„Die Überlegenheit eines Menschen zeigt sich an dem unsichtbaren Einfluß, den er auf Generationen von Menschen gehabt hat.“
A. C.
Meure wagte kaum, sich zu bewegen. Er vermied jedes Geräusch. Er schaute nicht einmal umher, lauschend versuchte er den bläulichen Dunst zu durchdringen. Überall um sie herum waren ferne, schwache Laute zu hören, die sich zu einem zarten Geflecht verwoben, das in nichts dem Schweigen oder dem Lied des Windes in der Wildnis glich. Auch das Klopfen, das ihm schon früher aufgefallen war, drang wieder an sein Ohr. Jetzt war es viel schwächer geworden und hob sich kaum noch von den anderen Geräuschen ab. Wie das Klatschen kleiner Hände trafen Wellen in unregelmäßigen Abständen die Bordwand. Er hatte das deutliche Gefühl, daß sie sich inmitten einer großen Ansiedlung befanden, von der sie nur die weite Wasserfläche des Flusses trennte. An Bord der Barke war es völlig still. Das beruhigte ihn kaum. Er vermutete, daß Clellendol sich völlig geräuschlos in der Dunkelheit bewegen konnte, wenn er es darauf anlegte. Aber andererseits hatte er schon auf dem Schiff wenig Interesse für Flerdistar gezeigt, und auch später hatte er sie kaum beachtet.
Flerdistar schien seine Gedanken gelesen zu haben. Sie rückte ganz dicht an ihn heran und wisperte direkt in sein Ohr: „Keiner hat etwas gesehen. Das weiß ich ganz sicher. Ich kann mich nachts fast genauso leise bewegen wie Clellendol. Wir haben eine Zeitlang gemeinsam trainiert, und ich habe ihm viel abgeschaut.“
„Hat er auch etwas von dir gelernt?“ fragte Meure ebenso leise.
„Das eine oder andere. Aber wie man es anstellt, aus den Geräuschen der Gegenwart den Ton der Vergangenheit herauszuhören, das hat er nicht gelernt. Dazu gehört mehr als die Fähigkeit zu nächtlichem Stehlen und Herumschleichen.“
„Wie ist es mit Cretus?“
„Auch Cretus hat diese Fähigkeit jetzt nicht mehr. Er kann nur noch seine eigene Vergangenheit sehen. Aber ich werde aus ihm die Wahrheit herauslesen, nach der wir so lange gesucht haben … Und was unser kleines … äh … Abenteuer betrifft, so brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.“ Sie stieß ihn leicht mit der Hüfte an. „In dem Alterszyklus, in dem Clellendol und ich uns befinden, gibt es so etwas wie Eifersucht noch nicht. Und was Clellendols Verhältnis zu mir betrifft …“ Sie unterbrach sich, vielleicht fand sie nicht das passende Wort, vielleicht mochte sie es auch nicht aussprechen. Dann straffte sie sich, und ihre Stimme nahm wieder den sachlichen Klang an, den Meure von ihr gewohnt war: „Es interessiert ihn nicht, was ich tue und mit wem ich es tue. Das wirst du wahrscheinlich längst selbst gemerkt haben.“
„Ja, das habe ich.“
„Bedenke bitte, daß Morgin seine Blüte lange hinter sich gelassen hat und daß Halander ein Mondkalb ist …“
Meure unterbrach sie: „… und daß ich Cretus habe.“
„Das ist wahr. Aber du darfst nicht denken, daß das der einzige Grund war. Wenn du es willst, kann ich dich von Cretus befreien – hast du das gewußt?“
„Wie willst du das fertigbringen?“
„Es gibt Methoden, die sich auf solche Existenzzustände anwenden lassen. Das gehört zu meiner Ausbildung. Wir hatten schon vorher die Theorie aufgestellt, daß es hier ein Wesen wie ihn geben müsse, darum haben wir versucht, seine Person aus dem zu rekonstruieren, was wir über diese Welt wußten, sowie aus den Gerüchten, die von hier durch das Weltall zu uns gedrungen sind … Danach haben wir dann ein Verfahren erdacht, mit dem man seine Person isolieren und aufbewahren könnte.“
