27
T.J. hatte nicht nur eine Sirene, sondern auch Polizeifunk in seinem Wagen. Diesem und den normalen Nachrichten lauschten sie während ihrer rasenden Fahrt zum Krankenhaus. Anscheinend war das Feuer genau zu dem Zeitpunkt erloschen, als Sam sich auf dem Dach niedergelassen hatte. Die Feuerwehrleute waren perplex.
Lily nicht – nicht über die Ursache. Aber das Motiv war ihr ein Rätsel. Sam war ein ethisches Wesen, aber seine Moralvorstellungen stimmten nur selten mit denen der Menschen überein. Lily war überzeugt, dass er nicht urplötzlich entschieden hatte, ein beschuppter Feuerwehrmann zu werden.
Es war von einer Bombe die Rede, doch bisher waren alle Berichte darüber konfus und unbestätigt. Offiziell gab es keine Opfer, aber eine Person sagte in einem Interview, die Sprinkleranlage des Krankenhauses sei nicht losgegangen und die Technik sei zu großen Teilen gestört gewesen. Das hörte sich nicht gut an.
Lily bekam weder Rule noch Cynna ans Telefon. Sie wusste, dass Rule lebte. Das sagte ihr das Band der Gefährten. Aber sie machte sich Sorgen um die anderen.
Selbst mit Sirene kam T.J. nicht ganz an die Anlage heran. Es war, als habe die Hälfte der Leute in der Innenstadt die Flucht ergriffen, als der Drache aufgetaucht war – und die andere Hälfte ihre Autos und Büros verlassen, um ihn besser sehen zu können. Auf den Bürgersteigen und Straßen war kein Durchkommen.
T.J. parkte am Anfang der Frost Street. Sobald der Wagen anhielt, sprang Lily hinaus die ofentrockene Hitze – und zuckte zusammen, als eine kühle, metallene Stimme sagte Dein Gefährte und deine Kameraden leben.
„Danke“, flüsterte sie Sam zu.
Das Memorial war ein großes Krankenhaus. Und wie viele große Krankenhäuser hatte es sich vermehrt: Parkgaragen, Gebäude für ambulante Behandlungen und Rehabilitation, eine Frauenklinik und eine Kinderklinik. Das Hauptgebäude war in Form eines V gebaut. Sich durch die verlassenen Fahrzeuge und gaffenden Fußgänger schlängelnd, steuerten sie die westliche Spitze des Vs an.
Woher kamen bloß plötzlich all die Leute? Im Sommer neigten die Bewohner von San Diego nicht zu Aktivitäten im Freien. Dazu war es einfach zu heiß.
„Sind meine Kameraden unverletzt?“, fragte Lily Sam. „Und Nettie. Sie ist die Ärztin des Clans. Sie hat sich um Cullen gekümmert. So wie Jason. Er ist ein Nokolai.“
„Äh, Lily?“ T.J. warf einen Blick zurück zu ihr. „Redest du mit mir?“
„Nein. Ich spreche mit dem Drachen.“
„Na klar. Sehr lustig.“
Deine Frage ist ungenau. Wenn du wissen möchtest, ob einer von ihnen heute Schaden genommen hat, dann kann ich dir sagen, dass Cynna Weaver hustet, sie aber im Wesentlichen unverletzt ist. Der Gnom ist unversehrt. Cullen Seabourne schläft. Die Heilerin ist bei ihm … Ja, ich sehe, dass sie Nettie genannt wird. Sie ist unversehrt, genauso wie der Pfleger, der bei ihnen ist. Rule Turner hat Schnittwunden am Arm, aber sie heilen. Er ist festgenommen worden.
„Er ist was?“
Er hat eine Bombe geworfen. Die Polizei findet das verdächtig.
Eine Bombe. Lily atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Eine Frage nach der anderen. „Und was machst du hier?“
Ich habe das Feuer gelöscht und die Energie aufgenommen, die der Zauberer benutzt hat, um die Technik dieses Gebäudes außer Kraft zu setzen. Die meiste Technik funktioniert jetzt wieder. An einigen Stellen … Ich glaube, ihr sagt, sie spinnt.
