20
Geduldig ließ Rule einen zweiten Teeaufguss über sich ergehen, obwohl Sams Enthüllungen große Unruhe in ihm ausgelöst hatten. In seinem Kopf gingen die Gedanken durcheinander, und er unternahm keinen Versuch, sie zu ordnen. Noch nicht. Es gab eine Zeit des Innehaltens und Durchdenkens von Problemen. Und es gab eine Zeit, in der das Denken nur flüchtiger Schaum auf der Oberfläche eines Flusses war, der tiefer und ungesehen seinen eigenen Verlauf nahm.
Vor allem beobachtete er Lily.
Sie war aufgewühlt, und das lag nicht nur an der Bedrohung durch die Chimei. Verwirrt sei sie, hatte sie gesagt. Er verstand das nicht. Er versuchte, nicht gekränkt zu sein. Er wusste, dass sie sich immer als Mensch gesehen hatte, und es war schwer, sein Bild von sich selbst zu ändern, wenn man dazu gezwungen war. Aber war ihr Begriff der Menschlichkeit wirklich so eng? Ein bisschen Drachenblut konnte sie doch wohl nicht daran zweifeln lassen?
Als der Tee eingeschenkt war, atmete er tief ein, nahm den Duft in sich auf. Eine Frage schwebte hoch zu dem Schaum auf dem Fluss seiner Gedanken. Wie würde er es aufnehmen, wenn er erführe, dass er nicht nur ein Lupus war?
Nicht gut, gestand er sich ein, und nahm einen Schluck.
Weitere Fragen, drängendere: Was sollten sie gegen die Chimei unternehmen? Wie konnten sie sie aufhalten?
Noch vor einem Jahr hätte er sich auf diese Fragen gestürzt, hätte mit ihnen gerungen, wäre hartnäckig auf ihrer Spur geblieben. Seitdem hatte sich das Gleichgewicht zwischen Mann und Wolf verschoben … vielleicht gezwungenermaßen, und es war ihm nicht leichtgefallen, es zu akzeptieren. Aber das neue Gleichgewicht war gut. Jetzt war sein Wolf präsenter. Manche Situationen – wie in Krankenhäusern – waren nun schwerer zu bewältigen, in anderen gab es ihm mehr Halt.
Wie jetzt zum Beispiel. Sie wussten noch nicht genug. Einige Formen waren leicht sichtbar, aber der Nebel war noch zu dicht, um sie zu erkennen. Es war noch nicht an der Zeit zu handeln oder zu entscheiden, wie sie handeln sollten.
Er warf Lily einen Blick zu. Zwischen ihren Brauen war eine kleine Falte aufgetaucht. Sie schien zwar die Tasse in ihren Händen anzusehen, aber er bezweifelte, dass sie sie wirklich sah. Er würde es ihr überlassen, den ersten Schritt zu tun, beschloss er. Bald würde sie anfangen, Fragen zu stellen. Und die Formen würden deutlicher werden.
Vorerst entspannte sich Rule. Die Luft war beinahe unerträglich trocken, was die Gerüche, die sie zu ihm trug, dämpfte, die aber wunderbar waren – Kreosotbusch, Zypresse und Rhus, wilder Senf und Cylindropuntia und darüber die satte Feuchtigkeit des Stausees. Der San Miguel Mountain roch nach Heimat, nur ohne viel Wolfsgeruch. Und mit viel Drache.
Die meisten Wölfe hätte das abgestoßen – jedoch nicht, weil der Geruch unangenehm war. Sams Duft war so unwiderstehlich wie seine kraftvolle Gestalt, aber unter die Noten von Metall, Gewürz und Geheimnis mischte sich das Fleischige eines Raubtiers. Der Geruch weckte das lauernde Tier in ihm, ließ sein Fell sich sträuben und es den Drang verspüren, vor etwas viel Größerem und Gefährlicherem zu fliehen, als ein Wolf es jemals sein konnte.
Rules Tier blieb ruhig. Es kannte diesen Geruch, seinen Drachen.
Die Luft wurde warm, vielleicht unangenehm warm für Menschen. Rule fragte Li Qin, ob sie sich hier wohlfühle, ob sie irgendetwas brauche. Sie versicherte ihm, dass es in Sams Höhle viel kühler sei. Er hatte ihr dort drinnen einen kleinen „Raum“ gegraben und ihn so verzaubert, dass er immer kühl war. Dazu schicke er die Hitze irgendwo anders hin, erklärte sie ihm, durch die Steine.
Rule lächelte. Li Qin erweichte sogar das Herz des schwarzen Drachen.