Ihre Theorien erheiterten Meure. Er kicherte. „Jetzt habt ihr euch wegen Cretus all die Arbeit gemacht … und du kommst nicht an ihn ran. Und er nicht an dich.“
Flerdistar brachte ihren Mund wieder dicht an sein Ohr und sagte kalt: „Wir haben einen Fehler gemacht. Es ist uns nicht gelungen, seine Person als Gesamtheit, als ungespaltene Identität in die Hände zu bekommen. Wir kannten Cretus eben nicht wirklich. Aber mir kann es immer noch gelingen.“
Meure schüttelte den Kopf. „Euer Irrtum ist viel schwerwiegender. Cretus ist machtlos. Er ist in seiner Zeit ein Machtfaktor gewesen, aber jetzt ist er nur ein Mann aus der Vergangenheit. Ich bin das Opfer eines einzigartigen, schrecklichen Vorgangs geworden, aber so habe ich erfahren, daß Cretus nicht die elementare Kraft ist, für die ihr ihn haltet. Es gibt da eine andere Wesenheit, die seit Tausenden von Jahren über diesen Planeten herrscht …“
Sie schnitt ihm das Wort ab: „Das weiß ich. Ich habe das Ding über dem Wasser gesehen, und ich glaube nicht, daß es dir in der gleichen Gestalt erschienen ist wie mir. Ich sehe vieles besser als du, und ich kann Cretus in dir spüren, so gut er sich auch verbergen mag. Du bist von seinen Vibrationen umgeben.
Viele Geschehnisse der Vergangenheit versinken sofort in Vergessenheit. Wenn du nur begreifen könntest, wie unbedeutend die meisten Menschenleben sind. Millionen von ihnen erstehen und vergehen und sind doch zusammen nichts weiter als ein schwaches Geräusch im Hintergrund. Aber einige sind darunter, die ragen aus dem Strom der Zeit heraus. Einen Teil dieser Personen können wir identifizieren, wir können sie den Namen zuordnen, die uns aus der Geschichte bekannt sind. Oft aber haben sie den Gang der Geschichte auf eine völlig andere Weise beeinflußt, als es uns aus den Geschichtsbüchern bekannt ist. Es gibt auch andere … von denen haben wir keine Spur, keinen Namen, keine Berichte; wir wissen nur, daß es sie gegeben hat und daß sie den Lauf der Zeit beeinflußt haben. Zum Beispiel hat es – kurz vor der Erschaffung der Ler – einen Menschen gegeben, der den gesamten Verlauf der Menschheitsgeschichte in eine andere Bahn gelenkt hat. Dies war eine wichtige Wende der Zeiten. Wir wissen, daß er existiert hat. Ich selbst habe seinem Einfluß nachgespürt. Ihn zu identifizieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir uns gestellt haben. Auf eine gewisse Art besitzt er einen höheren Wirklichkeitsgrad als du in diesem Moment. Und dennoch ist es auch unseren Besten nie gelungen herauszubekommen, wer er wirklich war, wie er hieß, wo er lebte, ob er Nachkommen hatte … Er besaß die große Mana, die Kraft … aber wir wissen nicht einmal, ob ihm das bewußt war, ob es ihn überhaupt interessierte … Er ist eine der stärksten Persönlichkeiten in der gesamten Prä-Raumfahrtära, wenn es auch in noch früherer Zeit andere starke Persönlichkeiten gegeben hat, deren Spuren für uns aber nicht so leicht zu lesen sind. Dieser eine nun hielt sich schon zu seinen Lebzeiten verborgen und war seinen Mitmenschen unbekannt. Cretus dagegen brennt sich in meine Sinne ein wie ein flammender Komet. Ich muß meine Sinne gegen dieses Leuchten abschirmen, wenn ich ihn überhaupt genau wahrnehmen will!“
„Was ist mit diesem Cretus, das ihn so … sichtbar für dich macht?“