„Ja, so sagen wir.“ Das erklärte, warum sie bisher weder Rule noch Cynna auf dem Handy hatte erreichen können. „War das eine direkte Antwort auf meine Frage, oder gibt es noch andere Gründe –“
„Ich fange an, mir wirklich Sorgen zu machen“, sagte T.J.
„Ich bin nicht diejenige, die sich seltsam benimmt. Du bist es – denn du hast mich zum Mittagessen eingeladen.“
Er schnaubte.
Ihr Haaransatz wurde bereits feucht, vor allem im Nacken, und sie bereute, dass sie sich das Haar heute Morgen nicht hochgebunden hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte.
Sie waren schon beinahe an einer der großen Parkgaragen vorbei, sodass sie den Westflügel des Krankenhauses und einige Rettungswagen davor sehen konnte. Auf dem Rasen stand ein LKW mit einem hydraulischen Kran, dessen Plattform bis zum zweiten Stock angehoben war. Weiße Rauchfahnen zogen aus einigen der Fenster.
Geradeaus vor ihnen stand der Ü-Wagen von Channel 7. „Hier entlang“, sagte sie, T.J. am Ärmel ziehend. „Wenn wir können, sollten wir den Reportern lieber aus dem Weg gehen. Du weißt doch, dass Drachen sich in Gedankensprache verständigen, nicht wahr? Nun, Sam mag es lieber, wenn wir laut antworten. Er sagt, sonst seien unsere Gedanken zu wirr.“
Menschen denken immer wirr, informierte Sam sie, aber noch schlimmer ist es, wenn sie ihre Gedanken nicht aussprechen. Der Officer, der meint, er sei nun zuständig für Rule Turner, hat einen besonders ungeordneten Verstand. Das hat dazu geführt, dass ich mich versprochen habe, weil ich meine Aufmerksamkeit aufteilen muss. Ich höre die Gedanken mehrerer Personen gleichzeitig und halte zudem noch Ausschau nach dem Zauberer und der Chimei.
Lily hatte den Verdacht, dass der Drache meinte, er habe „unrecht“, wenn er sagte, er habe sich „versprochen“. „Wo hast du dich denn versprochen?“
Der Officer hat Rule Turner nicht festgenommen. Er hat es entweder vor oder will es tun. Zwischen seiner Absicht und seinem Wunsch sehe ich kaum einen Unterschied. Sehr verworren.
Vor ihnen wurde eine Gruppe von Leuten von einer Polizeisperre zurückgehalten. Dahinter sah sie Ströme, Strudel und Pfützen von Rettungskräften und Polizei. Von hier aus konnte sie nicht erkennen, wohin die Patienten evakuiert worden waren. „Warum hat Rule eine Bombe geworfen?“
„Er hat was getan?“, verlangte T.J. zu wissen.
Er wollte verhindern, dass sie im Krankenhaus explodiert. Eine vernünftige Handlung, aber der Officer schenkt seinem Bericht keinen Glauben, obwohl es einen Zeugen gibt, der es bestätigt.
„Woher kam die Bombe?“
Der Zauberer hatte sie vor Cullen Seabournes Zimmertür deponiert, nachdem er das Feuer geschaffen und das anschließende Durcheinander als Deckung genutzt hatte. Die Chimei war nicht bei ihm, deswegen konnte er nicht auf ihre Illusionskünste zurückgreifen. Ist der Mann, der jetzt bei dir ist, dein Freund?
„Ein Kamerad“, sagte sie, weil ihr das Wort gefiel. „Und ein Freund.“
Er fragt sich, ob du verrückt wirst. Ich werde mit ihm reden. Er wird uns weniger von Nutzen sein, wenn er an deiner geistigen Gesundheit zweifelt.
