14. Kapitel
Der schöne Ostwind durfte nicht verpaßt werden. Die Nonsuch und der Verband liefen unter Vollzeug wieder aus dem Finnischen Meerbusen heraus, der Kommodore spazierte auf seinem Achterdeck auf und ab und wälzte dabei alle Probleme, die jeden Befehlshaber ständig beschäftigen. Die Trinkwasserfrage wenigstens war gelöst, er kam mit Leichtigkeit zwei, im Notfall sogar vier Monate damit aus. Die Tatsache, daß er seine Wasserfässer aufgefüllt hatte, war an und für sich eine Rechtfertigung für seine Verhandlungen mit dem Petersburger Hof, die auch dann stichhaltig blieb, wenn Whitehall gegen seine jüngsten Schritte Einwendungen erheben sollte. Hornblower überdachte noch einmal den Wortlaut seines Berichts. Er hatte darin eben diesen praktischen Vorteilen seines Besuches die gleiche Bedeutung beigelegt wie dem politischen Nutzen, den die Fühlungnahme mit der russischen Regierung versprach. Er konnte in diesem Bericht gewiß eine gute Sache vertreten - und doch... Hornblower machte wieder kehrt und warf einen Blick auf den im Kielwasser folgenden Verband.
»Signal an Lotus« befahl er. »Warum sind Sie nicht auf Ihrer Position?« Die Flaggen stiegen hoch, und Hornblower konnte beobachten, wie die Korvette schnell ihren Fehler gutmachte.
»Lotus gibt ›Verstanden‹, Sir«, meldete der Fähnrich. »Dann machen Sie zurück:›Warum geben Sie keine Antwort auf meine Frage?‹«, erwiderte Hornblower barsch. Es dauerte mehrere Sekunden, ehe eine Antwort erschien. »Lotus signalisiert:›Unaufmerksamkeit des wachhabenden Offiziers‹ , Sir.«
»Verstanden«, sagte Hornblower.
Das hatte da drüben eingeschlagen. Vickery war sicher wütend über diese öffentliche Rüge, und seinem Wachoffizier tat es wahrscheinlich in diesem Augenblick bitter leid, nicht aufgepaßt zu haben. Das hatte immer sein Gutes, auf keinen Fall konnte es etwas schaden. Dennoch war sich Hornblower völlig darüber im klaren, daß er dieses Monitum im Grunde nur deshalb erteilt hatte, weil er Zeit gewinnen wollte, ehe er daranging, sich mit der nächsten, alles andere als angenehmen Sache zu befassen, in der er jetzt unbedingt zu einer Entscheidung kommen mußte. Er hatte im Laufe seiner Dienstzeit schon genug Rügen austeilen sehen und im übrigen in jüngeren Jahren auch selbst sein Teil davon erhalten. Wie viele derartige Signale, so fragte er sich jetzt, waren vielleicht nur deshalb gegeben worden, weil ein sorgengequälter Admiral ein bißchen Ablenkung von den unerfreulichen Dingen suchte, die ihn Tag und Nacht beschäftigten. Für ihn selbst galt es jetzt, sich mit dem Fall Braun zu befassen.
Die niedrige Küste Finnlands war im Norden gerade noch in Sicht. Unten auf dem Großdeck machte Carlin mit einer Division Geschützexerzieren, die Männer übten das Laden und Ausrennen ihrer Kanonen. Die Nonsuch lief mit Leesegeln bei nahezu plattachterlichem Wind gute Fahrt. Für den Fall, daß der Seegang stärker wurde, mußte man Segel kürzen, damit die Kanonenboote nicht zurückfielen. Vorn schickte ein Bootsmannsmaat einen Seemann nach oben, um ein neues Geitau für das Vormarssegel zu scheren. Das Ende war aber für den gedachten Zweck viel zu dick. So etwas war natürlich eine reine Schiffsangelegenheit, die Hornblower nichts anging.
