ALICE
1635
Was ist das Leben? Ganz gewiss keine Abfolge von Ereignissen im Uhrzeigersinn, sondern eher ein Sammelsurium von Erinnerungen – von einigen wenigen zumindest.
Sie hatte den alten Clement Albion noch undeutlich im Gedächtnis. Obwohl sie beim Tod ihres Großvaters erst vier gewesen war, erinnerte sie sich an ihn. Nicht an sein Gesicht, aber an einen hoch gewachsenen, freundlichen Mann, der in einem Tudorhaus mit großen, hölzernen Giebeln wohnte. Das musste das alte Haus Albion gewesen sein, nicht das, in dem sie jetzt lebte.
Ihr Haus Albion hatte sie an einem Sommertag zum ersten Mal gesehen.
Es war sehr warm gewesen. Vermutlich war es später Vormittag, möglicherweise ein Sonnabend. Sie wusste es nicht mehr genau. Doch sie waren zu zweit von der alten Kirche in Boldre gekommen, nur sie und ihr Vater. Sie schlenderten die alte Straße am Ostufer des Flusses entlang und nahmen den Pfad durch den Wald. Dort wuchsen junge Buchen, hauptsächlich Schösslinge, zwischen Eichen und Eschen. Die Strahlen der Sonne fielen schräg durchs Blätterdach. Junge Bäume breiteten die Blätter aus und schimmerten grün im Unterholz. Vögel sangen. Sie war so glücklich, dass sie zu hüpfen anfing. Ihr Vater hielt ihre Hand.
Hinter der nächsten Kurve erblickten sie das Haus. Einer der beiden Giebel war bereits neu verkleidet worden; die alten Dachsparren aus Eiche reckten sich dem blauen Himmel entgegen. Die staubige Baustelle lag friedlich in der warmen Sonne. Ein paar Männer arbeiteten im Obergeschoss, nur das Klappern, das beim Festklopfen der Dachpfannen entstand, störte die Ruhe.
Sie waren stehen geblieben und hatten die Szene eine Weile beobachtet. Dann hatte ihr Vater gesagt: »Dieses Haus baue ich für dich, Alice. Es wird dir gehören, und niemand darf es dir wieder wegnehmen.« Bei diesen Worten hatte er zu ihr hinuntergeblickt und ihre Hand gedrückt.
Sie hatte ihren Vater angesehen und gedacht, dass er sie sicher sehr liebte, wenn er ein ganzes Haus nur für sie allein baute. Und in diesem Moment war sie so glücklich, wie man es vielleicht nur ein- oder zweimal im Leben ist.
Es war ein kleines Haus, nur ein wenig größer als das alte im Tudor-Stil, das ihrem Großvater und vor ihm dessen Vater gehört hatte. Aus rotem Backstein im Stil der Zeit Jakobs I. erbaut, erinnerte es an einen kleinen Herrensitz. Doch da es abseits in einer kleinen Lichtung mitten im Wald stand, wirkte es fast wie ein Einödhof oder eine Jagdhütte. Alice hatte ihr Glück kaum fassen können. Sie besaß nun ein Haus, weil ihr Vater sie so liebte.
Selbstverständlich hatte er auf einen Sohn gehofft. Inzwischen wusste sie das, doch seit jenem Sommertag waren zehn Jahre vergangen.
Von Clement Albions beiden Söhnen, William und Francis, hatte es William, der ältere und Alices Vater, weit gebracht und war zu einigem Wohlstand gelangt. Als junger Mann war er in den letzten Jahren von Königin Elisabeths Regierungszeit nach London gegangen, um die Jurisprudenz zu studieren. Und William hatte hart gearbeitet. Da das Führen von Prozessen zunehmend in Mode kam, hatte er immer genug zu tun. Und als die alte Königin fünfzehn Jahre nach dem Untergang der Armada gestorben war und ihr Vetter König James von Schottland den Thron bestieg, hatten sich noch weitaus größere Verdienstmöglichkeiten ergeben.
Als James Stuart, ein Mann in mittleren Jahren, König Jakob von England wurde, beschloss er, sich von nun an ein schönes Leben zu machen. Denn bis dahin hatte er sich nie amüsieren dürfen. Er war ein Sohn der glücklosen Maria Stuart – die er kaum kennen gelernt hatte –, und nach der Beseitigung seiner Mutter war er von den säuerlichen Presbyterianern als Herrscher in ihrem Sinne erzogen worden; sie hatten ihn an der kurzen Leine gehalten. Als er nun endlich zum englischen König gekrönt wurde, brannte er darauf, alles Versäumte nachzuholen.
Allerdings hatte der schottische König seltsame Vorstellungen von Amüsement. An gründliches wissenschaftliches Arbeiten gewöhnt – er war wirklich sehr gebildet und konnte recht witzig sein –, entwickelte er eine Theorie, derzufolge der König sich auf das Gottesgnadentum berufen und deshalb tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ob er diesen entsetzlichen Unsinn selbst glaubte oder ihn nur als Vorwand benutzte, um seinen Zerstreuungen nachzugehen, wurde nie geklärt. Außerdem stand der mehrfache Vater nun offen zu seiner Schwäche für hübsche junge Männer, was abwechselnd zu peinlichen, rührseligen oder gar tränenreichen Szenen führte. In seinen letzten Jahren bestritt er Empfänge bei Hofe hauptsächlich damit, dass er die Objekte seiner Begierde abküsste und betrachtete. Seine dritte Liebe galt einer Leidenschaft, der er oben im Norden leider nie hatte frönen dürfen: der Verschwendungssucht. Im Gegensatz zu den prächtigen (von anderen bezahlten) Festivitäten, die Königin Elisabeth bevorzugt hatte, pflegte man am Hof von König Jakob I. schlicht und ergreifend die Völlerei, vulgäre Fressgelage, die oft nur einen Vorwand dafür darstellten, so viele Lebensmittel wie möglich zu vergeuden. Aber selbst dieser Zeitvertreib verblasste neben der Leichtfertigkeit, mit der König Jakob seinen Freunden Gelder aus der Staatskasse zuschanzte. Alter Adel wie die Howards und Emporkömmlinge wie die Familie des hübschen jungen Villiers erhielten Gelegenheit, sich ordentlich die Taschen voll zu stopfen. Ämterschacher, Vetternwirtschaft, Bestechung und schamlose Erpressung gediehen prächtig auf diesem fruchtbaren Boden.
