Jonathan.

Weiter unten am Abhang verlief der Weg durch einen Wald. Die Morgensonne ließ den Waldboden blassgrün schimmern. Die Baumwurzeln waren von Moos überwuchert, Efeu rankte sich die Stämme hinauf. Sie hörten eine Taube gurren. Dann führte ein Pfad aus den Bäumen heraus zum Waldesrand. Ein Rebhuhn flatterte vor ihnen aus dem hohen Gras auf. Und hundert Meter weiter brach ein Auerhahn mit seinem leierförmigen Schwanz blitzschnell und flügelschlagend aus den Baumwipfeln hervor. Offenbar war er von etwas gestört worden.

»Jetzt hast du dich ganz schön erschrocken«, sagte Jonathan.

»Du aber auch.«

Kurz darauf erreichten sie den Talboden, und sie wussten sofort, dass der Drache sich jeden Moment zeigen konnte.

Die Umgebung von Bisterne war bretteben. Die großen Felder des Gutes erstreckten sich mehr als drei Kilometer nach Westen bis zu den silbrigen Wassern des Avon. Im Frühjahr geschah es öfter, dass der Avon anstieg und die fruchtbaren Auwiesen mit einem zauberhaft schimmernden flüssigen Schleier überzog. Das Gutshaus selbst – es handelte sich eher um eine Jagdhütte für die Ritter aus dem Hause Berkeley – bestand aus einer Halle aus verputzten Holzbalken mit angrenzenden Stallungen. Es stand allein mitten auf einer baumlosen Wiese, wo Rinder weideten und Hasen in einem Pferch auf dem kurz geschorenen Gras umhersprangen. In der Ferne sah man die Hügelkette, hinter der sich Burley Beacon befand. Hin und wieder reckten Eichen und Ulmen ihre kahlen Äste gen Himmel, wie um dem geflügelten Ungeheuer einen Landeplatz zu bieten, wenn es vom Beacon herunterkam.

Es war still. Ab und zu hörten die Jungen eine Kuh muhen oder vernahmen das Rauschen von Schwanenflügeln über dem fernen Wasser. Auch die Krähen ließen von Zeit zu Zeit in den Bäumen ein heiseres Krächzen und Flattern ertönen. Doch sonst regte sich nichts in Bisterne, als bereite sich die ganze Natur auf eine Erscheinung vor.

Auf den Feldern war kaum jemand zu sehen. Etwa hundert Meter südlich der Halle stand ein kleines, strohgedecktes Bauernhaus, umgeben von einigen Eschen. Als die Jungen auf dem Viehpfad einem Kuhhirten begegneten, fragten sie ihn höflich, wo der Drache getötet worden sei. Der Mann lächelte, zeigte auf ein Feld hinter dem Bauernhaus und sagte: »Das da ist das Drachenfeld.«

Noch etwa eine Stunde gingen sie weiter die Pfade entlang und hinunter zum Fluss. Am Sonnenstand konnten sie erkennen, dass es Mittagszeit war. Willie verkündete, er habe Hunger.

Unten am Fluss, unweit von Tyrrells Furt, standen einige Hütten und eine alte Schmiede. Um keinen Verdacht zu erregen, erklärte Jonathan, sie kämen aus dem nahe gelegenen Ringwood, und erbettelte ein wenig Brot und Käse, die ihnen die Bewohnerin einer der Hütten gerne gab. Dann fragte er die Bäuerin nach dem Drachen.

»Es ist schon mehr als zwanzig Jahre her, dass er getötet wurde«, antwortete sie.

»Ja. Aber was ist mit dem neuen?«

»Den habe ich noch nicht gesehen«, erwiderte sie mit einem Lächeln.

»Vielleicht ist er gar nicht hier«, meinte Willie zu seinem Freund, während als sie am Ufer Brot und Käse verzehrten.

»Sie hat nur gesagt, sie hätte ihn nicht gesehen«, entgegnete Jonathan.

Nach dem Essen schliefen sie ein wenig in der warmen Sonne.

Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten, als sie den Hügel am Bauernhaus hinaufstiegen. Dass es ihnen vor dem Heimweg graute, ließen sie sich nicht anmerken. Aber sie wussten, dass sie sich sputen mussten, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein wollten.

Sie hatten bereits die Hälfte des Abhangs zurückgelegt, als sie einer Herde von etwa einem Dutzend Kühen begegneten, die von einem Jungen zum Bauernhaus getrieben wurde. Der Junge, ein wenig älter als sie, schätzungsweise zwölf, betrachtete sie neugierig. »Woher kommt ihr?«

»Das geht dich nichts an.«

»Ihr habt wohl Lust auf eine Tracht Prügel?«

»Nein.«

»Ich muss mich sowieso um die Kühe kümmern. Was wollt ihr hier?«

»Uns den Drachen anschauen.«

»Das Drachenfeld ist da drüben.«

»Das wissen wir. Man hat uns erzählt, es gäbe einen neuen Drachen, aber das stimmt offenbar nicht.«

Der Junge betrachtete sie nachdenklich. »Doch. Deshalb muss ich ja die Kühe einsperren.« Er hielt inne und nickte. »Er kommt jeden Abend, genauso wie der letzte. Von Burley Beacon.«

»Wirklich?« Jonathan musterte ihn forschend. »Das erfindest du bloß. Sonst würde ja niemand freiwillig hier wohnen.«

»Aber es ist die Wahrheit. Meistens ist er ganz friedlich, doch er hat auch schon Hunde und Kälber getötet. Bei Sonnenuntergang kann man ihn fliegen sehen. Er spuckt Feuer. Wenn man ihn anschaut, kriegt man richtig Angst.«

»Und wo fliegt er hin?«

»Immer an dieselbe Stelle. Zum Drachenfeld. Also halten wir uns eben von dort fern.«

Er drehte sich um und versetzte mit seinem Stecken einer Kuh einen Klaps. Die beiden Jungen marschierten weiter. Eine Weile sprachen sie kein Wort.

»Ich glaube, er lügt«, sagte Willie.

»Vielleicht.«

Möglicherweise lag es daran, dass sie sich auf dem Rückweg befanden, jedenfalls erschien ihnen der Marsch zum Gipfel von Shirley Common nun nicht mehr so weit. Die Nachmittagssonne würde zwar noch lange nicht untergehen, doch es war ein frischer Hauch in der Aprilbrise. Im Westen schimmerte der Himmel leicht orangefarben. Vor ihnen erstreckten sich wieder das Tal und der Burley Beacon.

»Von hier aus hätten wir eine gute Aussicht«, meinte Jonathan.

»Dann kommen wir aber zu spät nach Hause«, wandte Willie ein.

»Das hängt davon ab, wann der Drache erscheint. Vielleicht lässt er sich ja gleich blicken.«

Willie antwortete nicht.

Jonathan wusste, dass sein Freund keine große Lust auf diesen Ausflug gehabt hatte und nur aus Gefälligkeit mitgekommen war. Allerdings bedeutete das nicht, dass er ein Feigling war – er hatte nicht mehr Angst als Jonathan selbst. Wenn sie zusammen spielten, vor allem am Fluss oder sonst irgendwo am Wasser, war Willie der größte Draufgänger, während Jonathan eher zur Vorsicht neigte. Jonathan wusste, dass er sich allein niemals hierher gewagt hätte. Doch im Laufe des Tages hatte er eine neue Entdeckung gemacht: Er verfügte über eine ruhige, beharrliche Entschlossenheit, die sich sehr von der unbekümmerten Art seines Freundes unterschied.

»Wenn wir zu spät zurückkommen«, sagte Willie, »setzt es Hiebe.«

Selbst in den Dörfern wurde die Sperrstunde, wenn die Feuer für die Nacht gelöscht wurden und alle Männer zu Hause sein mussten, mehr oder weniger eingehalten. Schließlich konnte man in der Dunkelheit auf dem Land ohnehin nicht viel mehr unternehmen als zu wildern oder sonst etwas Verbotenes zu tun. In Lymington gingen höchstens Männer wie Totton nachts vom Angel Inn nach Hause, doch für gewöhnlich waren die Straßen leer. Sobald die Nachtglocke den Beginn der Sperrstunde verkündete, herrschte Ruhe.

Jonathan hatte noch nie Prügel bekommen. In jener Zeit mussten die meisten Jungen in England hin und wieder eine Abreibung von ihren Eltern oder vom Schulmeister einstecken, doch wegen seiner stillen Art und vielleicht auch, weil durch die Krankheit seiner Mutter im Haus stets eine gedämpfte Stimmung herrschte, war Jonathan diese Strafe bis jetzt erspart geblieben. »Das ist mir egal«, erwiderte er. »Du kannst ja umkehren, wenn du willst, Willie.«

»Soll ich dich etwa alleine lassen?«

»Es ist schon gut. Geh nur. Dann schaffst du es noch pünktlich.«

Willie seufzte. »Nein. Ich bleibe.«

Jonathan stellte zum ersten Mal fest, dass er auch skrupellos sein konnte, und lächelte seinem Freund zu.

»Und wenn der Drache nicht mehr kommt, Jonathan?«

»Dann sehen wir eben keinen.«

Aber was war, falls es doch einen gab? Sie warteten eine Stunde lang. Inzwischen ging die Sonne über dem Tal unter. Aus den fernen Auwiesen erhob sich ein zarter Dunst. Die Heide im Norden leuchtete orangebraun. Aber Burley Beacon strahlte so golden im Sonnenlicht, dass man meinte, die Felsen würden jeden Moment in Flammen aufgehen.

»Behalt Burley Beacon im Auge, Willie«, sagte Jonathan und rannte den Hügel hinab.

Zum Rand des Feldes waren es nur zweihundert Meter. Aus irgendeinem Grund hatte man hier den Farn geschnitten und an den Hecken zu Haufen zusammengerecht. Also war es ein Kinderspiel, eine kleine Hütte zu bauen und sie mit Farnwedeln auszupolstern. Wenn Tiere auf Farn schliefen, musste es auch für Menschen möglich sein, dachte Jonathan. Als er fertig war, lief er wieder zu Willie.

»Heute schaffen wir es nicht mehr zurück. Es ist zu spät.«

»Das habe ich mir fast gedacht.«

»Ich habe uns eine Hütte gebaut.«

»Gut.«

»Hast du was gesehen?«

»Nein.«

Die Sonne ging unter, und Burley Beacon war in ein feuriges Rot getaucht. Immer tiefer sank die Sonne, im Westen verfärbte sich der Himmel purpurrot, am Burley Beacon wurde es dunkel. Schon gingen die ersten Sterne am Himmel auf.

»Vielleicht kommt er jetzt«, sagte Jonathan. Er konnte sich den Drachen bildhaft vorstellen: etwa so groß wie eine Kuh, mit gewaltigen Schwingen. Sicher war er grün und schuppig. Seine Flügel rauschten gewiss wie bei einem gewaltigen Schwan, und wenn er Feuer spuckte, zischte es. Mehr würde man in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht erkennen.

Nun war die Sonne untergegangen. Sterne erleuchteten den saphirfarbenen Himmel. Die Umrisse von Burley Beacon wirkten finster und bedrohlich. Die beiden Jungen warteten und ließen den Berg nicht aus den Augen.

 

 

Als Jonathan bei Anbruch der Dämmerung noch immer nicht zurückgekehrt war, marschierte Henry Totton widerwillig zum Kai hinunter und auf die heruntergekommene Behausung von Alan Seagull zu. Ob er seinen Sohn gesehen habe? Nein, erwiderte der Seemann ein wenig erstaunt. Beide Jungen waren seit dem Morgengrauen verschwunden, und er hatte keine Ahnung, wo sie steckten.

Zuerst befürchtete Totton, sie seien mit einem Boot hinausgefahren, aber Seagull vergewisserte sich rasch, dass keines fehlte. Oder waren sie gar irgendwo in den Fluss gefallen?

»Mein Sohn ist ein sehr guter Schwimmer«, meinte Seagull. »Was ist mit Eurem?«

Zu seiner Beschämung musste Totton feststellen, dass er das nicht wusste.

Dann berichtete jemand, er habe die beiden Jungen am frühen Morgen die Stadt verlassen sehen. War ihnen vielleicht im New Forest etwas zugestoßen? Doch das schien unwahrscheinlich. Seit Jahren schon waren keine Wölfe in dieser Gegend gesichtet worden, und für Schlangen war es noch zu früh im Jahr.

»Und wenn sie in ein Mühlrad gestürzt sind?«, fragte Alan Seagull bedrückt.

Als die Sperrstunde begann, hatte man sich mit dem Bürgermeister und dem Gutsverwalter beraten und zwei Suchtrupps mit Fackeln ausgerüstet. Der eine machte sich auf den Weg zu den Mühlen von Old Lymington, während der andere die Wälder oberhalb der Stadt erkundete. Wenn nötig, würden sie die ganze Nacht lang weitersuchen.

 

 

Die Hütte bot guten Schutz. Da sie die Farnwedel fest zusammengedrückt hatten, hielten diese die Kälte ab. Zum Glück war es keine besonders kalte Nacht, und die beiden Jungen schmiegten sich dicht aneinander.

Die Nacht war mondlos. Hell leuchteten die Sterne zwischen den Wolken hervor. Die Jungen hatten gewartet, bis ihnen vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, dann waren sie zu dem Schluss gelangt, dass der Drache sich heute Nacht wohl nicht zeigen würde.

»Wenn du ihn siehst, weckst du mich«, sagte Jonathan seinem Freund.

»Und du mich auch.«

Nachdem sie sich hingelegt hatten, konnten sie – vielleicht wegen des Taus auf ihren Gesichtern oder aus Furcht vor wilden Tieren – eine Weile nicht einschlafen. Und während sie zum Nachthimmel hinaufblickten, sprach Willie das Thema an, das sie bereits am Vortag erörtert hatten. »Glaubst du wirklich, dass das Schiff deines Vaters aus Southampton das von meinem Vater schlägt?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Jonathan wahrheitsgemäß. Ganz Lymington hatte gestern von der wichtigen Wette gesprochen. Doch da Jonathan fand, dass er es seinem Freund und dessen Familie schuldig war, alles zu sagen, was er wusste, fügte er hinzu: »Wenn mein Vater um einen so hohen Einsatz wettet, ist er bestimmt überzeugt davon, dass er gewinnt. Er ist sehr vorsichtig. Ich glaube nicht, dass dein Vater auf Sieg setzen sollte.«

»Er wettet nie.«

»Warum?«

»Er sagt immer, dass er so schon genug Risiken eingeht. Da braucht er nicht auch noch zu wetten.«

»Was für Risiken?«

»Schon gut. Das darf ich dir nicht erzählen.«

Oh, dachte Jonathan, was für ein großes Geheimnis ist das? Er wurde neugierig.

Willie schwieg eine Weile. »Ich verrate dir etwas«, meinte er schließlich.