Dennoch wollte er sich, wenn auch widerstrebend, gerade damit befassen, da sah er auch schon einen Leutnant einschreiten, der den Fehler gleichfalls bemerkt hatte, und fühlte sich dadurch von einer unangenehmen Verpflichtung befreit. Die jungen Offiziere schienen im übrigen über seine Wünsche und Vorurteile ganz gut Bescheid zu wissen. Sicher stammten diese Kenntnisse von Bush. Hornblower beobachtete, wie die drei sich wieder trennten, und sah dann noch so lange bei der Arbeit zu, bis es mit dem besten Willen nichts mehr zu sehen gab. Nun blieb ihm wirklich keine Ausflucht mehr, er mußte sich endlich mit Braun befassen. Der Mann hatte einen Mordversuch unternommen, dafür mußte er nach englischem Recht wie auch nach den Kriegsartikeln sterben. Da ihm die Admiralitätsbehörde den Rang eines Deckoffiziers verliehen hatte, konnte ein Todesurteil gegen ihn nur von einem Gericht ausgesprochen werden, das aus fünf Kapitänen zur See oder Fregattenkapitänen bestand. Die aber waren in einem Umkreis von Hunderten von Meilen nicht aufzutreiben. Bush und er selbst waren die einzigen, die in Frage kamen, Vickery und Cole waren erst Korvettenkapitäne. Nach dem Gesetz mußte also Braun so lange in Haft bleiben, bis er vor das vorgeschriebene Gericht gestellt werden konnte, es sei denn, daß nach Hornblowers Ermessen wichtige Belange des Dienstes, die Sicherheit des Schiffes oder das Wohl Englands sofortiges Handeln geboten. In diesem Fall konnte er ein Gericht aus allen verfügbaren Stabsoffizieren bilden, das den Mann verurteilte.
Dann wurde er sofort gehängt. Die Beweislast gegen ihn war erdrückend, sein eigenes Zeugnis und die Aussage Mounds reichten allein für zehn Todesurteile aus. Aber einstweilen bestand wirklich kein Anlaß für ein solches standrechtliches Verfahren. Braun lag völlig erschöpft im Lazarett, er konnte seine rechte Hand wohl nie mehr verwenden und war noch halbtot vom Blutverlust. Dieser Mann verführte sicher niemand zur Meuterei, es bestand auch keine Gefahr, daß er etwa das Schiff in Brand steckte oder die Offiziere zur Pflichtvergessenheit verleitete. Aber durch die unteren Decks schwirrten wahrscheinlich schon die wildesten Gerüchte. Sie hatten Braun schwer verwundet aus dem Zarenpalast an Bord gebracht. Hornblower konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich die Leute diesen Vorfall erklärten.
Jedenfalls gab es darüber ein Gerede ohne Ende, das früher oder später todsicher einem der Agenten Bonapartes zu Ohren kam.
Hornblower kannte die Methoden Bonapartes viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er eine solche Gelegenheit, Uneinigkeit unter seinen Gegnern zu stiften, nach besten Kräften ausschlachten würde.
Alexander kannte keine Verzeihung für ein Land, das ihn um Haaresbreite einem Mörder ausgeliefert hätte. Erfuhr man bei den hohen Behörden zu Hause von dem Vorfall, dann war man auch dort bestimmt höchst ungehalten, und zwar richtete sich der Unwille dann auf alle Fälle gegen ihn, Hornblower. Wieder dachte er an seinen Bericht, der gut eingeschlossen im Schreibtisch lag und die Aufschrift ›Ganz geheim und vertraulich‹ trug. Dort hatte er alles wahrheitsgemäß geschildert.
Er konnte sich vorstellen, daß er eines Tages vor einem Kriegsgericht stand, dem dieser Bericht als Belastungszeugnis vorlag, und er konnte sich noch besser vorstellen, wie ihn seine Kameraden beurteilen würden, die dann über ihn zu Gericht saßen.
Einen Augenblick spielte Hornblower mit dem Gedanken, den Vorfall überhaupt zu vertuschen, überhaupt nichts darüber zu berichten, aber er verwarf die Idee sogleich als unzweckmäßig.
Irgendeiner war immer dabei, der nicht dichthielt. Andrerseits mochte ihn der ausdrückliche Hinweis in seinen Befehlen decken, daß er sich die Erfahrung Brauns in weitestem Umfang zunutze machen sollte. Überdies legte gerade dieser Hinweis die Vermutung nahe, daß Braun hochgestellte Freunde hatte, die ihn möglicherweise in Schutz nahmen, jedenfalls aber dafür sorgten, daß ihnen selbst kein Nachteil erwuchs, und daher einen öffentlichen Skandal unter allen Umständen unterdrückten. Das waren sehr verwickelte Zusammenhänge.