Wenn Diebe stehlen und Narren Geld verschleudern, kann ein kluger Mann sich eine goldene Nase verdienen. Und William Albion hatte die Gelegenheit am Schopf gepackt. Als Jakobs schüchterner und empfindsamer Sohn Karl 1625 den Thron bestieg, kehrte Albion als reicher Mann in den New Forest zurück. Außerdem hatte er eine gute Partie gemacht, seine Frau war Erbin eines bescheidenen Vermögens und zwölf Jahre jünger als er. Er bewohnte einen stattlichen Herrensitz namens Moyles Court im Avontal – zufälligerweise gehörten dazu auch die früheren Ländereien seines entfernten Vorfahren, des Försters Cola. Außerdem hatte sein Vater ihm das Haus Albion mitten im New Forest vermacht, und er besaß weitere Ländereien auf den Pennington Marsches. Darüber hinaus gehörte ihm der Großteil des Dorfes Oakley.
Das Haus Albion hatte er für Alice neu aufbauen lassen. Sein übriges Eigentum würde, wie er hoffte, auf seinen Sohn übergehen. Doch obwohl seine junge Frau ihm noch einige Kinder schenkte, starben sie alle im Säuglingsalter. Die Zeit verstrich erbarmungslos. Und irgendwann war es zu spät gewesen. Im letzten Jahr hatte er seine Frau verloren. Doch William Albion hatte keine Lust, mit sechzig noch einmal eine Familie zu gründen.
Alice, die nun achtzehn war, würde deshalb alles erben.
William hatte sich diese Entscheidung reiflich überlegt. Schließlich musste er auch an seinen jüngeren Bruder denken.
Rein juristisch betrachtet, konnte William sein Land vermachen, wem er wollte. Aber er war sicher, der alte Clement hätte sich gewünscht, dass Francis nicht leer ausging. Und wenn er Alice das Haus Albion nicht schon versprochen hätte, so hätte er es ja auch Francis überlassen können. Allerdings durfte man dabei eine weitere Frage nicht außer Acht lassen.
Was hatte Francis je getan, dass er dieses Erbe verdient hätte? Trotz aller Hilfe und Förderung durch seinen Vater hatte er jahrelang gefaulenzt und mehr oder weniger in den Tag hineingelebt. Er wohnte noch immer in London, als – nicht sehr erfolgreicher – Kaufmann. Obwohl William seinen jüngeren Bruder gern hatte, konnte er die Ungeduld nur schwer zügeln, die ein erfolgreicher Mann gegenüber einem weniger tüchtigen Verwandten empfindet. Bei der bloßen Erwähnung seines Namens zuckte William unwillkürlich zusammen, weshalb nur selten über Francis gesprochen wurde. Wie viele Leute, die zu Geld gekommen sind, betrachtete er es als Verschwendung, einem Habenichts etwas zu geben. Natürlich ließ sich das auch ein wenig wohlwollender ausdrücken: Konnte man von ihm verlangen, dass er seine geliebte Tochter enterbte, nur damit der Name Albion im New Forest nicht ausstarb? Nein, Francis musste allein sein Glück machen. Alice war und blieb die einzige Erbin.
Zu Alices Erstaunen hatte ihr Vater vor einigen Monaten während eines beiläufigen Gesprächs über die Ehe den Namen eines möglichen Schwiegersohns besonders lobend erwähnt: John Lisle.
Alice hatte ihn bei einem Fest im prächtigen Haus der Buttons unweit von Lymington kennen gelernt, zu dem sich einige Familien des Landadels versammelt hatten. Er war ein paar Jahre älter als Alice und seit kurzem verwitwet. Auf Alice hatte er einen feinfühligen und klugen, wenn auch ein wenig zu ernsten Eindruck gemacht.
»Aber Vater«, erinnerte sie ihn. »Seine Familie…«
»Es ist eine alte Familie.« Die Lisles waren in der Tat alteingesessen und besaßen schon seit vielen Jahren Ländereien auf der Insel Wight.
»Ja, doch sein Vater…« Die ganze Grafschaft wusste über John Lisles Vater Bescheid. Er hatte seine beträchtliche Erbschaft verschleudert und seinen guten Ruf ruiniert. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, fing er zu trinken an und war schließlich sogar hochverschuldet im Gefängnis gelandet. »Ist da nicht schlechtes Blut…?«
Schlechtes Blut war ein Lieblingswort des Landadels. Ein oder zwei berüchtigte Schwerenöter mochten dem Familienstammbaum vielleicht einen Hauch des Verruchten verleihen, aber man durfte es nicht übertreiben. Schlechtes Blut bedeutete Gefahr, Ungewissheit, Missernten, kranke Bäume. Da der niedere Adel noch immer zum Teil von der Landwirtschaft lebte, sah er die Dinge prosaisch. Menschenzucht und Viehzucht unterschieden sich eigentlich kaum voneinander. Schlechtes Blut setzte sich immer durch, und deshalb musste man einen Bogen um Leute von zweifelhaftem Ruf machen.