„Das ist nicht leicht zu erklären. Dazu müßtest du den Fachwortschatz unserer Disziplin beherrschen, und wir haben wirklich nicht genug Zeit, daß ich dich all diese Wörter und Bedeutungen lehren könnte. Versuchen wir es so: Um überhaupt handeln beziehungsweise existieren zu können, ist jedes Lebewesen darauf angewiesen, Informationen zu speichern. Vielen Lebewesen sind die nötigen Informationen schon von Geburt an mitgegeben; ihr Verhalten wird ganz vom Instinkt geprägt. Das Verhalten anderer Tiere wird nur zum Teil durch die Instinkte bestimmt, zu einem anderen Teil verarbeiten sie Erfahrungen, die sie in der Umwelt gemacht haben. Lebewesen einer höheren Stufe haben es gelernt, Erfahrungen, die Einzelindividuen gemacht haben, untereinander auszutauschen, dazu hat die jeweilige Art einfache Formen einer Kommunikation entwickelt. Dies war ein wichtiger Schritt in der Entwicklungsgeschichte. Auf der höchsten Stufe schließlich tragen die Individuen alle Informationen so zu einem übergeordneten Ganzen zusammen, daß dies zu einem für alle zugänglichen Informationsspeicher wird. Diesen Speicher nennen wir Wissen oder Kultur. Jedes Gesellschaftssystem baut auf Informationen, deren Speicherung und Abrufung auf. Wenn man das gesamte Verhalten einer Gesellschaft verändern will, muß man den Informationsspeicher verändern. Die Entwicklungsbahn einer Gesellschaft zu verändern, ist eine sehr schwierige Aufgabe. Ihr Kurs folgt inneren Gesetzmäßigkeiten, die sich übrigens in den jeweils geltenden Gesetzen widerspiegeln.
Im Kurs der Menschheitsgeschichte treten immer wieder Schwankungen auf; manchmal wird sie völlig aus der Bahn geworfen. Es ist so, als würde man die Bahn eines Sternes im All beobachten, und dieser Stern würde plötzlich, ohne sichtbaren Grund, von seiner Bahn abweichen. Bei einem Stern geht man dann davon aus, daß ein bis dahin unsichtbares Objekt ihn von seinem Kurs abgebracht hat; in der Kulturgeschichte ist es die Kultur selbst, die diese Störungen bewirkt.“
Meure rückte ein wenig von ihr ab. „Mir scheint, daß eure Theorie nicht ganz vollständig ist. Wäre nicht eine Theorie wünschenswerter, die diese Veränderungen nicht nur erklären, sondern auch vorhersagen könnte?“
„Wir haben unsere Forschungen auch in dieser Richtung vorangetrieben, aber wir sind zu keinen Ergebnissen gekommen. Genauer gesagt – es entstanden so viele logische Widersprüche, daß sich keine sinnvolle Aussage ergab. Wir sind aber auf die Erkenntnis gestoßen, daß in unregelmäßigen Abständen Individuen auftreten, die die Gabe haben, dem Lauf der Geschichte eine neue Wendung zu geben. Wieso es dazu kommen kann, ist uns weiterhin unerklärlich.“
„Ist diese Gabe angeboren, oder ist es eine Fähigkeit, die sich erlernen läßt?“
„Unsere Erkenntnisse lassen beide Möglichkeiten zu. Es ist eine angeborene Begabung, doch die Fähigkeit, sie bewußt oder unbewußt zu gebrauchen, ist erlernbar. Die Umstände, unter denen diese Individuen auftreten, sind von unserer Forschung ebenfalls noch nicht aufgehellt worden. Wenn die menschliche Kultur auf eine Krise zutreibt, bedeutet das nicht, daß automatisch auch ein ‚Retter’ auftritt.“
„Du kennst ja die Frühgeschichte der Menschheit; war Hitler eine solche Gestalt?“
„Nein. Bei ihm wird ein Phänomen deutlich, das noch vielschichtiger ist … In der Bahn der Geschichtsentwicklung treten manchmal Lücken, Leerstellen auf, die bestimmte Individuen anziehen. Gleichzeitig bestimmt die Art dieser Leerstelle weitgehend das Verhalten der Person, die die Stelle einnimmt. Wenn wir in der Zeit zurückgehen könnten und Hitler einfach entfernen würden, noch bevor er irgendeine einflußreiche Position einnehmen konnte, würden wir beobachten können, wie einfach irgendein anderer an seine Stelle tritt. Es wäre allerdings höchst gefährlich, einen solchen Versuch zu unternehmen, denn sein Stellvertreter würde die Position vielleicht viel besser ausfüllen als er. Hitler war ein Werkzeug der Geschichte und nicht ihr Beherrscher, wie er glaubte. Man kann sagen, daß viele Politiker nur Lückenbüßer im Sinne unseres Beispiels sind. Sie sind keine Veränderer, sie haben nicht die geheime Kraft … Es gibt allerdings Ausnahmen.“
