2.7. Den Elementen auf der Spur
Kehren wir nun zu den Prozessen zurück, die in Sternen vor sich gehen. Seit Ende der 1930er Jahre war klar, dass Sterne Wasserstoff zu Helium fusionieren und aus diesem Prozess ihre Energie gewinnen. Allerdings war noch unklar, woher eigentlich alle anderen Elemente kommen. Zunächst wurde noch angenommen, dass sie nicht in Sternen produziert würden. Aber wo sonst? Die Suche nach einer Antwort begann 1946 mit Fred Hoyle. Er war der Erste, der beschrieb, dass im Prinzip alle Elemente des Periodensystems in Sternen synthetisiert werden könnten. Zudem schlug er vor, dass die neugewonnenen Elemente in Supernovaexplosionen wieder an den interstellaren Raum abgegeben würden, also in den spektakulären Explosionen extrem massereicher Sterne am Ende ihres Lebens. Diese Arbeiten wurden schnell aufgegriffen und weiterentwickelt.
1948 hatten die Physiker Alpher, Bethe and Gamow in ihrem etwas scherzhaft genannten »αβγ-Artikel« und einem ausführlicheren Bericht von Ralph Alpher vorgeschlagen, dass die schwersten Elemente durch schnellen Neutroneneinfang[2] gebildet werden könnten. Sie nahmen allerdings noch an, dass diese Art der Elementsynthese kurz nach dem Urknall mit Hilfe der Neutronen aus der primordialen Materie vor sich gehe. Bethe hatte ja angenommen, es gebe in Sternen keine signifikante Neutronenquelle. Heute wissen wir, dass die von Alpher, Bethe und Gamow geschilderte Urknallnukleosynthese mit Neutronen so nicht richtig ist. Es zeigte sich allerdings, dass ihre Idee wenigstens für die Synthese der leichtesten Elemente im Urknall, also Wasserstoff, Helium und Lithium, mit den Beobachtungen übereinstimmt.
Da wir Menschen hauptsächlich aus Kohlenstoff bestehen, machte sich Hoyle weiterhin Gedanken über den kosmischen Ursprung dieses und anderer Elemente. Der Kohlenstoff musste ja irgendwo herkommen. Er war aber nicht der Einzige. Der baltische Astronom Ernst Öpik und der australisch-amerikanische Astrophysiker Edwin Salpeter postulierten 1951 bzw. 1952 unabhängig voneinander eine Dreifach-Fusion von Helium-Kernen, den sogenannten »3α-Prozess«. In einem ersten Schritt sollten zwei Heliumkerne zu einem sehr schnell wieder zerfallenden Berylliumkern fusionieren. Salpeter konnte zeigen, dass die entsprechende Fusionsreaktion zu Beryllium bei sehr hohen Temperaturen etwas schneller verläuft als der anschließende Zerfall, so dass sich am Ende ein Gleichgewicht von einem Berylliumkern auf eine Milliarde Heliumkerne einstellt. In einem zweiten Schritt sollte das Beryllium dann mit einem dritten Heliumkern zu Kohlenstoff fusionieren.
Hoyle bemängelte 1953 jedoch an diesen Berechnungen, dass bei den typischen Temperaturen im Sterninneren nie und nimmer die beobachtete Menge an Kohlenstoff erzeugt werden könne. Es sei denn, es gäbe im Kohlenstoffkern gerade bei der für die zweite Fusionsreaktion auftretenden Energie eine Resonanz, die diese zweite Reaktion ungemein beschleunigen könnte. 1957 wurde die entsprechende Resonanz in kernphysikalischen Experimenten dann tatsächlich gefunden.
Dies ist ein eindrückliches Beispiel einer Vorhersage von Eigenschaften eines Atomkerns aus rein astronomischen Beobachtungen und Annahmen. Der schnelle Zerfall des Berylliumkerns ist übrigens auch der Grund, weshalb der 3α-Prozess im Urknall nicht funktionieren konnte. Zu der Zeit, als die Heliumkerne entstanden, war das Universum schon zu weit abgekühlt, so dass die Fusion zu Beryllium bereits deutlich langsamer war als sein Zerfall, sich also kein Beryllium mehr aufbauen konnte.