„Gut.“ Jetzt waren sie an der Polizeisperre angekommen. „FBI“, erklärte sie einem der Uniformierten und zückte ihren Ausweis. „MCD, Einheit 12, Special Agent Lily Yu. Ich muss da durch.“
„Oh mein Gott“, sagte T.J. und wurde blass. „Ja. Natürlich. Oh mein Gott.“
„Verdeckter Funk“, sagte Lily dem Officer, der T.J. argwöhnisch beäugte. „Er ist vom SDPD, aber er gehört zu mir. Wer hat die Leitung? Hennessey?“ Carl Hennessey war der hauptverantwortliche Einsatzleiter der Feuerwehr. Ein Krankenhausbrand war ein Vorfall größeren Ausmaßes, da wurden die schweren Geschütze aufgefahren.
Der Officer studierte ausgiebig ihren Ausweis, bevor er ihn ihr zurückgab. „Das Feuer ist gelöscht. Sie können mit Captain Dreyer sprechen, Ma’am. SDPD.“
Lily zog die Augenbrauen hoch. Ein so hochrangiger Polizeibeamter wurde nur hinzugezogen, wenn ein terroristischer Akt vermutet wurde. Sie verstand durchaus, wie sie darauf kamen. Aber in einem solchen Fall würde die Polizei auch eine Evakuierung des Gebietes anordnen und nicht zulassen, dass Zivilisten auf der Straße zusammenliefen, um einen hübschen Drachen zu bestaunen.
Sie duckte sich unter der behelfsmäßigen Sperre hindurch. „Wo finde ich Captain Dreyer? Und warum löst niemand die Menschenansammlungen auf?“
„Das weiß ich nicht, Ma’am. Ich hole den Sergeant, Ma’am. Er kann Ihnen Ihre Frage –“
„Sandy!“, brüllte T.J. „Hierher!“
Ein Mann, dessen Haut beinahe so dunkel war wie die Schuppen des Drachen, sah in ihre Richtung. Er hatte den Streifen eines Sergeants auf dem Ärmel und den Körperbau und die Miene eines Abwehrspielers, der gleich den Quarterback niederreißen würde. Diese Miene hellte sich auch kein bisschen auf, als er zurückrief: „T.J., du verrückter Hund. Was machst du denn hier?“
„Ich renne Agent Yu hinterher.“ T.J. zeigte mit dem Daumen auf Lily. „Sie war mal eine von meinen Leuten, ist aber jetzt zur Bundespolizei übergelaufen. Sie will, dass diese Gruppe da aufgelöst wird.“
Das Stirnrunzeln des Sergeants wurde tiefer. Mit ein paar langen Schritten war er bei ihnen.
„Jeder beschissene Idiot weiß, dass die Ansammlungen aufgelöst werden müssen“, sagte er mit leiser Stimme. „Jeder beschissene Idiot außer unserem Captain. Sorry, Ma’am“, sagte er, an Lily gewandt. „Wir haben die Anweisung, das Gebiet zu sichern, bis Verstärkung eintrifft.“
„Die Verstärkung wird nicht bis zu Ihnen durchdringen können“, sagte sie. „Die Einsatzfahrzeuge kommen nicht durch die Menge durch.“
Die Runzeln wurden noch tiefer. „Ja, Ma’am, aber –“
„Sie ist von der Einheit 12, Sandy“, rief ihm T.J. in Erinnerung. „Sie hat hier das Sagen, nicht Dreyer.“
Jetzt guckte der Sergeant gequält. „Magische Scheiße?“
„Magische Scheiße“, bestätigte Lily, obwohl sie das eigentlich noch nicht wusste. Aber Sam hatte ja gesagt, dass der Zauberer die gesamte Technik des Krankenhauses ausgeschaltet hatte, nicht wahr? „Ich will nicht, dass Sie Ärger mit Ihrem Captain bekommen, aber diese Leute müssen da weg. Besorgen Sie sich ein paar Megafone. Gibt es Todesopfer?“
„Mindestens zwei. Das Feuer war auf den zweiten Stock begrenzt.“
Cynna Weaver will, dass du dich beeilst.
