2. Kapitel
Das Wetter machte dem Monat April alle Ehre. Während der Feier vor der Freitreppe von Smallbridge House hatte die Sonne herrlich geschienen, aber schon während der zwanzig Meilen langen Fahrt nach London war einmal ein förmlicher Wolkenbruch niedergegangen. Dann war aufs neue die Sonne zum Vorschein gekommen und hatte sie wieder erwärmt und getrocknet. Und nun, während sie gerade Wimbledon Common überquerten, hatte sich der Himmel zum zweiten Male schwarz bezogen, und schon trieb ihnen der Wind die ersten Tropfen ins Gesicht. Hornblower hüllte sich fester in seinen Mantel und knöpfte den Kragen hoch. Der Dreimaster mit Goldstickerei und Kokarde ruhte unter dem schützenden Dach des Mantels auf seinen Knien. Setzte man diese Hüte längere Zeit dem Regen aus, dann bildeten sich obenauf und an den Rändern richtige Wasserlachen, und zuletzt kamen sie völlig aus der Fasson.
Nun ging es auch schon los, Sturm und Regen heulten von Westen daher, die Welt, in der noch vor einer halben Stunde köstlicher Frühling herrschte, hatte sich in unbegreiflicher Weise verwandelt. Der Gaul an der Windseite war der vollen Wucht des Unwetters ausgesetzt und wollte daher nicht mehr recht mitmachen, bis ihm Brown mit der Peitsche eins überzog, daß er sich mit neuem Eifer ins Zeug legte. Brown konnte gut kutschieren, er verstand sich wirklich auf alles. Er war der beste Bootssteuerer der Kommandantengig gewesen, den er je gehabt hatte, er hatte sich während der Flucht aus Frankreich als zuverlässiger Untergebener bewährt, und zuletzt hatte er sich in den besten Leibdiener verwandelt, den man sich wünschen konnte. Nun saß er gleichmütig im strömenden Regen, das schlüpfrige Leder der Zügel lag fest in seiner großen braunen Faust, Hand, Handgelenk und Unterarm wirkten wie eine empfindliche Feder mit jenem leisen Druck auf die Mäuler der Pferde, der nicht so stark war, daß er sie auch nur im mindesten in der Arbeit behindert hätte, aber doch ausreichte, ihnen auf der schlüpfrigen Straße Halt und Sicherheit zu geben und sie bei jedem unvorhergesehenen Zufall fest in der Hand zu haben.
Jedenfalls zogen sie heute den Wagen auf der schmutzigen Makadamstraße mit mehr Lust und Liebe den steilen Berg des Wimbledon Common hinauf, als sie je an den Tag legten, wenn Hornblower selbst kutschierte.
»Möchtest du gern wieder zur See fahren, Brown?« fragte er nun. Die bloße Tatsache, daß er dieses ganz unnötige Gespräch anknüpfte, war ein Beweis dafür, daß seine innere Erregung jedes Maß überschritt. »Das wäre mein größter Wunsch«, gab Brown kurz zur Antwort. Es blieb Hornblower überlassen, zu erraten, was Brown wirklich dachte. War diese kurz angebundene Antwort die englische Art, seine echte Begeisterung zu verbergen, oder gab er sich nur aus Höflichkeit den Anschein, als teilte er die Leidenschaft seines Herrn?