Lily erkundigte sich, was sie Li Qin bringen könne. Essen? Eine Luftmatratze? Bücher? Rules Gedanken wanderten zurück zu Wölfen und Drachen.
Wölfe zogen es vor, die Flucht zu ergreifen, wenn sie einem Gegner gegenüberstanden, den sie unmöglich besiegen konnten – in seinen Augen eine gesündere Einstellung als das Aufprotzen der Menschen. Aber Rules Wolf kannte diesen bestimmten Drachen. Das machte ihn nicht unvorsichtig, aber seine Nackenhaare legten sich. Er und Sam waren keine Freunde, aber sie respektierten und ehrten einander. Sam war sehr ehrenhaft, seiner Auffassung nach.
Und sehr gerissen, fand Rule und nahm noch einen Schluck.
Dieses Mal schien das Teetrinken Lily zu beruhigen, die jedoch ihre Tasse noch nicht geleert hatte, als sie schon die erste Frage stellte, die wie eine Feststellung klang. „Ich wüsste gern, wohin Sam gegangen ist. Was er vorhat.“
Li Qin spreizte anmutig die Finger. „Vielleicht hat er gerade in diesem Moment etwas vor. Vielleicht ist er aber auch nur gegangen, um nicht in die Versuchung zu geraten, unsere Unterhaltung zu lenken.“
„Er hat uns empfohlen, uns unter uns zu beraten. Er glaubt, dass wir so zu der nötigen Klarheit gelangen, um zu entscheiden, was als Nächstes zu tun ist.“ Lily betrachtete stirnrunzelnd ihre fast leere Tasse. „Weißt du, wo Großmutter ist? Was hat sie vor?“
„Nein, ich weiß es nicht. Sam behauptet, sie habe sich versteckt.“
„Das heißt nicht, dass sie nicht irgendetwas vorhat.“ Lily nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie dann ab. „Vielleicht können wir damit beginnen, dass du uns die Geschichte von Großmutter und der Chimei weitererzählst. Du sagtest, dass Sam – Sun Mzao – hoffte, es würde ihr irgendwie gelingen, den Dämon unschädlich zu machen. Aber wie?“
„Die Chimei hatte sich einen jungen Zauberer zum Geliebten genommen, der im Gegenzug die Stadt in seine Gewalt gebracht hatte. Während Li Lei in den Bergen bei Sam studierte, veranlasste der Zauberer den Tod ihrer gesamten Familie.“
„Verdammte –“ Rule konnte sich gerade noch zurückhalten. „Entschuldigung. Aber … sie war erst siebzehn, sagtest du?“
„Siebzehn war sie, als sie zu Sam ging. Neunzehn, als ihre Familie ermordet wurde.“
„Hat sie den Zauberer getötet?“, fragte Rule.
Li Qin nickte. „Die Einzelheiten kenne ich nicht, doch weiß ich, dass Li Lei mit dieser Absicht nach Luan zurückgekehrt ist und auch erfolgreich war.“ Sie setzte ihre Tasse ab. „Viele Jahre lang habe ich nur Teile der Geschichte gekannt. Die Fragen, die ich heute gerne stellen würde, schienen früher nicht so wichtig zu sein. Li Lei fiel es nie leicht, darüber zu sprechen, deswegen habe ich sie nicht gedrängt.“
Lilys Finger trommelten auf den Tisch. „Hat sie dir denn gar keine Erklärung gegeben, als sie dich bat, bei Sam Zuflucht zu suchen?“
„Sie sagte, das könne sie nicht. Und offensichtlich ärgerte es sie.“
„Dieses Abkommen, von dem Sam gesprochen hat, hindert sie heute daran, aber früher hat sie sich nicht davon abhalten lassen.“
„Das nehme ich an. Wissen tue ich es nicht.“
Rule sagte: „Sam sagte, Absicht sei ein Faktor.“
Lilys Blick schnellte zu ihm. „Ja, das hat er, nicht wahr?“
„Ich kann nicht behaupten, dass ich die Absicht eines anderen kennen würde“, sagte Li Qin bedächtig, „aber ich glaube nicht, dass sie mir nichts sagte, damit ich nichts gegen die Chimei unternehme. Ich würde sagen, sie hatte rein persönliche Gründe.“
„Hmm.“ Lilys Finger hatten wieder zu trommeln begonnen. „Aber Großmutter hat den Zauberer, der ihre Familie ermordete, getötet. Dessen bist du dir sicher.“
„Li Lei ist sich dessen sicher.“
