„Es genügt nicht, den Magus kurz einzutauchen in den Styx; man werfe ihn hinein, und er muß schwimmen oder untergehen.“
A.C.
Es wurde schon Nachmittag. Meure wachte mit einem heftigen Rucken seines Kopfes auf. Er saß im Schatten, den ein eigenartiger zweirädriger Karren warf. Gezogen wurde er von zwei Wesen, die anscheinend zwei außergewöhnlich große und außergewöhnlich stumpfsinnige Menschen waren. Die anderen waren in seiner Nähe und in ähnlichen Positionen. Halander hielt Ingraine Deffy schützend umfangen, beide lagen unter dem Wagen. Es war recht warm. Audiart saß vorn neben dem Wagen, das Sonnenlicht ließ ihr Haar kupferfarben erstrahlen. Sie war wach. Blicklos ruhten ihre Augen auf der Weite des leeren Graslandes, ihre Gedanken weilten anderswo.
Meure schirmte seine Augen gegen die Helligkeit des Himmels ab, der von so tiefem Blau war, daß es ihm unnatürlich schien. Gleichzeitig war er auch eigenartig trüb, nicht so durchscheinend wie der Abendhimmel auf Tankred … Da erst wurde ihm wieder klar, daß er sich in einer außergewöhnlichen Lage befand; er war wirklich auf einer neuen Welt, in einer neuen Welt, in einem anderen Universum. Im Schiff noch hatten sie sich vormachen können, daß sie die alte Welt mit sich trügen, aber ohne das Schiff hatte sich alles geändert.
Bis in endlose Fernen verliefen die Wellen des Landes, das mit einer drahtigen bläulichen Vegetation bedeckt war, die an Gras erinnerte, aber keines war. Hier und da unterbrachen kleine, bedeutungslose Akzente das öde Bild: ein verkrüppelter, zwergenhafter Baum, ein Steinhaufen. Wolken eines Typus, den er immer mit Sommer und schönem Wetter in Zusammenhang gebracht hatte, zogen über den Himmel, klar begrenzte Bäuschchen, die so massiv schienen, wie das Land unter ihnen. Viele waren an der Unterseite dunkel verfärbt, und eine, weit im Norden, schien einen Regenschleier hinter sich her zu ziehen.
Weit hinter dem Wagen bemerkte er eine der großen Gestalten, die sie begleitet hatten. Teilnahmslos und unbewegt hockte sie im Sonnenlicht, ihr Gesicht lag völlig im Schatten der Kapuze. Meure hielt sie nicht für das Mädchen, das er am Morgen gesehen hatte, aber er hätte nicht sagen können, wieso er das annahm. Er sah weder das Gesicht dieses Wesens noch seine Augen, aber er war sich sicher, daß es sie beobachtete. Wo war Flerdistar? Er sah sich erschrocken um. Wo waren die beiden Spsomi? Wo war der pelzige Sklave?
Meure erhob sich ungelenk. Alle seine Glieder waren steif von dem harten Boden und dem Rad, an das er sich gelehnt hatte. Falls die Wache es bemerkt hatte, so ließ sie es sich jedoch nicht anmerken. Meure suchte die Umgebung mit seinen Blicken ab. Vor dem Wagen war in einiger Entfernung ein luftiges Sonnendach errichtet worden. Es hing zwischen Pfählen, die man in auseinanderstrebenden Winkeln in den Boden getrieben hatte. Vielleicht hatte man die Speere benutzt, die er bei den großen Fremdlingen gesehen hatte. Dort waren die anderen. Er sah sie alle sehr deutlich. Es waren auch einige dabei, die er noch nie zuvor gesehen hatte; sie sahen anders aus als die eindrucksvollen Jäger. Wenn er genau hinhörte, vernahm er auch das ferne Gemurmel ihrer Stimmen, allerdings konnte er keine einzelnen Wörter heraushören. Der Klang ihrer Stimmen beruhigte ihn. Weder redeten sie zornig noch erregt. Einer nach dem anderen schienen sie das Wort zu ergreifen, in gemessenem, bedächtigem Tonfall.
Einen Moment lang schoß der Gedanke an Flucht durch seinen Kopf; er würde einfach so davongehen, dann vielleicht zu rennen beginnen … Er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, und er war sich sicher, daß er nicht sehr weit kommen würde, wenn sich einer der Jäger entschließen würde, ihm zu folgen. Meure fiel wieder ein, wie sehr sich die Menschen mit den Hasenscharten vor nur einem einzigen dieser Jäger gefürchtet hatten; wahrscheinlich hatten sie Erfahrungen gemacht, die diese Furcht rechtfertigten. Er entschied, daß er nicht herausfinden wollte, wie stark das unsichtbare Band war, das ihn hielt.
Er sah wieder zu dem Sonnensegel hinüber, und es schien ihm, daß das Treffen allmählich seinem Ende zuging. Die großen Jäger zogen sich zurück, um sich untereinander zu besprechen. Meure bemerkte die auffälligen Konturen der beiden Spsomi, die sich immer noch in einem Gespräch mit dreien der großen Gestalten befanden. Offensichtlich verständigten sie sich im wesentlichen durch Zeichensprache. Einer der Jäger übergab seinen Speer an Shchifr, und der Spsom wog ihn prüfend in der Hand, dann demonstrierte er seine Art, ihn zu werfen. Die Jäger mochten den Stil, in dem er dies tat, für genauso ungewöhnlich halten wie seine fremde Erscheinung, aber gewiß konnten sie an seiner Treffsicherheit nichts auszusetzen haben, denn er hatte den kleinen Busch, auf den er gezielt hatte, genau in der Mitte getroffen, und der Speer steckte nun zitternd im Holz. Nach einer kleinen Pause nahmen sie die Gesten der Zeichensprache wieder auf; das Thema schien nun die Jagd oder eine ähnliche Beschäftigung zu sein. Meure hatte gar nicht gewußt, daß die Spsomi jagten – eigentlich gab es überhaupt sehr wenig, was er von ihnen oder über sie wußte.
Flerdistar und Clellendol kehrten zum Karren zurück. Sie wurden von einem der Jäger und von zwei Fremden begleitet. Der eine von ihnen war untersetzt und hatte ein rosiges Gesicht, der andere war dünn und ernst, sein Kopf war von einem dichten Büschel unordentlichen eisgrauen Haares bedeckt. Beide waren in reichlich abgetragene Gewänder gehüllt, die an schlichte Bademäntel erinnerten: Vorn wurden die Wickelmäntel von einer Schärpe gehalten, deren Enden bis zu den Knien fielen. Sie trugen beide derbe Strümpfe und Sandalen. Anders als bei den Jägern, verbreitete ihr Anblick keine Furcht, Haltung und Gesten der Jäger und der Ler ließen jedoch darauf schließen, daß die beiden Fremden respektiert wurden und – zumindest innerhalb örtlicher Grenzen – einigen Einfluß hatten.
Flerdistar verabschiedete sich von der Gruppe und ging zu denen am Wagen. Sie bemerkte, daß alle nervös waren, darum sagte sie sofort: „Falls von Ihnen jemand zu dunklen Befürchtungen neigt, kann ich Ihnen mitteilen, daß Sie sich zunächst etwas entspannen können. Von den Jägern droht uns im Moment keine unmittelbare Gefahr, zumindest so lange nicht, wie keiner von uns etwas Unbedachtes tut, zum Beispiel einen Fluchtversuch unternimmt. Es sind Nomaden, sie nennen sich selbst Haydars. Ich kann über sie zunächst nur sagen, daß sie einer der ursprünglichen Klesh-Stämme sind und daß sie sehr umfassende und komplizierte Sitten und Gebräuche haben. Sie haben ihre ursprüngliche Lebensart bewahrt; seit ihren Anfängen hier hat es kaum eine Veränderung bei ihnen gegeben. Für mich würde es sich lohnen, den Rest meines Lebens bei ihnen zu verbringen. Sie sind uns nicht feindlich gesinnt, aber als Nomaden können sie uns nicht bei sich behalten – nur die Spsomi wären in der Lage, sie auf der Jagd zu begleiten –, darum werden wir … nicht hierbleiben.“
Audiart fragte: „Wo sind wir?“
„Auf Monsalvat, auf dem Kontinent Kepture, wie wir vermuteten. Wir befinden uns im südwestlichen Teil von Kepture, der Ombur genannt wird. Im Nordosten liegt ein anderes Land, es heißt Incana. Ich denke, dorthin werden wir uns wenden. Die Namen beziehen sich nicht auf Staaten oder Regierungsbezirke oder etwas ähnliches. Die Zeit vergeht hier sehr langsam, und die jeweiligen Grenzen haben auf die Ländernamen keinen Einfluß. Wir warten noch darauf, daß das Mädchen von der Jagd zurückkehrt. Es ist so etwas wie ein Schamane dieser Stammesgruppe. Es kennt alle Haydar-Epen und deutet auch das Omen. Der Anführer möchte, daß wir uns aus dieser Gegend entfernen, aber er muß erst abwarten, bis das Omen gedeutet worden ist – danach wird er seine Entscheidung fällen.“
Flerdistar unterbrach sich einen Moment, dann fuhr sie fort: „Es fasziniert sie, daß wir sie nicht fürchten. Wir haben dies mit unserem Unwissen erklärt, aber sie halten uns dennoch für Menschen mit erstaunlicher Selbstbeherrschung. Laßt sie ruhig weiter daran glauben, dann sind wir einigermaßen sicher. Es wird nicht immer leicht sein, denn sie sind ein sehr spontanes Volk, und sie werden vielleicht harte Entscheidungen treffen.