Doch zu Alices Überraschung lächelte ihr Vater nur. »Ah«, verkündete er. »Jetzt will ich dir einmal etwas erklären.« Und mit einem Blick, der wohl besagen sollte, dass er über jahrzehntelange Erfahrung als Anwalt verfügte, fuhr er fort: »Wenn der Vater eines Mannes sein Vermögen verspielt hat, stehen dem Betroffenen zwei Wege offen. Entweder kann er sich mit seiner misslichen Lage abfinden, oder er kann sich dagegen auflehnen und versuchen, dennoch sein Glück zu machen.«
»Ist das nicht immer die Aufgabe der jüngeren Söhne?«
»Ja.« Die Stirn ihres Vaters umwölkte sich, als er daran dachte, wie kläglich sein eigener Bruder in dieser Hinsicht gescheitert war. »Doch wenn ein Vater zusätzlich seine Familie entehrt, ist die Sache um einiges schwieriger. Der Sohn eines solchen Mannes muss nicht nur Armut ertragen, sondern auch Schande und Spott. Auf Schritt und Tritt verfolgen ihn die Schatten der Vergangenheit. Viele verstecken sich deshalb und leben lieber im Verborgenen. Aber die Tapferen unter ihnen stellen sich der Welt. Sie tragen den Kopf hoch erhoben; ihr Ehrgeiz ist eher mit einem stählernen Schwert zu verteidigen als mit der Flamme der Hoffnung. Sie streben nach Ruhm, erstens um ihrer selbst Willen und zweitens, um die Fehltritte ihres Vaters ungeschehen zu machen. Diese Erinnerung lastet ständig auf ihnen und treibt sie an wie ein Stachel.« Lächelnd hielt er inne. »Ich glaube, dass John Lisle ein solcher Mann ist. Er ist ein anständiger und aufrichtiger Mensch, und ich bin sicher, dass er auch gütig ist. Aber er hat dieses Feuer in sich.« Er betrachtete Alice liebevoll. »Wenn ein kluger Vater sein Vermögen seiner Tochter vermacht, sucht er ihr einen Mann, der es auch zu nutzen versteht. Einen Mann mit Ehrgeiz.«
»Warum nicht einen anderen Erben, Vater? Ein ehrgeiziger Mann hat es vielleicht nur auf mein Geld abgesehen.«
»Du musst meinem Urteil vertrauen.« Er seufzte. »Das Schlimme ist, dass die meisten Erben großer Vermögen entweder verweichlicht oder faul sind – oder beides.« Er lachte auf.
»Warum lachst du?«, fragte sie.
»Weil ich mir gerade vorgestellt habe, Alicia« – manchmal nannte er sie so –, »was geschehen würde, wenn ich ein starrsinniges Mädchen wie dich mit dem arglosen Erben eines großen Vermögens verheiraten würde. Du würdest dem armen Jungen das Leben zur Hölle machen.«
»Ich?« Aufrichtig erstaunt sah sie ihn an. »Hältst du mich etwa für starrsinnig, Vater?«
»Schon gut, mein Kind.« Er schmunzelte und tippte ihr leicht auf den Arm. »Aber überlege es dir mit John Lisle. Das ist alles, worum ich dich bitte. Du wirst feststellen, dass er Respekt verdient.«
Als Stephen Pride zwei Tage später auf dem Weg zum Dorfanger bei Gabriel Furzey anklopfte, wollte er ihm eigentlich nur einen Gefallen tun. »Willst du denn nicht mitkommen?«
»Nein«, erwiderte Gabriel, was Pride eigentlich nicht weiter erstaunte.
Die Prides und die Furzeys waren in den dreihundert Jahren, die seit dem Streit um das Pony vergangen waren, in Oakley geblieben, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es auf der Welt nur wenige hübschere Fleckchen Erde gab. Auch wenn sich die beiden Familien im Laufe der Jahrhunderte gewiss noch öfter über Alltäglichkeiten gezankt hatten, war das inzwischen vorbei und vergessen. Die Prides hielten die Furzeys noch immer für ein wenig langsam, während die Furzeys den Prides eine gewisse Hochnäsigkeit unterstellten. Aber ob diese Unterscheidungen noch zutrafen, nachdem die beiden Familien über Generationen hinweg einander geheiratet hatten, war fraglich. Doch über eines waren Stephen Pride und alle übrigen Dorfbewohner sich einig: Gabriel Furzey war unbeschreiblich stur.
»Wie du willst«, meinte Stephen und begab sich zum Dorfanger, da die junge Alice Albion ihn hatte rufen lassen.
An den Gewohnheitsrechten der Bewohner des New Forest hatte sich seit der Zeit des Eroberers kaum etwas geändert. Da die Höfe klein und die Böden nicht sehr fruchtbar waren, wäre ein Überleben der Gemeinschaft ohne die Gewohnheitsrechte nicht möglich gewesen, bei denen es sich vor allem um die vier folgenden handelte: Pasture – das Weiderecht; Turbary – das Recht zum Stechen von Torf als Brennmaterial; Mast – das Recht auf die grünen Eicheln im Herbst als Schweinefutter; und Estovers – das Recht, Unterholz zum Verfeuern zu schneiden. Dazu kamen noch weniger bedeutende Privilegien wie das Recht auf Mergel zur Düngung der Böden und das Recht zum Mähen von Farn zum Auslegen der Ställe. Diese alten Gewohnheitsrechte wurden nach einem komplizierten System vergeben und galten zuweilen nur für einen einzelnen Hof. Allerdings war es Sitte, dass der jeweilige Grundbesitzer sie auch für seine Pächter in Anspruch nehmen konnte.
Stephen Pride und Gabriel Furzey lebten auf Land, das den Albions gehörte. Und da Alice eines Tages die Besitzerin sein würde, hatte der Vater sie in Begleitung seines Verwalters losgeschickt, um einige wichtige Dinge in Erfahrung zu bringen.
Als Pride näher kam, sah er Alice am Rande des Dorfangers im Schatten sitzen. Man hatte für sie eine Bank und einen Tisch aufgestellt. Der Verwalter stand neben ihr. Auf dem Tisch war ein großes Stück Pergament ausgebreitet. Alice saß kerzengerade da. Sie trug ein grünes Reitkleid und einen breitkrempigen Hut mit einer Feder. Das rötliche Haar und die blaugrauen Augen hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Pride lächelte, denn er fand sie ziemlich hübsch. Er kannte Albions Tochter schon seit ihrer Kindheit, denn er war nur sieben Jahre älter als sie. Er wusste noch, dass sie sich mit zwölf nicht zu fein gewesen war, ein Pony-Wettrennen mit ihm zu veranstalten. Sie hatte Temperament, und das gefiel den Waldbewohnern.