»Mr. Montgomery«, sagte Hornblower in barschem Ton, »welchen Kurs steuert eigentlich Ihr Rudergänger? Sorgen Sie gefälligst dafür, daß die Ausschläge kleiner werden, sonst müßte ich Sie ersuchen, mir über die Ursachen dieses schlechten Steuerns ausführlich Meldung zu machen.«
»Aye, aye, Sir«, sagte Montgomery.
Wenigstens hatte er sein Teil dazu beigetragen, Rußland in den Krieg gegen Bonaparte hineinzuziehen. Die letzte Nachricht von Wychwood, die er vor dem Verlassen von Kronstadt bekam, lautete dahin, daß Alexander die jüngsten Forderungen Bonapartes rundweg abgelehnt habe. Kam es dadurch zum Krieg, dann mußte Bonaparte in diesem Sommer seine Hauptmacht im Osten einsetzen. Wellington hatte also eine günstige Gelegenheit, im Süden entscheidend zuzuschlagen.
Welche Aussichten hatte aber Rußland, dem Angriffsstoß Bonapartes standzuhalten? Seit zwölf Jahren hatte ihm jedes Jahr einen entscheidenden Sieg gebracht, war eine Nation nach der anderen in Feldzügen von wenigen Wochen Dauer zu Boden geschlagen worden. Vielleicht sah schon der nächste Winter ein geschlagenes Rußland, das dem Tyrannen ebenso unterwürfig Gefolgschaft leistete, wie es Österreich und Preußen schon heute tun mußten. Angesichts des neuen russischen Gegners mochte man sich in Downingstreet mit Bedauern der zweifelhaften Neutralität früherer Tage erinnern, zumal Bonaparte die russische Niederlage natürlich sofort dazu benutzen würde, auch Schweden zu überrennen. Dann war wirklich das ganze europäische Festland vom Nordkap bis zu den Dardanellen gegen England vereint, das in einem solchen Fall natürlich auch seine schmale Basis in Spanien nicht lange zu halten vermochte, sondern vor die Entscheidung gestellt wurde, entweder ohne Aussicht auf Hilfe und Entlastung von außen weiterzukämpfen, oder aber, was noch gefährlicher war, mit einem böswilligen, nach wie vor feindselig gesinnten Tyrannen Frieden zu schließen. Wenn es so kam, dann war es bestimmt kein Ruhmesblatt für ihn, zu dem unheilvollen Kriegseintritt Rußlands beigetragen zu haben. Inzwischen war Bush an Deck gekommen, offenbar hatte Montgomery als Wachhabender nach ihm geschickt. Er las die Eintragungen, die dieser auf einer Schiefertafel gemacht hatte, und vertiefte sich dann in die Koppeltafel. Dann kam er auf das Steuerbord Achterdeck herübergestapft und machte grüßend vor Hornblower halt.
»Reval - oder Tallinn, wie es auf den schwedischen Karten heißt, Sir - peilt nach meinem Besteck SO fünfundzwanzig Seemeilen. Die Huk dort an Backbord ist die Nordspitze der Insel Naissar - so spricht man das wohl aus.«
»Ich danke Ihnen, Kapitän Bush.«
Hornblower fühlte sich tatsächlich versucht, seine üble Laune sogar an Bush auszulassen. Er konnte sich Bushs unglückliches Gesicht und seinen verletzten Blick so gut vorstellen, wenn er ihm jetzt zum Beispiel versetzte, daß seine Kunst, fremde Ortsnamen auszusprechen, nicht ganz so groß war, wie er gern zu verstehen gab. Bush bot für solche Sticheleien eine bequeme Zielscheibe, man konnte bei ihm jederzeit eines sofortigen, sichtbaren Erfolges gewiß sein. Nun stand er da und erwartete Hornblowers Befehle, während dieser immer noch mit der Versuchung spielte, ihm eines auszuwischen. Lag nicht schon ein boshaftes Vergnügen darin, ihn so zappeln zu lassen?
Wahrscheinlich, dachte Hornblower, zerbricht er sich jetzt schon ganz aufgeregt den Kopf, welche neue Niedertracht ihm bevorsteht. Gleich darauf aber sträubte sich Hornblowers besseres Empfinden so heftig gegen diese gehässigen Regungen, daß er sich geradezu verächtlich vorkam. Schlimm genug, daß Vickerys unbekannter Wachoffizier vorhin Unannehmlichkeiten bekam, nur weil der Kommodore sich wegen dieses Braun zu keinem Entschluß durchringen konnte, und noch viel übler wäre es, aus demselben lächerlichen Grund nun auch noch dem zuverlässigen, tüchtigen Bush Kummer zu bereiten.