»Was?«

»Das Schiff meines Vaters fährt viel schneller, als dein Vater denkt. Aber sag ihm das nicht.«

»Warum?«

Willie erwiderte nichts. Als Jonathan noch einmal nachhakte, erhielt er keine Antwort. Auch mit einem sanften Rippenstoß ließ Willie sich nichts entlocken.

»Dann zwicke ich dich«, drohte Jonathan.

»Lass das.«

»Gut. Also raus mit der Sprache.«

Willie holte tief Luft. »Schwörst du, es für dich zu behalten?«, begann er.

 

 

Ganz Lymington war in Aufruhr, als Jonathan Totton und Willie Seagull am nächsten Morgen wohlbehalten eintrafen. Sie kamen schon früh zurück, denn sie waren gleich bei Morgengrauen aufgebrochen.

Ganz Lymington freute sich, und ganz Lymington war neugierig. Doch als die Bürger erfuhren, dass sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen und sich Sorgen gemacht hatten, nur weil zwei Jungen einen Drachen hatten sehen wollen, waren sie ziemlich aufgebracht.

Wenigstens behaupteten sie das. Die Frauen forderten, die Jungen ordentlich zu züchtigen. Die Männer, die sich an ihre eigene Kindheit erinnerten, stimmten zwar zunächst zu, waren aber eigentlich bereit, ein Auge zuzudrücken. Der Bürgermeister teilte den beiden Vätern streng mit, dass er die Prügelstrafe höchstpersönlich vollstrecken würde, wenn sie ihren Söhnen keine angemessene Abreibung verabreichten. Und da die Leute insgeheim Burrard und seinem albernen Märchen von dem Drachen die Schuld gaben, ließ dieser sich lieber nicht blicken.

Bevor Henry Totton seinen Sohn abstrafte, hielt er ihm einen Vortrag darüber, wie gefährlich es sei, sich mit Willie Seagull und seinesgleichen herumzutreiben. Offenbar habe Willie ihn angestiftet. Zu seinem Erstaunen versicherte ihm Jonathan jedoch, das ganze Abenteuer sei seine Idee gewesen. Er habe Willie überredet, die Nacht über fortzubleiben. Zuerst traute Henry Totton seinen Ohren nicht. Und als er es schließlich glauben musste, war er traurig und bitter enttäuscht. Diesmal aber war es Jonathan herzlich gleichgültig.

Alan Seagull schleifte seinen Sohn am Ohr den Kai entlang in seine sonderbare Behausung. Dann nahm er den Riemen von der Wand und schlug Willie zweimal, worauf er so zu lachen anfing, dass seine Frau die Sache für ihn zu Ende bringen musste.

Jonathans Bestrafung jedoch war eine ernstere Angelegenheit, bei der niemand lachte. Henry Totton tat das, was er für seine Pflicht hielt. Dabei war er nicht nur erstaunt über den ganzen Zwischenfall, sondern befürchtete außerdem, sein Sohn, der ihm so fremd war, könnte ihn danach hassen. Die Prügel taten zwar weh, doch Jonathan war ziemlich stolz auf sich. Und deshalb schmerzte die Züchtigung den armen Vater vermutlich mehr als den kleinen Übeltäter.

Er ist alles, was ich habe, dachte Totton. Und nun habe ich ihn verloren. Wegen eines Drachens. Und da der bedauernswerte Mann so wenig von der Seele eines Kindes verstand, war er völlig ratlos, was er nun mit Jonathan anfangen sollte.

 

 

Henry Totton fiel aus allen Wolken, als sein Sohn ihn am nächsten Tag fröhlich fragte: »Nimmst du mich zu den Salzgärten mit, wenn du wieder hingehst?«

Da der Vater diese Gelegenheit für eine Versöhnung nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, beschloss er, noch am selben Nachmittag dorthin aufzubrechen.

Die ungewöhnliche Wärme der letzten Tage war von typischem Aprilwetter abgelöst worden. Kleine weiße und graue Wolken zogen über den blassblauen Himmel. Es wehte ein feuchter Wind, und hin und wieder schauerte es leicht, als Henry Totton und Jonathan zur Kirche oben an der High Street gingen, nach links abbogen und den langen, abschüssigen Weg nahmen, der hinunter zum Meer führte.

Der Küstenstreifen unterhalb der Stadt war kahl und windumtost: eine grüne, von buschigem Moorgras bewachsene Einöde. Salziger Dunst umhüllte Ginsterbüsche und kleine dornige Bäume, die der Meerwind in ihrem Wachstum verlangsamt und verbogen hatte. Man hätte meinen können, dass nur Möwen, Brachvögel und Wildenten diesen unwirtlichen Landstrich bewohnten. Doch die Ansammlung von kleinen Häusern und die etwa zwanzig kleinen windmühlenähnlichen Gebäude mit ihren im Augenblick reglos verharrenden Flügeln straften diese Annahme Lügen: Hier in den Marschen wurde die wichtigste Handelsware der Kaufleute von Lymington hergestellt – Salz.

Henry Totton besaß einen Salzgarten in Pennington Seagulls. Das Siedehaus und die Pumpen waren deutlich zu erkennen, als er mit seinem Sohn den Kiespfad entlang über die Ebene ging, und bald hatten sie die Gebäude erreicht.

Jonathan gefiel es in den Salzgärten, vielleicht deshalb, weil sie sich so nah am Meer befanden. Zur Gewinnung von Salz benötigte man zu allererst einen großen Teich nah an der Küste, der sich bei Flut mit Meerwasser füllte. Gerne beobachtete Jonathan, wie das Wasser die gewundenen Priele entlanggurgelte.

Die dahinter liegenden Salzpfannen waren ein Meisterwerk. Eigentlich handelte es sich nur um ein gewaltiges, flaches Becken mit ebenem Boden, das in etwa sechs Quadratmeter große Stücke eingeteilt war. Die Wälle dazwischen hatten eine Höhe von zwei Zentimetern und waren gerade so breit, dass man auf ihnen umhergehen konnte. Mit hölzernen Kellen wurde das Wasser bis zu einer Höhe von etwa einem Zentimeter aus dem Speicherbecken hineingeschöpft. Und dann begann man mit der eigentlichen Salzgewinnung.

Diese war verhältnismäßig einfach. Das Wasser musste verdunsten, was jedoch nur im Sommer möglich war. Je wärmer das Wetter und je heißer die Sonne, desto mehr Salz konnte man herstellen. Für gewöhnlich begann die Saison Ende April und dauerte in guten Jahren etwa sechzehn Wochen – bei schlechtem Wetter vielleicht nur zwei Wochen.

Wichtig war, das Wasser zum Verdunsten sorgfältig in die verschiedenen Becken zu verteilen.

»Jede Verdunstung braucht ihre Zeit, Jonathan«, hatte sein Vater ihm schon vor langem erklärt. »Und das Salz darf uns nicht ausgehen.«

Deshalb wurde das Wasser durch windgetriebene Pumpen von einem Becken in das andere geschöpft, wobei sich durch die schrittweise Verdunstung die Salzkonzentration immer mehr erhöhte.

Die Pumpen waren von einfacher Bauart, wie man sie im New Forest vermutlich schon zur Zeit der Angelsachsen benutzt hatte. Im Nahen Osten hatte man mehr oder weniger ähnliche Gerätschaften zweitausend Jahre zuvor verwendet. Sie waren etwa dreieinhalb Meter hoch und mit kleinen, an einem schlichten Holzkreuz befestigten Flügeln versehen. Die Flügel trieben eine Winde an, die wiederum eine Pumpe bewegte. So wurde das Wasser von einem flachen Becken in das nächste geschafft, bis es zu guter Letzt das Siedehaus erreichte.

An diesem Tag wollte Totton die Anlage inspizieren, damit nach dem Winter möglicherweise notwendig gewordene Reparaturen rechtzeitig ausgeführt werden konnten. Dabei erklärte er seinem Sohn alles ganz genau.

»Der Kanal zum Speicherbecken muss geräumt werden«, stellte der Junge fest.

»Ja.« Henry nickte. Außerdem war es nötig, einige Erdwälle zwischen den Becken instand zu setzen.

Jonathan machte sich nützlich, indem er die Wälle leichtfüßig abging und jeden Riss mit Kalkfarbe kennzeichnete. »Müssen wir auch den Grund der Becken reinigen?«, fragte er.

»In der Tat«, erwiderte sein Vater.

Schließlich ging es ans eigentliche Salzsieden. Nachdem das Meerwasser im letzten Becken angekommen war, hatte es sich in eine hoch konzentrierte Salzlake verwandelt. Der Salzsieder legte eine mit Blei beschwerte Kugel hinein, und wenn diese oben schwamm, wusste er, dass die Lake dick genug war. Dann ließ er sie ins Siedehaus fließen, indem er eine Schleuse öffnete.

Das Siedehaus war ein Schuppen mit verstärkten Wänden, und in diesem stand die Siedepfanne, ein gewaltiger Behälter mit einem Durchmesser von etwa zweieinhalb Metern. Der Ofen darunter wurde mit Holzkohle oder Holz beheizt. Hier verdampfte das Wasser langsam, bis eine dicke Salzkruste übrig blieb.

In der Salzsaison war das Siedehaus fast ununterbrochen in Betrieb. Jeder Siedevorgang dauerte etwa acht Stunden. Wenn man am Sonntagabend begann und bis Samstagabend weiterarbeitete, konnte man auf diese Weise sechzehn Portionen wöchentlich sieden. So wurden in Henry Tottons Siedehaus fast drei Tonnen Salz pro Woche gewonnen. Es war zwar nicht rieselfähig und nicht sehr rein, aber es genügte.

»Pro Tonne Salz verbrauchen wir neunzehn Scheffel Kohle«, erklärte Totton. »Wenn der Preis eines Scheffels…«

Doch Jonathan war schon wieder geistesabwesend. Dem Siedehaus konnte er nicht viel abgewinnen. Während des Siedens brannten ihm die salzhaltigen Dampfwolken in den Augen, und nach einer Weile bekam er stets heftige Halsschmerzen. Rings um das Gebäude war der Boden von Kohlenasche geschwärzt. Deshalb lief Jonathan wenn möglich am liebsten davon, um die frische Meeresluft einzuatmen und die Brachvögel und Möwen am Rande des Speicherbeckens zu beobachten.

Nachdem sein Vater Jonathan ausführlich erläutert hatte, wie man den Gewinn berechnete, der bei gutem Wetter in einer sechzehnwöchigen Saison abfiel, stellte er fest, dass der Junge ihn nachdenklich ansah.

»Vater, darf ich dich etwas fragen?«

»Selbstverständlich, Jonathan.«

»Aber…«, der Junge zögerte, »… es hat etwas mit Geheimnissen zu tun.«

Totton zuckte zusammen. Geheimnisse? Also wollte der Junge nichts über Salz wissen, nichts von dem, was er ihm in der letzten halben Stunde beizubringen versucht hatte. Hatte Jonathan überhaupt etwas davon verstanden? Wie so oft wurde er von Enttäuschung und Gereiztheit ergriffen. Er bemühte sich, sich zu beherrschen und sich nichts anmerken zu lassen. Doch zu seinem Bedauern gelang es ihm nicht, sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Was für Geheimnisse, Jonathan?«

»Na, ja… Es ist folgendermaßen. Wenn jemand einem etwas erzählt und einen versprechen lässt, es nicht weiterzuerzählen, weil es geheim ist. Und wenn es so wichtig ist, dass man es trotzdem weitererzählen möchte. Soll man das Geheimnis dann für sich behalten?«

»Hast du es denn versprochen?«

»Ja.«

»Und ist es ein schlechtes Geheimnis? Etwas Verbotenes?«

»Nun.« Jonathan überlegte. War das Geheimnis, das sein Freund Willie ihm anvertraut hatte, wirklich so schrecklich?

Es hing mit Alan Seagull und seinem Boot zusammen. Und der springende Punkt war, dass es schneller fuhr als Totton vermutete. Das lag daran, dass Seagull des Öfteren heimliche Fahrten unternahm, bei denen Geschwindigkeit äußerst wichtig war.

Er schmuggelte Wolle. Obwohl das Geschäft mit Stoffen immer mehr florierte, machte Wolle auch weiterhin den Großteil von Englands Außenhandel und Reichtum aus. Damit die Staatskasse davon profitierte, hatte der König – wie schon seine Vorgänger – befohlen, den gesamten Wollhandel über den großen Umschlaghafen, den so genannten Stapelplatz von Calais, abzuwickeln und eine Wollsteuer zu erheben. Wenn die Mönche von Beaulieu – hauptsächlich über Southampton, aber auch über Lymington – ihre gewaltigen Wollballen verschifften oder wenn Totton den Händlern in Sarum welche abkaufte, landete die Ladung am Stapelplatz und wurde ordentlich versteuert.

Alan Seagull hingegen arbeitete im Auftrag von Händlern, die es mit der Ehrlichkeit weniger genau nahmen, weshalb seine Fahrten stets nachts stattfanden. Er segelte unbemerkt von Küste zu Küste, zahlte keine Steuern, scherte sich nicht um die Gesetze und erhielt einen guten Lohn dafür. Überall an der Küste gab es Seeleute, die das Gleiche taten, auch wenn es verboten war.

»Ich könnte jemanden in Schwierigkeiten bringen«, meinte Jonathan nachdenklich. »Aber ich finde, so schlimm ist es nicht.«

»So wie Wilderei zum Beispiel?«, fragte sein Vater.

»Ja, so ähnlich.«

»Wenn du dein Wort gegeben hast, es nicht zu verraten«, sagte Totton, »wird dir niemand mehr vertrauen, falls du es dennoch tust.«

»Nur…« Jonathan war immer noch unsicher. »Was ist, wenn man es jemandem sagen will, um demjenigen zu helfen?«

»Wie denn helfen?«

»Wenn man einen Freund hat, der sich dadurch Geld spart.«

»Deshalb soll man sein Wort brechen und ein Geheimnis preisgeben? Ganz sicher nicht, Jonathan.«

»Oh.«

»Ist deine Frage damit beantwortet?«

»Ja, ich glaube schon.« Doch Jonathan runzelte weiter die Stirn. Er hätte so gern einen Weg gefunden, seinen Vater zu warnen, ohne dadurch zum Verräter zu werden.

 

 

In den nächsten beiden Wochen fiel es Alan Seagull zunehmend schwerer, ernst zu bleiben.

Ganz Lymington schloss Wetten ab. Meist ging es nur um die kleine Summe von ein paar Pence, doch einige Kaufleute riskierten eine Mark oder sogar noch mehr. Der Seemann fragte sich nach dem Grund und kam zu dem Ergebnis, dass keiner ausgeschlossen sein wollte. Einige glaubten, das kleinere Schiff würde auf einer derart kurzen Strecke gegen den größeren Konkurrenten siegen. Manche stellten komplizierte Berechnungen auf Grund des Wetters an. Andere wiederum vertrauten Tottons Urteilsfähigkeit und setzten auf ihn.