Die beiden anderen“, fügte sie hinzu, „gehören zu einer Klasse reisender Sendboten. Offensichtlich ist es ihre Aufgabe, die Verständigung zwischen Stämmen aufrechtzuerhalten, die einander verabscheuen. Der Brauch schreibt vor, daß sie weder verletzt noch beraubt, noch aufgehalten oder als Geiseln genommen werden dürfen, außer in ganz besonderen Fällen, die uns aber nicht zu interessieren brauchen.
Ursprünglich wurde hier in Singlesprache gesprochen, mit der Veränderung der Menschen hat diese sich jedoch ebenfalls stark verändert. Ich rate Ihnen dringend, sie so schnell zu lernen, wie Sie es eben können. Es gibt viele verschiedene Dialekte, und hinzu kommen noch Kult-Varianten, die Gesetzessprache der Stämme und andere, an bestimmte Handlungen gebundene Sprechweisen. Die meisten Menschen hier beherrschen fließend drei oder vier dieser Sprachformen, und diesen reisenden Botschaftern stehen natürlich noch viel mehr Dialekte zur Verfügung.“
Meure fragte: „Gibt es Großstädte, überhaupt Städte, oder ist dies ein Planet der Wilden?“
„Es gibt … Städte. Ich glaube jedoch, daß Sie sie nicht so nennen würden, wenn Sie einmal eine zu sehen bekämen; es sind einfach Orte, an denen sich Menschen sammeln, Orte, die dem Schutz und der Verteidigung dienen. Kein Land wird von einem einzigen Herrscher regiert, alle sind vielfach zersplittert. Es gibt keine Grenzlinien oder -pfähle, keine Zolleintreiber. Alles verändert sich ständig hier auf Monsalvat, das sie übrigens ‚Aceldama’ nennen. Auch der Name Monsalvat ist ihnen geläufig, aber sie ziehen den anderen vor.“ Sie seufzte tief. „Wir müssen noch viel lernen, aber wir werden auch vieles mit uns nehmen können.“
„Wenn wir es überhaupt erleben“, sagte Halander dazwischen, „daß die Ilini Visk uns in einem Jahr abholt.“
Herdistar wandte sich ab und murmelte: „Auch das kann eine harte Lektion werden. Seien Sie wachsam und flexibel. Es wird für Sie genauso schwer werden wie für uns. Nie zuvor ist mir eine solche Vielfalt begegnet, wie sie sich in ihren Sprachen bereits andeutet: Jeder Stamm unterscheidet sich so sehr von dem anderen, wie wir uns von den Spsomi unterscheiden, und Sie wissen von noch ausgefalleneren Lebensformen in fernen Ländern. Für den Augenblick jedoch können Sie es sich so bequem wie möglich machen. Erholen Sie sich! Heute nacht kann sich die Lage wieder völlig ändern; wir werden sehen …“
Meure dachte an nichts Besonderes, er hörte einfach Flerdistars Worten zu; plötzlich jedoch huschte eine Idee durch seinen Sinn, so schnell, daß er es fast selbst nicht wahrgenommen hätte. Er hatte Mühe, sie in Worte zu fassen.
„Liy Flerdistar, können Sie uns sagen, was wir tun können, bis die Ilini Visk eintrifft?“
Noch während er sprach, wurde es ihm klar, daß er sich zu allgemein ausgedrückt hatte. Darum hatte sie ihn auch wohl nicht verstanden. Was er wirklich sagen wollte, war mehr. Was sein Inneres schrie und was er aus Furcht vor den Jägern doch nicht laut zu sagen wagte, war dies: Wenn das, was wir hier vor uns sehen, ein typisches Beispiel für das Leben auf Monsalvat-Aceldama ist, dann gibt es hier keinen Platz für uns. Hier gibt es eine Vielzahl von verschiedenen Stämmen, doch keinen, der uns ähnelt. Die Stämme fressen einander auf bestenfalls hassen sie einander wie die Pest. Wir müssen irgendwie überleben, und wenn wir überleben wollen, müssen wir Stämme finden, die zu uns passen. Vielleicht müssen wir uns dazu in alle Winde zerstreuen. Scheinbar ist Flerdistar jetzt der Anführer unserer Gruppe, und es ist schrecklich, daß sie bis jetzt nicht gemerkt hat, daß es dieses Problem gibt. Sie denkt nur daran, was sie aus diesen Menschen über die Vergangenheit herausholen kann.
Sie antwortete ruhig: „In Incana gibt es Festungen von alters her. Wir müssen aus dieser offenen Ebene heraus. Diese leeren Grasländer sind immer umstritten. Im Moment haben wir machtvolle Beschützer, und wir müssen zusehen, daß wir sie behalten, bis wir einen Ort erreichen, der uns mehr Sicherheit bietet. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen.“
Meure nickte, dann wandte er sich ab. Das war alles ganz einleuchtend, oberflächlich betrachtet. Problem: Wir müssen Ombur verlassen. Lösung: Wir bringen die Eingeborenen dazu, uns an einen anderen Ort zu schaffen. Dann überlegen wir uns, wohin wir von dort aus weiterziehen. Meure konnte es sich nicht vorstellen. Sein Blick wanderte wieder über die endlose Weite der Ebene, die Wellen, die Leere, den Himmel. Er mochte diese Welt nicht. Aber er wollte leben, um jeden Preis. Eine Sache über Monsalvat hatte er sofort erkannt, ohne daß es ihm jemand gesagt hatte: Was auch immer einer von ihnen tat, hier und jetzt, es würde sofort unabsehbare Folgen heraufbeschwören. Er wußte nicht, was im Westen oder Süden lag, er fürchtete die Kaninchen-Menschen im Osten. Doch es war falsch, falsch nach Norden zu gehen, nach Incana. Und noch während er sich darüber klar wurde, wie verhängnisvoll es sein würde, wußte er schon, daß sie dorthin gehen würden.
Flerdistar rief sie alle zusammen bis auf die Spsomi und das kleine Wesen, das ihr Sklave gewesen war, und empfahl sie der Obhut eines dritten Mitglieds der Gruppe der fremden Neuankömmlinge. Dies war ein trollähnliches Wesen mit überlangen Armen und einem breiten, bösen Grinsen. Auf ein Zeichen des grauhaarigen Mannes hin tauchte es von der Rückseite des Wagens auf und brachte einen Korb mit sich, in dem dünne Kekse und einige Scheiben Dörrfleisch lagen; diese verteilte es, wobei es jedesmal die Bezeichnung der Nahrungsmittel nannte, wenn es sie überreichte. Anscheinend sollte es sie einweisen. Meure wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu und lauschte ihm mit wachsendem Interesse. Die Mission der Ler kümmerte ihn wenig, auch nicht die Lage der Spsomi, die das Schiff geflogen und verloren hatten. Hier ging es ums Überleben. Meure sah in diesem Troll nicht einen Krüppel, sondern einen Mischling, einen verwachsenen Mischling, der es geschafft hatte zu überleben. Er war es wert, daß man ihm zuhörte.
Weich ging der Tag in die Abenddämmerung über. Zunächst waren die Schatten länger geworden, aber während sie wuchsen, wurden sie verschwommener und verschwanden schließlich ganz. Ohne zu wissen, warum, hatte Meure das Licht des Sonnenpaares Bitirme gemieden. Er wollte den Zwillingsstern einfach nicht sehen. Sein Gehirn war übervoll mit den Sitten und Gebräuchen von Aceldama. Er dachte noch einmal darüber nach. Offenbar war er der einzige von ihnen, der Benne seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Die anderen, Audiart, Halander und Ingraine, wurden offenbar von seinem merkwürdigen Verhalten und seiner trollähnlichen Erscheinung abgestoßen. Meure jedoch hatte sich zu ihm gesetzt, zugehört und die fremden Wörter wiederholt, von denen viele einen vertrauten Beiklang hatten. Er versuchte, all das zu verstehen, was Benne ihn lehrte. Er mochte ein Eunuch und eine Mißgeburt sein, aber hinter der fliehenden Stirn besaß er einen scharfen Verstand, und viele Jahre des Überlebens sprachen aus ihm. Außerdem besaß er ein ursprüngliches Talent zum Lehren. Er begann mit dem Naheliegenden und Praktischen und stieg dann auf zu immer komplexeren Ideen. Meure wußte, daß sein neuer Wortschatz keineswegs ausreichte und daß er von der Struktur dieser Sprache nur das Allernotwendigste begriffen hatte, aber er hatte wenigstens eine Basis, auf der er aufbauen konnte; und die anderen …?