»Stephen Pride.« Sie brauchte sich vom Verwalter nicht an seinen Namen erinnern zu lassen und sah ihn fröhlich an. »Was soll ich für Euch aufschreiben?«
Es war seit Menschengedenken das erste Mal, dass sämtliche Gewohnheitsrechte auf einer Liste verzeichnet wurden. Schließlich galten diese schon seit jeher, und die Menschen merkten sie sich einfach. Falls es zwischen den Bauern Meinungsverschiedenheiten gab, wurden diese durch die Geschworenengerichte und Gemeindevertreter geklärt. Warum also sollte jemand sich die Mühe machen, all das aufzuschreiben?
Als Stephen Pride die Gewohnheitsrechte aufzählte, über die sein Hof verfügte, kannte er den Grund sehr wohl. »Das ist«, hatte er am Vortag zu seiner Frau gesagt, »für unseren Herrscher, den verfluchten König.« Und als er der jungen Alice jetzt in die Augen sah, war ihm klar, dass sie dasselbe dachte, obwohl keiner von ihnen es aussprach.
Wenn man der Geschichtsschreibung glauben kann, musste man die Mitglieder des Hauses Stuart erst richtig anlernen, bevor sie gute Könige abgaben.
König Jakob I. hatte eine hervorragende Ausbildung genossen. Während seiner traurigen Lehrjahre in Schottland, wo jedem Monarchen traditionsgemäß das Messer an der Kehle sitzt, hatte er sich zu einem schlauen Fuchs entwickelt. Trotz seines Glaubens an das Gottesgnadentum achtete er stets darauf, das englische Parlament nicht allzu sehr zu brüskieren. Außerdem war er ein weltgewandter Mann und träumte von einer Vermittlerrolle zwischen den religiösen Lagern. Er beabsichtigte, seine Kinder mit Angehörigen protestantischer und katholischer Königshäuser zu vermählen und dafür zu sorgen, dass beide Religionen in England geduldet wurden. Doch dieser Wunsch entpuppte sich als Luftschloss. Europa war noch nicht bereit für die religiöse Toleranz, obwohl sich Jakob trotz seiner Fehler redlich Mühe gab. Anders als er war sein Sohn Karl nicht durch diese harte Schule gegangen, weshalb er die Stuartsche Engstirnigkeit in ihrer schlimmsten Form verkörperte.
Es ist ein sinnloses Unterfangen, einen großen Gedanken – oder einen guten – einem beschränkten Gehirn einpflanzen zu wollen, wobei das Gottesgnadentum eher zu den geistigen Irrtümern zu zählen ist. Von der Verlogenheit abgesehen, mit der Karl I. seine Ziele durchzusetzen versuchte, waren die Vorträge, die er seinen Untertanen hielt, von einer fast kindischen Naivität. Obwohl kein dummer Mann – er besaß einen beachtlichen Kunstverstand –, machte ihn das Pochen auf seine Vorrechte blind für die einfachsten politischen Tatsachen. Kein englischer König, nicht einmal der mächtige Heinrich VIII. der den Papst aus seiner Kirche geworfen hatte, hatte sich jemals in dieser Weise auf die göttliche Gnade berufen. Und kein Herrscher, auch nicht der Eroberer selbst, hatte gewagt, alte Gesetze und Bräuche zu missachten. Karl I. hingegen nahm sich den Absolutismus nach dem Beispiel Frankreichs zum Vorbild – doch das widersprach eindeutig der englischen Lebensart.
So dauerte es auch nicht lange, bis der König sich heillos mit dem englischen Parlament zerstritten hatte. Die Puritaner verdächtigten ihn, den Katholizismus wieder einführen zu wollen – schließlich war seine französische Frau katholisch. Den Kaufleuten missfiel seine Schwäche für Zwangsanleihen. Die Mitglieder des Parlaments waren empört, dass er sie eigentlich nur als Erfüllungsgehilfen betrachtete. Im Jahre 1629 löste Karl I. das Parlament auf und beschloss, fortan allein zu regieren.
Die Frage war nur, wie er das nötige Geld auftreiben sollte. Solange er sich nicht in einen Krieg verwickeln ließ – was stets große Kosten verursachte –, hätte Karl I. mehr oder weniger über die Runden kommen müssen. Schließlich konnte er ja auf Zölle, verschiedene Gebühren und die Pachterträge der königlichen Ländereien zurückgreifen. Allerdings war seine Habgier noch nicht gestillt, weshalb er sich darauf verlegte, Titel zu verkaufen. Ein Baronet brachte ein ordentliches Sümmchen. Und als er und seine Berater sich nach weiteren Einkommensquellen umsahen, schlug einer vor: »Was ist mit den königlichen Wäldern?«
Niemand konnte richtig beantworten, welchen Zweck sie eigentlich erfüllten. Natürlich, es gab dort Hirsche. Doch bei Hofe erinnerte man sich eigentlich nur an sie, wenn für eine Krönungsfeierlichkeit oder eine andere große Festivität große Mengen Wildbret gebraucht wurden. Hingegen war das Holz einer näheren Betrachtung wert. Darüber hinaus ließ sich mit Hilfe der von den Grafschaftsgerichten verhängten Geldstrafen ein kleines Einkommen erzielen.
Und zu guter Letzt meinte ein schlauer Ratgeber: »Warum schicken wir keine Richter in den New Forest?«
Nachdem man ihm die Konsequenzen einer solchen Maßnahme genau erklärt hatte, war Karl I. ganz begeistert von diesem Vorschlag. Richterliche Rundreisen – Forest Eyre genannt – waren ein Brauch aus der Zeit der Plantagenets. Hin und wieder, zuweilen im Abstand von mehreren Jahren, suchten die Reiserichter des Königs den New Forest auf, nahmen alles in Augenschein, räumten mit Verwaltungsfehlern auf und verhandelten offen gebliebene Fälle. Man wusste schon vorab, dass sie ein paar saftige Geldstrafen verhängen würden. Soweit man sich erinnern konnte, hatte schon seit Generationen – genauer seit Heinrichs VIII. Regentschaft – keine richterliche Rundreise mehr stattgefunden. Karl I. war begeistert: ein altes königliches Recht, von dem sein ungehorsames Volk nichts mehr wusste. Und so erschienen im Jahr 1635 zur allgemeinen Verärgerung der Waldbevölkerung die königlichen Reiserichter im New Forest.