Lily riss den Kopf hoch. Warum?
Der Officer mit den wirren Gedanken hat andere Officers geschickt, die Cullen Seabournes Zimmer räumen sollen. Cynna Weaver will nicht gehorchen. Was nachvollziehbar ist. Ich glaube zwar nicht, dass der Zauberer hier ist, aber selbst wenn er es wäre, könnte ich seinen Geist nicht wahrnehmen. Daher ist es möglich, dass er noch in der Nähe ist und seine Aufgabe beenden will. Er wäre dumm, sich hier noch länger aufzuhalten, wenn ich hier bin, aber vielleicht ist er ja dumm.
„Und wir wissen nicht, ob er nicht noch die Fäden bei anderen zieht, die … Äh, ich denke nur laut“, sagte sie zu dem verwirrten Sergeant. „Schon gut. Besorgen Sie die Megafone. Tun Sie, was Sie können, und ich unterhalte mich kurz mit Ihrem Captain. Wo ist er?“
„Die Kommandozentrale ist vor dem Hauptplatz, Ma’am. Da, wo die Patienten abgeladen werden.“ Er zögerte und warf T.J. einen Blick zu.
„Mach dir um mein Mädchen keine Sorgen“, sagte T.J. „Die kommt mit Dreyer schon klar.“
Der Sergeant schüttelte den Kopf und brummte etwas. Es hörte sich nicht so an, als würde er damit sein Vertrauen in T.J.s Worte zum Ausdruck bringen.
Lily dankte ihm und marschierte schnellen Schrittes zurück zur Straße, um die Schwärme von Rettungskräften und ihre Ausrüstung zu umgehen. T.J. blieb an ihrer Seite. Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Ich kenne Dreyer nicht. Gardia war Chef der Streife, als ich noch Uniform trug. Kennst du ihn?“
„Ja. Er ist ein Arschloch. Macht seinen Job, aber er ist ein Arschloch. So ein kleiner Kläffer.“
Das war ihr interner Code gewesen, als er noch ihr Mentor gewesen war. T.J. verglich alle Menschen mit Hunden. Sie hatte sich oft gefragt, welche Rasse er ihr zuordnen würde, hatte aber nie gewagt, zu fragen. „Ein Wadenbeißer?“
„Du hast mich verstanden. Er ist loyal, engstirnig und höllisch auf sein Revier bedacht und hält sich für einen verdammten Dobermann, sodass Drohungen bei ihm nicht wirken. Am besten sprichst du so wie sein Herrchen mit ihm.“
Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Soll ich ihn ‚sitz!‘ machen lassen?“
„Ganz genau. Und dann gibst du ihm einen Knochen, an dem er kauen kann.“
„Sam sagt, hier gibt es einen Officer, der Rule festnehmen will. Vielleicht ist das Captain Dreyer.“
Er betrachtet das als seinen Namen.
„Okay. Äh – T.J., ich rede gerade mit Sam. Sam, du sagtest, die … Mist.“ Sie konnte das Wort Chimei nicht aussprechen. Es wollte einfach nicht von ihrem Hirn in ihren Mund wandern. „Du sagtest, die Täterin aus einer anderen Welt sei nicht hier, aber du wüsstest nicht, ob der Zauberer da ist.“
Das habe ich nicht gesagt. Ein Hauch von Verärgerung begleitete diese Worte. Ich sagte, ich kann den Geist des Zauberers nicht mittelbar spüren. Aber ich kann seine Anwesenheit oder Abwesenheit auf andere Weise schlussfolgern. Diese Methoden bieten keine absolute Sicherheit, aber sie deuten sehr darauf hin, dass er das Gebiet verlassen hat.