Meure erhob sich, streckte sich gründlich in der kühlen Abendluft und trat aus dem Schatten des Wagens in das offene Gelände Monsalvats hinaus. Der Haydar, der sie alle beobachtete, verfolgte ihn kurz mit seinem Blick, dann nahm er seine übliche Haltung wieder ein.
Weit drüben im Westen versank gerade Bitirme in einem Schleier hoher Zirruswolken, orangefarben stand ihr Licht vor einem violetten Himmel. Der Doppelstern wirkte jetzt fast eiförmig. Ungehindert drang Meures Blick bis in den fernen Westen vor, nichts als die endlosen Wellen der Ombur-Ebene lag vor ihm. Ruhig und still war das Gelände, auf eine fast übernatürliche Art. Er hörte leiseste Geräusche, die ihm normalerweise entgangen wären. Wenn es Gras gegeben hätte, hätte Meure es wachsen hören können, glaubte er. Die fremden Wesen, die an den Wagen geschirrt waren, hatten regungslos in der Wagenspur gesessen, jetzt jedoch begannen sie sich zu regen. Sie tauschten leise Grunzlaute aus. Von allen Kreaturen, die er bisher auf diesem Planeten gesehen hatte, waren sie die eigenartigsten: wahre Riesen mit einem grobknochigen, schwerfälligen Körperbau, einer bleichen, wächsernen Haut und strähnigem, blondem Haar. Stumpfsinn sprach aus ihren ausdruckslosen Gesichtszügen. Saumer hatte Benne sie genannt, als er verschiedene Wesen aufzählte, die in diesem Teil von Kepture heimisch oder hier gezähmt worden waren. Es war sonderbar: Benne hatte sie als Stamm bezeichnet, aber er hatte sie zusammen mit den Tieren aufgezählt. Andererseits hatte er auch die Kaninchenwesen, die Lagostomer, nicht gemeinsam mit den Menschen genannt.
Hinter dem Wagen waren Flerdistar, Clellendol und die beiden Ler-Ältesten noch immer in einer ernsten Unterhaltung mit den Botschaftern begriffen; währenddessen bauten die Spsomi gemeinsam mit den Haydar das Sonnendach ab, das ihnen den Tag über Schutz gewährt hatte. Audiart und die anderen beiden saßen immer noch beim Wagen.
Fern im Südosten hörte er ein Geheul. Erst ein einzelnes Heulen, dann antwortete ihm ein ungeordneter Chor. Die Haydars, die bei dem Wagen zurückgeblieben waren, unterbrachen sofort ihre jeweilige Tätigkeit und sahen in die Richtung, aus der das Heulen kam. Nichts in dem schwachen, fernen Geräusch erinnerte Meure an Worte, aber es klang anders als der erschreckende Ruf, den das Mädchen am Morgen ausgestoßen hatte. Was ihnen das Geheul auch mitteilen mochte, es schien den Jägern zu gefallen, denn sie nahmen fröhlich ihre Beschäftigungen wieder auf; die angespannte Wachsamkeit hatte sich in eine heitere Stimmung verwandelt. Unter ihren Umhängen hervor holten sie Gegenstände, mit denen sich ein Feuer anzünden ließ, und bald hatten sie ein Feuer auf dem Boden entfacht, das sie mit länglichen Klumpen einer dunklen Substanz speisten. Meure suchte den Horizont dort ab, von woher das Geheul gekommen war, konnte aber nichts entdecken. Die Dunkelheit senkte sich jetzt rasch herab, Bitirme war schon hinter dem Horizont verschwunden.
Am Himmel im Osten glaubte er eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Dort standen schon die ersten Sterne; aber auch dort war nichts zu entdecken. Alles war ruhig. Das ferne Heulen hatte aufgehört. Er wandte sich wieder dem Wagen zu und ging hinüber, um sich den anderen anzuschließen. Es gab etwas, das er Audiart sagen mußte, etwas, das sie zu brauchen schien, auch wenn sie älter und erfahrener war als er.
Der Abend war so still, daß jedes Geräusch besonders verstärkt zu werden schien. Durch diese Stille drang jetzt von oben ein fernes Rauschen, ein rhythmisches Schlagen. Als er aufblickte, sah er eine Gruppe der eigentümlichen, vierflügeligen Kreaturen, die er am Morgen zum erstenmal erblickt hatte. Es waren ungefähr zehn; in keilförmiger Formation, mit teilweise angelegten Vorderflügeln, flogen sie westwärts. Eine plötzliche Furcht ergriff ihn, aber als er zu den Haydars hinübersah, stellte er fest, daß es diesen offenbar nichts ausmachte. Sie blickten kurz auf und wandten sich dann wieder ihrer Arbeit zu, so als ob sie sie erwartet hätten. Eratzenaster hatte Benne sie genannt. Meure sah wieder hin. Die Eratzenaster waren langsamer geworden und gingen tiefer. Die größeren von ihnen schienen etwas auf dem Rücken zu tragen, aber das Licht war inzwischen sehr schwach geworden, und Meure war sich nicht sicher.
Die Kreaturen entfalteten ihre Vorderflügel, schwebten noch tiefer, wandten sich nach Süden und kamen in einem weiten Bogen zurück. Sie näherten sich zögernd dem Boden, die Vorderflügel schlugen heftiger, so richtete sich ihr Rumpf etwas auf, und der Anflugwinkel wurde steiler. Die kleineren waren jetzt schon dicht über dem Boden, und sie erreichten ihn in einem linkischem Manöver, das Fallen, Segeln und Landen in einer Bewegung vereinte. Sie schienen die Vorwärtsbewegung aufzufangen, indem sie auf Gliedmaßen über den Boden rannten, die von den großen Flügeln verborgen waren. Die größeren brauchten einen längeren und flacheren Landeanflug und landeten geschickter. Am behutsamsten kam die allergrößte der Kreaturen auf dem Boden an, so als wolle sie die Last nicht abwerfen, die sie auf dem Rücken trug. Diese Last bewegte sich nun. Sie richtete sich von ihrem Reitsitz in der schmalen Mitte des Eratzenasters auf. Es war zweifellos das Mädchen, das die Lagostomer gejagt hatte, und es war noch genauso nackt wie zu Beginn der Jagd.
Die Eratzenaster versammelten sich in der Umgebung des Lagers, suchten geeignete Plätze, an denen sie sich niederlassen konnten. Zusammengefaltet am Boden liegend, ähnelten sie länglichen Felshaufen. Das große Tier, auf dem Tenguft geritten war, strich weiter auf seinen unsichtbaren Beinen um das Lager herum. Dann kam es näher, und Meure konnte feststellen, wie groß ein großes Exemplar dieser Gattung werden konnte und wie bizarr seine Gestalt tatsächlich war. Es maß fast dreißig Meter, und das hintere Flügelpaar hatte eine Spannweite von fünfzehn Metern, aber es war jetzt nicht – wie beim Flug – voll entfaltet. Sein Rumpf schien teilweise starr und nur an manchen Stellen biegsam zu sein. An den spitzen Enden der Flügel waren hornbüschelige Auswüchse, von deren Funktion Meure sich keine Vorstellung machen konnte. Das spitze Vorderteil des Tieres ragte höher auf als ein Haydar, seine Flügel hingen fast bis auf den Boden herab.
Meure fühlte sich benommen, aber er spürte keine Furcht. Dies war offensichtlich ein zahmes Tier. Er trat näher, während die anderen einen respektvollen Abstand hielten. Ein Haydar brachte der Reiterin des Eratzenasters einen langen Umhang.
Es war inzwischen fast völlig finster; Einzelheiten waren schwer zu erkennen. Meure strengte seine Augen an, um genauer zu sehen: Das Vorderteil des Eratzenasters war wie ein Bug, und er verjüngte sich zu einer knochigen Spitze. Da war kein Maul, keine Nase, nichts. Weiter hinten waren Augen, vier davon konnte er sehen, sie glänzten ölig schwarz. Auf der Mitte dessen, was man als Stirn bezeichnen konnte, saß ein weiteres Auge. Dies war matt und hatte eine insektenähnliche Facettierung. Hoch ragte das Wesen über ihm auf, jetzt drehte es sich in seine Richtung, um ihn besser wahrnehmen zu können. Meure spürte ein leichtes Prickeln auf der Haut, eine Vibration; das Facettenauge begann zu pulsieren, in seinem Inneren glühte ein rotes Licht auf. Meures Gesicht wurde heiß. Das Licht verglomm, und das Wesen hielt in seiner Bewegung inne, als es ihm genau gegenüberstand. Es war jetzt so nahe herangekommen, daß er es atmen hören konnte: ein seufzendes, raschelndes Geräusch, das von irgendwo unterhalb der Flügel kam. Auch seinen Geruch konnte er jetzt ausmachen, ein Gemisch, das zugleich stechend und modrig roch, wie altes Fell. Wieder prickelte es auf seiner Haut, und das Tier ließ sich auf dem Boden mit dem Kopfende zuerst nieder, dem dann umständlich der rückwärtige Teil folgte. Auf dem Boden liegend, faltete es seine Flügel so, wie die anderen es zuvor getan hatten. Nun erst schwang Tenguft ihr langes, schlankes Bein über den Rücken des Tieres und ließ sich auf den Boden gleiten, wo der Jäger sie schon mit dem Umhang erwartete. Mit einer sparsamen Bewegung warf sie ihn über und gesellte sich zu den anderen Haydars.