»Je mehr sie reden, desto weniger wissen sie«, erklärte Seagull seinem Sohn. »Sie haben nicht den blassesten Schimmer.«

Und dann begannen die Bestechungsversuche. Kaum ein Tag verging, an dem der Seemann nicht ein Angebot erhielt. »Ich habe eine halbe Mark auf Euer Boot gesetzt, Alan. Wenn Ihr gewinnt, bekommt Ihr von mir einen Shilling.« Noch interessanter waren die Vorschläge der Leute, die wollten, dass Seagull das Rennen verlor. »Ich kenne die Männer aus Southampton nicht«, gestand ein Kaufmann ihm offen. »Das Ergebnis sicher vorhersagen kann man nur, wenn Ihr versprecht zu verlieren.«

»Es ist komisch«, meinte Seagull zu Willie. »Die Leute kommen auf einen zu wie die Wellen auf dem Meer, und man kann sie einfach umschiffen. Im Augenblick sieht es aus, als würde ich auf jeden Fall Geld bekommen, ganz gleich, ob ich gewinne oder verliere.« Er grinste. »Es spielt keine Rolle, verstehst du? Vergiss eines nicht, mein Sohn«, fügte er streng hinzu. »Überlass das Wetten den anderen. Halt einfach den Mund und nimm das Geld.«

Am meisten legte sich Burrard ins Zeug, der am Ende der ersten Woche zu Alan meinte: »Eine Mark für Euch, wenn Ihr gewinnt.« Als die zweite Woche verstrich, sagte er: »Ich habe noch mehr Geld gesetzt. Also zwei Mark.«

»Ist er übergeschnappt?«, fragte Willie.

»Nein, mein Sohn. Er ist nur reich.«

Währenddessen blieb Totton so ruhig und gelassen wie immer. Seagull hatte Achtung vor dieser Haltung. »Ich mag ihn zwar nicht, mein Sohn«, räumte er ein. »Aber er weiß, wann man schweigen muss.«

»Und wirst du gewinnen, Vater?«, erkundigte sich Willie.

Doch zu seinem Ärger summte sein Vater an Stelle einer Antwort nur ein Seemannslied vor sich hin. Aber als Willie fragte, ob er beim Rennen mitfahren dürfe, betrachtete dieser ihn schmunzelnd und stimmte nach kurzem Zögern zu.

Das war eine große Ehre, und Willie musste das sofort seinen Freunden berichten. Diese waren gebührend beeindruckt. Jonathan riss vor Erstaunen die Augen auf und traute zunächst seinen Ohren nicht. »Ist es wirklich wahr, dass du mitdarfst? Ich bin ganz sicher«, fügte er verschwörerisch hinzu, »dass du gewinnst.« Es war wunderbar.

Aber würde Willies Vater wirklich gewinnen? Willie hatte zwar in jener Nacht in Bisterne Jonathan gegenüber damit geprahlt und würde seine Aussage bestimmt nicht zurücknehmen. Doch er hätte nur zu gerne gewusst, was sein Vater im Schilde führte.

In Wahrheit jedoch hätte Alan Seagull diese Frage selbst nicht beantworten können. Natürlich beabsichtigte er nicht auszuposaunen, wie schnell sein Schiff wirklich war. Lieber hätte er das Rennen verloren. Aber das Meer war unberechenbar. Vielleicht würde das andere Boot havarieren. Das Meer und das Schicksal würden die Entscheidung treffen und sich durch nichts beeinflussen lassen. Also war Alan Seagull frohen Mutes, bis er am Abend drei Tage vor dem Rennen ein Gespräch mit seinem Sohn führte.

Beim Anblick des kleinen Willie ahnte er sofort, dass etwas im Argen lag, und auch die Verlegenheit des Jungen verhieß nichts Gutes. Dennoch kam die Frage für Alan Seagull völlig unerwartet:

»Vater, darf Jonathan auch beim Rennen mitfahren?«

Jonathan? Jonathan Totton? Der Sohn seines Konkurrenten? Entgeistert starrte der Seemann Willie an.

»Natürlich nur, wenn sein Vater es erlaubt«, fügte Willie hinzu.

Das wird er ganz sicher nicht tun, dachte Alan.

»Ich habe ihm gesagt, dass du vielleicht einverstanden bist. Er wiegt ja nicht viel«, erklärte Willie.

»Dann soll er doch auf dem anderen Boot mitfahren.«

»Das will er aber nicht. Er möchte mit mir zusammen sein. Und außerdem…«

»Was außerdem?«

Willie zögerte und meinte dann leise: »Das Boot aus Southampton verliert ja sowieso.«

»Das behauptest du, mein Sohn.« Alan schmunzelte. Dann jedoch kam ihm ein Gedanke, und er musterte seinen Sohn prüfend. »Glaubst du, dass ich gewinnen werde?«

»Selbstverständlich, Vater.«

»Will Jonathan deshalb bei uns mitfahren? Weil du ihm gesagt hast, dass wir gewinnen?«

»Ich weiß nicht, Dad.« Willie wirkte betreten. »Vielleicht.«

»Hast du ihm von unserem Geschäft erzählt?«

»Nein, Vater, das heißt, nicht richtig.« Eine Pause entstand. »Kann sein, dass ich mich verplappert habe.« Willie blickte zu Boden und sah seinen Vater dann flehend an. »Er wird nichts verraten, Vater. Ich schwöre.«

Alan Seagull überlegte schweigend.

In Lymington wussten einige Leute über Alan Seagulls Geschäfte Bescheid. Zum Beispiel seine Mannschaft. Und auch ein paar Kaufleute, aus dem offensichtlichen Grund, weil er in ihrem Auftrag die Wolle schmuggelte. Doch Totton gehörte nicht zu ihnen, und dazu würde es auch nie kommen. In Seagulls Kreisen gab es eine einfache Faustregel: Man redete nicht mit Männern wie Totton. Denn wenn er und seinesgleichen im Bilde waren, würde sich die Sache früher oder später herumsprechen. Dann würde man die Boote abfangen, die Männer bestrafen und die Geschäfte stören. Und – was ihm merkwürdigerweise am wichtigsten war – ihn, Alan Seagull, in seiner Freiheit beschneiden.

Wusste Totton schon Bescheid? Vielleicht noch nicht. Seagull beschloss, dass er Jonathan eine Weile beobachten musste. Gewiss würde er ihm anmerken, ob er es seinem Vater gebeichtet hatte. Wenn ja, waren ihm die Hände gebunden. Wenn nein… überlegte er. Falls der Junge wirklich mitfuhr, konnten ihn seine Männer ja unauffällig über Bord werfen. Er zuckte die Achseln. Aber Totton würde seinem Sohn die Mitfahrt ohnehin nicht erlauben.

»Sprich kein Wort mehr über unser Geschäft. Halt den Mund«, befahl er seinem Sohn. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.

 

 

Jonathan traf seinen Vater schlafend in einem Stuhl in der Halle unter der Empore an.

Seit dem Tod seiner Frau hatte Totton sich angewöhnt, nach der Arbeit auf einem Stuhl auszuruhen, bis er – täglich zur gleichen Zeit – mit seinem Sohn zu Abend aß. Manchmal blickte er nur reglos ins Leere. Hin und wieder döste er auch ein, so wie heute, als Jonathan hereinkam.

Nachdem Jonathan eine Weile still vor ihm gestanden hatte, berührte er ihn am Handgelenk. »Vater?«, sagte er leise.

Totton schreckte hoch und starrte den Jungen an. Obwohl er nicht tief geschlafen hatte, brauchte er einen Moment, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Jonathans Miene zeigte den leicht zweifelnden Ausdruck eines Kindes, das um etwas bittet, ohne sich dabei große Hoffnungen zu machen.

»Ja, Jonathan.«

»Darf ich dich etwas fragen?«

Totton überlegte. Inzwischen war er hellwach, setzte sich auf und versuchte zu lächeln. Wenn die Bitte nicht allzu albern war, würde er seinen Sohn vielleicht damit überraschen, dass er seine Zustimmung gab. Denn er wollte ihm gern eine Freude machen. »Du darfst.«

»Nun. Die Sache ist…« Jonathan holte tief Luft. »Du weißt schon, das Rennen zwischen deinem Schiff aus Southampton und Seagulls Boot…«

»Darüber weiß ich in der Tat Bescheid.«

»Na ja, wahrscheinlich ist er sowieso nicht einverstanden, aber wenn Alan Seagull ja sagt, meinst du, ich könnte dann mit ihm mitfahren?«

»Auf Seagulls Boot?« Totton starrte ihn an. Es dauerte eine Weile, bis er verstand. »Beim Rennen?«

»Ja. Es geht ja nur bis zur Insel Wight«, fügte Jonathan voller Hoffnung hinzu. »Wir fahren schließlich nicht aufs offene Meer hinaus.«

Totton antwortete nicht, denn ihm fehlten die Worte. Er wandte den Blick ab und schaute zur Tür des Wohnzimmers hinüber, wo seine Frau immer gesessen hatte. »Weißt du nicht«, meinte er dann, »dass ich gegen Seagulls Boot gewettet habe? Du willst mit meinem Gegner mitsegeln? Einem Mann, von dem ich wünsche, dass du ihm aus dem Weg gehst?«

Jonathan schwieg. Ihm war eigentlich nur wichtig, mit Willie zusammen zu sein, doch er hielt es für unklug, das zu erwähnen.

»Was werden die Leute dazu sagen?«, sprach Totton leise weiter.

»Keine Ahnung.« Jonathan war enttäuscht. An die Meinung der anderen Leute hatte er gar nicht gedacht. Er war ratlos.

Henry Totton blickte weiter in die Ferne. Er war entsetzt und gleichzeitig verärgert, und er brachte es eine Weile kaum über sich, seinen Sohn anzusehen. »Ich bedauere es, Jonathan«, meinte er schließlich, »dass du offenbar keine Loyalität gegenüber mir oder deiner Familie empfindest.« Die eigentlich nur noch aus mir besteht, fügte er im Geiste hinzu.

Und plötzlich wurde Jonathan klar, dass er seinen Vater gekränkt hatte. Es tat ihm Leid, aber er wusste dennoch nicht, was er tun sollte.

Dann zuckte Henry Totton schicksalsergeben die Achseln – offenbar war es vergebliche Liebesmüh, zwischen ihm und seinem Sohn eine liebevolle Beziehung aufbauen zu wollen. »Tu, was du nicht lassen kannst, Jonathan«, seufzte er verzweifelt. »Fahr mit wem du möchtest.«

Jonathan fühlte sich zwischen der Liebe zu seinem Vater und seinem sehnlichen Wunsch, bei Willie zu sein, hin und her gerissen. Ihm war klar, dass er jetzt vorschlagen musste, zu Hause zu bleiben oder auf dem anderen Schiff zu segeln. Nur so konnte er seinem unnahbaren Vater zeigen, wie sehr er ihn liebte, obwohl er nicht sicher war, ob dieser es verstehen würde. Im Grunde seines Herzens jedoch sehnte er sich danach, mit Willie und dem sorglosen Seemann in ihrem kleinen Schiff, dessen wahre Geschwindigkeit niemand kannte, über das Wasser zu sausen. Und da er erst zehn Jahre alt war, siegte die Sehnsucht. »Oh, danke, Vater«, rief er deshalb, küsste ihn und rannte los, um Willie die Botschaft zu überbringen.

 

 

Willie erschien am nächsten Tag. »Mein Vater sagt, du darfst mit«, meldete er fröhlich. Henry Totton war ausgegangen und hörte diese Nachricht nicht.

Nach einem kurzen Aprilschauer war wieder die Sonne hervorgekommen. Da es die beiden Jungen nach dieser Freudenbotschaft nicht im Haus hielt, zogen sie los, um etwas zu unternehmen. Zuerst überlegten sie, ein paar Kilometer nach Norden zu laufen, wo sie in den Wäldern von Battramsley spielen wollten. Doch als der Weg nach etwa anderthalb Kilometern leicht bergab führte, bemerkten sie etwas auf einer Anhöhe dicht vor ihnen.

»Lass uns zu den Ringen gehen«, schlug Jonathan vor.

Die Stelle, auf die sie zuhielten, war eine Besonderheit in der Landschaft rund um Lymington. Es handelte sich um ein von Erdwällen umgebenes Gelände auf einem niedrigen Hügel, der den nahe gelegenen Fluss überblickte. Obwohl man den Ort als Buckland Rings bezeichnete, hatten die niedrigen, mit Gras bewachsenen Erdwälle eher die Form eines Rechteckes als eines Kreises. In der Keltenzeit, noch vor dem Einmarsch der Römer, hatten sie vermutlich als Festung, als Viehpferch oder sogar als beides gedient. Doch auch wenn die Nachfahren dieser Menschen noch immer in Lymington lebten, war in Vergessenheit geraten, dass vor mehr als tausend Jahren Tiere das süße Gras abgeweidet und Kinder auf den Mauern dieser Siedlung gespielt hatten.

Der Ort eignete sich ausgezeichnet zum Herumtollen. Das Gras war durch den Regen noch glitschig, und Jonathan hatte die Festung gerade zum dritten Mal gegen Willies Angriff verteidigt, als sie einen stattlichen Mann auf sich zureiten sahen. Dieser bemerkte sie, winkte ihnen vergnügt zu, stieg ab und kam näher.

»So«, meinte er. »Ihr zwei kämpft hier an Land, und bald werden eure Väter eine Seeschlacht schlagen.«

Richard Albion war ein ausgesprochen freundlicher Herr. Seine Vorfahren hatten den Namen Alban geführt, der in den letzten beiden Jahrhunderten zu dem leichter auszusprechenden Albion geworden war – so wie ein Bach sich den leichtesten Weg sucht, allmählich sein Bett verändert und weiterhin gemächlich dahinplätschert. Die Albions hatten als adelige Förster ihre Stellung in der ortsansässigen Aristokratie behauptet und gute Partien gemacht. Albions Frau entstammte der Familie Button, die Güter unweit von Lymington besaß. Richard Albion, der die Mitte des Lebens inzwischen überschritten hatte, wies mit seinem grauen Haar und den leuchtend blauen Augen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Urahn, dem Förster Cola, auf, der vor vier Jahrhunderten hier gelebt hatte. Von Natur aus großzügig, hielt er oft an, um einem Kind einen Viertelpenny zu schenken, und er kannte die meisten Bewohner Lymingtons vom Ansehen. Deshalb wusste er sofort, wer die beiden Jungen waren, die hier bei Buckland Rings spielten. Er plauderte freundlich mit ihnen über das bevorstehende Rennen.

»Werdet Ihr zusehen, Sir?«, fragte Jonathan.