»Setzen Sie bitte Kurs nach Königsberg ab, Kapitän Bush.«
»Aye, aye, Sir.«
Der plötzliche Sinneswandel gegen Bush hatte bei Hornblower die Wirkung, daß er ihm nun sogar die Gründe darlegte, die ihn zu seinem Entschluß bestimmt hatten. »Danzig, Königsberg und Ostpreußen sind die Operationsbasen Bonapartes. Die in Polen versammelte Armee erhält von dort ihren Nachschub über Flüsse und Kanäle - die Weichsel, den Pregel und den Memelstrom. Wir wollen einmal sehen, ob wir ihm dort nicht einen Knüppel zwischen die Beine werfen können.«
»Aye, aye, Sir.«
Bush strahlte förmlich über diese erstaunliche Mitteilsamkeit seines unberechenbaren Chefs. Er war eben ein überaus bescheidener, geduldiger Mensch. Als Zweitältester Offizier des Verbandes hätte er es als sein gutes Recht in Anspruch nehmen dürfen, in die geheimen Pläne des Kommodore eingeweiht zu werden. Es bedurfte ja nur einer verirrten Kugel, einer fallenden Spier oder einer plötzlichen Erkrankung seines Vorgesetzten, und schon sah er sich als dessen rechtmäßigen Vertreter und Nachfolger mitten in die Verantwortung gestellt. Dennoch war und blieb er für jeden Brocken Information dankbar, den ihm Hornblower gnädig zuwarf.
Die Nonsuch kam mit Backbordhalsen an den Wind, während sich Bush und der Steuermann über den zu steuernden Kurs klar wurden. Unter dem Druck der riesigen Segelpyramide legte sich das Schiff leicht nach Lee über, in den steifen Luvriggen harfte der Wind mit schneidenden Tönen, und Hornblower begab sich von der Steuerbord- nach der Backbordseite, nach Luv, wie es ihm zustand. Er blickte nach achtern auf seinen Verband und sah, wie ein Schiff nach dem anderen scharf anbraßte und im Kielwasser des Führers folgte. Sie kamen der Reihe nach herum, erst Lotus dann Raven, Math und endlich Harvey. Die Clam war nicht dabei. Der Kutter war in Kronstadt zurückgeblieben und sollte später alle Nachrichten bringen, die Wychwood dort noch einholen konnte - aber zum Evolutionieren genügten auch fünf Schiffe.
»Bringen Sie mir das Signalbuch«, befahl Hornblower. Gleich darauf jagten die Signalflaggen an den Flaggleinen empor. Jedes Signal nahm sich zuerst aus wie eine Kette schwarzer Bälle, aufgereiht wie Perlen an der Schnur, bis es vorgeheißt war und mit einem Ruck ausgerissen wurde. Auf den anderen Schiffen beobachteten scharfe Augen das Flaggschiff durch Gläser und versuchten, womöglich die Flaggen schon vor dem Ausreißen abzulesen. Eifrige Offiziere ließen ohne Verzug die richtigen Antwortsignale anstecken und klar zum Heißen nehmen. Der Verband ging schiffsweise auf den anderen Bug, fiel dann in gemeinsamer Wendung bis zu einer befohlenen Linienpeilung ab und ging zuletzt wieder zur Kiellinie an den Wind. Im Anschluß daran wurden nach Vorgang des Flaggschiffes Segel geborgen, damit die Untersegel oder die Bramsegel ohne den geringsten Verzug verschwinden konnten. Sobald Hornblowers Absicht erkannt war, wurde auf allen Schiffen jeder verfügbare Mann von vornherein in die Riggen gejagt. Hinterher wurden die geborgenen Segel wieder gesetzt. Nun wurde in die Marssegel erst ein und dann ein zweites Reff eingesteckt und wieder ausgeschüttet. Die Schiffe drehten auf Signal gleichzeitig bei, setzten Boote mit bewaffneten Entermannschaften aus und nahmen sie wieder an Bord. Als sie danach wieder auf Kurs gingen, wurden die Stückpforten geöffnet, die Geschütze ausgerannt, wieder eingerannt und seefest gezurrt und das Ganze noch einmal wiederholt. Ein neues Signal kletterte an der Flaggleine der Nonsuch empor, diesmal unter dem Anrufwimpel der Raven:
›Kommodore an Kommandant: Warum haben Sie meinen Befehl nicht ausgeführt?‹
Hornblower hatte durch sein Glas entdeckt, daß die Raven ihre Geschütze nicht vollständig seefest gezurrt hatte. Außerdem hatte sie ihre Geschützpforten nicht verriegelt, damit sie sich leichter öffnen ließen, wenn der Befehl dazu kam. Hornblower konnte sehen, wie sie beim Rollen des Schiffes immer etwas auf- und zuklappten. Außerdem konnte er aus der auffallend schnellen Arbeit der Geschützbedienungen drüben den Schluß ziehen, daß sie es unterlassen hatten, die Lafettentaljen vorschriftsmäßig abzuschlagen und zu verstauen. Das allein gab ihnen fünf Sekunden Vorsprung vor den übrigen Schiffen. Es war ausgesprochen töricht von Cole, diesen alten Trick zu versuchen, der obendrein so leicht zu entdecken war. Geschah ihm ganz recht, daß nun der Betrug der Raven vor dem ganzen Geschwader angeprangert wurde. Im übrigen mochten die Kommandanten ruhig versuchen, ihrem Kommodore ein Schnippchen zu schlagen, Halb und halb hatten diese Manöver sogar den Zweck, sie zur Findigkeit zu erziehen, damit sie im Ernstfall auch den Franzosen um so besser den Rang abliefen.
Auf der Raven wurden hastig die Geschützpforten gesichert und die Lafettentaljen geborgen. Aber Hornblower wollte es denen da drüben noch gründlicher geben. Er wartete daher genauso lange, bis dort die entsprechenden Befehle gerade durch die Decks gelaufen sein mußten, und gab dann das Signal zum erneuten Ausrennen der Geschütze. Dieser Gegenbefehl folgte so schnell auf den ersten Befehl, daß er die Raven ganz unvorbereitet traf. Hornblower konnte sich die fluchenden Offiziere auf ihrem Großdeck so gut vorstellen. Sie hinkte daher auch mit ihrem›Manöver- beendet-Signal um volle sieben Sekunden hinter den anderen Schiffen her. Es war überflüssig, sich noch einmal mit diesem Ergebnis zu befassen - auf Raven wußte ohnehin jedermann genau, wie es zustande gekommen war, und ein weiterer Tadel mochte dem Ansehen Coles bei seiner Besatzung abträglich sein.
Das war ein heißer Vormittag für alle Mann im ganzen Geschwader. Hornblower dachte an seine eigene Fähnrichszeit und konnte sich gut ausmalen, wie alles erleichtert aufatmete, als er gegen Mittag endlich das Signal gab, die Marschfahrt fortzusetzen, so daß die Besatzungen zum Mittagessen wegtreten konnten. Er selbst sah zu, wie die Leute der Nonsuch an Deck antraten, um ihre Schnapsration zu empfangen. Da stand die lange Reihe der Männer, alle voll gieriger Erwartung, jeder mit der hölzernen Muck in der Hand, und vor ihnen war der Grogkessel aufgebaut, der die Aufschrift: ›Gott segne den König!‹ trug und durch einen Posten bewacht war. Montgomery und zwei Steuermannsmaaten überwachten die Ausgabe.
Hornblower beobachtete, wie ein Matrose entrüstet abgewiesen wurde, als er an den Kessel trat, wahrscheinlich war es ein Sünder, der mit Entzug der Ration bestraft war und dennoch versucht hatte, ihrer habhaft zu werden. Ein solcher Versuch kostete den Mann auf manchen Schiffen mindestens zwei Dutzend Hiebe, nach Montgomerys Gebaren zu urteilen, gab es hier an Bord höchstens weiteren Entzug der Zuteilung, Strafdienst an den Pumpen oder als Galionsinspektor. Es war beruhigend, sich von dem guten Geist und der Frische dieser Leute überzeugen zu können. Man konnte sich darauf verlassen, daß sie sich so tapfer und unerbittlich schlugen, wie es die Lage von ihnen verlangte, und - was ebenso wichtig war - man konnte sicher sein, daß sie die langen, öden Tage einer Kreuzfahrt, die ermüdende Eintönigkeit des Bordlebens auf einem Linienschiff überstanden, ohne daß es überraschende Unzuträglichkeiten gab.