Neben Meure rührte sich etwas: Clellendol. Der junge Ler sagte leise: „Eine furchterregende Bestie!“
Meure dachte kurz nach, dann fragte er: „Welche?“
„Hm, hm. Gut gegeben … Du sollst angeblich so unschuldig sein, aber du fragst mich, welche von beiden … nun, ich würde sagen, beide.“
Meure sagte: „Ich fürchte sie beide, diesen fliegenden Alptraum mit meinen Instinkten und sie mit meinem Verstand.“
„Die erste Furcht kann man überwinden, man kann sie sogar zum Ansporn eines sinnvollen Verhaltens wandeln, aber die zweite … Wir haben soviel an Anstrengungen darauf verwandt, unsere instinktive Furcht zu überwinden, daß wir diese andere Angst vernachlässigten.“
„Was mir an ihr am meisten Angst macht, ist die Möglichkeit, daß sie vielleicht noch lange nicht das Gefährlichste ist, dem ich hier auf … Aceldama begegnen werde.“
„Du kennst das Wort?“
„Eigentlich nicht. Ich habe nie Arkanisch studiert, weder das antike noch das neue.“
„Es stammt aus sehr alter Zeit. Morgin der Mittler hat es mir übersetzt, es bedeutet: ‚Der Ort, an dem man die Fremden begräbt’. Es ist ein sehr traditionelles Wort, genauso wie die Wörter, die zur Benennung der Menschen beziehungsweise der Wesen menschlicher Herkunft dienen.“ Es war Meure nicht entgangen, daß Clellendol sich einer anderen Ausdrucksweise als gewöhnlich bediente.
Clellendol fuhr fort: „Alle menschenähnlichen Lebewesen auf dieser Welt bezeichnen sie mit dem alten Wort Klesh. Alles, was bei uns als Mensch gilt, nennen sie Ksenosi, Fremde. Überdies herrscht hier der alte Konflikt, den weder mein noch dein Volk je gelöst haben; wir sind ihm nur ausgewichen.“
„Worum geht es?“
„In der Vorzeit stießen die Menschen, die Starmanosi, das alte Volk, in eine ökologische Lücke vor, die auf der alten Heimatwelt bestand. Sie hatten keine ebenbürtigen natürlichen Feinde. So bekämpften sie einander, nachdem eine gewisse Populationsdichte erreicht war. Dies ist ein Grundprinzip der Entwicklungsgeschichte. Auch wir Lermanosi wären eines Tages an diesen Punkt gelangt, aber wir sind unserer Bestimmung einstweilen entgangen, indem wir das Gebiet verließen …“
Meure unterbrach ihn: „Wodurch ein Aufschub erreicht wurde, aber keine Lösung.“
„Genau! Das Problem wurde nur in ein anderes Umfeld verlagert, in einen größeren Maßstab des Raumes und der Zeit. Für uns selbst gingen wir soweit, daß wir aus der Vermeidung innerer Konflikte einen Kult machten, der in unsere Familienstrukturen einging. Wir sind immer auf der Suche nach einem System, das es uns noch besser ermöglicht, den Außenstehenden, den Fremden, den Ler, der uns fernsteht, einzugliedern. Ihr habt einen Teil unserer Lebensgestaltung von uns geborgt und die Gleichrichtung der Bevölkerung zu einem eurer Ziele gemacht. In beiden Fällen haben diese Bemühungen gewisse Früchte getragen. Ganz anders liegt der Fall bei diesen verrückten Klesh hier: Sie sind dem Problem nicht aus dem Weg gegangen, und der interne Konflikt ist nun ihr Lebensinhalt. Selbstgefühl und Selbstbewußtsein sind hier so stark, wie du und ich es noch nie zuvor erlebt haben. Daß die Haydars uns noch nicht als ihre Beute betrachtet haben, hat darin seinen Ursprung. Sie können sich einfach nicht vorstellen, daß Unwissenheit unser Verhalten bestimmt hat. Es ist schon so, wie Flerdistar gesagt hat: Sie glauben, unser Selbstbewußtsein sei so stark, daß wir sie nicht fürchten; und ohne Furcht macht ihnen das Spiel keinen Spaß. Daß sie uns mit einem Raumschiff haben kommen sehen, spielt überhaupt keine Rolle. Sie wissen, daß es im Weltraum Lebewesen gibt, sie denken sich das All als ein Monsalvat im großen Maßstab: Mord, Schlachten und Massaker; und die weniger Selbstbewußten versammeln sich zu Massen.“
„Warum erzählst du mir das alles?“
„Ich will offen sprechen, aber fasse es bitte nicht als Beleidigung auf. Du bist ein unschuldiges Wesen. Das ist an sich nichts Schlimmes, aber gleichzeitig bist du sehr unternehmungslustig. Du gehst herum, siehst dir Sachen an, siehst genauer hin. Wie eben.“ Clellendol zeigte hinter sich auf den Wagen. „Diese zwei, der Junge, der mit dir kam, und das schlanke Mädchen – glaubst du, einer von denen wäre hierhergegangen, um sich einen Eratzenaster aus der Nähe anzusehen? Du spürst einfach, daß er auf dem Boden praktisch hilflos ist, ganz gleich, was er in der Luft zu tun vermag. Du siehst so etwas.
Aber sie warten an derselben Stelle, an der man sie am Morgen zurückgelassen hat. Und diese Frau, mit der du anscheinend eine Verbindung eingegangen bist …“
„Anscheinend ist das richtige Wort. Wir haben nicht viel miteinander gemeinsam ge…“
„Wie auch immer. Sie steht unter einem Schock, aber sie wird sich erholen und eingewöhnen. Wenn sie fünfzig Jahre hier leben müßte, so würde ihr das nicht gefallen, aber sie käme damit zurecht. Das liegt in ihrer Natur. Auf jeden Fall werden alle drei keine Aufregungen verursachen. Aber du vielleicht. Vor der Landung war Flerdistar die Schlüsselfigur unserer Gruppe. Dies war ihr Projekt, sie hatte eine These zu verifizieren. Jetzt ist diese These unwichtig geworden.“
„Das ist mir bewußt geworden.“
„Das weiß ich. Du bist der einzige, der es begreift. Und alle Dinge, die du tust, werden entscheidend sein. Früher oder später wirst du etwas aus dem Gleichgewicht bringen. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dich so lange daran zu hindern, etwas in Bewegung zu setzen, wie du noch nicht damit fertig werden kannst.“
„Wenn du dies alles erkennst, Clellendol, warum beanspruchst du dann nicht meine Position?“
„Weil es nicht die meine sein kann. Dies ist, auch wenn alles dagegen spricht, ein Menschenplanet im alten Sinne des Wortes. Alle alten Dämonen erfreuen sich hier blühender Gesundheit. Ich weiß viel. Mehr wahrscheinlich, als du mir für mein Alter zugestehen würdest, aber was auch zu tun und zu sagen sein wird, ich werde immer bleiben, was ich bin, ein Ler-Dieb. Für diese Aufgabe fehlen mir die Instinkte und das Spezialwissen. Du hast diese Instinkte, und du bist so tatkräftig, daß du bald lernen wirst, sie zu gebrauchen. Diese Leute hier, die Haydars und die Mittler-Mischlinge – auch sie sind auf ihre Art unschuldig. Du und sie, ihr paßt zusammen.“
Meure erwiderte nichts, daher ließ Clellendol seine Worte eine Weile wirken, dann fügte er hinzu: „Dann ist da noch die Sache mit Flerdistar. Es sollte jemanden geben, dem es gelingt, sie gegen ihren Willen in seine Vorhaben einzubeziehen. Trotz ihres streitbaren Wesens ähnelt sie dir sehr; auch sie ist ein unschuldiger Aktivist. Sie verfolgt jedoch ein bestimmtes Ziel, und wenn sie nicht gebremst wird, könnte sie hier etwas aufwecken, von dem ich nicht möchte, daß es aufgeweckt wird.“
„Das ist verständlich. Bei ihrer Geschichtsforschung wird sie die Sagen und Legenden von den Kriegern wiedererwecken. Sie sind zwar schon lange tot, aber für einen Klesh macht das wahrscheinlich kaum einen Unterschied.“
„Das ist zwar nicht der ganze Grund, aber für den Augenblick mag es reichen. Ich möchte, daß wir uns verbünden und daß du auf mich hörst.“
„Damit du mich zurückhalten kannst, bis zu dem Augenblick, da du mich loslassen wirst …“
Clellendols Stimme klang sehr ernst: „Du bist kein Pfeil, aber du kannst etwas aus dem Gleichgewicht bringen. Mein Wunsch ist es, daß wir hier überleben.“
„Bis die Ilini Visk kommt?“
„Du weißt nicht viel über die Spsomi?“
„Sehr wenig. Ein bißchen aus der Schule. Ich hatte sie hin und wieder gesehen, habe ein paar Geschichten über sie gehört. Das meiste habe ich auf der Reise gelernt.“
„Meure Schasny, ich muß dein Wissen über sie erweitern. Die Spsomi besitzen einen sehr merkwürdigen Sinn für Humor. Wir merken wenig davon. Sie finden viele Sachen komisch, die wir erschreckend oder traurig finden würden. Vielleicht erinnerst du dich noch an die Szene, als wir vom Hügel aus beobachtet haben, wie das Schiff in die Luft flog. Vdhitz fand es sehr spaßig, das Shchifr den Zeitmechanismus für die Selbstzerstörung eingeschaltet hatte. So ähnlich ist es auch mit der Geschichte von der Ilini Visk.“
„Inwiefern?“
„Flerdistar kennt die Spsomi eben auch nur aus Büchern. Sie spricht ihre Sprache recht gut, aber über sie weiß sie wenig. Deswegen bin ich auch mitgekommen. Ich weiß zum Beispiel, daß die Ilini Visk ein Geisterschiff aus der Vergangenheit der Spsomi ist … Alle Völker kennen diese Sagen, und besonders die Menschen besitzen eine Menge dieser Geschichten: der Ewige Jude, der Fliegende Holländer … Die Ilini Visk ist solch ein legendäres Schiff der Spsomi. Vdhitz hat Flerdistar von ihm erzählt, und sie hat die Neuigkeit an uns weitergegeben. Was Vdhitz eigentlich sagen wollte, war …“
„… daß uns nur Geister gehört haben.“
„… daß nur Geister uns retten werden. Sie haben uns schon gehört, aber sie werden nicht kommen. Die Spsomi werden es sehr spaßig finden, daß Shchifr sein Schiff verloren hat. Er hat es schließlich aufs Spiel gesetzt, nur weil diese Charter-Reise mehr einbrachte, als er sonst mit seinen Flügen hätte verdienen können.“
Inzwischen war es gänzlich Nacht geworden, und Meure war sich sicher, daß Clellendol sein Gesicht nicht sehen konnte, und er wußte auch, was darauf abzulesen war: das Bewußtsein, Gefangener auf Monsalvat zu sein.