»In der Tat. Das lasse ich mir auf keinen Fall entgehen. Wahrscheinlich wird die ganze Grafschaft kommen. Offen gestanden«, fügte er hinzu, »war ich gerade in Lymington, um selbst eine Wette abzuschließen. Aber ich habe niemanden gefunden, der einschlagen wollte.« Er lachte. »Die ganze Stadt hat schon so viel gesetzt, dass niemand mehr wetten will. Siehst du, was dein Vater angerichtet hat, Jonathan Totton?«

»Und auf wen wolltet Ihr wetten, Sir?«, erkundigte sich Willie.

»Nun«, erwiderte der Adelige wahrheitsgemäß, »ich muss gestehen, dass ich auf den Sieg des Schiffes aus Southampton setze. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich weiß, wer gewinnen wird. Ich stehe nur gerne auf derselben Seite wie Henry Totton.«

»Und« – Jonathan war nicht sicher, ob sich diese Frage gehörte, aber Albion war kein Mann, der auf Förmlichkeiten Wert legte – »um wie viel wolltet Ihr wetten, Sir?«

»Ich habe fünf Pfund geboten«, entgegnete Albion mit einem Kichern. »Und kein Mensch wollte mein Geld!« Er grinste die beiden Jungen an. »Hat einer von euch vielleicht Interesse?«

Jonathan senkte den Kopf, und Willie antwortete in ernstem Ton: »Mein Vater hat gesagt, man darf nicht wetten. Er findet, das tun nur Narren.«

»Ganz recht!«, rief Albion aufgeräumt aus. »Und du sollst immer auf deinen Vater hören.« Mit diesen Worten stieg er aufs Pferd und ritt davon.

»Fünf Pfund«, meinte Jonathan zu Willie. »Das ist viel Geld, um es zu verlieren.«

Die zwei spielten weiter.

 

 

Obwohl Alan Seagull seinem Sohn noch nicht verziehen hatte, dass dieser so dumm gewesen war, Jonathan das Geheimnis zu verraten, war er bei Willies Anblick an diesem Nachmittag verhältnismäßig guter Laune. Er hatte gerade das Geld zusammengezählt, das ihm versprochen worden war. Selbst wenn er das Rennen verlor, würde er bei dieser einen Fahrt mehr verdienen als im ganzen letzten Jahr. Und wenn er gewann, würde er durch Burrards Angebot noch größeren Profit machen. Allerdings musste Seagull, der sich für einen guten Menschenkenner hielt, zugeben, dass ihn die Angelegenheit an sich in Erstaunen versetzte. Aber er rechnete eigentlich nicht mehr mit einer weiteren Überraschung, bis Willie auf ihn zukam und ihn fragte: »Kennst du Richard Albion, Vater?«

»Ja, mein Sohn.«

»Wir haben ihn heute bei Buckland Rings getroffen. Er hatte vor, auf das Rennen zu wetten. Darauf, dass du verlierst. Aber niemand wollte einschlagen, denn alle hatten ihr Geld schon verwettet.«

»Oh.« Alan zuckte die Achseln.

»Rate mal, wie viel er setzen wollte, Vater.«

»Ich weiß nicht, mein Sohn. Sag es mir.«

»Fünf Pfund.«

Fünf Pfund. Noch eine Wette über fünf Pfund! Verblüfft schüttelte Seagull den Kopf. Also war noch jemand bereit, eine hohe Summe darauf zu setzen, dass er verlor. Auch wenn fünf Pfund für Albion vermutlich nicht viel bedeuteten, für den Seemann war es ein kleines Vermögen. Nachdem sein Sohn ins Haus gelaufen war, saß Seagull noch lange da, starrte aufs Wasser hinaus und überlegte.

 

 

Es war gerade dunkel geworden, als Jonathan die Schritte seines Vaters auf der Empore hörte.

Bis kurz vor ihrem Tod, als sie nicht mehr hatte aufstehen können, war Jonathans Mutter stets an sein Bett gekommen, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben. Manchmal hatte sie sich eine Weile zu ihm gesetzt und ihm eine Geschichte erzählt. Und bevor sie ging, sprach sie stets mit ihm ein kurzes Gebet. Ein paar Tage nachdem sie gestorben war, hatte Jonathan seinen Vater gefragt: »Wirst du mir von nun an gute Nacht sagen?«

»Warum, Jonathan?«, hatte Totton entgegnet. »Du fürchtest dich doch nicht etwa vor der Dunkelheit?«

»Nein, Vater.« Unsicher hielt Jonathan inne. »Aber Mutter hat es immer gemacht.«

Seitdem brachte Totton seinen Sohn an den meisten Abenden zu Bett. Während der Kaufmann die Stufen hinaufging, überlegte er meist, worüber er mit Jonathan sprechen sollte. Sollte er ihn fragen, was er heute in der Schule gelernt hatte? Oder sollte er ihm von einem wichtigen Ereignis in der Stadt erzählen? Dann trat er ins Zimmer, stand still an der Tür und betrachtete seinen Sohn, der in seinem Bettchen lag.

Und wenn Totton nichts einfiel, was er sagen konnte, schwieg Jonathan einen Moment und murmelte dann: »Danke, dass du gekommen bist, Vater. Gute Nacht.«

An diesem Abend jedoch hatte Jonathan eine Ansprache vorbereitet. Den ganzen Nachmittag lang hatte er darüber nachgedacht. Und als sein Vater in der Tür erschien und ihn stumm ansah, ergriff er das Wort. »Vater.«

»Ja, Jonathan.«

»Ich muss nicht unbedingt mit Seagull mitfahren. Wenn es dir lieber ist, segle ich auf deinem Boot.«

Zunächst antwortete sein Vater nicht. »Es geht nicht darum, was mir lieber wäre, Jonathan«, sagte er schließlich. »Du hast deine Entscheidung getroffen.«

»Ich könnte es mir doch anders überlegen, Vater.«

»Wirklich? Das finde ich nicht.« Tottons Stimme klang ein wenig kühl. »Außerdem hast du deinem Freund schon versprochen, dass du mitkommst.«

Der Junge begriff. Er ahnte, dass er seinem Vater wehgetan hatte und dass dieser sich nun durch Unnahbarkeit und Zurückweisung rächte. Inzwischen tat es ihm Leid, ihn gekränkt zu haben. Und er befürchtete, seine Liebe zu verlieren, denn schließlich hatte er niemanden außer ihm. Wenn er es ihm nur nicht so schwer gemacht hätte!

»Er hat gewiss Verständnis, Vater. Ich würde lieber auf deinem Schiff mitfahren.«

Das stimmt nicht, dachte der Kaufmann, aber er sagte: »Du hast ihm dein Wort gegeben, Jonathan, und das musst du halten.«

Dann sprach Jonathan die zweite Frage an, die ihn schon den ganzen Tag beschäftigte. »Vater, du erinnerst dich doch noch an unser Gespräch im Salzgarten. Du hast mir gesagt, ich dürfe mein Versprechen nicht brechen, wenn ich Stillschweigen geschworen hätte.«

»Ja.«

»Nun… Ich erzähle dir jetzt etwas, und ich bitte dich, es geheim zu halten. Aber ich verrate dir nicht alles, denn in diesem Fall würde ich das andere Geheimnis preisgeben… Wäre das in Ordnung?«

»Möchtest du mir etwas anvertrauen?«

»Ja.«

»Ein Geheimnis?«

»Doch es muss unter uns bleiben, Vater. Weil du mein Vater bist«, fügte er hoffnungsvoll hinzu.

»Ich verstehe. Also?«

»Na ja…« Jonathan geriet ins Stocken. »Vater, ich glaube, du wirst dieses Rennen verlieren.«

»Warum?«

»Das darf ich dir nicht sagen.«

»Aber du bist sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Und du hast mir sonst nichts mehr mitzuteilen, Jonathan?«

»Nein, Vater.«

Totton schwieg eine Weile. Dann ging er langsam aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Gute Nacht, Vater«, rief Jonathan ihm nach, aber er erhielt keine Antwort.

 

 

Am Morgen des Rennens war der Himmel bewölkt. In der Nacht hatte der Wind gedreht und wehte nun aus Norden. Alan Seagull nahm an, dass er noch einmal die Richtung wechseln würde. Aufmerksam spähte er über den Meeresarm. Eines stand fest: Die Überfahrt zur Insel würde nicht lange dauern.

Und danach? Er ließ den Blick suchend über den Kai schweifen, wo sich die Zuschauer drängten.

Gestern war wirklich ein seltsamer Tag gewesen. Er hatte zwar schon öfter Abmachungen getroffen, doch noch nie eine derart unerwartete. Und obwohl es sehr überraschend gekommen war, hatten sich viele Dinge dadurch aufgeklärt.

Am Kai ging es recht lebhaft zu. Ganz Lymington hatte sich dort versammelt. Die beiden Schiffe, die nebeneinander auf dem Wasser lagen, hätten nicht verschiedener sein können. Das Boot aus Southampton war kein großes Handelsschiff, sondern ein kleinerer Kreuzer, ein so genannter Leichter. Er fasste vierzig Tonnen, was bedeutete, dass er vierzig der großen Tausend-Liter-Fässer Wein aufnehmen konnte, die man für Transporte vom Kontinent benutzte. Der Einmaster bestand aus klinkergebautem Eichenholz und verfügte über ein viereckiges Segel. Verglichen mit den riesigen, sechsmal so großen Dreimastern, welche die englischen Kaufleute für gewöhnlich von Werften auf dem Kontinent anfertigen ließen, wirkte es ziemlich schlicht. Doch es erfüllte seinen Zweck in den Küstengewässern und konnte ohne Schwierigkeiten den Ärmelkanal zur Normandie überqueren. Die Mannschaft bestand aus zwanzig Seeleuten.

Seagulls Boot war von ähnlicher Bauart, allerdings nur halb so groß. An Bord befanden sich – abgesehen von den beiden Jungen – eine handverlesene zehnköpfige Besatzung und Seagull selbst.

Die Ladung, welche die Schiffe an Bord hatten, war typisch für eine Fahrt zur Insel Wight: Wollsäcke, Stoffballen, Weinfässer und ein paar Ballen Seide. Als zusätzlichen Ballast hatte das Boot aus Southampton noch zehn Zentner Eisen dabei. Beide Schiffe waren vom Bürgermeister überprüft und für voll beladen erklärt worden.

Die zwei Parteien hatten die Bedingungen des Rennens sorgfältig miteinander ausgehandelt. Nun rief der Bürgermeister die Kapitäne zu sich an den Kai und gab ihnen seine Anweisungen.

»Ihr fahrt mit voller Ladung nach Yarmouth. Dort löscht Ihr die Ladung am Kai. Dann kehrt Ihr leer, aber mit derselben Besatzung zurück. Wer zuerst wieder da ist, hat gewonnen.« Er betrachtete die beiden streng. Den großen, schwarzbärtigen Seagull kannte er, den Kapitän aus Southampton hatte er hingegen noch nie gesehen. »Wenn ich die Flagge schwenke, dürft Ihr Segel setzen oder rudern, wie es Euch beliebt. Doch wer das andere Boot irgendwann während des Rennens behindert, wird ausgeschlossen. Ich entscheide über den Sieg, Einspruch ist ausgeschlossen.«

Die Hin- und Rückfahrt, beladen und leer, das Löschen der Ladung, die Möglichkeit, Segel oder Ruder zu benutzen, und das unberechenbare Wetter – waren so viele Unwägbarkeiten, dass der Bürgermeister beschlossen hatte, das Rennen selbst zu überwachen. Allerdings konnte er persönlich keinen Grund erkennen, warum das größere Boot unterliegen sollte, und er hatte dementsprechend gewettet.

Der Kapitän aus Southampton nickte und blickte Seagull finster an, hielt ihm aber dennoch die Hand hin. Der Seemann schüttelte sie kurz, allerdings ohne seinen Gegenüber anzusehen. Stattdessen suchte er weiter die Menge ab.

Endlich hatte er die gewünschte Person gefunden. Er wandte sich zu seinem Boot und rief Willie zu sich. »Siehst du Richard Albion, mein Sohn?« Er wies auf den Herrn. »Lauf rasch zu ihm und frage ihn, ob er immer noch fünf Pfund darauf wetten will, dass ich das Rennen verliere.«

Willie gehorchte und überbrachte wenig später die Antwort: »Er hat ja gesagt, Vater.«

»Gut.« Seagull nickte. »Geh wieder zu ihm und teile ihm mit, dass ich die Wette annehme, sofern er gegen einen einfachen Mann wetten möchte.«

»Du, Vater? Du willst wetten?«

»Richtig, mein Sohn.«

»Fünf Pfund? Hast du denn fünf Pfund, Vater?« Der Junge betrachtete ihn erstaunt.

»Vielleicht ja, vielleicht nein.«

»Aber du wettest doch nie, Vater!«

»Willst du mir widersprechen, mein Junge?«

»Nein, Vater, aber…«

»Dann lauf los.«

Also rannte Willie zurück zu Richard Albion, den das Angebot fast ebenso erstaunte wie den Jungen. Dennoch kam er ohne zu zögern auf Seagulls Boot zu. »Habe ich richtig gehört? Ihr wollt auf dieses Rennen wetten?«, fragte er.

»Ganz recht.«

»Nun.« Albion lächelte breit. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich den Tag je erleben würde, an dem Alan Seagull eine Wette abschließt. Wie hoch ist Euer Einsatz?« Aus seinen funkelnden blauen Augen sprach die leichte Besorgnis, der Seemann könnte sich übernehmen. »Da niemand meine fünf Pfund will, erkläre ich mich mit jeder Summe einverstanden.«

»Gegen fünf Pfund habe ich nichts einzuwenden.«

»Seid Ihr sicher?« Der reiche Adelige wollte den Seemann nicht ruinieren. »Allmählich erscheinen mir fünf Pfund auch ein wenig viel. Sagen wir lieber eine Mark. Oder zwei, wenn es Euch recht ist.«

»Nein. Ihr habt mir fünf Pfund geboten, und ich schlage ein.«

Albion zögerte nur kurz. Es wäre eine Beleidigung gewesen, den Seemann weiter zu befragen. »Die Wette gilt!«, rief er aus und schüttelte Alan die Hand, bevor er sich den Umstehenden zuwandte. »Ihr werdet nie raten, was geschehen ist!«, verkündete er.

Kurz darauf tuschelte ganz Lymington über diese erstaunliche Neuigkeit. Und bald waren verschiedene Vermutungen im Umlauf, was das wohl zu bedeuten hatte. Warum gab Seagull so plötzlich eine lebenslange Gewohnheit auf? Hatte er den Verstand verloren? Besaß er überhaupt fünf Pfund, oder hatte er einen Geldgeber? Eines jedenfalls schien klar: Wenn Seagull eine Wette abschloss, wusste er offenbar etwas, das sonst niemand ahnte.