„Cretus zum Beispiel?“
„Es scheint so, nach allem, was wir wissen.“
„Wie ist es mit dem Ler-Volk? Wie siehst du eure eigene Geschichte?“
„Der Bau unserer Kultur ist komplexer als der der menschlichen Kultur und setzt sich aus einer größeren Vielfalt von Einzelheiten zusammen. Das legt die Vermutung nahe, daß die Bahn unserer Geschichte schwerer zu verändern ist; und tatsächlich sind zufällige Schwankungen weitgehend ausgeschlossen. Wille und Gedanke bestimmen bei uns alles. Darum könnte jeder Ler jederzeit bewußt verändernd auf die kulturelle Basis einwirken. Daraus ergibt sich, daß …“
„Ihr euch ständig verändert.“
„Ganz im Gegenteil! Daß wir mit aller Macht verhindern, daß jemand den Kurs zu ändern versucht. Der Gedanke an eine solche Veränderung erschreckt uns zutiefst, da wir nicht vorhersehen können, wohin sie uns führen würde. Erst ein einziges Mal in unserer Geschichte hat jemand einen solchen Eingriff gewagt, und die Folgen waren unabsehbar. Noch heute wirkt der Schrecken in uns nach.
Dieses Ereignis birgt übrigens einen Widerspruch, zu dessen Lösung ich hierhergekommen bin.“ Sie lag seitlich neben Meure, und ihr nackter Oberschenkel ruhte auf seinen Knien. Jetzt glitt ihr Bein zart an seinen Schenkeln hinauf. „Ich soll mit meiner Reise hierher, nach Monsalvat, die Arbeit von Generationen zu einem Ende führen …“
„Und du sollst Cretus hervorholen, um jeden Preis … Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht betrügen, aber bisher hast du nur Meure Schasny bekommen, nicht mehr und nicht weniger. Was wir zusammen erlebt haben war … wundervoll. Aber ich bin dein Liebhaber gewesen, nicht Cretus.“
„Ich habe meinen Körper nicht mit deinem verflochten, um Cretus hervorzulocken. Das wäre sowieso ungeschickt, denn es ist das Versprechen eines Vergnügens, nicht das Vergnügen selbst, das ihn in Versuchung führen würde. Zu einem Teil habe ich gehofft, daß du ihn mir wegen dieser Nacht übergeben würdest, aber ich hatte auch meine eigenen, privaten Gründe.“ Nach einem Atemzug fuhr sie fort: „Nimm es an und stelle keine Fragen.“
„Ich will etwas wissen. Ich bin es leid, im Nebel herumzutappen und von anderen für ihre Zwecke benutzt zu werden.“
„Du besitzt eine seltene Eigenschaft, die man in meiner Sprache Wurwan nennt. Am besten könnte man es mit ‚Unschuld’ übersetzen … Du nimmst alles an, so wie es dir geboten wird.“
Flerdistar unterbrach sich, als wolle sie ihre folgenden Worte noch einmal überdenken, aber sie kam nicht dazu. Ganz aus der Nähe ertönte vom Deck der Barke eine leise Stimme: „Eine andere Erklärung böte sich ebenfalls an. Sie mag ein wenig unhöflich klingen, aber dafür hat sie einen hohen Wahrheitsgehalt: Wenn der Prinzessin Gefolgsleute in der geeigneten Zahl und Art nicht zur Verfügung stehen, dann muß diese eben an Orten nach ihnen Ausschau halten, die den unbefangenen Beobachter überraschen.“
Meure drehte sich auf die andere Seite und sah sich um. Wie er es erwartet hatte, sah er Clellendol auf der Reling sitzen, in dichte Nebelschwaden gehüllt. Inzwischen war es heller geworden, aber es herrschte noch lange kein Tageslicht. Dicht über der Wasseroberfläche war die Sicht jetzt besser, wurde aber immer noch durch ziehende Nebel behindert. Über ihnen jedoch war der Dunst eher noch dichter geworden. Seine Farbe war bläulich, nach Osten sah man einen orangefarbenen Schimmer.