Clellendol sagte: „Ich glaube, daß wir trotz allem gerettet werden. Die Spsomi mögen einen seltsamen Humor haben, aber ihre Zivilisation ist älter als die der Menschen und der Ler zusammen. Und sie sind keine Barbaren. Ich habe so ein Gefühl, daß das Kriegsschiff hierherkommen wird, nachdem es repariert wurde. In weniger als einem Jahr. Vielleicht schon in einem Vierteljahr. Ich glaube auch, daß Vdhitz dies weiß. So ist nun mal sein Charakter. Er weiß auch, was ich vermute. Es ist eben ein Spaß, den er sich mit Flerdistar erlaubt; sie kann daraus lernen, daß sie nicht soviel weiß, wie sie zu wissen glaubt.“
„Hat sie es auch schon erfahren?“
„Nein, noch nicht. Ich warte damit bis zu einem geeigneten Moment. Ich befürchte ohnehin, daß Vdhitz sich noch ein paar Pointen aufgespart hat, mit denen er uns zu gegebener Zeit überraschen wird. Was mich betrifft, so kann ich mit meiner Pointe noch warten. Nun … wollen wir uns den anderen anschließen.“
Clellendol sah zu dem kleinen Feuer hinüber, wo die großen Schatten der Haydars nun geschäftig hin und her eilten, so als ob sie sich auf etwas vorbereiteten. Die Haydars wirkten nervös und ungeduldig, aber keiner sprach ein Wort, und auch ihre Bewegungen verursachten kein Geräusch. Nur eine große Gestalt stand still vor den Flammen. Schlank und elegant ragte ihre Figur auf der anderen Seite des Feuers auf. Sie stand Meure und Clellendol genau gegenüber, doch sie hielt den Kopf so tief gesenkt, daß ihr Gesicht völlig im Schatten der Kapuze lag. Ihre Hände hantierten mit einem kleinen Lederbeutel herum.
Inzwischen hatten sich mehr Haydars versammelt als tagsüber beim Wagen geblieben waren. Wie Erscheinungen lösten sie sich aus dem Schatten. Meure nahm an, daß es diejenigen waren, die den Tag über hinausgezogen waren; zu welcher Unternehmung, vermochte er sich aber nicht vorzustellen. Die Spsomi und ihr Sklave waren schon da, Menschen und Ler gingen jetzt auch auf das Feuer zu. Sie wurden von Flerdistar dazu gedrängt, aber wahrscheinlich hatte ohnehin keiner den Wunsch, in der Nacht auf der Ebene von Ombur allein zu bleiben.
Flerdistar gesellte sich zu Clellendol und Meure und flüsterte aufgeregt: „Wie der Mann, der Morgin genannt wird, mir sagte, war der Tag so ereignisreich, daß sie eine Weissagung von dem Mädchen verlangen werden … Es ist außerordentlich: Es stört sie nicht, wenn wir dabei zusehen. Das hätte ich von diesen Primitiven gar nicht erwartet.“
„Vielleicht sind sie gar nicht primitiv“, bemerkte Clellendol.
Die Miene des Mädchens verfinsterte sich, und unglücklich erwiderte es: „Oh doch, sie sind es. Barbaren der übelsten Sorte, Menschenfresser!“
„Die menschliche Gesellschaft auf diesem Planeten ist sehr alt, und sie wurde auf die ursprünglichen Lebensformen aufgepfropft. Man hat den Klesh nur eine geringe Fähigkeit zum Überleben zugetraut, und doch haben sie überlebt; auf ihre Art sind sie sogar aufgeblüht, ohne daß die angeblichen Helfer ihnen wirklich geholfen haben. Es herrscht hier ein Prinzip, das wir noch nicht entdeckt haben, vielleicht gar nicht wahrnehmen können. Es kann auch ein äußerst verfeinertes Ordnungssystem hinter allem stecken. Vielleicht kommen alle Dinge zusammen.“
„Ich glaube, du deutest zufällige Zahlen als wissenschaftliche Daten.“
Clellendol antwortete im Plauderton: „Dich hat man gelehrt, das Wesen der Vergangenheit aus den Schatten zu lesen, die sie in die Gegenwart wirft, während ich darin ausgebildet wurde, dieser Gegenwart zu mißtrauen, Fallen und Schlingen zu erkennen. Und darum kann ich dir folgendes sagen: Ich weiß, daß wir bereits so manchen Alarm ausgelöst und manche Geschichte in Umlauf gebracht haben, seit wir hier gelandet sind. Irgendeine Wesenheit, ein Lebewesen, eine Organisation oder ein Ding hat uns bemerkt und beobachtet uns nun. Ich habe den Verdacht, daß sie oder es schon vorher gewußt hat, daß wir kommen werden. Wenn dies stimmt, liegt hier ein Fall von Risikoanhäufung vor, den ich noch nicht lösen kann.“
Flerdistar hatte seine Zurechtweisung ungerührt hingenommen: „Das ist durchaus nicht unwahrscheinlich. Beim Gespräch mit Morgin habe ich gespürt, daß ihre Vergangenheit etwas Unnatürliches verbirgt.“
„Ein Ereignis?“
„Nein, eine dauernde Anwesenheit. In der Zeit schwebt der Geruch ihrer Spur, wie wir sagen. Ich konnte bisher nur äußerst wenig davon wahrnehmen, darum sind noch zu viele Irrtümer möglich. Mehr kann ich jetzt nicht darüber sagen.“
„Dann bleibe auf der Hut und arbeite mit mir zusammen – das sollten wir ohnehin tun.“
„Das werde ich auch. Aber jetzt still, sie beginnen mit ihrem Ritual.“
Seit einiger Zeit hatte die hektische Geschäftigkeit der Haydars aufgehört, und jetzt saßen sie in einem lockeren Kreis um das Feuer herum. Nur das Mädchen war stehengeblieben, sein Kopf war noch immer wie gedankenverloren oder in Trance tief gesenkt. Meure bemerkte, daß sich auf der anderen Seite des Feuers einige Nicht-Haydars eingefunden hatten: Morgin und seine Gruppe sowie die Spsomi.
Das Mädchen umrundete langsam das Feuer, wich ihm aus und schien es gleichzeitig kaum zu bemerken. Dann hielt es vor einem Haydar an, der allein saß, durch einen respektvollen Abstand von den anderen getrennt.
Flerdistar wisperte kaum hörbar: „Das Mädchen macht sich jetzt bereit und nähert sich dem Anführer, Ringuid Coam Mallam. Sie spricht für die Welt der Geister. Jetzt wird es für uns riskant, denn er wird alles tun, was sie ihm sagt. Mallam hat eine Weissagung verlangt, und er muß dem Orakel gehorchen.“
Das Mädchen sagte etwas zu Mallam, aber Meure verstand seine Worte nicht. Eine Einleitungsformel?