Schon vor der Bestätigung der Resonanzlinie hatte Hoyle 1954 ein weiteres fundierteres Konzept zur Synthese der schwereren Elemente vorgestellt. Dort beschrieb er die Fusionsreaktionen in weit entwickelten Sternen, die die Elemente von Kohlenstoff bis hin zu Nickel produzieren würden. Gamow schlug 1957 aber trotzdem noch einmal vor, alle Elemente seien bereits im Urknall in festen Mengenverhältnissen zueinander entstanden. In Sternen werde nur Wasserstoff zu Helium fusioniert. Nach dem Urknall hätte also keinerlei chemische Entwicklung mehr stattgefunden. Dies steht jedoch im krassen Widerspruch zu heutigen Beobachtungen.
Zur gleichen Zeit wurde eine weitere Arbeit von vier Wissenschaftlern veröffentlicht, die den Ursprungsort der Elemente wieder den Sternen zuschrieben. Margaret Burbidge, Geoffrey Burbidge, William Fowler und Fred Hoyle, die sich inzwischen alle in Kalifornien niedergelassen hatten, betrachteten die Entstehung der Elemente von Beryllium bis Uran. Auch sie stimmten zu, dass Wasserstoff, Helium und Lithium nicht in Sternen, sondern im Urknall entstanden. Das führte schließlich zur Entwicklung der heute noch anerkannten Theorie zur Urknall-Nukleosynthese (Big Bang standard nucleosynthesis). Ihre Arbeit zur »Elementsynthese in Sternen«, die vorangegangene Kenntnisse mit neuen Ergebnissen zu einer über hundertseitigen Ausarbeitung zusammenfasste, wurde schon wenig später zum Nachschlagewerk für Nukleosyntheseprozesse und Elemententstehung. Der berühmte Artikel wird schon seit langem mit »B2FH« abgekürzt, was sich aus den Initialen der Autoren zusammensetzt. Er ist auch als solcher weltweit bekannt.
Im gleichen Jahr, also immer noch 1957, publizierte auch der kanadische Kernphysiker Alistair (Al) Cameron seine eigenen Berechnungen zur stellaren Elementsynthese. Nachdem in Roten Riesensternen das verglichen mit dem Alter dieser Sterne nur kurzlebige radioaktive Element Technetium beobachtet worden war, war sofort klar, dass dieses Element vor kurzer Zeit in diesen Sternen selbst produziert worden sein musste. Cameron machte sich daher auf die Suche nach den für die Produktion des Technetiums im Stern nötigen Neutronenquellen. Durch die Berechnung verschiedenster Reaktionsraten für den sogenannten langsamen Neutroneneinfang identifizierte er tatsächlich die auch heute noch als gültig angenommenen Reaktionswege für die Synthese von Elementen schwerer als Nickel in Riesensternen. Cameron verbrachte sein ganzes Leben damit, die unterschiedlichen Prozesse zur Synthese der verschiedensten leichteren und schwereren Elemente zu verstehen. Bis zu seinem Tod im Jahre 2005 versuchte er mit Hilfe ausgeklügelter Rechnungen den astrophysikalischen Entstehungsorten der schweren Elemente auf die Spur zu kommen. Viele der entsprechenden Fragen bleiben jedoch bis heute unbeantwortet.
Mit der Vorhersage, dass alle schwereren Elemente in Sternen in verschiedenen Prozessen synthetisiert werden, begründeten B2FH und Cameron die stellare Nukleosynthese und somit das Feld der nuklearen Astrophysik. Eine Stärke dieser Theorie war die Vorhersage einer steten chemischen Anreicherung des Universums, also einer chemischen Entwicklung, die kein Modell vor ihnen für möglich gehalten hatte. Mit Hilfe der Spektroskopie verschiedener Arten von Sternen war es jedoch möglich, dieses Modell experimentell zu testen und zu bestätigen.