Clellendol blickte über das Wasser. Das Lautgemisch hatte sich weiter verstärkt. Die feuchte Atmosphäre trug vielfältige Geräusche über das Wasser zum Schiff: Tiergeschrei, Maschinengeklapper, Gesprächsfetzen und Rufe. Irgendwo sang eine fremde Stimme ein Lied, dessen Worte Meure nicht verstand. Clellendol formulierte seine Sätze sehr allgemein, als wolle er niemanden persönlich ansprechen. „Niemand braucht sich um mich Gedanken zu machen. Ich verspüre vielmehr eine gewisse Dankbarkeit, da ich nun einer Verpflichtung enthoben bin, der ich mich nie so recht unterziehen wollte.“
Meure schaute Flerdistar an, dann wandte er sich wieder zu Clellendol. Doch dessen Platz war leer.
Flerdistar sagte: „Das ist doch gar kein Geheimnis. Clellendol mag mich nicht, er hat mich noch nie gemocht … so kann man es jedenfalls nett umschreiben …“
„Es kommt mir unwahrscheinlich vor, daß ein Auftrag von solcher Wichtigkeit von einem schlecht zusammengestellten Team ausgeführt werden soll. Ich weiß allerdings, daß eure Ältesten häufig rigorose Entscheidungen treffen …“
„Die Erkenntnisse, die über Monsalvat und seine Lebensbedingungen vorlagen, verlangten ausgerechnet nach Clellendol und mir …
Ich muß dir noch etwas erzählen: Die Vergangenheit hat noch eine zweite Spur auf diesem Planeten zurückgelassen. Es muß einmal ein Ler eine sehr wichtige Rolle auf dieser Welt gespielt haben, im Zusammenhang mit einem ungewöhnlichen Ereignis. Diese Fährte ist allerdings sehr schwach, ich weiß nicht, wie ich sie aufnehmen soll. Bei Cretus war das leicht. Wir kannten zwar seinen Namen nicht, aber es ließ sich leicht vorausbestimmen, daß wir seinen Namen schon kurz nach der Landung erfahren würden. Hier lag schließlich eine Ausnahmesituation vor: Wir suchten eine politische Gestalt, die gleichzeitig Veränderungskraft besaß.“
Sie sah ihn an: „Wenn du die Tarot-Regeln kennen würdest, könnte ich dir manches leichter erklären …“
„Ich weiß wenig über das Spiel …“
„Es ist ein sehr altes Spiel. Seine Karten haben drei Stärken: die einfachen Zahlenkarten, die Bilder und die Trümpfe. Wir wenden dieses Stufensystem gern auf die Gesellschaft an. Die einfachen Leute werden dann den Zahlen zugeordnet. Die besonderen Persönlichkeiten vergleichen wir mit den Bildern, dem Hofstaat. Es gibt da auch eine Beziehung zu den alten irdischen Tierkreiszeichen. Jene aber, die die Kraft zur Veränderung besitzen, sind die Trümpfe. Es gibt nicht viele von ihnen. Am seltensten aber ist eine Persönlichkeit, die zwei Trumpfqualitäten in sich vereint. Cretus ist eine solche Person.“
„Was ist Besonderes an der Person Cretus’?“
„Nach meinen Erkenntnissen besteht Cretus aus zwei Komponenten: dem Magus und dem Gehenkten … darin liegt eine ungeheure Spannung, denn der Magus beherrscht die vier Elemente, während der Gehenkte sich freiwillig opfern kann.“
Meure dachte einen Moment nach, dann sagte er: „Wenn jeder Ler den Lauf der Dinge verändern kann, dann müssen nach diesem System alle Ler Trümpfe sein.“
„Das ist richtig, aber wir erreichen keine Mehrfach-Trumpf-Eigenschaften.“
Meure sagte: „Laß mich raten, wenn ich das System auch noch nicht ganz verstanden habe …“
„Ich will es dir sagen, obwohl es eigentlich geheim ist: Ich bin Trumpf neun, der Einsiedler. Clellendol ist Trumpf vierzehn, die Kunst. Seit meiner Ankunft hier habe ich etwas entdeckt, das mir vorher unbekannt war. Außer Cretus gibt es auf diesem Planeten noch einen zweiten Doppeltrumpf, und er gewinnt ständig an Einfluß. Ich habe mich gefragt, ob es das Ding war, dem wir auf dem Fluß begegnet sind, aber das war es nicht.“