Flerdistar fuhr fort: „Jetzt erfolgt die Anrufung. Sie nennt einige göttliche Wesen, die ihr bekannt sind, und andere, vermutlich Dämonen oder hochgeschätzte Personen der Vergangenheit. Am Ende wird sie die Heilige Zermille anrufen … Jetzt ergreift sie den Beutel, senkt ihn und legt ihn vor Mallam ab, damit er sich vom Zustand des Inhalts überzeugen kann. Es ist etwas Weißliches.“
Meure starrte durch die Dunkelheit, das Feuer lenkte ihn ab. Was da auf dem Boden lag, hatte Ähnlichkeit mit Knochen.
„Jetzt spricht sie wieder. Sie zählt die Grundanordnungen auf, die Mallam genauso gut kennt wie sie. Die Gegenstände sind die Hand- und Fingerknochen eines Opfers, vielleicht von einem der Stämme, die sie jagen … Nein, jetzt höre ich es. Die Knochen stammen von einem Mitglied ihres Stammes, einem ihrer Vorfahren. Jetzt untersucht sie die Position der Knochen. Sie zeigt etwas, und Mallam stimmt zu, er nickt. Sie werden auf die Jagd gehen … Heute nacht noch. Die Spsomi werden sie begleiten, sie werden noch eingewiesen. Unter keinen Umständen dürfen sie diese Gruppe verlassen, sonst … Unglück. Jetzt spricht sie von den anderen, von uns. Sie sagt sehr bestimmt, daß wir sofort abreisen müssen. Wir dürfen nicht verletzt oder gejagt werden. Ein Talisman spielt irgendwie eine Rolle … Das verstehe ich nicht. Mallam stimmt zu, und jetzt besprechen sie, wie es zu geschehen hat. Dazu hat das Mädchen keine feste Meinung. Das Orakel sagt ihm nur, was zu geschehen hat, aber nicht, wie es geschehen soll. Mallam bedrängt sie. Er will uns irgendwo hinschaffen, an einen Ort, den ich nicht kenne. Sie sieht noch einmal auf die Knochen und sagt nein. Das ist nicht weit genug. Jetzt schlägt er einen anderen Ort vor: Medlicht. Nein. Sie scheint unter Druck zu stehen, jetzt schlägt sie etwas vor … kenne ich auch nicht. Es hat etwas mit Fliegen zu tun. Mallam ist zornig, aber er beherrscht sich. Es ist entschieden. Sie kniet nieder, um die Knochen wieder aufzusammeln, und die anderen erheben sich. Es wird noch etwas geschehen … etwas Dunkles.“
Meure wollte eigentlich nichts „Dunkles“ sehen, aber er konnte die Augen nicht abwenden. Alle Haydars standen jetzt, bildeten noch immer einen lockeren Kreis. Alle starrten intensiv auf das Mädchen, das sorgfältig die Knochen auflas. Jetzt war es fertig und ging erschöpft in die Hocke, den Kopf hatte es zurückgeworfen, die Augen geschlossen. Dann schien es wieder zu sich zu kommen; es erhob sich langsam und vermied dabei sorgfältig, einen aus der Gruppe anzusehen. Alle sahen genau hin und beobachteten, wie sie den Riemen des Lederbeutels zuzog. Die Weissagung war beendet.
Meure entschied, daß er genug gesehen hatte, schlüpfte zwischen Clellendol und Flerdistar hindurch und begab sich zu der Stelle, wo der Wagen stand. Er schaute weder nach dem Feuer noch nach dem Mädchen, noch nach den Jägern, aber er sah aus den Augenwinkeln heraus, daß alle noch immer schweigend und regungslos an der gleichen Stelle standen. Ungesehen bewegte er sich durch die Dunkelheit. Die anderen hatten nur Augen für ihren Kreis.
Über die drahtigen Bodenpflanzen schritt er zu dem Wagen, wo die Saumer entspannt in ihrem Zaumzeug hockten und teilnahmslos dösten. Meure mied die Nähe der Saumer, dieser Tiere, die wie Menschen aussahen, oder dieser Menschen, die zu Tieren geworden waren. Er konnte das nicht entscheiden. Er begab sich zur Rückseite des Wagens und betrachtete den weiten sternengeschmückten Himmel. Hinter sich hörte er Bruchstücke einer Unterhaltung, spürte Bewegung. Das Licht des Feuers nahm ab, als würde es langsam eingedämmt. Entgegen seinen Vorsätzen lauschte er. Nichts war geschehen. Meure atmete erleichtert auf. Also würden sie sich wieder auf den Weg machen, vielleicht fliegen. Das hatte Flerdistar gesagt. Vielleicht war es nur eine atemberaubend klapprige Fahrt in Morgins Karren? Sehr schnell sah das Gefährt allerdings nicht aus.
Er hörte, daß die Saumer sich heftig bewegten. Sie schnaubten, rasselten mit dem Zaumzeug. Der Wagen erbebte ein wenig, die Handbremse knarrte. Ein leises Geräusch war zu hören. Als er um die Ecke von Morgins Karren spähte, verstellte eine hohe, dunkle Gestalt seinen Blick auf das ersterbende Feuer. Mit einer Hand stützte sie sich am Wagen ab; sie kam auf ihn zu. Prickelnd sträubten sich die Haare in Meures Nacken, wie Eis floß das Blut durch seine Adern. Er erstarrte.
Sie war auf Reichweite herangekommen, da erst schien sie ihn zu bemerken. Die Trance der Weissagung war noch nicht gänzlich von ihr gewichen. Er hatte keine Vorstellung, wozu diese Haydars imstande waren, mit oder ohne Orakel. Außerdem galten vielleicht ihre eigenen Worte nicht für sie, weil für sie ein anderes Orakel zutraf. Eine mythische Gestalt stand da vor ihm, kein Mensch, den er verstehen konnte.
Tenguft war groß, anderthalb Kopf größer als er; und sie hielt sich leicht gebückt, hatte sich nicht einmal zu ihrer vollen Höhe aufgerichtet. Meure konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn die Finsternis verbarg es. Er spürte aber, daß sie ihn durchdringend anstarrte. Er wollte sich umdrehen und weglaufen, aber er wußte, daß dies keinen Sinn hatte.
So sah sie ihn sehr lange an, dann sagte sie, heftig atmend, aber leise: „Du, du sollst es sein!“ Die Worte klangen fremd in Meures Ohren, aber er glaubte sie verstanden zu haben. Sie fuhr fort: „Komm mit mir. Jetzt. Fliegen. Heute nacht.“ Mit erschöpfter Stimme sagte sie noch etwas, aber Meure verstand es nicht. Nur: Incana. Wollte sie dorthin mit ihm fliegen?
Tenguft streckte eine Hand aus und ergriff Meure beim Arm, um ihn zu führen. Die Berührung war leicht, und ihre Hand fühlte sich überraschend weich an, aber er spürte den Stahl unter dieser Zartheit und die Spannung, die sie unterdrückte. Er war sich nicht sicher, was sie zurückhielt. Wollte sie ihn jagen, und mußte sie ihren Jagdtrieb jetzt noch im Zaume halten? Sie schob ihn sanft vorwärts, um den Wagen herum. Dabei wiederholte sie das eine Wort: „Komm.“
Jetzt sah Meure, daß sich die Stimmung am Versammlungsort geändert hatte. Die Haydars und die beiden Spsomi bildeten eine große Gruppe, und alle starrten das Mädchen und ihn mit harten, verhangenen Blicken an, die Meure ganz und gar nicht gefielen … An der Seite standen die Ler-Ältesten mutlos bei Morgin und seiner Gruppe. Andere Haydars gingen zwischen den Flugwesen umher, stießen sie mit den Schäften ihrer Speere und gaben scharfe, laute Kommandos.
Aus der Gruppe bei den Eratzenastern löste sich Flerdistar und eilte zu Meure und der Haydar-Edelfrau herüber. Sie sprach hastig, mit fliegendem Atem: „Wir werden aufgeteilt. Morgin schickt die Ältesten mit seinen Dienern weiter. Er tritt seine Aufgabe hier an einen Haydar ab, der das gleiche Amt ausübt, und kommt mit uns. Wir zwei und ihr vier Menschen und auch der Vfzyekhr werden nach Nordosten … fliegen. In ein anderes Land. Incana. Dort ist eine Festung oder eine Burg, sie nennen sie ‚Cucany’.“
Meure fragte: „Fliegen, womit? Winken wir uns ein Flugzeug heran?“
„Nein“, sagte sie, „auf diesen Dingern.“ Ein leichter Ruck an seinem Ellenbogen erinnerte Meure daran, daß er geführt wurde. Andere Haydars zeigten auf die Eratzenaster und drängten Audiart, Ingraine und Halander in ihre Richtung. Es war offensichtlich, daß sie nicht gehen wollten.