»Er weiß, dass wir gewinnen werden!«, jubelte Burrard begeistert.

Verhielt sich das so? Diejenigen, die gegen den Seemann gewettet hatten, wirkten ein wenig bestürzt. Einige Umstehende wandten sich ängstlich an Totton. »Was geht da vor?«, erkundigten sie sich. »Wir haben zu Euch gehalten«, erinnerten sie ihn.

Henry Totton hatte sich bereits einige Einwände anhören müssen, als den Zuschauern auffiel, dass sein Sohn sich auf Seagulls Schiff befand.

»Euer Sohn fährt bei Eurem Gegner mit!«, entrüsteten sie sich.

»Er ist mit dem Jungen von Seagull befreundet und wollte unbedingt mit ihm zusammen sein«, erwiderte Totton gelassen.

»Ich hätte es ihm verboten«, merkte ein Kaufmann mürrisch an.

»Warum?«, entgegnete Totton mit einem Lächeln. »Er macht das Boot nur schwerer und wird allen im Weg stehen. Sicher kostet er Seagull mindestens eine Länge.« Er erntete einige Lacher für diese gewitzte Antwort.

Und als man ihn wieder missbilligend ansah, zuckte er nur die Achseln. »Seagull hat eine Wette abgeschlossen. So wie wir alle.«

»Schon. Aber er wettet sonst nie.«

»Und das ist vermutlich klug von ihm.« Er blickte sie an. »Hat denn niemand von Euch daran gedacht, dass er vielleicht einen Fehler gemacht hat? Er könnte verlieren.« Und angesichts dieser sehr vernünftigen Bemerkung gab es nicht mehr viel zu sagen. Allerdings konnten sich die Einwohner von Lymington des Gefühls nicht erwehren, dass an dieser Angelegenheit womöglich etwas faul war.

Und dieser Verdacht beschränkte sich nicht auf die Zuschauer. Unten im Boot sah Willie Seagull seinen Vater neugierig an. Der Seemann lehnte, die Kappe keck auf dem Kopf, bequem an einem Weinfass. »Was führst du im Schilde, Vater?«, flüsterte Willie.

Doch Seagull antwortete darauf nur mit einem kurzen Seemannslied:

 

Ob Wind oder Wasser das Schicksal lenkt,

Es kommt immer anders, als man denkt.

 

Mehr konnte Willie ihm nicht entlocken. »Auf die Plätze, fertig, los!«, rief der Bürgermeister.

Jonathan Totton war überglücklich. Mit seinem Freund Willie und dem Seemann auf einem Boot zu sein – und noch dazu anlässlich eines solchen Ereignisses – erschien ihm wie der Einzug ins Paradies.

Ihm bot sich ein beeindruckender Anblick. Der kleine, von hohen, grünen Ufern gesäumte Fluss schimmerte silbrig. Der Himmel war zwar bedeckt, leuchtete aber hellgrau. Wolkenbänke erstreckten sich nach Süden. Weiße Möwen kreisten um die Maste und über dem Schilf. Ihre Schreie hallten über das Wasser. Inzwischen hatten die beiden Boote die Mitte des Flusses erreicht. Das Schiff aus Southampton hielt sich am östlichen Ufer. Schon vom Kai aus hatte es riesig gewirkt. Nun erschien Jonathan der Leichter mit seinen erhöhten Brücken an Bug und Heck wie ein Koloss, vor allem im Vergleich zu dem Fischerboot.

Die Mannschaft war bereit. Vier Matrosen besetzten die Ruder, die jedoch nur dazu dienten, das Schiff in der Mitte des Stroms zu halten. Die Übrigen schickten sich an, Segel zu setzen. Seagull stand am Steuer. Die beiden Jungen hatten sich vor ihn auf den Boden gekauert. Als Jonathan das Gesicht des Seemanns und seinen schwarzen Bart betrachtete, der sich vom Himmel abhob, kam er ihm für einen Moment seltsam bedrohlich vor. Doch er tat diesen Gedanken als albern ab. Offenbar hatte der Bürgermeister am Ufer die Flagge geschwenkt, denn Seagull nickte und sagte: »Los.« Die Jungen sahen zu, wie das viereckige Segel mit einem Rauschen gehisst wurde. Die vier Männer an den Rudern legten sich in die Riemen, und bald segelten sie, angetrieben vom Nordwind, den Strom entlang.

Als Jonathan zum Kai zurückblickte, sah er, dass sein Vater sie beobachtete. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte ihm zugewinkt, aber er tat es nicht, denn er befürchtete, ihn damit zu verärgern. Bald wurde die Stadt auf ihrem Hügel immer kleiner. Kurz brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und tauchte die Dächer in ein unheimliches Licht. Dann schloss sich die Wolkendecke wieder, und es wurde grau. Sie segelten rasch flussabwärts. Nach einer Weile versperrten die Bäume am Ufer die Sicht auf die Stadt.

Da das kleinere Schiff rascher an Geschwindigkeit zulegte, hatten sie im Moment einen Vorsprung vor dem Boot aus Southampton. Sie machten weiter Fahrt. Zu ihrer Rechten lagen die baumlosen Weiten des Pennington Marschlands; links befand sich ein schmaler Streifen Sumpfland. Vor ihnen, jenseits einer breiten Sandbank, die durch die Flut nun völlig überschwemmt war, flossen die unruhigen Wasser des Solent.

Für Seeleute boten die Häfen am Solent einen bedeutenden Vorteil, auch wenn die Einfahrt in den Fluss von Lymington auf den ersten Blick recht schwierig wirken mochte. An der Flussmündung unterhalb von Beaulieu im Osten bis zu den Pennington Marschlands im Westen erstreckten sich gewaltige Moore, durch die verschiedene Bäche sich einen schmalen Weg gegraben hatten. Auf dem fruchtbaren Boden gediehen Schilf, Wasserpflanzen und unzählige Weichtiere, Schnecken und Würmer, die den verschiedensten Vogelarten als Nahrung dienten. Einige der Schreitvögel, Enten, Gänse, Kormorane, Reiher, Seeadler und Möwen, blieben das ganze Jahr über, andere zogen im Winter fort. Ein Paradies für Vögel also, allerdings auf den ersten Blick nicht für Seeleute. Dennoch bot die Landschaft Schiffen zwei bedeutende Pluspunkte. Der erste lag auf der Hand, denn das dreißig Kilometer breite Gewässer wurde durch das Massiv der Insel Wight geschützt, von deren östlichem und westlichem Ende aus man Zufahrt zum offenen Meer hatte. Doch noch wichtiger als die geschützte Lage waren die Gezeiten.

Der Tidenhub am Ärmelkanal lässt sich mit einer Wippe vergleichen, die sich über einen Angelpunkt hinweg hebt und senkt. An den jeweiligen Enden besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen Ebbe und Flut, in der Mitte schwappt zwar viel Wasser hin und her, der Meeresspiegel bleibt jedoch verhältnismäßig konstant. Da sich der Solent unweit dieses Angelpunktes befindet, machen sich die Gezeiten hier kaum bemerkbar. Außerdem hat die natürliche Barriere, die die Insel Wight bildet, noch einen weiteren Vorteil. Denn bei Ebbe oder Flut im Ärmelkanal wird der Solent von zwei Seiten her gefüllt, was dort wiederum zu einem ganz eigenen Ablauf der Gezeiten führt. Am westlichen Solent, wo Lymington liegt, kommt es für gewöhnlich zu einer sanften Flut, die etwa sieben Stunden lang ansteigt. Der hohe Wasserstand hält sich lange, zuweilen finden sogar zwei Fluten im Abstand von wenigen Stunden statt. Darauf folgt eine kurze, rasche Ebbe, die in der Meerenge am westlichen Ende der Insel Wight eine tiefe Rinne hinterlässt. Diese eignet sich vorzüglich für die Zufahrt von Schiffen in den großen Hafen von Southampton.

Doch auch das bescheidene Lymington war kein Stiefkind der Natur. Bei Hochwasser wurden die Sümpfe überflutet. Der kleine Kanal war gut zu sehen und tief genug für die Kiele der damals üblichen Handelsschiffe.

Als sie den Solent erreichten, schaukelte das Schiff in den vom Wind aufgewühlten Wellen. Doch da der Seegang nicht sehr schwer war, hatte Jonathan seine Freude daran. Vor ihnen, nur sechs Kilometer entfernt, erhoben sich die ausladenden Hügel der Insel Wight. Ihr Ziel, der kleine Hafen von Yarmouth, befand sich fast unmittelbar gegenüber. Im Osten konnte Jonathan den gewaltigen Solent sehen, der sich fast dreißig Kilometer weit erstreckte und der ihn an eine riesige graue Röhre erinnerte. Im Westen, jenseits der Sümpfe und Keyhavens, ragte eine lange, aus Sand und Kies bestehende Landzunge etwa anderthalb Kilometer weit ins Wasser und zeigte auf die Kreidefelsen der Insel. Durch die schmale Lücke dazwischen erkannte Jonathan das offene Meer. Gischt sprühte ihm ins Gesicht. Er war überglücklich.

Da der Wind von hinten blies, brauchten sie einfach nur mit ihm zu segeln. Der Rückweg hingegen würde schwieriger werden. Das Boot verfügte zwar über ein großes, in der Mitte angebrachtes Steuerruder, aber das primitive viereckige Segel eignete sich nicht sonderlich für das Kreuzen gegen den Wind. Vielleicht würden sie sogar rudern müssen. Jonathan vermutete, dass das für das kleinere Boot von Vorteil sein würde. Und dieser Vorteil schien unentbehrlich, denn das schwerere Schiff aus Southampton näherte sich zusehends. Gewiss würde es sie überholen, noch ehe sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten.

Zufrieden blickte Jonathan sich zu Willie um. Die beiden Jungen hatten sich inzwischen einen Platz unterhalb der kleinen Brücke gesucht, auf der Seagull stand. Doch während Jonathan gebannt das Meer betrachtete, saß Willie nur kopfschüttelnd da und runzelte finster die Stirn.

Jonathan rutschte zu ihm hinüber. »Was ist los?«, fragte er.

Zuerst antwortete Willie nicht, dann senkte er den Kopf und murmelte: »Ich begreife es nicht.«

»Was?«

»Warum mein Vater nicht das große Segel gesetzt hat.«

»Welches große Segel?«

»Das Segel, das da drin ist.« Willie wies mit dem Kopf auf einen Hohlraum unter dem Achterdeck. »Er hat ein großes Segel. Deshalb ist er ja schneller als die meisten Boote.« Mit dem Daumen deutete er auf das Schiff aus Southampton, das immer näher kam. »Bei diesem Rückenwind würden die uns sonst nämlich nie kriegen.«

»Vielleicht setzt er es noch.«

Willie schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Und dabei hat er fünf Pfund auf das Rennen gewettet. Ich weiß nicht, was er vorhat.«

Jonathan betrachtete das kleine, kinnlose Gesicht seines Freundes, das dem seines Vaters glich wie ein Ei dem anderen. Beim Anblick seiner finsteren Miene wurde ihm plötzlich klar, dass der komische kleine Junge, der mit ihm durch den Wald lief und am Fluss spielte, in vieler Hinsicht erwachsener war als er. Im Gegensatz zu wohlhabenden Kaufmannssöhnen halfen die Kinder der Bauern und Fischer ihren Vätern und Müttern bei der Arbeit. Sie trugen Verantwortung und wurden von ihren Eltern mehr oder weniger gleichberechtigt behandelt.

»Sicher weiß er, was er tut«, sagte Jonathan jetzt zu seinem Freund.

»Und warum hat er es mir dann nicht erzählt?«

»Mein Vater erzählt mir nie etwas«, erwiderte Jonathan, und auf einmal dämmerte ihm, dass das nicht stimmte. Sein Vater versuchte ständig, ihm etwas zu erklären, aber er, Jonathan, hörte nicht richtig zu.

»Er vertraut mir nicht«, sagte Willie bedrückt. »Er weiß, dass ich dir sein Geheimnis verraten habe.« Er sah Jonathan an. »Du hast es doch niemandem weitergegeben, oder?«

»Nein«, erwiderte Jonathan, was beinahe die Wahrheit war.

Sie hatten die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als das Schiff aus Southampton sie überholte. Jonathan hörte das Johlen der anderen Mannschaft, doch Seagull und seine Leute achteten nicht darauf. Während sie weiter auf Yarmouth zuhielten, war ihnen das andere Schiff etwa einen knappen Kilometer voraus.

Der Hafen von Yarmouth war kleiner als der von Lymington. Er wurde durch eine Sandbank, die gleichzeitig als Hafenmauer diente, vor den Strömungen des Solent geschützt. Sie waren immer noch etwa anderthalb Kilometer von der Hafeneinfahrt entfernt, als Jonathan etwas Seltsames bemerkte: Das Segel hing schlaff herab.

Seagull brüllte ein paar Befehle, worauf zwei der Männer eilig eines der Segel lockerten, während zwei weitere das andere festzurrten, sodass sich der Neigungswinkel änderte. Seagull beugte sich über das Steuer.

»Der Wind dreht!«, rief Willie. »Nord-Ost.«

»So wird die Rückfahrt leichter«, meinte Jonathan.

»Vielleicht.«

Auf dem Boot aus Southampton hatte man sich für dieselbe Vorgehensweise entschieden, doch man war im Vorteil, da man sich bereits näher an der Hafeneinfahrt befand. Bald sahen Jonathan und Willie, dass die Gegner wendeten und auf die schmale Rinne an der Sandbank zuhielten. Nachdem das Schiff in den sicheren Hafen eingefahren war, holte es die Segel ein. Es dauerte eine Weile, bis Seagulls Boot ebenfalls sein Ziel erreicht hatte. Kurz vor der Einfahrt bemerkte Jonathan, dass Alan Seagull zum Himmel blickte und die Wolken beobachtete. Sein übliches Schmunzeln war verflogen. Auf Jonathan machte er einen besorgten Eindruck.

Als sie anlegten, hatte das Schiff aus Southampton bereits Anker geworfen, und die Mannschaft war dabei, die Ladung zu löschen.

Die Stadt Yarmouth war ebenfalls eine Gründung des Feudalherrn von Lymington. Er hatte die Stadt im Schachbrettmuster östlich der Hafengewässer anlegen lassen. Obwohl es sich um eine kleine Ortschaft handelte, ging es sehr geschäftig zu, denn der Großteil des Handels auf der Insel Wight wurde hier abgewickelt.

Innerhalb der letzten hundert Jahre hatte man einen Kai gebaut und einen Hebekran anbringen lassen, damit die Schiffe gleich an den Docks entladen werden konnten, ohne die Fracht zuerst auf Leichter umpacken zu müssen.