„Was für ein Trumpf ist dieses Wesen?“
„Cretus ist gleichzeitig Trumpf eins und Trumpf zwölf, das bedeutet, daß er alle Stiche machen kann bis auf zwei … Das … äh … Wesen ist Trumpf null, der Narr, und Trumpf zwei, die Priesterin, kann also alle Stiche machen, auch diese zwei … Ich würde sagen, daß der Narr seine dominierende Eigenschaft ist, und die Priesterin sein sichtbarer Teil. Die Dualitäten auf dieser Welt verunsichern und verwirren mich … Alles scheint einer Vollendung zuzustreben, aber ich kann sie nicht sehen.“
„Vielleicht bist du zu sehr daran gewöhnt, die Dinge aus einem gewissen Abstand zu betrachten, herausgelöst aus dem Lärm der Gegenwart. Jetzt bist du zu dicht am Geschehen.“
„Du magst recht haben, mit dem, was du sagst … Wenn du wüßtest, wie sehr mich das alles verwirrt. Aus der Ferne schien alles für eine Identität zu sprechen, in der ich leicht Cretus zu erkennen glaubte, aber jetzt ist da diese andere, die vermutlich stärker als Cretus ist und ihn überwältigen könnte. Die andere Identität war aus der Ferne nicht zu sehen, aber ich weiß, daß es sie gibt. Sie hat uns bemerkt, ich spüre ein suchendes Auge, es ist halb geöffnet, und noch hat es uns nicht völlig erfaßt.“
„Vielleicht war es doch diese Kreatur vorhin im Wasser?“
„Die Kreatur, wie du sie nennst, hat überhaupt keine Identität. Wenn Cretus seinen eigenen Körper noch besäße, könnte er ihre Existenz auslöschen. Er fürchtet sich vor ihr, weil er die Methode zu ihrer Vernichtung nicht kennt.“
„Du kennst sie.“
Flerdistar wandte sich ruckartig ab. Meure ergriff sie an der Schulter. „Wie ist sie?“
„Woher weißt du, daß ich sie kenne?“
„Ich habe es aus dem geschlossen, was du gesagt hast. Wie kannst du wissen, daß Cretus die Methode nicht kennt, wenn du sie nicht selber weißt?“
„Ich weiß, wie es geht, aber ich kann es nicht tun. Dies ist ein Planet der Menschen, und daher herrschen hier menschliche Gesetzmäßigkeiten. Ich besitze wie alle Ler die Macht eines Trumpfes, aber ich habe diese Macht nur innerhalb meiner eigenen Gesellschaft.“
„Dann könntest du aber Cretus sagen, wie …“
„Ja, wenn Meure Schasny ihm erlaubt, es zu tun …“
„Ich glaube, wir können zu einer Einigung kommen, Flerdistar. Ich kann zusagen, daß Cretus dir alles über dein Volk erzählen wird, was er weiß … Doch, ich denke, das wird er tun, wenn du ihm dabei hilfst, seinen Feind zu vernichten. Vielleicht wird dies für uns alle die beste Lösung sein.“
Flerdistar sah Meure mißtrauisch an. „Und was willst du?“
Meure schüttelte traurig den Kopf. „Ich will nur nach Hause und in Ruhe gelassen werden.“
„Das wollen wir alle. Aber die Ströme, in denen wir schwimmen, lassen es nicht zu … Ich kann es hören, der Wind flüstert mir davon, und die Nachtdämonen singen darüber in ihren Liedern. Etwas kommt hierher, auf diese Welt … Ja, so ist es, Meure. Cretus’ Wiedererscheinen hat es aufgeweckt.“
„Das Wesen im Wasser?“
„Etwas, das wahrscheinlich schlimmer und bestimmt stärker ist.“ Sie löste sich endgültig von Meure und arbeitete sich unter der schweren Decke hervor. Dann richtete sie sich auf, streifte das Oberkleid über ihre blassen Beine und sah hinaus in das blaue Licht der Dämmerung.