Die Quantenmechanik erklärt, warum verschiedene Atome bei bestimmten Wellenlängen Licht emittieren oder absorbieren. Die Spektren mit ihren vielen Absorptionslinien geben daher Auskunft über die chemische Zusammensetzung eines Sterns. Die Sternbeobachtungen zeigten aber eine Antikorrelation zwischen dem Alter des Sterns und seinem Anteil an schweren Elementen. Je älter der Stern, desto geringer ist der Anteil an schwereren Elementen. Das war erst einmal verblüffend, konnte aber mit Hilfe der neuentwickelten Theorie vom Urknall und der Urknall-Nukleosynthese verstanden werden. Da im Urknall nur die leichtesten Elemente produziert werden, konnte angenommen werden, dass die allerersten Sterne im frühen Universum nur aus Wasserstoff, Helium und Lithium bestanden. Alle anderen Elemente mussten erst allmählich in Sternen synthetisiert werden. Die neuen Elemente wurden dann in Sternexplosionen wieder an das interstellare Medium abgegeben.
Die Sterne der nächsten Generation bildeten sich aus gering mit schwereren Elementen angereichertem Gas und gaben ihrerseits gegen Ende ihres Lebens ihren erbrüteten Elemente-Cocktail hauptsächlich in Supernova-Explosionen wieder an das interstellare Medium zurück. So ergibt sich ein Kreislauf, der erklärt, warum alte Sterne, die früh entstanden sind, viel kleinere Mengen der schweren Elemente in sich tragen als Sterne, die erst später geboren wurden.
Wie auch Cameron beschrieben B2FH die vielen kernphysikalischen Details der Nukleosyntheseprozesse sowie die astrophysikalischen Bedingungen, unter welchen Elementsynthese stattfinden kann. Es gelang ihnen, verschiedene Sternumgebungen zu beschreiben, in denen charakteristische Prozesse bestimmte Elemente und Isotope synthetisieren können. Im Speziellen sagten sie mehrere Prozesse vorher (z.B. den r- und s-Prozess des schnellen und langsamen Neutroneneinfangs), welche für die Synthese von Elementen schwerer als Eisen und Nickel verantwortlich sind.
Mit Beginn der 1970er Jahre wurden dann mit den immer leistungsfähigeren Computern verbesserte Berechnungen zum quantitativ immer noch recht unerforschten Gebiet der nuklearen Astrophysik durchgeführt. Unter anderem entwickelte der Amerikaner Donald Clayton in dieser Zeit erste zeitabhängige Modelle zum langsamen und schnellen Neutroneneinfang-Prozess. Frühere Berechnungen waren noch für konstante Temperatur und Dichte durchgeführt worden und konnten die möglichen astrophysikalischen Umgebungen der Nukleosynthese nicht richtig berücksichtigen.
Dass Kernfusion Sterne zum Leuchten bringt und dass das Leben der Sterne durch die verschiedenen Phasen der Elementsynthese gesteuert wird, wurde seit 1957 über viele Jahrzehnte hinweg erfolgreich modelliert. Bestätigt wurden diese Modelle letztendlich dadurch, dass sie für den Kollaps des Eisenkerns im Inneren eines alten, massereichen Sterns die Freisetzung von Unmengen von Neutrinos vorhersagten. Solche Neutrinos wurden erstmals für die berühmte Supernova 1987A in der Großen Magellan’schen Wolke experimentell nachgewiesen. Auch die Modellrechnungen des Sonneninneren wurden eindrucksvoll mit zwei unabhängigen Methoden experimentell bestätigt. Zum einen verraten die von der Sonne abgestrahlten Neutrinos, welche Kernprozesse im Zentrum mit welchen Raten ablaufen. Zum anderen kann man aus der Analyse der Schallwellen, die die Sonnengaskugel durchlaufen, auf die Werte von Druck und Temperatur an jeder Stelle im Sonneninneren schließen. Letztere Methode nennt man Helioseismologie in Analogie zur Seismologie auf der Erde, bei der mit Erdbebenwellen das Erdinnere erforscht wird.