Der Regen rann Hornblower aus den nassen Haaren am Hals herunter in den Kragen hinein. Es wäre besser gewesen, einen Südwester mitzunehmen. Zusammengekrümmt saß er auf seinem gepolsterten Ledersitz und stützte beide Hände auf den Griff des Säbels, den er umgeschnallt hatte - es war der Ehrensäbel im Wert von hundert Guineen, verliehen von der patriotischen Stiftung. Der senkrecht aufgestützte Säbel hielt den schweren, durchnäßten Mantel frei von dem Dreimaster, der auf seinen Knien lag. Wieder bahnte sich ein kleines Rinnsal seinen Weg unter die Kleider, so daß er sich schaudernd krümmte und wand. Als der Regenschauer endlich aufhörte, war er gründlich durchnäßt und fühlte sich höchst unbehaglich, aber da begann auch schon die Sonne, wieder herrlich warm zu scheinen. Die Regentropfen auf dem Ginster- und Brombeergestrüpp glitzerten wie Millionen Diamanten, die Pferde dampften, die Lerchen stimmten hoch oben in den Lüften wieder ihre Lieder an, und Hornblower schlug den Mantel zurück und trocknete sich mit dem Taschentuch sein nasses Haar und den Hals. Als die Höhe erreicht war, ließ Brown die Pferde in Schritt fallen, um ihnen vor dem scharfen Trab bergab noch eine Atempause zu gönnen. »London, Sir«, bemerkte er.
Sie waren am Ziel. Der Regen hatte die Luft von Rauch und Staubdunst reingewaschen, so daß Helm und Kreuz von St. Paul schon von weitem golden in der Sonne funkelten. Auch die anderen Kirchtürme, die sich neben der riesigen Kathedrale wie Zwerge ausnahmen, standen in unnatürlicher Schärfe gegen den klaren Himmel. Man meinte, man könne die Ziegel auf den Dächern zählen. Brown schnalzte aufmunternd mit der Zunge, und alsbald fielen die Gäule wieder in Trab. Das Gefährt rasselte den steilen Berg nach Wandsworth hinunter, und nun zog Hornblower seine Uhr. Erst zwei, also hatte er noch reichlich Zeit zu seiner Meldung. Es machte ihm nichts aus, daß sein Hemd innerhalb des Rockes von dem eingedrungenen Wasser ganz feucht war, jedenfalls war dieser Tag ganz anders, unendlich viel schöner verlaufen, als er erwartet hatte, während er heute morgen in seiner Wanne saß. Vor der Admiralität brachte Brown die Pferde zum Stehen, und gleich tauchte ein zerlumpter Straßenjunge auf und sorgte dafür, daß Hornblower sich beim Aussteigen nicht Mantel und Uniform an den Rädern des Wagens beschmutzte.
»Also im ›Goldenen Kreuz‹ , Brown«, bemerkte Hornblower, während er in seiner Tasche nach einem Kupferpenny für den Jungen suchte. »Aye, aye, Sir«, gab Brown zur Antwort, während er schon den Wagen umwendete.
Sorgfältig setzte Hornblower seinen Dreimaster auf, strich sich den Rock glatt und zog das Schloß des Säbelkoppels genau in die Mitte. In Smallbridge war er Sir Horatio, Hausherr, Gutsherr, unumstrittener Selbstherrscher, hier war er nichts als Kapitän z. S. Hornblower, im Begriff, sich bei den Lords der Admiralität zu melden.
Aber Admiral Louis war ganz Kameradschaft und Herzlichkeit. Er ließ Hornblower nicht länger als drei Minuten im Vorzimmer warten - wirklich keine Minute länger, als er brauchte, um den augenblicklichen Besucher loszuwerden - und schüttelte ihm dann mit offenkundiger Freude die Hand. Dann läutete er einem Diener, der Hornblowers nassen Mantel in Empfang nahm, und schob ihm eigenhändig einen Stuhl an das riesige Feuer, das er seit seiner Rückkehr vom Kommando der Ostindischen Station winters und sommers unterhielt.
»Lady Barbara ist doch wohlauf?« fragte er.
»Danke, Sir, es geht ihr ausgezeichnet«, gab Hornblower zur Antwort. »Und Master Hornblower?«
»Gedeiht glänzend, Sir.«
Hornblower wurde rasch Herr seiner anfänglichen Schüchternheit, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und genoß die wohlige Wärme des Feuers. Da hing ein neues Bild von Collingwood an der Wand, aha, es war der Ersatz für das alte Porträt von Barham. Wie schön, dort auf dem Bild das gleiche rote Band und den gleichen Stern wahrzunehmen, den er auch vor Augen hatte, wenn er auf seine eigene Brust hinuntersah.