Flerdistar und Clellendol wurden unsanft zu den Tieren hingeschoben, die sich taumelnd bewegten. Anscheinend waren sie von den ungeduldigen Haydars zu plötzlich aus dem Schlaf gerissen worden. Flerdistar hatte gerade noch Zeit, einen Satz herüberzurufen, bevor sie getrennt wurden: „Schasny, sehen Sie sich vor, ich glaube, Sie sollen Teil irgendeines Rituals sein …“ Ihre Stimme verklang. Meure und Tenguft standen jetzt neben dem großen Tier, auf dem sie schon vorher geritten hatte.
„Aufsteigen!“ bedeutete ihm das Mädchen mit einer Geste. Meure legte seine Hand auf die halbelastische Haut des Tieres, ungefähr an der Wurzel des hinteren Flügelpaares. Sie war mit hauchdünnen Härchen bedeckt und fühlte sich kühl an. Die Haut verschob sich etwas unter seinem Griff, schien locker über einer harten Struktur zu liegen. Vorsichtig kletterte er auf allen vieren auf den Rücken des Tieres, der völlig kahl war. Hier ließ sich die Haut noch leichter verschieben. Tenguft schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung auf den Eratzenaster. Ihr Körper bewegte sich mit der geschmeidigen Eleganz, die eine lange Übung verrät, und doch hatte diese eingeschliffene Bewegung des Aufstiegs auch etwas Linkisches. Sie setzte sich direkt hinter die schmalste Stelle der Kreatur, rutschte ein wenig vor und zurück, um die richtige Position zu finden. Der starre Körper des Tieres übertrug ihre Bewegungen; Meure spürte ein leichtes Vibrieren. Mit einem Ruck des Kopfes warf sie ihre Kapuze zurück und lächelte Meure zu. Bestimmend klopfte sie mit der Hand auf eine Stelle direkt hinter ihr. „Hierher.“
Meure krabbelte das Rückgrat des Tieres entlang und setzte sich hinter das Mädchen, ohne es zu berühren. Sie griff mit einem ihrer langen Arme hinter sich und zog ihn zu sich heran; dann nahm sie mit der anderen Hand seine Hände und legte sie vor ihre Schenkel auf die Haut des Eratzenasters. Sie grub seine Finger in die kühle elastische Haut und sagte: „Hier festhalten.“ Sie wartete gar nicht ab, ob er sie verstanden hatte, sondern schlug das Tier kräftig auf den Rücken.
Der Eratzenaster ruckte nach vorn, und Meure krallte sich instinktiv fest. Das Tier hob seine hängenden Flügelenden vom Boden, dann nutzte es sie, um seine Vorwärtsbewegung zu unterstützen.
Tenguft saß kerzengerade, und sie bewegte den Kopf nach hinten, um zu sehen, ob die anderen ihr folgten. Meure riskierte einen schnellen Blick. Er sah einige seiner Gefährten, die verkrümmt allein auf ihren Reittieren hockten, sie klammerten sich fest, als würde es um ihr Leben gehen. Die Haydars standen dabei, gaben Anweisungen und ermutigten sie durch laute Zurufe. Auf allen größeren Tieren saßen Reiter, aber auch die kleineren setzten sich in Bewegung. Anscheinend flog der ganze Schwarm zusammen.
Das Mädchen spannte alle Muskeln an, grub seine Fersen in die schlaffe Haut, die den Rumpf mit den Flügeln verband, und lehnte sich vor. Meure folgte ihrer Bewegung; er spürte, daß das Wesen unter ihm seine Geschwindigkeit erhöhte. Gleichzeitig schwenkte es etwas herum, in den Wind hinein, um den geeigneten Azimut zu finden. Der Fahrtwind strich kühl über sein Gesicht. Die Wärme des drahtigen Mädchenkörpers, gegen den er sich preßte, wurde ihm deutlich bewußt. Der Umhang war so dünn, daß er fühlte, wie Tengufts Muskeln sich regten. Ein sonnenwarmer, süßer Duft ging von ihr aus.
Tenguft sah über die Schulter zu ihrem Mitreisenden zurück. Ihre Lippen öffneten sich zu einem breiten Lächeln, ihre weißen Zähne blitzten im Sternenlicht. Wieder schlug sie den Eratzenaster, und dessen schaukelndes Vorwärtsstürmen nahm weiter an Schnelligkeit zu. Meure hörte unter sich ein rhythmisch-stampfendes Geräusch, das Tier schien mehr als vier Beine zu haben. Jetzt begann es zu springen, in wilden Sätzen flog es dahin. Der Flügelschlag setzte ein, und der Fahrtwind wurde unangenehm stark. Was vor ihnen lag, konnte Meure kaum sehen, denn der Körper des Mädchens versperrte ihm den Blick, aber es schien, daß sie sich einem flachen Abhang näherten. Der ganze Körper des Eratzenasters war jetzt in Bewegung geraten, er hatte wohl seine äußerste Geschwindigkeit erreicht. Nun war die Bodenwelle, hinter der das Gelände abfiel, unmittelbar vor ihnen. Alle vier Flügel schlugen wie wild, peitschten die Luft. Ein letzter Stoß, ein weiches Zurücksinken. Als Meure nach unten schaute, war der Boden schon einige Meter entfernt.
Man merkte es dem Eratzenaster an, daß er die doppelte Last zu tragen hatte, seine Bewegungen wirkten mühevoll, und er gewann nur langsam an Höhe. Seine Flügel schlugen jetzt wieder in diesem merkwürdigen, leicht versetzten Rhythmus. Meures Wangen brannten im kalten Wind. Es schien ihm, daß sie nach Osten flogen. Tenguft bewegte sich, irritiert spürte Meure das Spiel ihrer Schenkel- und Gesäßmuskeln. In einem langsamen, flachen Bogen – fast ohne Seitenneigung – schwenkten sie jetzt nach Norden. Er fühlte, wie Tenguft das Tier wieder auf den Rücken schlug, es zu größerer Eile trieb. Der Wind wurde schmerzhaft, und er verbarg sein Gesicht am Rücken des Mädchens. Die Bewegungen des Tieres wurden noch heftiger, dann wechselte der Rhythmus schlagartig. Meure riskierte einen Blick nach vorn und sah, daß die Vorderflügel jetzt stillstanden. Um den Aufwind voll auszunutzen, waren sie bis in die Spitzen weit geöffnet und bildeten so eine flache V-Form. Die Hinterflügel schlugen kraftvoll weiter. Tenguft lag jetzt flach auf dem Eratzenaster; Meure schmiegte sich an sie, sie bewegte sich unter ihm, und ihn durchströmte ein triebhaftes Wohlbehagen. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und stieß leicht mit den Hüften. Ihre Geste war unmißverständlich und klarer als Worte, die ohnehin vom Fahrtwind fortgerissen worden wären. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Eratzenaster zu.
Sie flogen durch die Nacht von Monsalvat, nicht sehr hoch, aber mit unverminderter Geschwindigkeit, wie Meure aus der Heftigkeit des Fahrtwindes schloß. Das ständige Auf und Ab der Hinterflügel warf ihn auf seinem Sitz hin und her. Er wagte es nicht, sich umzusehen, um festzustellen, ob die anderen Schritt hielten. Tenguft ließ ihr Flugtier jedoch hin und wieder leicht zur Seite ausschwenken, um sich besser umsehen zu können. Da sie nicht einmal ihr Tempo verlangsamte, nahm Meure an, daß sich die anderen in Sichtweite hielten.
In monotoner Dunkelheit glitt die Grasebene von Ombur unter ihnen entlang, dann ging sie in zerklüftetes Gelände über: Täler und Schluchten zerschnitten das Land. Kalte Feuchtigkeit erfüllte die Luft, und unter ihren Füßen war nur noch völlige Finsternis. Es war der Geruch eines Flusses, eines sehr breiten Flusses, denn der Geruch hielt lange an. Schließlich verging die Feuchtigkeit, und harziger Duft stieg auf. Es war zu dunkel, um Einzelheiten auf dem Boden zu erkennen, er schien jedoch eine vielfältigere Vegetation zu tragen als der von Ombur. Sie stiegen höher und wichen einigen Hügeln in weiten Bögen aus. Das Land stieg langsam an. Jetzt kamen sie über bewohntes Gebiet, denn Meure sah gelegentlich gelben Lichtschein. Es waren nur wenige Lichter, weit verstreut, und sie erloschen sofort, wenn sie über sie hinwegglitten.
Die Größe der Hügel veränderte sich, und vor ihnen lagen niedrige Berge, die durch weite, offene Täler getrennt waren. Tenguft versuchte nicht die Berge zu überfliegen, sondern sie folgte dem Lauf der Täler. Die Berge standen merkwürdig vereinzelt in der Landschaft, viele hatten recht steile Böschungen. Inzwischen hatte Meure sich an das schwache Licht der Sterne gewöhnt, und er konnte mehr von seiner Umgebung erkennen. So sah er, daß viele dieser Hügel und Berge auf ihren Gipfeln seltsame, künstliche Gebilde trugen. Burgen? Festungen? Manchmal waren es nur Steintürme oder Hütten, manchmal umfangreiche Bauten. In den Tälern waren keine Lichter zu sehen.