Die Ergebnisse waren recht viel versprechend. Drei große Holzdiebstähle – es handelte sich um jeweils tausend Bäume – kamen ans Licht und zogen beträchtliche Geldstrafen nach sich: tausend, zweitausend und dreitausend Pfund – eine fette Beute also. Doch es waren nicht diese hohen Summen, die die Waldbewohner so erbosten, sondern der Umstand, dass man sich an den einfachen Leuten schadlos halten wollte.
Im Sommer 1635 wurden vor dem Grafschaftsgericht des New Forest nicht weniger als zweihundertachtundsechzig Fälle verhandelt. Früher waren es durchschnittlich ein Dutzend im Jahr gewesen. Noch nie hatte man so etwas im New Forest erlebt. Jeder Zentimeter Land, den man sich in vergangenen Generationen unbemerkt angeeignet, jede Hütte, die man ohne Genehmigung erbaut hatte wurden mit einer Strafe belegt. Im ganzen Wald gab es kein Dorf, keine Familie, die nicht bei einem Fehltritt ertappt worden wäre. Und anstatt Milde zu üben, griff man den Übeltätern tief in die Tasche. Tagelöhner, die in illegalen Gebäuden hausten, mussten drei Pfund Strafe zahlen. Ein Freisasse wurde wegen Wilddiebstahls zu hundert Pfund verdonnert. Ein paar Meter Grund, abgezweigt, um dort Bienenkörbe aufzustellen, ein kläffender Hund, einige verbotenerweise grasende Schafe – all das führte zu hohen Geldstrafen. Wie immer, wenn Karl I. sich einmal zu etwas entschlossen hatte, ging er sehr gründlich zu Werk. Gesetzlich war er zwar dazu berechtigt, doch mit der typischen Gedankenlosigkeit der Stuarts schaffte er es, ein ganzes ihm eigentlich wohlgesonnenes Volk gegen sich aufzubringen. Er war weder ein Schurke noch ein Märtyrer, sondern einfach nur ein ausgesprochen alberner, kleinlicher Herrscher.
Nun musste jeder Häusler die Gewohnheitsrechte eintragen lassen, die er von alters her besaß. In Prides Augen handelte es sich um sinnlosen Papierkrieg. Doch Alice dachte weiter.
»In London heißt es«, hatte ihr Vater ihr am Vortag erklärt, »dass der König ein Kataster der gesamten Gegend anlegen möchte. Und weißt du warum? Er will den New Forest und den Sherwood Forest als Bürgschaften für einen Kredit einsetzen! Kaum zu fassen«, fuhr er fort, »vielleicht wird der ganze Wald verkauft, nur um die Gläubiger des Königs zufrieden zu stellen. Meiner Ansicht nach ist das der Grund, der dahinter steckt.«
Als Stephen Pride mit seiner kurzen Aufzählung fertig war, dankte Alice ihm höflich und fragte dann: »Wo ist denn Gabriel Furzey? Sollte er nicht auch kommen?«
»Mag sein«, erwiderte Pride wahrheitsgemäß.
»Nun.« Alice war zwar erst achtzehn, aber sie wollte sich von Gabriel nicht auf der Nase herumtanzen lassen. »Dann richtet ihm bitte von mir aus, dass er besser sofort erscheinen sollte, wenn er Wert darauf legt, dass ich seine Gewohnheitsrechte eintrage. Sonst muss er eben darauf verzichten.«
Pride konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen, als er loszog, um die Botschaft zu überbringen.
Schon auf den ersten Blick war Gabriel Furzey und Stephen Pride anzumerken, welche Haltung sie zu dieser Inventur einnahmen. Der hagere, scharfäugige Pride war vom Scheitel bis zur Sohle ein Freigeist, wusste aber, dass er sich dem Zugriff der Mächtigen nicht völlig entziehen konnte. Obwohl schon seine Vorfahren darüber gemurrt hatten, dass die Macht der Krone nicht vor dem New Forest endet, waren die Prides schlau und vernünftig genug gewesen, sich mit ihr zu arrangieren. Zu den Vertretern der Dorfgemeinschaften beim Grafschaftsgericht gehörten stets ein oder zwei Prides. Hin und wieder übernahmen sie sogar einen untergeordneten Posten in der Verwaltung des New Forest, zum Beispiel als Unterförster oder als Viehinspektor, der die Weidegebühren einsammelte. Hie und da hatte es ein Mitglied dieser Sippe sogar vom Häusler zum Freisassen und Grundbesitzer geschafft. Wenn die adeligen Herren einen Freisassen für den Geschworenendienst suchten, entschieden sie sich gern für einen Pride. Und zwar aus einem einfachen Grund: Die Mitglieder dieser Familie waren gescheit, und die Mächtigen wussten, dass man selbst im Fall von Meinungsverschiedenheiten mit einem klugen Mann eher Einigkeit erzielte als mit einem Dummkopf.
Und falls ein wohlmeinender Mensch die Anmerkung fallen ließ, dass Pride vielleicht nebenbei ein wenig gewildert habe, erhielt er zur Antwort meist nur ein Lächeln und ein hingemurmeltes: »Ist es denn die Möglichkeit!« Auf Dank konnte der Judas lange warten, denn meist frönte der adelige Empfänger dieser Nachricht selbst diesem Steckenpferd.