„Hat der Zauberer Schutzschilde wie Cullen?“
Er ist selbstverständlich durch Schilde geschützt, aber nicht wie Cullen Seabourne. Cullen Seabournes Schilde sind … unerwartet. Ich kenne nur ein Wesen, das vielschichtige Schilde von solcher Besonderheit, Kraft und Feinheit erschaffen kann, und es ist seit Hunderten von Jahren tot. Ich habe immer geglaubt, dass es das Wissen um seine Kunst mit niemandem geteilt hat, aber seine Schilde wurden offenbar nachgemacht. Nicht von Cullen Seabourne, das ist unmöglich.
Tatsächlich war er es nicht gewesen. Dennoch drängte es sie, Sam zu widersprechen. „Cullen wäre intelligent genug dazu.“
Ein primitiver Stammesangehöriger mag brillant sein, aber du wärst erstaunt, wie exakt seine Kopie der Mona Lisa ausfallen würde, ohne dass er sie je gesehen hätte.
Rule hatte sich nicht getäuscht. Sam war sehr neugierig, woher Cullen seine Schilde hatte.
Ich freue mich darauf, mit ihm darüber zu sprechen, aber ich würde mein Interesse daran nicht so wie du beschreiben.
„Hör auf in meinen Kopf zu gucken“, schimpfte sie.
Lerne die Gedankensprache richtig, und du wirst bestimmen können, welche Gedanken du teilst.
Schon wieder ein Hinweis darauf, dass sie die Gedankensprache erlernen sollte. Wie plump.
Das war ungewöhnlich für ihn. So wie auch diese Gesprächigkeit, die er heute an den Tag legte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so viele Fragen beantwortet und ihr sogar freiwillig Dinge verraten hatte, nach denen sie gar nicht gefragt hatte. Andererseits erinnerte sie sich nicht an viel von dem, was sie mit ihm erlebt hatte. Das meiste war in Dis geschehen, der anderen Lily, die, deren stille Seele sie mit ihr teilte.
Manche würden sagen, dass sie die andere Lily war. Eine Seele, eine Person, oder nicht? Und irgendwie war es auch so, schwer fassbar, unterschwellig. Doch es fühlte sich nicht so an. Es waren eigentlich nicht ihre Erinnerungen. Dann und wann streifte eine davon ihr Bewusstsein, aber sie verflogen alle schnell wieder, wie Morgennebel in der Wüste.
„Willst du hier die Ermittlungen übernehmen?“, fragte T.J.
„Ich weiß noch nicht. Hat der Zauberer Magie benutzt?“, fragte sie Sam. „Ich bin erst zuständig, wenn Magie zur Ausübung einer Straftat benutzt wurde.“
Der Zauberer hat die Feuer mithilfe von Magie entfacht. Außerdem hat er Magie eingesetzt, um die technischen Anlagen des Krankenhauses auszuschalten und eine große Anzahl von Menschen in Schlaf zu versetzen, damit er nicht gesehen und nicht gestört wurde, als er die Bombe legte. Eure Gesetze für den Umgang mit Magie sind manchmal konfus, manchmal absurd, aber sie scheinen auf diese Taten zuzutreffen.
T.J.s Augen wurden groß.
„Das hast du wohl gehört“, sagte Lily. „Ich wünschte, ich wüsste, wann Sam nur mit mir spricht und wann er andere in das Gespräch mit einbezieht.“
Das könntest du, wenn du Grundkenntnisse in der Gedankensprache hättest.
„Der Drache“, sagte T.J. „Er hat schon wieder mit mir gesprochen. In meinem Kopf.“
„Ich weiß. Das ist am Anfang gewöhnungsbedürftig.“
Er schnaubte. „Es ist der helle Wahnsinn, das ist es. Großartig, aber der helle Wahnsinn. Wie war das? Der Täter ist aus einer anderen Welt und ein Zauberer?“
Überrascht stellte Lily fest, dass sie von dem Zauberer hatte sprechen können, während T.J. zuhörte. Nicht von der Chimei, aber von dem Zauberer. Noch vor einer Stunde war ihr dies nicht möglich gewesen. „Eine Sekunde, T.J., okay? Wie kommt es, dass ich …“ über den Zauberer, aber nicht über die Chimei sprechen konnte?