Kaum hatte das Boot angelegt, als die Besatzung sich schon an die Arbeit machte. Während man Fallreepleitern zum Kai verlegte und den Kran in Bewegung setzte, klappten die Seeleute eine Seilwinde am Mast aus, mit der man schwerere Gegenstände wie Fässer vom Rahnock aus über Bord schwenken konnte. Jeder hatte seine Aufgabe. Selbst die beiden Jungen eilten, bewaffnet mit Seidenballen, Gewürzkisten und anderen Dingen, die sie tragen konnten, emsig zwischen Boot und Kai hin und her. Ein kurzer Blick sagte Jonathan, dass sie mit ihrer geringeren Ladung sicher einen Teil des Rückstands wieder aufholen würden. So beschäftigt war er, dass er gar nicht bemerkte, wie sich der Himmel über dem Hafen verdunkelte.

Aber Alan Seagull hatte es bemerkt. Anfangs hatte er seinen Männern beim Löschen der Ladung geholfen, doch als das letzte Weinfass wohlbehalten an Land war, sprang er auf den Kai, wo der Kapitän des anderen Schiffes die Entladungsarbeiten überwachte, und wies auf den Himmel.

Der vierschrötige Mann aus Southampton blickte in die angegebene Richtung und zuckte dann die Achseln. »Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, knurrte er.

»Mag sein.«

»Wir sind längst zurück, bevor es losgeht.«

»Das glaube ich nicht.«

Wie um Seagulls Worte zu bestätigen, wehte plötzlich eine Windböe heulend über die Dächer von Yarmouth und blies den beiden Männern Regentropfen ins Gesicht.

»Runter mit diesem Fass. Beeilung!«, brüllte der Kapitän seiner Mannschaft zu. »So, das wär’s.« Er drehte sich zu Seagull um. »Wir legen zuerst ab. Wenn Ihr nicht genug Mumm für die Überfahrt habt, ist das Euer Pech.« Mit diesen Worten wandte er Seagull den Rücken zu und kehrte zurück auf sein Schiff.

Allerdings hatte er sich, was die Abfahrt anging, geirrt, denn Seagulls Schiff legte als erstes ab und hielt auf die Hafenmündung zu. Seagull hatte den Männern befohlen zu rudern. Doch sie hatten vor dem Ablegen das Segel so gerafft, dass es beim Setzen die Form eines schmalen Dreiecks an Stelle eines Vierecks haben würde. Jonathan war überglücklich, dass sie den Hafen vor dem größeren Schiff verließen. Aber er erkannte an den angespannten Mienen der Seeleute und an Seagulls ernstem Blick, dass etwas im Argen lag.

»Das wird kein Spaziergang«, meinte Willie.

Kurz darauf passierten sie die Sandbank und befanden sich auf dem offenen Wasser.

Am meisten fürchtet der Seemann auf dem Solent den heftigen Sturm, der von Osten weht. Das geschieht zwar nicht oft, doch wenn es so weit ist, vorzugsweise im April, hat der Wind eine fürchterliche Gewalt.

Wenn der Sturm von Osten her den Ärmelkanal entlang bläst, bietet die Insel Wight keinen Schutz. Der Sturm weht am breiteren Ostende des Solent herein, fegt durch den immer schmaler werdenden Trichter und peitscht die Wogen auf. Das friedliche Paradies verwandelt sich in ein tosendes Inferno aus bräunlichem Wasser. Die Insel verschwindet hinter einem gewaltigen Nebel wabernder Gischt. Der Sturm heult über den Salzmarschen, als wolle er sämtliche Pflanzen entwurzeln und sie – Dornenbäume, Ginsterbüsche und was sonst noch so wächst – hoch über Keyhaven hinweg in den schäumenden Ärmelkanal schleudern. Wenn ein Seemann den großen Sturm von Osten kommen sieht, sucht er sich so schnell wie möglich ein geschütztes Plätzchen.

Alan Seagull schätzte, dass die Zeit gerade noch reichte.

Sobald sie die Sandbank hinter sich gelassen hatten, blies ihnen ein rauer Wind ins Gesicht. Die schaumgekrönten Wellen wurden allmählich zu riesigen Brechern, doch da das Boot nun höher auf dem Wasser lag, schaukelte es darüber hinweg. Inzwischen saßen alle zehn Matrosen, samt und sonders erfahrene Männer, an den Rudern. Seagull plante, so weit wie möglich vom Ufer wegzurudern, das Boot ein wenig gegen den Wind zu richten, ein kleines Segel zu setzen und dann – unter Einsatz von Segel, Steuerruder und Ruder – so nah es ging an die Flussmündung von Lymington heranzukommen. Da Lymington genau gegenüber lag, würden sie gewiss zu weit nach Westen abgetrieben werden. Aber wenigstens würden sie auf diese Weise verhältnismäßig gefahrlos die Untiefen über den Sümpfen überwinden. In den dortigen flachen Gewässern konnten sie dann die Küste entlangrudern, das Schiff in den Salzmarschen an Land setzen und sich wohlbehalten zu Fuß auf den Heimweg machen. Eines stand fest: Der Sieg des Rennens war völlig offen; das Wichtigste war, heil nach Hause zu kommen.

Der Wind wurde zwar stärker, wehte aber immer noch in Böen. Mit Hilfe des Steuerruders gelang es Seagull, den Bug des Bootes grob in nordöstlicher Richtung zu halten, wo Beaulieu lag. Währenddessen plagten sich seine Männer mit den langen Rudern ab. Etwa ein Dutzend Ruderschläge lang spürte Seagull den Wind im Gesicht, und das Boot machte verhältnismäßig gute Fahrt. Dann wieder wurden sie von einer Böe ergriffen, die das Schiff ins Schwanken brachte, den Bug herumwarf und ihnen einen Schwall Gischt ins Gesicht schleuderte. Fast blind zerrte Seagull am Steuerruder, um das Boot wieder zu wenden. Im Osten konnte er über dem Solent einen bräunlichen Regenschleier erkennen. Er rechnete nach, wie weit sie kommen könnten, bis der Regen einsetzte. Vielleicht bis zur Hälfe ihres Weges.

Es ging sehr langsam voran: hundert Meter, dann noch einmal hundert. Als sie etwa einen halben Kilometer hinter sich gebracht hatten, sahen sie das Schiff aus Southampton hinter sich auftauchen.

Das größere Boot nahm einen anderen Kurs. Es stellte den Bug direkt gegen den Wind, hielt sich näher an der Küste, und die Mannschaft begann, aus Leibeskräften nach Osten zu rudern. Offenbar beabsichtigten sie, ein größtmögliches Stück die Küste entlangzufahren, bevor der Wind zulegte, und dann die gesamte Strecke über den Solent mit Hilfe des Segels zu bewältigen. Den Wind halb im Rücken, wollten sie geradewegs auf den Hafen von Lymington zusegeln. Offenbar rechnete der Kapitän aus Southampton damit, dass Seagull zu weit nach Westen abgetrieben würde, sodass es ihm wegen des schlechten Wetters nicht mehr gelang umzukehren. Möglicherweise hatte er Recht.

»Segel setzen!«, rief Alan Seagull.

Zunächst schien sein Plan aufzugehen. Mit einem möglichst kleinen Segel wollte er den Wind ausnützen und mit Hilfe der Ruder das östliche Ende der Flussmündung von Lymington ansteuern. Immer wieder ergriff eine Sturmböe das Segel, sodass das Schiff ins Schlingern geriet und die Ruderer aus dem Takt kamen. Doch sie ließen nicht locker. Auch die Gischt wurde stärker. Aber ein gelegentlicher Blick zurück zur Insel sagte Seagull, dass sie gute Fahrt machten. Er sah das Boot aus Southampton, etwa in anderthalb Kilometer Abstand und parallel zur Hafeneinfahrt, stetig die Küste entlanggleiten. Seagull betrachtete die Wolken. Der Regen näherte sich rascher als erwartet.

»Ruder einziehen!« Überrascht befolgten die Männer den Befehl. Willie blickte seinen Vater fragend an. Doch an Stelle einer Antwort schüttelte dieser nur den Kopf. »Mehr Segel!«, rief er. Die Matrosen gehorchten. Das Schiff machte einen Satz. »Alle Mann nach Steuerbord.« Sie mussten das Gewicht nach vorne verlagern, um den Schwung des Segels auszugleichen. »Also los«, murmelte Seagull bei sich.

Die Wirkung war erstaunlich. Das Schiff erschauderte knirschend und schoss vorwärts. Inzwischen kam der Sturm so schnell näher, dass sie keine andere Wahl hatten, als die Überfahrt so rasch wie möglich hinter sich zu bringen, bevor er richtig losschlug. Über den schwankenden Bug hinweg betrachtete Seagull das nördliche Ufer. Natürlich würde er nach Westen abgetrieben werden, die Frage war nur, wie weit? Seagull bemühte sich, das sich aufbäumende Schiff auf Kurs zu halten, und lenkte sein Gefährt mitten hinaus auf den Solent.

Und dann kam der Sturm, angekündigt von einem Tosen und einem heftigen Regenguss. Es wurde stockfinster, und es schien, als würde das verheerende Unwetter alles niederwalzen und verschlingen, was sich ihm in den Weg stellte. Die Insel und die Wolken am Himmel waren nicht mehr zu sehen. Um sie herum tosten Gischt und sintflutartiger Regen. Die Brecher waren so hoch, dass sie das Boot überragten, das ein ums andere Mal in tiefen Wellentälern versank. Es war wie ein Wunder, dass es immer wieder auftauchte. Hastig rafften die Matrosen die Segel, während Seagull den Griff um das Steuerruder lockerte. Er konnte nichts anderes tun, als mit wenig Tuch vor dem Wind zu segeln und zu hoffen, dass sie dieses Inferno so schnell wie möglich hinter sich bringen würden.

Die beiden Jungen saßen vor ihm auf dem Deck und klammerten sich an der Reling fest. Seagull fragte sich, ob sie vielleicht bald seekrank wären und ob er sie unter Deck schicken sollte. Und dann fiel ihm ein, was er sich wegen Jonathan überlegt hatte, des Jungen, der sein Geheimnis kannte. Eine bessere Gelegenheit würde sich wohl nicht mehr ergeben. Ein kleiner Stoß mit dem Fuß, wenn gerade niemand hinsah, und der Kleine würde über Bord gehen. Und dass er bei diesem Seegang gerettet werden würde, war kaum vorzustellen.

Seagull konnte das Ufer nicht erkennen, doch er schätzte, dass der Wind, der sie nach Westen drückte, sie entweder nach Keyhaven oder zu der Landzunge aus Kies und Sand treiben würde, die in die Mündung des Solent hineinragte. In jedem Fall würden sie wohlbehalten am Strand landen können. Zum Glück gab es dort keine Riffe.

Er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Ihm erschien es wie eine kleine Ewigkeit, doch er war zu sehr mit dem Steuerruder beschäftigt, durfte nicht die Gewalt über das in der Brandung schlingernde Schiff verlieren. So konnte er nur schätzen, dass sie die Landzunge bald erreicht haben mussten. Endlich war er zu dem Schluss gelangt, dass es nicht mehr weit sein konnte, als der dichte Regen wegen einer Wolkenlücke plötzlich für einen Moment nachließ. Trotz der peitschenden Gischt und des heulenden Windes konnte er etwa einen drei viertel Kilometer weit sehen. Dann wurde die Sicht sogar besser, und ihm war, als schaue er in eine gewaltige graue Röhre. Und als sich das Boot schließlich aus einem Wellental erhob, bot sich ihm ein Anblick, der ihm den Atem verschlug.

Es war wie eine Geistererscheinung – ein riesiger, schmaler Dreimaster, etwa fünfzig Meter lang, tauchte gespenstisch hinter dem dünner werdenden Regenschleier auf. Seagull erkannte das Schiff sofort, denn in diesen Gewässern konnte es nur eines sein: eine große Galeere aus Venedig, die auf dem Weg nach Southampton in den Solent einfuhr. Diese Galeeren waren prächtige Schiffe und hatten sich seit dem Altertum kaum verändert. Sie waren mit drei Lateinsegeln bestückt und konnten mit ihren in drei Reihen angeordneten mächtigen Rudern fast alle Gewässer durchschiffen. Wie zur Zeit der Römer waren sie mit hundertsiebzig Ruderern, manchmal Galeerensklaven, bemannt. Da sie nicht über viel Lagerraum verfügten, transportierten sie nur wertvolle Güter: Zimt, Ingwer, Muskatnuss, Nelken und andere orientalische Gewürze; teure Düfte wie Weihrauch; Medikamente; Seide, Satin, Teppiche und Wandbehänge, Möbel und venezianisches Glas. Sie waren gewissermaßen schwimmende Schatzkammern.

Doch es war nicht der Anblick dieses Schiffes, der Seagull vor Schreck erstarren ließ, sondern sein Kurs. Denn die venezianische Galeere befand sich genau vor ihnen und blockierte die schmale Rinne, die aus dem Solent führte. Er stieß einen Schrei aus. Wie hatte er nur so dumm sein können? Wegen des heftigen Sturms hatte er eine wichtige Sache vergessen: die Gezeiten.

Die Ebbe hatte begonnen. Also hielten sie nicht auf die sichere Landzunge zu. Stattdessen blies der Wind sie direkt in die Strömung hinein, die sie unwiederbringlich aus dem Solent heraus und auf das tosende offene Meer tragen würde.

»An die Ruder!«, brüllte er. Er warf sich gegen das Steuer. Das Boot schlingerte heftig.

Er konnte gerade noch erkennen, wie die beiden Jungen, die nicht mit diesem Manöver gerechnet hatten, über das Deck in Richtung Wasser purzelten.

Als es in Lymington Abend wurde, hatten viele insgeheim die Hoffnung schon aufgegeben.

Eigentlich stimmte die Bezeichnung Abend nicht ganz, denn Türen und Fensterläden waren schon längst wegen des heulenden Sturms und des peitschenden Regens geschlossen. Der einzige Unterschied zum Nachmittag bestand darin, dass sich die Dunkelheit des Sturms so sehr verfinstert hatte, dass man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Nur Totton, der mit seinem Stundenglas genau wusste, wie spät es war, schloss aus den rieselnden Sandkörnern, dass sein Sohn nun schon seit acht Stunden vermisst wurde.

Als das Schiff aus Southampton eintraf, war die Freude zunächst groß gewesen. Im Angel Inn, wo sich die meisten der Leute, die gewettet hatten, einfanden, sammelte man nun die Wettgelder ein. Aber man stellte auch Fragen. Hatte das andere Boot die Überfahrt ebenfalls versucht? Ja. Es hatte Yarmouth zuerst verlassen. Welchen Kurs hatte es genommen? Geradeaus über das Wasser.