Meure spürte, daß der Eratzenaster seinen Bug etwas anhob; gleichzeitig wurde er langsamer. Sie stiegen noch höher. Meure riskierte einen raschen Blick über die Schulter des Mädchens, und er sah vor ihnen die steinerne Masse eines mächtigen Berges. Er wurde gekrönt von einem düsteren Bauwerk, aus dem hier und da gelbliches Licht durch schmale Öffnungen nach draußen drang. Sie näherten sich dem Berg von seiner steilsten Seite; dieser hatte die Form einer gewaltigen Woge: Sanft stieg er auf der fernen Seite von der Talsohle an, um dann nach Süden jäh und steil abzufallen.
Das Mädchen rief etwas über die Schulter nach hinten: „Cucany!“ Sie waren jetzt etwas unterhalb des Berggipfels, flogen in einer flachen Linkskurve vom Tal aus darauf zu. Meure hatte einen guten Blick auf das Bauwerk, welches das ganze Tal beherrschte. Es war eine klotzige Festung, an der Generationen gebaut haben mußten, und jede hatte ihren eigenen bizarren Stil der Gesamterscheinung hinzugefügt. Da gab es Spitztürmchen, Erker, Galerien und Türme von ganz unterschiedlicher Gestalt. Wie Flechten auf einem Stein waren Wohnungen, Balkone und Dächer Schicht um Schicht übereinandergewachsen. Man sah keine Stadt, die zu der Festung gehört hätte; wenn es hier eine Stadt gab, dann war sie die Festung selbst.
Der Eratzenaster folgte noch immer der langen Linkskurve. Er hielt jetzt ständig die gleiche Höhe, war aber noch langsamer geworden. Jetzt flogen sie an den Mauern der Festung entlang, nun schwenkten sie wieder hinaus ins offene Tal. Offensichtlich wollten sie hier nicht landen. Ihr Reittier hielt die Hinterflügel still und brachte sie in die gleiche starre Stellung wie die Vorderflügel, dann kippte es etwas nach vorn ab und machte wieder mehr Fahrt. Jetzt sah Meure doch einmal nach hinten und stellte fest, daß die anderen in lockerer Reihe links hinter ihnen flogen. Alle folgten ihrer Bahn und gingen einer nach dem anderen in den Gleitflug über. Auf den größeren Tieren konnte man schemenhaft ihre Passagiere sehen. Die kleineren, reiterlosen Eratzenaster stiegen weiter auf, schossen in rasenden, spielerischen Sturzflügen zwischen den beladenen Tieren hindurch und schlossen sich dann wieder dem Schwarm an, der dem Leittier folgte.
Die Geschwindigkeit war jetzt stark gedrosselt, und der Fahrtwind hatte viel von seiner Heftigkeit verloren. Meure spürte, wie Tengufts Muskeln wieder arbeiteten, als sie das Tier in einen Landeanflug manövrierte. Ihr Gefälle war deutlich steiler geworden, aber das Tier stellte die Flügel etwas auf, so daß sich ihre Geschwindigkeit nicht erhöhte. Es gab einen kleinen Moment der Ruhe, als Tenguft das Tier für die bevorstehende Landung versammelte; auch das Windgeräusch war abgeflaut. Sie drehte sich zu ihm um und rief: „Paß auf, gleich unten!“
Meure brüllte zurück: „Sind Menschen dort unten?“
Sie antwortete: „Menschen nicht. Korsore, Dromoni, vielleicht Selander.“
Meure fragte nicht weiter nach den Lebewesen, die sie genannt hatte. Ihm fiel ein, daß hier auf Monsalvat nicht alle Menschen menschlich aussahen, und er sagte sich, daß es wahrscheinlich noch absonderlichere Wesen als Saumer und Haydars gab.
Nun glitt ihr Reittier, noch immer in Segelstellung, sichernd über den dunklen Boden dahin, schwenkte sacht von einer Seite zur anderen. Dann schlug es ein paarmal energisch mit den Hinterflügeln, erstarrte und sackte heftig durch. Dieses Manöver hätte Meure fast aus seinem Sitz geworfen; er krallte sich fest und preßte sich enger an Tenguft als zuvor. Schräg und schnell kam ihnen der Boden entgegen. Einzelheiten wurden sichtbar und huschten unter ihnen hindurch: Büsche, kleine Bäume, ein Wasserlauf. Der Eratzenaster hob den Bug an und schlug hastig und flach mit den Hinterflügeln. Auch die Vorderflügel setzten wieder ein, sie schlugen einen völlig anderen Takt als beim Start. Die Landung stand unmittelbar bevor, das Tier streifte schon fast den Boden. Im letzten Moment erstarrten die wild flatternden Flügel, der Eratzenaster segelte noch ein paar Meter, dann hatte er Bodenkontakt. Auf unsichtbaren Beinen hastete er dahin.
Erst als er fast zum Stehen gekommen war, löste Tenguft ihren Griff, richtete sich plötzlich auf und schwang ein Bein über den Rücken des Tieres. „Herunter!“ rief sie und sprang leichtfüßig den Hinterflügel entlang und auf den Boden. Meure folgte ihr stolpernd. Überall um sie herum setzten die anderen zu ihren unkontrollierten Landungen an; wie Herbstblätter taumelten die Flugtiere aus dem Himmel herab. Meure beobachtete, wie Morgin der Mittler linkisch von seinem Reittier herunterkrabbelte und halb laufend, halb fallend den festen Boden erreichte. Er wartete nicht länger und rannte zu den anderen Gefährten hinüber, die immer noch auf ihren Tieren hockten. Gemeinsam mit Tenguft drängte er sie abzusteigen. Etwas abseits stand ein Eratzenaster, dessen Reiter noch immer apathisch auf seinem Rücken saß. Meure eilte hinzu: „Los, absteigen! Wir müssen alle runter!“
Der Reiter richtete sich auf, bewegte sich schwerfällig, wie in Trance. An der Figur erkannte Meure, daß es Audiart sein mußte. Die letzten Schritte vom Tier hinab mußte er sie stützen, dann stand sie zitternd neben ihm. Er spürte, wie erhitzt er war. Sein Körper reagierte auf die Kälte des Fahrtwinds.
Inzwischen waren alle abgesessen, und Tenguft lief zwischen den Tieren umher, stieß sie und schlug sie auf die Flügelspitzen; dabei war sie bemüht, so leise wie möglich zu sein. Zögernd und widerwillig setzten die Tiere sich in Bewegung, kletterten linkisch über kleinere Bodenwellen und begannen zu laufen. Dann erhoben sie sich eines nach dem anderen in die Luft. Mit rauschenden Flügelschlägen stiegen sie in den Nachthimmel auf, und Meure sah ihnen nach, wie sie in weitem Bogen nach Südwesten abdrehten. Sie flogen jetzt höher als auf dem Hinflug, bald waren sie nur noch winzige, schweigende Schatten vor dem Hintergrund des Sternenhimmels, dann waren sie ganz verschwunden.
Tenguft führte sie auf eine kleine, unbewachsene Erhebung, von der aus sie einen guten Ausblick auf die Umgebung hatten; sie bedeutete ihnen, daß sie den Rest der Nacht hier verbringen sollten. Morgin nahm Flerdistar zur Seite und wechselte einige ernste Worte mit ihr. Dann ging das Ler-Mädchen zu Meure.
„Ich will zuerst mit Ihnen reden. Morgin sagt, daß wir in dieser Nacht nichts mehr unternehmen werden. Morgen werden wir zu der Stadt hinaufsteigen. Die Haydars nähern sich niemals einer Festung in der Nacht. Hier wird zuerst geschossen und dann gefragt, und Morgin hat mir klargemacht, daß dieses Verfahren hier in Incana durchaus sinnvoll ist. Auch läßt Ihnen Morgin durch mich sagen, daß man alles tun muß, was das Haydar-Mädchen verlangt, so sonderbar es einem auch erscheinen mag …“
Bei dieser unklaren Andeutung hatte sie Meure bedeutungsvoll angeblickt, mit einem Gesichtsausdruck, der ihm ganz und gar nicht gefiel. Dann war sie zu ihrem Platz bei Clellendol, Morgin und dem Vfzyekhr zurückgekehrt. Meure blieb stehen, wo er war, er fühlte sich verunsichert. Tenguft war offensichtlich sehr zufrieden, daß alle ihren Anordnungen Folge geleistet hatten. Jetzt kam sie den Hügel herab und ging auf Meure zu. Er betrachtete die hochaufragende, schlanke Gestalt, von der eine geheimnisvolle Macht ausging. Und eine Bedrohung, ergänzte er. Aber er erinnerte sich auch an den drahtigen Körper, den er vor dem seinen gespürt hatte, als sie durch die Nacht ritten, und an die eindeutige Bewegung, die sie einmal gemacht hatte. Als sie ihm ein Zeichen machte und ihn einlud, ihr zu folgen, den Hügel zu verlassen, da glaubte er zu wissen, was sie im Sinne hatte; aber um nichts auf der Welt hätte er sagen können, warum das so war.