»Und doch haben Sie Ihr häusliches Glück sofort im Stich gelassen, als Sie unser Schreiben erhielten?«
»Natürlich, Sir.«
Hornblower gab sich Rechenschaft darüber, daß es vielleicht nützlicher gewesen wäre, mit seinen echten Empfindungen hinter dem Berg zu halten, es war bestimmt gescheiter, wenn er mit gespielter Zurückhaltung zu seinem Dienst zurückkehrte, so daß es aussah, als brächte er dem Vaterland damit ein großes persönliches Opfer. Aber so etwas brachte er ums Leben nicht fertig. Dazu freute er sich viel zu sehr über seine Beförderung, dazu war er viel zu neugierig darauf, zu erfahren, was die Admiralität mit ihm vorhatte. Er sah Louis, der ihn mit forschenden Blicken musterte, frei und offen in die Augen.
»Welche Verwendung haben Sie für mich ins Auge gefaßt, Sir?« fragte er, weil er es einfach nicht mehr aushalten konnte, so lange zu warten, bis Louis selbst darauf zu sprechen kam.
»Die Ostsee«, gab Louis zur Antwort.
Das war es also. Diese beiden Worte machten den wilden Kombinationen ein Ende, die Hornblower den ganzen Vormittag beschäftigt hatten, sie zerrissen das große Spinnennetz von Möglichkeiten, in dem er bis dahin gefangen war. Es gab ja kaum einen Punkt der Welt, der nicht in Frage gekommen wäre, seien es Java oder Jamaika, das Kap Hoorn oder das Kap der Guten Hoffnung, der Indische Ozean oder das Mittelmeer, wo immer eben auf dem 25 000 Meilen weiten Umfang unserer Erdkugel die britische Flagge wehte - und wo wehte sie nicht?
Also die Ostsee. Hornblower suchte sich zu vergegenwärtigen, was er darüber wußte. Als er zum letztenmal in nördlichen Gewässern zur See fuhr, war er noch Unterleutnant gewesen.
»Dort hat doch Admiral Keats das Kommando, nicht wahr?«
»Ja, bis jetzt. Aber Saumarez wird ihn ablösen. Er wird Befehl bekommen, Ihnen größte Entscheidungsfreiheit einzuräumen.«
Das war eigenartig und deutete fast auf eine Teilung des Kommandos hin, eine Maßnahme, die sich nach Hornblowers Erfahrung schon immer als recht zweischneidig erwiesen hatte.
Besser noch ein schlechter Befehlshaber, als ein geteiltes Kommando. Es war auch bestimmt nicht unbedenklich, einem Untergebenen zu eröffnen, daß sein Vorgesetzter gehalten sei, ihm größte Selbständigkeit einzuräumen, wenn dieser Untergebene nicht ein hervorragend zuverlässiger und kluger Mann war. Hornblower mußte schlucken - er hatte wirklich im Augenblick vergessen, daß ja er selbst dieser Untergebene war, um den es sich hier handelte. Nun, vielleicht hielt man ihn eben hier in der Admiralität für einen hervorragend zuverlässigen und klugen Mann. Louis sah ihn fragend an.
»Sind Sie nicht neugierig zu hören, was Ihnen unterstellt werden soll?« fragte er.
»Ja, natürlich«, antwortete Hornblower, obwohl ihm eigentlich gar nicht so sehr darum zu tun war. Die Tatsache, daß er überhaupt ein Kommando bekam, war ihm viel wichtiger, als zu wissen, was man ihm unterstellen wollte.
»Sie bekommen die Nonsuch 74 Geschütze«, sagte Louis.