»Dann sind sie sicher nach Westen abgetrieben worden«, meinte Burrard. »Sie werden an der Küste entlangrudern müssen. Es wird gewiss noch eine Weile dauern.« Doch viele hörten aus seiner wegwerfenden Art einen Anflug von Besorgnis heraus, und man bemerkte, dass er keine Anstalten machte, seine Gewinne einzustreichen. Kurz darauf begab sich Totton zum Kai hinunter, und Burrard folgte ihm. Danach wurde die Stimmung im Angel Inn gedämpfter; den Leuten war die Lust zum Scherzen vergangen.

Unten am Kai reichte die Sicht nur bis hinunter zu den schwankenden Schilfhalmen. Nachdem Totton die Familie Seagull besucht hatte, marschierte er, begleitet von Burrard, den Pfad entlang zur Flussmündung. Hilflos starrte er etwa eine halbe Stunde lang durch den Regen auf das tosende Wasser, bis Burrard leise sagte: »Komm, Henry, wir können hier nichts tun.« Er brachte seinen Freund nach Hause.

Dann machte sich Burrard auf den Weg, um Erkundigungen einzuziehen. Nach einer Weile kehrte er zurück und leistete Totton Gesellschaft.

»Ich schulde dir noch die Wette«, meinte Totton geistesabwesend.

»Ganz recht, Henry«, erwiderte Burrard fröhlich, denn er verstand, dass sein Freund Ablenkung brauchte. »Wir klären das morgen.«

»Ich muss sie suchen gehen«, verkündete Totton wenig später unvermittelt.

»Henry, ich flehe dich an.« Burrard legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das Beste ist, wenn du hier wartest. Es ist unmöglich, da draußen jemanden zu finden. Doch wenn dein Sohn, nass bis auf die Haut, von seinem Fußmarsch die Küste entlang zurückkommt, ist er sicher froh, dich hier anzutreffen. Ich habe bereits vier Männer losgeschickt, die alles durchkämmen.« Dass zwei von ihnen schon aus Keyhaven zurückgekehrt waren und gemeldet hatten, sie hätten keine Spur von Seagulls Boot entdecken können, verschwieg er seinem Freund wohlweislich. »Komm, sag deinem hübschen Dienstmädchen« – diese Beschreibung der armen Frau hätte wohl die meisten Menschen in Erstaunen versetzt –, »sie soll uns eine Pastete und einen Krug Rotwein bringen. Ich verhungere.«

Nachdem Burrard dafür gesorgt hatte, dass sein Freund etwas zu sich nahm, saß er schweigend bei ihm in der leeren Halle. Totton starrte benommen geradeaus.

Dennoch wäre selbst Burrard überrascht gewesen, hätte er gewusst, woran Totton in diesem Augenblick dachte.

 

 

Einen Tag vor dem Rennen hatte Henry Totton seinen Rivalen Alan Seagull aufgesucht.

Der Seemann hatte alleine dagesessen und seine Netze geflickt, als er den ernst blickenden Kaufmann näher kommen sah. Zu seiner Verwunderung war Totton vor ihm stehen geblieben.

»Ich muss ein Geschäft mit Euch besprechen«, verkündete Totton. Als Seagull ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Auf das Rennen morgen ist viel Geld gesetzt worden.«

»So heißt es zumindest.«

»Aber Ihr wettet nicht.«

»Nein.«

»Ihr seid ein kluger Mann. Vermutlich sogar weiser als ich.«

Falls Seagull diese Auffassung teilte, ließ er sich das zumindest nicht anmerken. Tottons Eingeständnis verblüffte ihn, allerdings nicht so sehr wie das, was der Kaufmann als Nächstes sagte.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr gewinnen werdet.«

»Oh?« Der Seemann blickte ihn argwöhnisch an. »Wo habt Ihr denn das gehört?«

»Von meinem Sohn. Letzte Nacht.«

»Und wie« – Seagull betrachtete seine Netze – »kommt er auf diesen Gedanken?«

»Das verrät er mir nicht.«

Wenn das stimmte, überlegte Seagull, hatte der kleine Jonathan das Geheimnis besser bewahrt als sein eigener Sohn. Aber entsprach das wirklich der Wahrheit, oder wollte Totton ihn unter Druck setzen? »Vermutlich wird das vom Wetter abhängen«, erwiderte er.

»Mag sein. Aber wisst Ihr«, sprach Totton ruhig weiter, »ich habe ursprünglich eigentlich deshalb gegen Euch gewettet, weil ich glaubte, dass Ihr gar nicht gewinnen wollt.«

Eine lange Pause entstand.

Dann ließ Seagull sein Netz sinken und musterte seine Füße. »Oh.«

»Nein.« Dann kam Totton auf zwei Schmuggelfahrten zu sprechen, bei denen Seagull Wolle an Bord gehabt hatte – eine für einen Kaufmann aus Lymington, die andere für einen Wollhändler aus Sarum. Seit der ersten Fahrt waren bereits fünf Jahre vergangen, die zweite war jüngeren Datums. Und eines ließ Seagull aufmerken: Der kleine Willie war über keine von beiden im Bilde gewesen. Also konnte Totton sein Wissen unmöglich von den beiden Jungen haben. »Seht Ihr«, schloss Totton seine Ausführungen, »ich habe deshalb mit Burrard um fünf Pfund auf das Boot aus Southampton gewettet, weil ich dachte, Ihr behieltet es lieber für Euch, dass Euer Schiff das schnellere ist. Zumindest erschien mir das einleuchtend.«

Seagull überlegte. Natürlich entbehrte die Begründung des Kaufmannes nicht einer gewissen Logik. Und offenbar war Leugnen hier Zeitvergeudung. »Wie lange wisst Ihr es schon?«, fragte er deshalb.

»Seit Jahren.« Totton hielt inne. »Doch jeder Mann soll sich um seine eigenen Geschäfte kümmern. Das ist meine Devise.«

Seagull betrachtete den Kaufmann mit ganz neuen Augen. Zum richtigen Zeitpunkt den Mund zu halten, war sowohl für die Fischer als auch für die Bewohner des New Forest eine wichtige Tugend. »Ihr wolltet mir einen Handel vorschlagen?«

»Ja.« Totton lächelte. »Aber es ist nichts dergleichen. Es geht um das Rennen. Wenn mein Sohn Recht damit hat, dass Ihr gewinnen wollt, ändern sich dadurch die Chancen. Und ich habe fünf Pfund gesetzt.« Er hielt inne. »Ich habe gehört, dass Albion fünf Pfund darauf wetten will, dass Ihr verliert. Also bitte ich Euch, seine Wette anzunehmen. Ihr riskiert nicht Euer eigenes Geld – ich werde es Euch geben. Und ich zahle Euch ein Pfund, ganz gleich, wie das Ergebnis aussieht.«

»Ihr wollt gegen Euch selbst wetten?«

»Als Rückversicherung.«

»Aber wenn Ihr mich in jedem Fall bezahlen wollt, macht Ihr doch ein Pfund Verlust. Oder etwa nicht?«

»Ich habe noch einige andere Wetten abgeschlossen. Wie es auch ausgeht, ich stehe wieder genauso da wie zu Anfang. Wenn Ihr mir helft.«

»Ich könnte auch verlieren.«

»Ja. Aber diese Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht berechnen. Und in solchen Fällen wette ich nicht.«

Seagull kicherte. Ihn amüsierte die Gelassenheit des Kaufmannes. Und wenn er sich überlegte, dass er mit dem Gedanken gespielt hatte, den kleinen Jonathan zu ertränken! Nicht nur, dass das nun überflüssig geworden war. Der Junge hatte ihm, Seagull, ein Pfund eingebracht, indem er Tottons Berechnungen durcheinander geworfen hatte. »Gut«, sagte er. »Ich bin einverstanden.«

 

 

Doch als Henry Totton nun in seiner Halle saß und sich an diese Vereinbarung erinnerte, hätte er sich ohrfeigen können. Er hatte diese dumme Wette abgeschlossen. Doch was war mit seinem Sohn? Warum hatte er ihm dennoch gestattet, den Seemann zu begleiten? Weil der Junge ihn gekränkt hatte und er wütend auf ihn gewesen war. Wütend auf ein kleines Kind, das sich nur auf ein gemeinsames Abenteuer mit seinem Freund freute! Er hatte ihn gehen lassen; er hatte ihm die kalte Schulter gezeigt. Und nun hatte er ihn wahrscheinlich in den Tod geschickt.

»Verzweifle nicht, Henry«, hörte er Burrards raue Stimme. »Morgen früh sind sie gewiss zurück.«

Es war nicht weiter erstaunlich, dass Burrards Suchtrupp keine Spur von Seagull und seinem Boot hatte entdecken können. Denn als die Männer am späten Nachmittag Keyhaven erreichten, befand Seagull sich mehr als anderthalb Kilometer entfernt am Ende der langen Landzunge, und zwar schon seit einiger Zeit. Allerdings hatte er sich noch nicht auf den Weg nach Keyhaven gemacht, denn er hatte keine große Lust, sich blicken zu lassen.

Zum Glück waren die Jungen nicht über Bord gegangen, er hatte die Katastrophe gerade noch verhindern können. Als er gesehen hatte, wie sie auf die Bordwand zurutschten, hatte er sofort das Steuer losgelassen, war ihnen nachgesprungen und hatte sie gepackt, während das Boot sich aufbäumte. Fast wären sie alle drei im Wasser gelandet. »Halt ihn fest!«, hatte er Willie zugeschrien, den Griff um Jonathan gelockert und mit der nun freien Hand die Reling umfasst. Hätte Willie sich nicht an seinen Freund geklammert wie eine Klette, der kleine Jonathan wäre gewiss ertrunken.

Die nächste Viertelstunde war ein Albtraum gewesen. Sie hatten das Segel eingeholt und waren gerudert, doch immer wenn sie glaubten, ein wenig vorangekommen zu sein, hatte die Strömung sie gnadenlos wieder auf die Galeere zugetrieben. Gelegentlich konnten sie das große Schiff erkennen, das sich nicht zu bewegen schien und gespenstisch hinter einem Regenschleier verharrte. Aus Leibeskräften rudernd, hatten die Männer endlich die Kiesbank der Landzunge erreicht, obwohl die Strömung immer noch heftig an ihrem Boot zerrte. Nun saß das Schiff inzwischen am Rande der Rinne, die zum offenen Meer führte, auf Grund.

Aber Seagull hatte nun andere Dinge im Kopf. Schützend hielt er die Hände vor Augen und spähte angestrengt über das Wasser.

Der Sturm hatte nicht nachgelassen, doch vom Ufer aus betrachtet wirkte es, als entstünden immer wieder Lücken in den vorbeiziehenden grauen Wolken, aus denen heftiger Regen herniederprasselte. Während der Schauer konnte man nicht die Hand vor Augen sehen, doch in den kurzen Pausen dazwischen hatte Seagull einigermaßen klare Sicht über das aufgewühlte Wasser.

Nach einer Weile drehte er sich um. Die Jungen und die Mannschaft suchten an der Leeseite des Bootes, das sie auf den Strand geschleppt hatten, Schutz vor dem Regen.

»Was tun wir jetzt, Alan?«, rief einer der Männer. »Gehen wir zu Fuß nach Keyhaven?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Darum.« Als er mit dem Finger zeigte, bemerkten auch die anderen die riesige Galeere draußen auf dem Wasser. »Sie rührt sich nicht«, meinte Seagull. »Wisst ihr, was das bedeutet?« Der Mann nickte. »Ich denke nicht, dass sie außer uns jemand bemerkt hat«, fuhr Seagull fort.

»Vielleicht kriegen sie sie ja wieder flott.«

»Oder auch nicht. Also warten wir ab.«

Mit diesen Worten bezog er erneut seinen Beobachtungsposten.

Die Kiesbänke an der westlichen Mündung des Solent bedeuteten eigentlich keine Gefahr. Erstens waren sie so gut bekannt, dass jeder Kapitän wusste, wie er sie umschiffen konnte. Und zweitens verlief zwischen ihnen eine tiefe Rinne. Nur ein einziges Wendemanöver war nötig, wenn man sich der Spitze der Insel Wight näherte. Doch während der Frühjahrsstürme geschah es öfter, dass ein Schiff dort auf Grund lief und havarierte.

Ganz offensichtlich war der Galeere genau das widerfahren. Bei Ebbe würde sie gestrandet im Sturm daliegen. Vielleicht kenterte sie sogar und brach auseinander. Trotz der schlechten Sicht hatte Seagull den Eindruck, dass die Mannschaft versuchte, sie mit Hilfe der Ruder flottzumachen. Einmal neigte sie sich sogar zur Seite. Es verging eine Weile, bis der Regen wieder nachließ, sodass er sie weiter beobachten konnte.

Als er sie kurz durch einen Regenschleier erblickte, bemerkte er, dass die eine Hälfte nicht mehr auf der Kiesbank festsaß. Es war ihr gelungen, sich zu drehen, und die Bewegung dauerte an, während Seagull zusah. Nun stand sie quer zur Strömung, sodass ihre Seite schutzlos dem Sturm ausgesetzt war. Dann begann sie zu kentern. Im nächsten Moment ging wieder sintflutartiger Regen hernieder, der ihm die Sicht versperrte.

Eine lange Zeit verstrich. Seagull konnte nichts mehr erkennen. Der Sturm heulte. Die armen Teufel, dachte er. Gewiss mühten sie sich schrecklich ab. War die Galeere gesunken? Angestrengt, aber vergeblich, spähte er in den Regen.

Und dann, als wären seine Gebete erhört worden, ließ der Regen nach. Es nieselte nur noch leicht. Seagull erkannte vor sich die Mitte des Kanals, wo sich die Kiesbänke befanden. Die Sicht reichte sogar noch weiter, sodass er verschwommen die mehr als anderthalb Kilometer gegenüber liegenden weißen Klippen der Insel erblickte. Er traute seinen Augen nicht: Die Galeere war verschwunden.

Ohne seine Männer einer Erklärung zu würdigen, rannte er zu der dem Meer zugewandten Seite der Landzunge. Die Wolken verzogen sich. Vom einige hundert Meter entfernten Strand aus, der auf den Ärmelkanal zeigte, machte er die Spitze der Insel aus. Und die Galeere.

An der Westseite der Insel Wight waren die alten Kreidefelsen schon vor langer Zeit abgesackt und im Meer versunken. Nur vier an Zähne erinnernde Spitzen unweit des Klippenrandes waren übrig geblieben und zeugten davon, dass die Insel nicht an dieser Stelle endete, sondern sich unter Wasser noch ein Stück weiter erstreckte. Diese mächtigen Felszacken, die fast zehn Meter hoch aus dem Ärmelkanal ragten, wurden auch die Nadeln genannt. Sie bestanden aus Kreidefelsen und waren hart und messerscharf.