Ich sage Dinge ungern zweimal. Geh zu deinem Gefährten, schick den wirren Officer weg, und ich werde es dir erklären, so gut ich kann.
„Den wirren Officer loszuwerden, wird eine Weile dauern.“
Ich werde warten.
Von der abgesperrten Straße aus sah Lily jetzt die Kommandozentrale vor sich. Der Wagen des Brandmeisters stand dort, zusammen mit zwei Polizeiwagen, einem Löschfahrzeug und viel zu vielen Menschen. Sie war weit genug von dem Gebäude entfernt, um auch das Dach gut sehen zu können. Ein dunkler, keilförmiger Kopf spähte über den Rand und inspizierte die Szene zu seinen Füßen.
Die Szene wurde auch von vielen anderen bestaunt, wenn man von den Lauten ausging, die manche von sich gaben – selbst die Cops.
Hier gibt es nichts zu essen für mich. Wenn ich warten soll, möchte ich essen.
„Später. Du versetzt die Leute in Angst und Schrecken.“
Angst ist eine vernünftige Reaktion. So löst sich die Menge vielleicht auf, die dir Sorgen macht.
„Falls die Leute sich nicht auf der Flucht gegenseitig niedertrampeln.“
Das käme uns möglicherweise ungelegen. Es ist schwer abzuschätzen, wie viel Angst noch nützlich ist, denn die Reaktion derer, die meinen, sie hätten keine natürlichen Feinde, ist schwer vorherzusehen, wenn sie auf einen überlegenen Räuber treffen. Rudeltiere wie Menschen sind ganz besonders unberechenbar. Soll ich ihnen sagen, dass ich nicht vorhabe, sie zu essen?
„Ich glaube, das hätte nicht den gewünschten Effekt“, sagte sie trocken.
Schweiß rann ihr zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Rule war ganz in der Nähe. Sie wusste, dass er lebte und nicht schwer verletzt war – ein paar Schnitte am Arm, hatte Sam gesagt. Aber sie musste sich mit eigenen Augen davon überzeugen.
Zu T.J. sagte sie: „Ich habe zwei Täter. Einer kommt aus einer anderen Welt, wie ich schon sagte, als ich mit Sam sprach. Der andere ist ein Mensch und Zauberer, ein echter. Von seinen Fähigkeiten wissen wir so gut wie nichts, aber er verfügt über eine Art mentales Schild und, äh, manchmal kann er sich magisch tarnen. Er ist möglicherweise Asiat, eins siebenundfünfzig bis eins zweiundsiebzig, siebzig Kilo schwer. Er hat versucht, einen Zauberer zu ermorden, der auf unserer Seite ist. Gestern Abend hatte er beinahe Erfolg damit, deshalb ist unser Mann auch hier im Krankenhaus.“
T.J.s Augenbrauen schossen in die Höhe. „Dieser Zauberer war bereit, ein ganzes Krankenhaus niederzubrennen, um einen einzigen Mann zu töten?“
„So sieht es aus. Aber bisher weiß ich noch viel zu wenig über ihn.“
„Warum ist der Drache hier? Welche Rolle spielt er?“
„Über seine Rolle kann ich dir nichts sagen.“
„Du hörst dich wie eine vom FBI an, Lily.“
„Tut mir leid.“
Je näher sie Rule kam, desto stärker spürte sie ihn. Dieses Wissen wurde allein auf einer gefühlsmäßigen Ebene vermittelt, aber nicht so wie das, was ihre anderen Sinne ihr mitteilten. Tasten, hören, sehen – damit erfasste sie ihre Umgebung. Die Objekte, mit denen sie physisch in Berührung kam, bewegten die Luft und lösten Tonwellen aus, gestalteten aus Licht Formen und Schatten. Der Sinn des Bandes zwischen ihr und Rule erfasste nur eines: Rule. Es sagte ihr nur, wo er war, sonst nichts weiter über ihn. Und jetzt war er weniger als neun Meter entfernt.