Bush mußte unbedingt zusehen, daß die Leute in dieser guten Verfassung blieben, er nahm sich vor, ihm einen entsprechenden Wink zu geben. Ein Wettbewerb im Hornpipe-Tanz, eine Theateraufführung, irgend etwas dieser Art mußte bald veranstaltet werden, falls es nicht genug Kampfaufgaben gab, um die Leute geistig in Schwung zu halten. Mit diesem Entschluß wandte er sich ab und ging unter Deck. In den ausgefüllten Vormittagsstunden war es ihm endlich gelungen, sich die sorgenvolle Frage, was er mit Braun anfangen sollte, aus dem Kopf zu schlagen. Zunächst mußte er wiederhergestellt sein. Vorläufig bestand noch immer die Möglichkeit, daß er an seiner Wunde starb. Jetzt aber waren wichtigere Dinge zu tun.
Er mußte die Karten des Frischen Haffs und die Ansteuerung von Königsberg studieren und den Plan für seinen Überfall auf Bonapartes rückwärtige Verbindungen entwerfen, den er in dieser Gegend unternehmen wollte, wenn sich dazu eine Möglichkeit bot. Stand dieser günstige Wind weiterhin durch, dann blieben ihm nur drei Tage Zeit, um diesen Angriff gründlich zu überlegen. Er hatte sich die Karten jener Gegend in der Kajüte auslegen lassen und machte sich nun daran, sie mit größter Sorgfalt zu studieren. Es dauerte aber nicht lange, da rief er gereizt nach Lampen, weil es ihm in dem dämmrigen Raum allzu schwerfiel, die winzigen Zahlen zu lesen, mit denen die Karten übersät waren. Die Tiefenverhältnisse waren unglaublich verwickelt, und die Aufgabe, sich ein klares Bild davon zu machen, wurde dadurch nicht eben erleichtert, daß er sich mit dreierlei verschiedenen Karten befassen mußte, einer schwedischen, die Tiefenangaben in schwedischen Fuß enthielt, einer französischen, die nach Metern rechnete, und einer recht skizzenhaften englischen, die die Wassertiefen in Faden gab. Es war daher eine mühsame Aufgabe, diese drei miteinander zu vergleichen, und das Ergebnis war alles andere als befriedigend, denn sie stimmten keineswegs überein. Und doch lag es auf der Hand, daß gerade hier ein überraschender Schlag die allerbesten Aussichten hatte. In dem weglosen Polen und Ostpreußen war der Nachschub an Proviant und Munition für die immer stärker anschwellenden Heeresmassen Bonapartes auf den Wasserweg angewiesen. Sein vorgeschobener Hauptstützpunkt war Danzig, von dort aus konnten die in Mittelpolen stehenden Truppenverbände über die Weichsel versorgt werden. Aber die starken Streitkräfte in Ostpreußen und Ostpolen waren für ihre Versorgung von den anderen Flußgebieten abhängig, die bei Königsberg und Elbing ins Frische Haff mündeten. Auf diesem Frischen Haff, einer langgestreckten Lagune, die durch eine schmale Nehrung fast ganz von der Ostsee abgeschnitten wird, herrschte jetzt sicher ein lebhafter Binnenschiffsverkehr von Elbing nach Königsberg. In den Augen der Franzosen war dieses fünfzig Meilen lange und ein Dutzend Meilen breite Haff, dessen schmale Zufahrt durch die Geschütze der Festung Pillau gedeckt war, ein völlig sicherer Wasserweg für alle Versorgungsgüter, ebenso sicher vor allen Stürmen wie vor dem Zugriff der Engländer. Im Grunde genommen war natürlich Danzig das verlockendste Ziel an dieser ganzen Ostseeküste.
Aber Danzig war sicher, es lag mehrere Meilen weichselaufwärts und war obendrein stark befestigt. Gegen eine Stadt, zu deren Einnahme Bonaparte mit hunderttausend Mann drei Monate gebraucht hatte, konnte Hornblower mit seinen paar hundert Seesoldaten natürlich nichts ausrichten. Danzig war also für ihn unerreichbar, und genauso stand es mit Königsberg und Elbing. Aber mit dem Verkehr zwischen diesen drei Festungen wollte er gründlich aufräumen. Mehr brauchte er nicht zu tun.
Der Wind war seinen Plänen günstig - ein Römer hätte darin ein gutes Vorzeichen erblickt.