»Damit haben Sie ein kampfkräftiges Schiff, wenn Sie es einmal brauchen. Im übrigen geben wir Ihnen alles Kleinzeug, das wir zusammenkratzen können, die Glattdeckskorvetten Lotus und Raven zwei Kanonenboote, Math und Harvey und dazu den Kutter Clam. Das ist einstweilen alles, aber bis Sie auslaufen, können wir Ihnen vielleicht noch mehr zur Verfügung stellen.
Wir möchten jedenfalls, daß Sie gut für Operationen unter Land ausgerüstet sind, weil wir annehmen, daß Sie viel mit solchen Unternehmungen zu tun haben werden.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Hornblower.
»Einstweilen wissen wir noch nicht einmal, ob Sie mit den Russen oder gegen sie kämpfen werden«, fuhr Louis sinnend fort, »und ebenso steht es mit den Schweden. Gott allein weiß, was sich da drüben zusammenbraut. Aber der hochmögende Herr wird Ihnen ja alles auseinandersetzen.« Hornblower sah ihn fragend an.
»Ich meine Ihren sehr verehrten Herrn Schwager, den hochgeborenen Marquis Wellesley, K. F., Seiner Britischen Majestät Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten. Wir nennen ihn kurz den ›Hochmögenden‹ . Nachher gehen wir gleich hinüber und melden uns bei ihm. Aber vorher ist noch eine andere, wichtige Frage zu klären. Wen wollen Sie als Kommandanten für die Nonsuch?
Hornblower verschlug es den Atem. Nun konnte er endlich in großem Stil für seine Schützlinge sorgen. Bisher hatte er höchstens einmal einem Fähnrich oder Sanitätsmaat zu Stellungen verhelfen, und einmal hatte sich ein Pfarrer mit etwas dunkler Vergangenheit hungrig und flehentlich um den Posten als Bordgeistlicher seines Schiffes beworben, aber was hieß das alles, gemessen an der Tatsache, daß er nun das Recht hatte, über das Kommando eines Linienschiffes zu verfügen? Es gab 120 Kapitäne z. S., die dienstjünger waren als er, lauter ausgezeichnete Männer, von deren Taten man sich bis zu den Enden der Welt mit verhaltenem Atem berichtete. Sie hatten den Rang, den sie bekleideten, mit ihrem Blut bezahlt und durch einen Wagemut und ein berufliches Können verdient, die in der Geschichte nicht ihresgleichen hatten. Die Hälfte von ihnen, wahrscheinlich sogar noch mehr, würden mit Freuden einschlagen, wenn er ihnen das Kommando über ein Linienschiff von 74 Kanonen anbot. Hornblower erinnerte sich noch genau, wie glücklich er selbst gewesen war, als er vor zwei Jahren die Sutherland erhielt. Es gab genug Kapitäne auf Halbsold, Kapitäne in Landstellungen, die sich vor Sehnsucht nach einem Bordkommando verzehrten, und nun stand es in seiner Macht, Leben und Laufbahn eines dieser armen Kerle mit einem Wort zum Guten zu wenden. Und doch zögerte er nicht einen Augenblick mit seiner Entscheidung. Gewiß gab es Kapitäne, deren Eigenschaften bestechender waren, Kapitäne mit höherer Bildung und Intelligenz, aber für ihn kam nur ein Mann in Frage, und den wollte er haben.
»Ich möchte Bush«, sagte er, »wenn ich ihn bekommen kann.«
»Dem steht nichts im Wege«, meinte Louis und nickte zustimmend. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie ihn anfordern würden. Ob ihn sein Holzbein nicht zu sehr behindern wird? Wie denken Sie darüber?«
»Das glaube ich auf keinen Fall«, gab Hornblower zur Antwort. Es wäre ihm höchst lästig gewesen, mit einem anderen Kommandanten als Bush in See zu gehen.
»Gut, das wäre also erledigt«, sagte Louis und warf dabei einen Blick auf die Wanduhr. »Wenn Sie nichts dagegen haben, gehen wir jetzt gleich zum Hochmögenden hinüber.«