Sie sagte: „Etwas beunruhigt mich, und daher muß ich dich jetzt verlassen. Ich will mich zurückziehen und über alles nachdenken.“ Mit einem Ruck drehte sie sich um und trat an die Reling auf der Steuerbordseite. Gedankenverloren starrte sie über die Wasserfläche. Zu Meure sah sie sich nicht mehr um.
Meure spürte, wie ihn die Müdigkeit erfaßte, aber er wußte, daß er keinen Schlaf finden würde. Es regte sich etwas in ihm, ein Gefühl, das er nicht bestimmen konnte. Er glaubte nicht, daß es Cretus war, denn Cretus’ Auftreten wurde von einem Beiklang begleitet, der diesmal fehlte. Das Gefühl wurde stärker. Meure hatte das starke Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen.
Er befreite sich von der schweren Decke, stand auf und begab sich in den Bug des Schiffes. Vielleicht würde er jemanden finden, der ebenfalls schon aufgewacht war. Auf seinem Weg kam er an Tenguft vorbei. Sie saß zusammengekauert neben einer großen Kiste in verkrümmter Haltung. Aber sie schlief ganz offensichtlich noch. Außerdem sagte ihm sein Gefühl, daß sie es nicht war, mit der er sprechen wollte; er würde nur von einem Rätsel zum nächsten gelangen. Sie würde ihm schreckliche Geschichten von den Heldentaten der Haydars erzählen oder, schlimmer noch, die zahllosen Dämonen im Götterhimmel ihres Volkes beschreiben. Nein, danke.
Jetzt war er beim Bug angekommen. Dort stieß er auf Clellendol, der zwar wach war, aber in sich gekehrt und abweisend wirkte. Nicht weit davon sah Meure Halander. Er war allein. Allein? Er sah sich nach den beiden Mädchen um, Audiart und Ingraine. Sie waren nirgendwo zu entdecken. Jetzt begann Meure systematisch die gesamte Barke abzusuchen. Er schaute in jeden geeigneten Winkel. In einer Werkzeugkiste zusammengerollt fand er den Vfzyekhr.
Meure kehrte zum Bug zurück. Ein unwirkliches Gefühl hatte ihn ergriffen. Die Mädchen waren verschwunden, ohne eine Spur, ohne einen Laut. Als er sich wieder Halander näherte, sah er, daß dieser ihn mit ausdruckslosen, blutunterlaufenen Augen anstarrte. Ein rötlicher Schein durchdrang die vorbeiziehenden Nebelschwaden. Der Tag war angebrochen. Ein großer Teil der Wasseroberfläche war zu sehen. Der Dunst hatte sich fast ganz aufgelöst.
Meure wollte Halander ansprechen, aber etwas hielt ihn davon ab. Er war nicht mehr der junge Mann, den Meure gekannt hatte. Etwas in ihm war zerbrochen. Es war eine endgültige Veränderung. Der da vor ihm stand, war nicht mehr Dreve Halander.
Seine Stimme hatte eine krächzende Schärfe, die Meure das Blut in den Adern gerinnen ließ. Morgin und Clellendol blickten überrascht auf. Meure spürte, wie hinter ihm Tenguft erwachte.