Das Thema meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit ist es, die alten Sterne zu finden, die nur eine winzige Menge an schweren Elementen aufweisen können. Damit können wir in einzigartiger Weise in die Vergangenheit schauen, das frühe Universum erforschen und seine diversen Nukleosyntheseprozesse im Detail studieren. Die alten Sterne bescheren uns einen chemischen Fingerabdruck bestimmter Prozesse, den wir nur bei ihnen direkt isolieren können. Gleichzeitig ist jeder neuentdeckte alte Stern eine weitere kleine Bestätigung der B2FH- und Cameron-Theorien. Sie erinnern uns daran, dass wir noch gar nicht so lange wissen, wie und wo die Elemente im Universum eigentlich entstehen: in den Sternen – wir sind tatsächlich »Kinder des Weltalls«, wie schon Hoimar von Ditfurth 1970 gesagt hat.
2007 wurde eine wissenschaftliche Konferenz zu Ehren des 50. Jahrestages des B2FH-Artikels in Pasadena in Kalifornien abgehalten. Ich habe an dieser Konferenz als Postdoc teilgenommen und einen Vortrag über spektroskopische Bleihäufigkeitsmessungen in einem speziellen alten Stern gehalten. Ich berichtete darüber, wie uns diese Daten zusammen mit der Blei-Berechnung aus dem Zerfall von Thorium und Uran über kosmische Zeitskalen hinweg neue Details zur Bleiproduktion direkt im schnellen Neutroneneinfang-Prozess verraten können. Dieser für die nukleare Astrophysik enorm wichtige Stern spielt nach wie vor für meine Arbeit eine wichtige Rolle.
Abb. 2.5: Margaret Burbidge und die Autorin bei der »50 Years of Nuclear Astrophysics«-Konferenz 2007 in Pasadena, CA, USA .
Margaret and Geoffrey Burbidge waren auch anwesend, wenn auch nur Geoffrey einen Vortrag über die B2FH-Arbeit und ihren Einfluss bis heute hielt. Um zu viel Anstrengung zu vermeiden, nahm das Ehepaar Burbidge nicht am gesamten Konferenzprogramm teil, so dass es nur wenige Möglichkeiten gab, sie kennenzulernen oder sich sogar mit ihnen zu unterhalten. Dennoch war es mir beim gemeinsamen Abendessen am vierten Tag, dem Konferenz-Dinner, möglich, Margaret Burbidge persönlich zu treffen. Da stand ich nun der damals schon achtundachtzigjährigen »Grande Dame« der nuklearen Astrophysik gegenüber: eine kleine, bescheidene Frau mit nettem, wenn auch etwas erschöpftem Lächeln. Ich stammelte etwas von »großer Ehre, Sie einmal treffen zu dürfen« und »Ich arbeite auch am rapiden Neutroneneinfang-Prozess«, aber ich glaube, dass sie aufgrund der vielen Hintergrundgeräusche höchstens die Hälfte verstehen konnte. Im Trubel des Konferenz-Dinners und jeder Menge weiterer »Verehrer« war es nämlich nicht möglich, sich länger als zwei Minuten mit ihr zu unterhalten. Letztlich war mein andächtiges und schwer beeindrucktes Gemurmel auch nicht wirklich wichtig. Mir war wichtig, ihr wenigstens die Hand geschüttelt zu haben und einmal zu sehen, wer diese Margaret Burbidge eigentlich ist.
Ein weiterer besonderer Augenblick folgte dann kurz darauf, als sie sich zu einem gemeinsamen Foto bereiterklärte. Es ist in Abbildung 2.5 zu sehen und beschreibt einen stolzen Moment in meiner Arbeit als Wissenschaftlerin. Immerhin geht mein Forschungsbereich direkt auf die von B2FH entwickelten Grundlagen zurück. Sie beschrieben z.B. den rapiden Neutroneneinfang-Prozess, den ich heute mit meinen Sternen weiter untersuche. Wenn es um meine Arbeit geht, bin ich sozusagen eine Enkelin der Burbidges, die die nukleare Astrophysik »experimentell« mit Sternbeobachtungen weiterführt.