Die Galeere hatte schwere Schlagseite. Ein Mast war abgebrochen und hing über die Bordwand. Die Ruder auf der nach oben gewandten Seite waren entweder abgeknickt oder zeigten wahllos gen Himmel. Während Seagull zusah, trudelte das Schiff weiter hilflos im Kreis. Und dann wurde es – alles Sträuben war vergeblich – wieder und wieder gegen die Nadeln geschleudert.

Da nahm ihm wieder ein Regenschauer die Sicht. Zuerst konnte er noch die nahe gelegenen Klippen erkennen, dann verschwanden auch sie im Dunst. Obwohl Seagull bis Einbruch der Dunkelheit Wache hielt, erblickte er die Galeere nicht mehr.

 

 

Jonathan verbrachte eine ungemütliche Nacht. Zum Glück befanden sich einige Decken an Bord, sodass die beiden Jungen es im Lagerraum wenigstens einigermaßen warm und trocken hatten. Die Männer bauten sich aus Segeltuch ein Zelt. Alan Seagull blieb am Strand; ihn kümmerte das Wetter nicht.

Erst in den frühen Morgenstunden ließ der Sturm nach. Bei Tagesanbruch weckte Seagull die anderen.

Als sie im Morgengrauen die Landzunge umsegelten, war von der Galeere nichts zu sehen. Der Himmel war immer noch bewölkt, das Meer unruhig. Es dauerte nicht lange, bis Seagull einen Ruf ausstieß und auf etwas zeigte, das im Wasser schwamm. Es war ein langes Ruder. Kurz darauf war noch ein Gegenstand zu sehen: ein kleines Fass. Sie holten es an Bord.

»Zimt«, verkündete der Seemann. Bald entdeckten sie weitere Teile der Ladung. »Nelken«, stellte Alan Seagull fest.

Offenbar war die Galeere gesunken. Wenn sie vor dem Untergehen auseinander gebrochen war, würden noch einige Fässer auf dem Wasser treiben.

»Mein Vater kennt die Strömungen«, erklärte Willie. »Er weiß, wo wir die Sachen finden können.«

Aber zu Jonathans Verwunderung kehrte der Seemann bald wieder an Land zurück. »Warum drehen wir um?«, fragte Jonathan seinen Freund, der ihn mit einem merkwürdigen Blick bedachte.

»Wir müssen nach Überlebenden suchen«, erwiderte er ausweichend. Für einen Menschen, der an die weißen Klippen unweit der Nadeln geschleudert wurde, bestand jedoch keine Hoffnung mehr. Der nächstgelegene Strand war mehr als vier Kilometer entfernt und bei Dunkelheit schwer zu finden. Außerdem konnten die meisten Seeleute in jener Zeit nicht schwimmen. Wenn die Galeere draußen auf dem Meer gekentert war, war der Großteil der Besatzung vermutlich ertrunken. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht war jemand mit einem Stück des Wracks an Land gespült worden.

Sie gingen etwa fünf Kilometer entfernt von der Landzunge an der Küste in einer kleinen Flussmündung vor Anker. Nachdem sie das Schiff vor neugierigen Blicken versteckt hatten, machten sich Seagull und seine Mannschaft daran, die Gegend zu durchkämmen. An den Stränden war niemand zu sehen. Die Küste war zum Großteil mit Gebüsch und Heidekraut bewachsen. Seagull wies die Jungen an, das Boot zu bewachen, und verschwand.

Jonathan bemerkte, dass er einen kleinen Sparren aufgehoben hatte und ihn wie einen Knüppel hielt. »Wohin wollen sie?«, erkundigte er sich, als die Männer fort waren.

»Sie werden die Küste entlang ausschwärmen.«

»Glaubst du, es gibt Überlebende?«

Wieder bedachte Willie ihn mit einem merkwürdigen Blick. »Nein«, sagte er.

Endlich begriff Jonathan. Damals herrschte auf Englands Meeren ein hartes, aber schlichtes Gesetz. Die Ladung eines Wracks gehörte dem, der sie fand, außer Überlebende des Schiffbruchs erhoben Anspruch darauf – weshalb es natürlich nur selten welche gab.

Während die Jungen warteten, wurde es ein wenig heller. Etwa zur gleichen Zeit erreichte Henry Totton das Ende der Landzunge an der Einfahrt zum Solent und starrte aufs Meer hinaus.

Seit Tagesanbruch war er auf den Beinen. Nachdem er sich kurz an der Flussmündung umgesehen hatte, war er über das Penningtoner Marschland und vorbei an den Salzgärten nach Keyhaven marschiert. Von dort aus hatte er guten Blick auf die Insel Wight und die nahe gelegene Küste. Kein Schiff war in Sicht. Anschließend hatte er seinen Weg zur Landzunge fortgesetzt, in der Hoffnung, dass das Boot vielleicht dort gestrandet war. Aber vergeblich.

Nun stand er an der Spitze der Landzunge und betrachtete die schmale Rinne. Er suchte sich eine Stelle, von wo aus er die so genannten Nadeln erkennen konnte, und ließ den Blick über die lang gestreckte Küste des Forest schweifen. Da Seagulls Boot inzwischen in der kleinen Flussmündung versteckt war, bemerkte er es nicht. Doch als er im Wasser Wrackteile entdeckte, hielt er sie, da er nichts von der venezianischen Galeere wusste, für Überreste von Seagulls Boot. Er nahm an, dass Jonathan ertrunken war, und schritt die ganze Westseite der Landzunge ab, um die Leiche seines Sohnes zu suchen. Doch auf der Landzunge lagen keine Ertrunkenen, da die Strömung sie weit fortgetragen hatte.

Da sah er seinen guten, alten Freund Burrard auf sich zukommen, der schon seit dem Morgen Ausschau nach ihm hielt. Er legte Totton den Arm um die Schulter und brachte ihn nach Hause.

 

 

Das Warten neben dem Boot war langweilig. Die beiden Jungen wagten es zwar nicht, wegzulaufen, da Seagull jeden Augenblick zurückkommen konnte, doch sie begaben sich abwechselnd auf Entdeckungsreise an den Strand.

Allmählich spülte die Flut weitere Gegenstände heran. Ein Ruder, ein paar Taue, ein zerbrochenes Fass.

Und Leichen.

Jonathan hatte gerade den Inhalt einer Schiffstruhe durchwühlt, als er den Toten sah. Er trieb, das Gesicht nach unten, in etwa zehn Metern Entfernung draußen auf dem Wasser und wurde von den Wellen immer näher herangetragen. Ein wenig ängstlich, aber auch neugierig schaute Jonathan hin.

Wahrscheinlich hätte er die Flucht ergriffen, wenn ihm nicht etwas aufgefallen wäre. Der Mann trug ein Gewand aus kostbarem Brokat mit eingewirkten Goldfäden. Sein Hemd war mit feinster Spitze eingefasst. Offenbar handelte es sich um einen reichen Herrn, einen Kaufmann oder sogar einen Adeligen, der das Schiff auf seiner Reise nach Norden begleitet hatte. Vorsichtig näherte er sich.

Jonathan hatte noch nie selbst einen Ertrunkenen gesehen und kannte nur Beschreibungen: bläuliche Haut, aufgedunsenes Gesicht. Er watete hinaus zu dem Toten, bis ihm das Wasser bis zur Taille ging. Die Leiche fühlte sich schwer an und schien mit Wasser vollgesogen zu sein. Jonathan wendete den Blick vom Kopf des Mannes ab und betastete seine Taille. Er trug einen Gürtel, der nicht aus Leder, sondern aus Goldfäden bestand. Jonathan schloss die Finger darum und musste die Leiche deshalb näher zu sich heranziehen.

Auf einmal schlugen die Arme des Toten aus, als wollten sie den Jungen ergreifen. Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete Jonathan, die Leiche würde ihn packen, unter Wasser ziehen und ebenfalls ertränken. In Todesangst sprang er zurück, verlor das Gleichgewicht und stolperte. Unter Wasser erblickte er das grausige Gesicht der Leiche, die mit weit aufgerissenen Augen auf den Meeresgrund starrte.

Jonathan rappelte sich auf, nahm all seinen Mut zusammen und näherte sich wieder dem Ertrunkenen. Er schob dessen Arme weg, griff wieder nach dem Gürtel, holte tief Luft und tastete unter Wasser, bis er fand, was er suchte.

Der Lederbeutel war mit einem Riemen am Gürtel befestigt, allerdings nur mit einem einfachen Knoten verschlossen. Es dauerte eine Weile, bis Jonathan ihn gelöst hatte, da die Leiche von den Wellen hin und her geschaukelt wurde. Das Wasser reichte ihm noch zu den Knien, als es ihm endlich gelang. Der Beutel war schwer. Ohne ihn zu öffnen, blickte Jonathan sich um, ob er beobachtet worden war. Kein Mensch war in Sicht. Willie saß noch neben dem Boot an der Flussmündung. Die Riemen waren gerade lang genug, dass Jonathan sie sich unter der Kleidung um den Leib schnüren konnte. Dann zog er sein durchweichtes Hemd und sein Wams über den Beutel und kehrte zu seinem Freund zurück.

»Du bist ja ganz nass«, meinte Willie. »Hast du was gefunden?«

»Eine Leiche«, erwiderte Jonathan. »Aber ich habe Angst, sie anzufassen.«

»Oh«, sagte Willie und rannte los. Kurz darauf war er wieder da. »Er ist an den Strand gespült worden. Ich habe das da entdeckt.« Er hielt den Gürtel hoch. »Der ist bestimmt einiges wert.«

Jonathan nickte und schwieg.

Sie mussten noch eine Weile warten, bis Seagull erschien. Der Anblick des Gürtels schien ihn zu erstaunen, aber er sagte nichts.

»Habt ihr jemanden getroffen, Vater?«, fragte Willie.

»Nein, mein Sohn. Da war niemand. Wahrscheinlich werden die Leichen bald an den Strand gespült.« Er überlegte einen Moment. »Wir segeln los und schauen nach, ob wir noch etwas finden. Bestimmt werden wir dafür den ganzen Tag brauchen!« Jonathan war sicher, dass Alan Seagull alles Wertvolle aufstöbern würde, was im Umkreis von vielen Kilometern an den Stränden oder im Ärmelkanal schwamm. »Ihr Jungen geht nach Hause. Sag deiner Mutter, wo wir sind«, wies er seinen Sohn an. »Dein Vater macht sich bestimmt Sorgen um dich«, meinte er dann zu Jonathan. »Spute dich also, dass du nach Hause kommst. Versprochen?«

Gehorsam machten sich die beiden Jungen auf den Weg. Über das Penningtoner Marschland waren es nur siebeneinhalb Kilometer. Sie schritten kräftig aus.

 

 

Als Jonathan von der kleinen Kirche aus die High Street hinunterkam und sich dem Haus seines Vaters näherte, fiel fahles Sonnenlicht zwischen den Wolken auf Lymington. Er stellte fest, dass die Leute ihn anstarrten. Eine Frau stürzte sogar auf ihn zu, packte ihn am Arm und begann, Gott dafür zu danken, dass er ihn gerettet hatte. Es dauerte eine Weile, bis Jonathan sich höflich aus ihrem Griff befreit hatte. Und da er nicht noch einmal aufgehalten werden wollte, fing er an zu rennen.

Am Haus angekommen, ging er von der Straße aus zuerst ins Kontor seines Vaters, denn er wollte ihn überraschen. Als er den Raum leer vorfand, trat er in die Halle mit der Empore, wo ebenfalls Stille herrschte.

Zuerst vermutete er, dass wirklich niemand zu Hause war. Kein Dienstbote zu sehen. Das Licht schien durch das hohe Fenster hinein und erleuchtete den schmucklosen Raum; er wirkte wie ein Hof, den seine Besitzer vor dem Auszug noch einmal blank gefegt hatten. Erst nach ein paar Schritten stellte Jonathan fest, dass jemand in dem Stuhl unter der Empore saß.

Da der Stuhl leicht seitlich abgewandt stand, sah er zuerst das Ohr seines Vaters. Doch dieser hatte ihn nicht gehört. In seiner üblichen Haltung saß er da und starrte geradeaus wie im Traum. Leise schlich sich der Junge näher und betrachtete das Gesicht seines Vaters.

Noch nie hatte er seinen Vater trauern gesehen. Beim Tod seiner Frau hatte Totton sich seinen Schmerz nicht anmerken lassen, um seinen Sohn zu schonen. Aber da er sich nun allein wähnte, ließ er stumm und niedergeschlagen die Bilder vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen: den Säugling, den er geliebt, aber seiner Mutter überlassen hatte, wie es sich schickte; das kleine Kind, für das er trotz aller Zuneigung nichts anderes getan hatte, als sein Leben zu verplanen; den Jungen, den er nicht hatte trösten können; den Sohn, der nur von ihm fortsegeln wollte; den Sohn, den er verloren hatte.

Bestürzt erkannte Jonathan die Trauer seines Vaters. »Vater.«

Totton wandte sich um.

»Es ist gut ausgegangen. Wir haben es überstanden.« Der Junge trat einen Schritt vor. »Wir sind die Küste entlang abgetrieben worden.« Totton starrte ihn immer noch an wie eine Geistererscheinung. »Es hat im Sturm einen Schiffbruch gegeben. Alan Seagull ist noch draußen.«

»Jonathan?«

»Mir ist nichts geschehen, Vater.«

»Jonathan?«

»Ist dein Boot wohlbehalten zurückgekommen?«

Henry Totton war wie benommen. »Oh, ja.«

»Also hast du die Wette gewonnen.«

»Die Wette?« Entgeistert starrte der Kaufmann seinen Sohn an. »Die Wette?« Er blinzelte. »Mein Gott, was kümmert mich die Wette, solange ich nur dich wiederhabe?«

Bei diesen Worten warf Jonathan sich seinem Vater in die Arme.

Henry Totton brach in Tränen aus.

Nachdem sie sich einige Minuten lang umarmt hatten, machte Jonathan sich sanft los und griff nach dem Beutel, den er um die Taille trug. »Ich habe dir etwas mitgebracht, Vater«, sagte er.

»Schau.« Er öffnete den Beutel und holte den Inhalt heraus. Es waren Goldmünzen. »Dukaten«, meinte er.

»Das ist richtig, Jonathan.«

»Weißt du, was sie wert sind, Vater?«

»Ja, in der Tat.«

»Ich auch.« Und zum Erstaunen seines Vaters wiederholte Jonathan völlig fehlerfrei die Lektion, die dieser ihm vor drei Wochen erteilt hatte.

»Das ist alles richtig«, sagte Totton erfreut.

»Siehst du, Vater«, erwiderte der Junge glücklich. »Einige Dinge, die du mir erklärst, merke ich mir auch.«

»Die Dukaten gehören dir, Jonathan.« Totton lächelte.

»Ich habe sie für dich geholt«, entgegnete sein Sohn. Er überlegte kurz. »Wollen wir sie uns nicht teilen?«

»Warum nicht?«, antwortete Henry Totton.