„Die Sache ist nämlich die, dass es so aussieht, als würde die Chimei … hat sie eigentlich einen Namen?“
Li Qin drehte die Handflächen nach oben. „Das weiß ich nicht. Kann ein Wesen auch keinen Namen haben?“
„Keine Ahnung. Mist, ich habe mein Notizbuch im Wagen vergessen. Schon gut“, sagte sie zu Rule, als der sich erheben wollte, um es zu holen. „Ich notiere es mir später. Ich wollte sagen, Li Qin, dass es so aussieht, als hätte sich die Chimei wieder mit dem Zauberer zusammengetan. Das ist nicht sicher, wäre aber eine Möglichkeit.“
„Aha. Nein, ich glaube nicht, dass es derselbe Zauberer ist. Aber in den Volksmärchen ist von Männern die Rede, die unwissend einen Dämon oder einen Geist zur Frau oder Konkubine nehmen. Das ist ein häufiges Thema. Ich habe es kürzlich Li Lei gegenüber erwähnt, weil ich die Vorstellung komisch fand, dass ein Geist sich eine menschliche Frau wünscht. Sie sagte, was Geister angeht, könne sie dazu nichts sagen, aber für einen Dämon wäre die Paarung mit einem Menschen die einzige Möglichkeit, im Fleisch zu sein.“
„Im Fleisch?“
Li Qin legte den Kopf schief und überlegte. „Nein, ich glaube, es war eher ‚im Körper‘. Ihre Worte waren zài shen ti. Das ist ein seltsamer Ausdruck, deswegen habe ich ihn mir auch gemerkt. Damals dachte ich, dass sie ein ungezogenes Wortspiel machte – in einem Körper, in einer Frau sein. Jetzt frage ich mich, ob sie diese Körperlichkeit meinte, von der Sam sprach.“
Lily sah zu Rule. „Shen ti heißt Körper oder Gesundheit. Zài bedeutet so etwas wie in, das trifft es aber nicht genau. Man sagt damit, dass man an einem bestimmten Ort oder gerade dabei ist, etwas zu tun. Aber wenn man es anders benutzt, dann heißt es einfach ‚sein‘, ‚existieren‘. Deswegen passt es gut.“
Er nickte. „Du meinst, die Verbindung, die die Chimei zu ihrem Geliebten hat, ist notwendig, damit sie … wie hat Sam es ausgedrückt? Um ihre Körperlichkeit wiederherzustellen.“
„Das klingt zumindest, als sei es möglich. Sexmagie ist eine alte Tradition, und wenn sie sich immer einen Zauberer als Partner sucht, braucht sie ihn vielleicht für ein Ritual oder so etwas. Wir können später Cullen fragen, was er davon hält.“ Sie sah wieder Li Qin an. „Als Großmutter den Zauberer getötet hat, weißt du, ob da – Mist.“ Ihr Telefon klingelte. „Erstaunlich, dass ich hier Empfang habe.“
Li Qin lächelte. „Oh, dafür hat Sam gesorgt. Er wollte nicht, dass ich mich einsam fühle. Außerdem interessiert er sich, glaube ich, für Technik und wollte sehen, ob er es kann.“
Lily warf ihr einen verblüfften Blick zu, aber als sie die Nummer auf dem Display ihres Handys sah, meldete sie sich knapp: „Lily Yu.“
„Sam kann ein Handynetz verstärken?“, fragte Rule Li Qin. Er hörte nicht bewusst auf Lilys Unterhaltung, während er mit Li Qin sprach, aber hörte auch nicht bewusst weg. Als sich der Anrufer als Deputy Cody Beck herausstellte, verspürte er Unmut – und ärgerte sich sofort über seine Reaktion.
„Ich weiß nicht, wie er das macht – aber schließlich weiß ich ja auch nicht, wie Handys funktionieren.“ Sie lächelte. „Ich glaube, Sam kennt sich da besser aus.“
„Wenn das, was er macht, reproduzierbar wäre, wäre eine Menge Geld damit zu verdienen.“
„Ich glaube nicht, dass Sam an Geld etwas liegt. Er sagt, er will nicht, dass seine Versprechen überall verstreut sind und von Versprechen, die zu freizügig vergeben werden, hält er auch nicht viel.“
Geld als ein kollektives Versprechen? Das war eine interessante Sichtweise. „Aber wenn er eine Möglichkeit gefunden hat, Magie und Technik gleichzeitig funktionieren zu lassen oder sogar zusammen … hmm.“ Vielleicht wäre das ein Gefallen, den er für die Nokolai aushandeln könnte.