Der kleinwüchsige, pummelige Gabriel Furzey hingegen – Alice pflegte ihn ungnädig mit einer bärbeißigen Rübe zu vergleichen – stand mit der ganzen Welt auf Kriegsfuß. Als Stephen Pride ihm jetzt mitteilte, dass Alice ihn sprechen wolle, schüttelte er nur den Kopf und sagte: »Was für einen Sinn hat es, so etwas aufzuschreiben? Ich kenne meine Rechte. Wir hatten sie doch schon immer, oder etwa nicht?«
»Das stimmt. Aber…«
»Was sonst noch? Es ist doch bloß Zeitverschwendung.«
»Trotzdem, Gabriel. Ich finde, du solltest besser hingehen.«
»Nein, ich gehe nicht.« Gabriel schnaubte verächtlich. »Ich habe es nicht nötig, mir von einem Mädchen sagen zu lassen, welche Rechte ich habe. Verstanden?«
»Sie ist doch recht nett, Gabriel. Außerdem hat sie gar nichts damit zu tun.«
»Sie hat mir doch befohlen zu kommen, richtig?«
»Wenn du es so ausdrückst.«
»Und deshalb gehe ich nicht hin.«
»Aber Gabriel…«
»Und du kannst auch verschwinden!«, polterte Furzey plötzlich. »Hau ab…«
Also machte Stephen Pride sich davon, und kurz darauf brach auch Alice auf. Aus diesem Grund wurden Gabriels Gewohnheitsrechte nirgends festgehalten.
Es schien nicht weiter wichtig.
1648
Es war Dezember. Der Morgen graute, und es wehte ein kalter Wind.
Auf dem Hügel bei Lymington saß ein einsamer Reiter auf einem Grauschimmel. Er war über vierzig und gut aussehend, obwohl sein dunkles Haar schon die ersten silbrigen Fäden zeigte. Seine Augen waren grau. Er blickte in die Ferne zum düsteren Hurst Castle hinüber.
Meer, Himmel, Strand und auch die Wellen – aus dieser Entfernung nicht zu hören – hatten die Farben von Blei. Jeden Moment würde aus dieser Festung am winterlichen Meer, scharf bewacht und nur noch ein Schatten seiner selbst, der gefangene König kommen.
John Lisle hatte mit dem Gedanken gespielt, zu den Soldaten hinunterzureiten, es sich dann aber anders überlegt. Schließlich war es nicht leicht, mit einem König Konversation zu betreiben, der bald geköpft werden sollte. Es bestand immer die Gefahr, dass das Gespräch erlahmte.
Allerdings war es nicht das Schicksal von Karl I. das John Lisle beschäftigte, denn der Monarch war ihm herzlich gleichgültig. Viel mehr machte ihm der Streit zu schaffen, den er gerade mit seiner Frau geführt hatte. Es war ihre erste ernsthafte Auseinandersetzung in zwölf glücklichen Ehejahren gewesen. Und leider sah John keinen Ausweg.
»Geh nicht nach London, John, ich flehe dich an.« Wieder und wieder hatte sie ihn im Laufe der Nacht darum gebeten. »Das wird ein schlimmes Ende nehmen, ich spüre es genau. Man wird dich töten.« Woher wollte sie das wissen? Außerdem ergab es keinen Sinn. Und diese Ängstlichkeit wollte so gar nicht zu ihr passen. »Bleib hier, John. Oder reise ins Ausland. Unter irgendeinem Vorwand. Aber nicht nach London. Cromwell wird dich nur benutzen.«
»Mich benutzt man nicht so leicht, Alice«, hatte er nachsichtig erwidert.
Aber sie hatte nicht locker gelassen. Und schließlich, kurz vor dem Morgengrauen, hatte sie angefangen, ihm bittere Vorhaltungen zu machen. »Ich glaube, John, du musst dich zwischen deinem Ehrgeiz und deiner Familie entscheiden.«
Dieser ungerechtfertigte Vorwurf hatte ihm die Sprache verschlagen. Also hatte er noch vor Tagesanbruch Haus Albion verlassen und war davongeritten.
Sein Blick blieb auf die ferne Festung gerichtet. Ein quälender Gedanke wollte ihm nicht aus dem Kopf: Was war, wenn sie Recht hatte?
Obwohl Alice durch den Tod ihres Vaters nur zwei Jahre nach ihrer Hochzeit Herrin über große Güter geworden war, hätte John nicht im Traum daran gedacht, sich in den New Forest zurückzuziehen und seine Karriere aufzugeben. Alice hatte es auch nie von ihm verlangt. So sehr sie ihn auch liebte, sie hätte gewiss keinen Gatten achten können, der von ihrem Geld lebte. Außerdem musste er zwei Söhne aus seiner ersten Ehe ernähren und dazu noch die Kinder, die er und Alice bald miteinander hatten. Also hatte er hart in seinem Beruf als Anwalt gearbeitet, und er war ein kluger Kopf. Deshalb war er rasch aufgestiegen. Und als König Karl I. sich nach elf Jahren Alleinregierung 1640 endlich gezwungen sah, ein neues Parlament einzuberufen, war John Lisle als wohlhabender und angesehener Mann Abgeordneter für Winchester geworden.
War er von übergroßem Ehrgeiz getrieben? Alice hatte leicht reden, denn sie war wohl behütet aufgewachsen. Schande, Scheitern, Ruin – nie hatte sie das durchmachen müssen. Als Student hatte John häufig gehungert, da sein betrunkener Vater ihn nicht unterstützte und er zu stolz gewesen war, bei seinen Kommilitonen betteln zu gehen. Für Alice war ein Beruf ein Zeitvertreib, etwas, das sich ohne viel Zutun ergab und aus dem man sich nach Belieben zurückziehen konnte. Für ihn hingegen war es eine Frage von Leben oder Tod. William Albion hatte Recht behalten. Etwas in ihm war hart wie Stahl. Und er wusste, dass er nach London gehen musste.
In diesem Augenblick verließ ein Trupp Reiter Hurst Castle. Das bleigraue Meer im Rücken, preschten sie über den Strand. König Karl I. war leicht zu erkennen, denn er war der kleinste von ihnen.
Die Männer nahmen einen seltsamen Weg. Anstatt durch Lyndhurst geradewegs zur Mitte des New Forest zu reiten, hielten sie sich am Waldesrand und steuerten nach Westen, wo Ringwood lag, um dann über Romsey in Etappen nach Windsor Castle zu reisen. Befürchteten sie etwa, jemand im New Forest könne versuchen, Karl zu befreien? John Lisle nahm sich vor, Cromwell danach zu fragen. Doch es kam ihm sehr unwahrscheinlich vor.