Wenn das Mondlicht ein Wind wäre, dachte Lily, würde es sich vielleicht so anfühlen.
Vor der Kommandozentrale schien Deputy Chief Hennessey – der in jeder Menschenmenge selbst in seiner Uniform einfach zu erkennen gewesen wäre, denn er war fast zwei Meter fünfzehn groß und schlaksig wie ein Jugendlicher – mit einem sehr viel kleineren Mann in einem zerknitterten weißen Hemd zu diskutieren. Als ihn einer seiner Leute unterbrach, hörte er kurz zu, nickte und folgte ihm.
Und als er und der andere Feuerwehrmann gegangen waren, sah sie Rule. Er lehnte an einem Pumpenwagen und sah gelangweilt aus. Obwohl er die Hände auf dem Rücken hatte, sah sie das Blut an seinem Ärmel.
Er drehte den Kopf und streckte sich. Ihre Blicke trafen sich … und sie verstand, warum er seine Hände in dieser merkwürdigen Stellung hielt. Er trug Handschellen.
Heiße Wut erfasste sie. Sie hatten ihn gefesselt – ihm Handschellen angelegt, ihn wie einen Kriminellen behandelt, obwohl er verletzt war –, ihn, der es hasste, in der Falle zu sitzen, es fürchtete und doch stets gegen diese Furcht ankämpfte …
Nein. Nein, sie reagierte viel zu stark. Die Handschellen würden es wohl nicht schaffen, seine Klaustrophobie auszulösen. Schließlich hätte er sich nur wandeln müssen, um sie abzustreifen. Sie waren eine Kränkung und eine Beleidigung, aber sie konnten ihm nichts anhaben.
Aber ihre Wut trug sie voran. Sie ging schneller. „Welcher von den Leuten ist Dreyer?“, fragte sie T.J.
„Der Kleine da, fast kahl, weißes Hemd, Brille. Denk daran, du darfst ihn nicht umbringen. Und wenn du ihm Angst einjagst, beißt er.“
„Ich habe größere Zähne.“
„Lily –“
„Keine Sorge. Ich vergesse nicht, ihm einen Knochen zu geben.“ Und während sie sich der kleinen Gruppe um die Kommandowagen näherten, zog sie ihre Halskette heraus. Sie löste den Verschluss.
Rule blickte sie unverwandt an. Er sagte kein Wort. Sie ging direkt zu ihm. Ein kleiner Mann mit Brille, sehr wenig Haaren und einem welken weißen Hemd mit Goldstreifen am Kragen bellte sie an. „Wer zur Hölle sind Sie denn?“
Ihn nicht beachtend, steckte sie die Kette mit dem toltoi in ihre Hosentasche. „Alles in Ordnung?“, fragte sie Rule.
Ein Mundwinkel hob sich. „Ja.“
Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Dein Arm –?“
„Tut weh, es ist aber nichts Schlimmes.“
Sie steckte sich seinen Ring auf den Finger und drehte sich um. „Sie sind Captain Dreyer?“, fragte sie den kleinen Mann, der sie böse musterte. Die Augen hinter seiner schwarz umrandeten Brille waren klein und standen eng zusammen.
„Und wer sind Sie, verdammt noch mal?“, wiederholte er. „Wenn einer von meinen Leuten eine Reporterin durchgelassen hat, hänge ich ihn an den Eiern auf.“
„Dann sind die Genitalien Ihrer Männer nicht in Gefahr. Und Sie freuen sich sicher zu erfahren, dass es in Ihrer Einheit auch Frauen gibt und Frauen nun mal keine Eier haben.“ Sie streckte ihm ihre Marke entgegen. „Ich bin von der Einheit 12, Special Agent Lily Yu. FBI. Warum haben Sie meinem Verlobten Handschellen angelegt?“