Lily beendete das Gespräch. „Wir müssen los.“
„Was ist passiert?“
„Cody hat eine Leiche gefunden.“
Die Leiche sei, teilte sie ihm mit, bereits im Leichenschauhaus.
„Das Opfer wurde also mit einem einzigen Stich ins Herz getötet.“ Rule ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Er musste wenden, und hier, auf Sams Rampe, hatte er genug Platz dafür.
Lily klickte den Sicherheitsgurt ein. „Sieht so aus. Die diensthabenden Beamten haben es nicht entdeckt, was man ihnen aber wohl kaum vorwerfen kann. Der Tote wurde gestern gefunden, war aber schon eine Weile tot. Und bei der Hitze …“ Sie zuckte die Achseln.
Rules Nase zuckte mitfühlend. „Weiß man bereits mehr über ihn?“
„Wenn ja, hatte Cody es noch nicht vorliegen. Nur, dass der Mann von hinten mit einer dünnen Klinge erstochen wurde, die in sein Herz eingedrungen ist. Kein Hinweis darauf, dass Magie involviert war, aber das muss ja nicht unbedingt sein. Ähm … du brauchst mich nicht zu begleiten.“
„Ich bin absolut in der Lage, mich zu beherrschen.“
„Natürlich, aber du findest es ganz schrecklich dort.“
Leichenhallen mochte Rule weder als Mann noch als Wolf, aber dem Wolf waren sie noch mehr zuwider. Warum, wusste Rule nicht. Der Tod von Fremden berührte Wölfe gewöhnlich nicht, aber aus irgendeinem Grund wurde sein Wolf inmitten von so vielen toten Körpern unruhig. Auf Friedhöfen war das nicht so. Nur in Leichenhallen. „Aber ich warte auch nicht gern im Wagen.“
„Na gut. Was ist mit deinen Bodyguards? Bestellst du sie dorthin?“
„Bei einem Killer, der ihnen weismachen kann, dass er nicht da ist oder dass du mich angreifst, wären sie wohl nicht von großem Nutzen.“
„Stimmt.“ Sie zückte ihr Telefon. „Ich rufe meine Mutter an.“
Seine Augenbrauen hoben sich. „Freiwillig?“
„Ich will mich nur vergewissern … Ach, Mist! Die Mailbox. Äh – Mutter, hier ist Lily. Ich muss mit dir über etwas Wichtiges sprechen. Ruf mich bitte zurück, ja?“
„Du willst dich vergewissern, dass es ihr gut geht“, sagte Rule, als sie auflegte.
„Ich will sie daran erinnern, dass sie diesen Talisman tragen soll. Meine Mutter hört nicht auf meine Großmutter, was ich auch verstehen kann. Großmutter bittet nicht – sie befiehlt. Und meistens ohne jede Erklärung. Wenn sie also meiner Mutter gesagt hat, sie soll einen Talisman aus einer Drachenschuppe tragen, heißt das nicht, dass sie es auch tut.“
Das stimmte. „Das weiß Madame Yu sicher.“
„Sie müsste es wissen, aber in unserer Familie ist es üblich, dass Mutter meiner Großmutter zustimmt und dann doch tut, was sie will. Deswegen hat sie möglicherweise zugestimmt und versprochen, den Talisman zu tragen, aber –“ Ihr Telefon unterbrach sie mit den ersten Takten von „Star Spangled Banner“.
Dieser Klingelton kündigte ihren Chef an, Ruben Brooks. Sie ging sofort dran. „Hallo, Ruben. Sie müssen hellsehen können. Ich wollte Sie gerade anrufen.“
Da Ruben in der Tat hellsehen konnte – seine Gabe war die Präkognition, das Wissen von Ereignissen, bevor sie sich ereigneten –, war ihre Bemerkung als Scherz gemeint. Aber Brooks lachte nicht. Rule konnte seine Antwort hören. Sein Gehör war zwar in seiner jetzigen Gestalt nicht so scharf wie in der anderen, aber da Lilys Telefon sich gleich in seiner Nähe befand, konnte er gar nicht anders, als mitzuhören.
„Lily, ich hatte gestern Nacht einen beunruhigenden Traum. Oder eher eine Reihe von Träumen, die alle in San Diego spielten.“
„Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie Träume haben.“
„Nein, normalerweise manifestiert sich meine Gabe auch nicht auf diese Weise. Und wenn doch, dann bedeutete es im Allgemeinen, dass es viele Tote geben wird. Ich habe das Gefühl, dass es nicht klug wäre, zu diesem Zeitpunkt die Truppen hinzuzuziehen, aber ich bin unsicher, welche Schritte ich unternehmen soll.“