Obwohl König Karl I. das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt hatte, war es im New Forest ruhig geblieben. Im nahe gelegenen Southampton und in Portsmouth unterstützte man wie in den meisten Häfen das Parlament, das zudem die Londoner Kaufleute hinter sich wusste. Auch in Lymington schloss man sich der Meinung der größeren Hafenstädte an. Royalistische Adelige hatten versucht, die Insel Wight und Winchester für den König zu gewinnen, konnten ihre Stellung allerdings nicht halten. Doch da es im New Forest selbst keine wichtigen Städte gab, hatte man die Einwohner nicht weiter behelligt. Die einzige Änderung war, dass die königlichen Verwalter des Waldes seit dem Sturz der Regierung kein Gehalt mehr bezogen. Also bediente man sich – vom adeligen Förster bis hinunter zum einfachen Bauern – einfach selbst, sammelte Holz, jagte Hirsche und lebte von dem, was der Wald zu bieten hatte. Schließlich kannte man sich aus.
»Was soll der König jetzt noch dagegen haben?«, meinte Stephen Pride eines Tages vergnügt zu Alice.
Lisle fragte sich, ob die neue Regierung – ganz gleich, wie diese auch aussehen mochte – wohl Interesse am New Forest zeigen würde. Dann blickte er wieder zu den Männern hinüber, die in der Ferne über den Strand ritten. Wie war es möglich, überlegte er nun wohl schon zum hundertsten Mal, dass ein so kleiner und geistig unbedarfter Mann wie Karl I. ein Land in eine derart tiefe Krise hatte stürzen können?
Dass man in der Politik auch einmal Kompromisse schließen musste, war dem König völlig unbegreiflich geblieben. Halsstarrig hatte er an beim Parlament unbeliebten Ratgebern festgehalten, neue Steuern erhoben und katholische Kirchenfürsten begünstigt, die von der Bevölkerung abgelehnt wurden. Zu guter Letzt hatte er den streng calvinistischen Schotten seine Bischöfe aufgezwungen, die fanatische Anhänger der anglikanischen Hochkirche waren. Diese jüngste Wahnsinnstat hatte bei den Schotten bewaffneten Widerstand ausgelöst und dem Parlament Gelegenheit gegeben, seinen Willen durchzusetzen. Thomas Strafford, der allgemein verhasste Minister des Königs, wurde wegen Hochverrats hingerichtet, Erzbischof Laud in den Tower von London geworfen. Doch auch das hatte nichts genützt. Die Kluft zwischen den beiden Seiten war bereits zu tief. Also war es zu einem Krieg gekommen, in dem der König dank Oliver Cromwell und dessen »Rundköpfen« – aufständischen Londoner Lehrlingen – unterlegen war.
Doch selbst als Verlierer hörte Karl nicht auf, seine Widersacher gegeneinander auszuspielen. In Lisles Augen hatte das Scheitern des Königs in der letzten Schlacht bei Naseby das Fass zum Überlaufen gebracht. Beschlagnahmte Dokumente bewiesen zweifelsfrei, dass Karl I. beabsichtigte, wenn möglich eine Armee aus Irland oder aus dem katholischen Frankreich herbeizurufen, um sein Volk zu unterwerfen. »Wie sollen wir ihm glauben, dass er in England nicht wieder den Papismus einführt?«, hatte Lisle gefragt. Und als man ihn mit anderen Abgesandten zur Insel Wight geschickt hatte, um mit dem König zu verhandeln – man hatte den Monarchen dort gefangen gehalten, bevor man ihn in Hurst Castle einsperrte –, war ihm klar geworden, mit was für einem Mann er es zu tun hatte. »Er redet einem nach dem Mund, um Zeit zu gewinnen, denn er glaubt, dass er mit Gottes Gnaden regiert und uns deshalb nichts schuldig ist. Darin ist er wie seine Großmutter, Königin Maria von Schottland: Er wird immer weiter Ränke schmieden, bis man ihm den Kopf abschlägt.«
Und das war natürlich die Frage, die Alice und vielen anderen Zeitgenossen Sorgen bereitete. Denn hier schieden sich die Geister zwischen den kompromissbereiten Parlamentariern und den unnachgiebigen Militärs wie Cromwell, die fanden, dass der König sterben musste. Doch wie sollte man einen von Gott gesalbten König hinrichten? Niemand wagte sich die möglichen Folgen auszumalen.
Als Anwalt war John Lisle zu dem Schluss gelangt, dass man diesen König auf gesetzlichem Wege nicht loswerden konnte.
Denn die englische Verfassung war ziemlich uneindeutig formuliert. Altes Gewohnheitsrecht, Sitten, Präzedenzfälle hatten, ebenso wie Wohlstand und Einfluss der betroffenen Personen, die Politik in jeder Generation bestimmt. Das Parlament hatte voll und ganz Recht mit der Behauptung, es sei seit der Regierungszeit von Eduard I. also seit fast vierhundert Jahren, stets zu Rate gezogen worden. Und auch ein König konnte sich auf juristische Quellen berufen, wenn er das Parlament nach Belieben einsetzte und wieder auflöste. Allerdings irrte das Parlament, als es sich auf der Suche nach einem geschriebenen Gesetzestext auf die Magna Charta berief, denn es handelte sich bei dieser Urkunde um eine Vereinbarung zwischen König Johann und einigen aufständischen Baronen aus dem Jahr 1215, die vom Papst für illegal erklärt worden war. Andererseits enthielt die Magna Charta den bislang unbestrittenen Grundsatz, dass der König sich beim Regieren an Sitten und Gesetze halten müsse. Nicht einmal der unfähige Johann I. hatte sich göttliche Rechte angemaßt und hätte diese Vorstellung gewiss auch sehr befremdlich gefunden. Als das Parlament den mittelalterlichen und seit Jahrhunderten in Vergessenheit geratenen Brauch der Amtsenthebung wieder ausgrub, um Karls Ministern entgegenzutreten, hatte er das Recht auf seiner Seite. Hingegen handelte es sich bei der kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges aufgestellten Behauptung, das Parlament könne gegen die königliche Ernennung von Ministern ein Veto einlegen und darüber hinaus die Armee befehligen, um eine juristische Fehleinschätzung.
Alles in allem jedoch fand Lisle, dass diese Erwägungen keine Rolle spielten. »Verstehst du denn nicht«, meinte er zu Alice. »Der König hat sich auf eine juristisch unangreifbare Position zurückgezogen, indem er sich als von Gott erwählter Quell des Gesetzes bezeichnet. Und deshalb kann sich das Parlament auf den Kopf stellen; er wird jede Entscheidung, die ihm nicht gefällt, einfach für illegal erklären. Cromwell will ihm den Prozess machen. Gut, wird der König sagen, dann ist das Gericht eben auch illegal. So wird er manche Leute verwirren und ins Grübeln bringen.« Sein juristisch geschulter Verstand sah die Dinge mit schonungsloser Klarheit. »Es ist ein perfekter Zirkelschluss, und er kann ewig so weitermachen, bis zur Wiederkehr Jesu Christi.«
Allerdings war es auch gefährlich, mit den Gesetzen und Bräuchen zu brechen. Einen unfähigen König abzusetzen, war eine Sache, doch ihn gleich hinzurichten? Und wer sollte an seine Stelle treten? Viele Mitglieder des Parlaments waren wohlhabende Männer, die Ordnung verlangten. Sie befürworteten zwar den Protestantismus – vorzugsweise ohne Karls Bischöfe –, hielten allerdings gesellschaftliche und religiöse Regeln für unabdingbar. Bei Angehörigen der Armee und den Bürgern machte jetzt eine neue Forderung die Runde: Die so genannten Independenten verlangten Religionsfreiheit für jedes einzelne Kirchspiel – natürlich nur, solange es sich für den Protestantismus entschied. Noch Besorgnis erregender war die Fraktion der Leveller in der Armee, einer radikalen Gruppierung, die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht für Männer und womöglich sogar die Abschaffung des Privatbesitzes verlangte. Kein Wunder also, dass die Herren im Parlament zögerten und hofften, doch noch eine Einigung mit dem König zu erzielen.
Bis vor zwei Wochen zumindest. Dann hatte die Armee zugeschlagen. Oberst Thomas Pride war ins Parlament einmarschiert und hatte alle festnehmen lassen, die nicht mit ihm zusammenarbeiten wollten. Es handelte sich schlicht und ergreifend um einen Staatsstreich – Pride’s Purge, also Prides Säuberung genannt –, der stattfand, während Cromwell taktvoll durch Abwesenheit glänzte.
»Glaubst du, dass dieser Pride etwas mit unseren Prides hier im New Forest zu tun hat?«, hatte Alice lächelnd wissen wollen.
»Mag sein.«
»Ich kann mir gut vorstellen, wie Stephen Pride Mitglieder des Parlaments verhaftet.« Sie kicherte. »Es würde zu ihm passen.«
Doch inzwischen war ihr das Lachen vergangen. Als der Dezember verstrich und der Tag näher rückte, an dem Karl I. aus der kleinen Festung an der Küste des New Forest nach London verbracht werden sollte, wuchs ihre Niedergeschlagenheit.
»Man könnte meinen, dass ich es bin, der vor Gericht gestellt werden soll«, merkte Lisle spitz an.
Noch schlimmer wurde die Sache dadurch, dass – wie ihm zu Ohren gekommen war – einige angesehene Anwälte und Befürworter des Parlaments diskret einen Rückzieher gemacht hatten. Und als Alice meinte: »Cromwell hat nicht genügend Anwälte, und deshalb braucht er dich«, wusste er, dass sie Recht hatte.
Und wenn er nun nicht nach London ging? Wenn er eine plötzliche Erkrankung vortäuschte und im New Forest blieb? Würde Cromwell dann kommen und ihn verhaften? Nein. Gar nichts würde geschehen. Man würde ihn in Ruhe lassen. Allerdings durfte er sich dann von der neuen Regierung keine Posten oder Vergünstigungen erwarten.
Insofern hätte Alices Bemerkung doch etwas Wahres: Er war ehrgeizig. Und dieser Ehrgeiz trieb ihn nun, der Gerichtsverhandlung gegen den König beizuwohnen.
Und auch das Gewissen, dachte er verärgert. Er wusste, dass es feige gewesen wäre, sich vor dieser Aufgabe zu drücken. Das hätte er sich selbst nie verziehen.
Ehrgeiz und Gewissen also.
Nun verließen der König und seine Bewacher den Strand und waren bald nicht mehr zu sehen. Zögernd machte John Lisle kehrt und ritt nach Hause. Er und Alice hatten in den letzten zehn Jahren verschiedene Häuser bewohnt, in London, in Winchester und auf der Insel Wight, wo er damit beschäftigt gewesen war, sein eigenes Gut in Stand zu halten. Auch Moyles Court im Avontal und Haus Albion, das von Alice bevorzugt wurde, hatten ihnen als Zuhause gedient. Jetzt, kurz vor Weihnachten, wohnten sie in Haus Albion.
Was würde sie bei seiner Rückkehr sagen?
Er hatte gedacht, dass sie noch schlafen würde, doch sie erwartete ihn an der offenen Tür. Zum Glück hatte sie sich wenigstens einen Mantel über das Nachthemd gezogen, denn es war bitterkalt. Stand sie schon dort, seit er fortgeritten war? Er wurde von Schuldgefühlen ergriffen. Er liebte sie doch so sehr. Ihre Augen waren gerötet. Er stieg vom Pferd und ging auf sie zu. »Ich bleibe bis nach Weihnachten«, sagte er. »Dann denken wir noch einmal darüber nach.« Er redete sich ein, dass auch der letzte Satz der Wahrheit entsprach, obwohl er sich schon längst entschieden hatte.
»Ist der König fort?«
»Ja, er ist unterwegs.«
Sie nickte traurig. »John«, meinte sie plötzlich, »du musst tun, was Gott dir befiehlt. Wir, die Kinder und ich, halten zu dir. Erfülle deine Pflicht. Ich bin deine Frau.«
Und eine wunderbare Frau obendrein, dachte er. Er legte den Arm um sie und ging mit ihr ins Haus, eine neue Freude im Herzen.