Halander sagte: „Du! Du hast mich auf dieses Schiff gelockt, und jetzt sitze ich hier auf diesem verfluchten Planeten! Du wolltest sie beide ganz für dich allein haben, schon damals, als du sie auf dem Schiff zum erstenmal gesehen hast. Audiart hast du ja schnell gekriegt, aber dann bist du auch um Ingraine herumgeschlichen. Und nachdem du mit beiden deinen Spaß hattest, warst du ihrer überdrüssig. Dann hast du dich von der da verwöhnen lassen, mit der keiner etwas zu tun haben will. Und die Mädchen, die hast du einfach über Bord geworfen, du perverses Ungeheuer!“ Halander duckte sich zum Sprung, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Meure eine Bewegung: Clellendol zog ein Messer und bot es ihm an. Ohne zu zögern, machte ihm Meure ein Zeichen, daß er das Messer nicht wollte. In diesem Moment sprang Halander.
Meure konnte ihm ausweichen. Dann umschlang er Halanders Oberkörper mit den Armen und rief: „Hör mir zu, du Narr! Ich bin um niemanden herumgeschlichen, und ich habe auch niemanden über Bord geworfen. Du weißt ja nicht, was du sagst.“
Halander biß die Zähne zusammen, seine Stimme war ein gepreßtes Zischen: „Du hast sie umgebracht, du perverses Schwein. Und du hast einen Dämonen dieser Welt angerufen, damit er dich in Besitz nimmt und dir dreckige Tricks beibringt, die er von früher kennt. Alle haben dagesessen und nichts dagegen unternommen. Sie haben es sich angesehen und Spaß dabei gehabt. All diese Ungeheuer hier: diese Hexe, die zu einem Barbarenstamm gehört, der sich von Menschenfleisch ernährt, dieses Ler-Gesindel und dieser alte Intrigant. Aber ich spiele nicht mehr mit!“
Halander schlug Meures Arme mit einem Ruck nach oben, ergriff ihn an der Gurgel und drückte erbarmungslos zu. Meure wurde von dem gleichen Gefühl beherrscht, das er zum erstenmal gespürt hatte, als er feststellte, daß die Mädchen verschwunden waren: Eine unnatürliche Ruhe ergriff ihn, ein fast sachliches Interesse an der Situation. Er spürte weder Furcht noch Panik. Man wollte ihn also erwürgen. Nun gut, dagegen gab es Mittel. Er trat ganz dicht an Halander heran und warf sich mit einem Ruck nach hinten. Er knickte in den Knien ein und ließ sich fallen. Halander wollte seinen Griff nicht lösen und mußte Meures Bewegung folgen.
Beide fielen den Planken entgegen. Im Fallen zog Meure die Knie an. Sie trafen Halander genau in der Magengrube. Er mußte Meures Hals loslassen, und der Schwung des Falles trieb ihn vorwärts, auf die niedrige Reling zu. Meure warf sich herum, um auf Halanders nächsten Angriff vorbereitet zu sein. Doch es gab keinen zweiten Angriff mehr. Halander drehte sich um die eigene Achse, bevor er die Reling erreichte. Wahrscheinlich wollte er sich sofort wieder von ihr abstoßen. Aber er hatte seinen Schwung unterschätzt. Sein Oberkörper wurde weit über das niedrige Geländer hinausgetrieben, und seine Füße verloren ihren Halt auf den Planken. Einen Moment schwebte Halanders Körper wie der schwingende Balken einer Waage in der Luft, dann kippte er hintenüber in den Fluß.
Meure stürzte zur Reling, um Halander sofort wieder an Bord zu ziehen. Er erinnerte sich nur zu gut an das Schicksal der Bootsleute. Clellendol und Morgin wollten ihm helfen, aber Tenguft machte keine Anstalten. Sie rief: „Nein! Rettet ihn nicht. Er untersteht jetzt der Macht des Verwandlers! Sein Weg ist ihm vorherbestimmt.“
Zu dritt blickten sie über die ölig-glatte Wasserfläche. Halanders Kopf war zu sehen. Er machte nur leichte Bewegungen, um sich über Wasser zu halten, und versuchte nicht, das Boot zu erreichen. Er war schon jetzt außer Reichweite und trieb schnell weiter ab. Er starrte zu ihnen zurück mit den Augen eines Wahnsinnigen. Ein Strom zusammenhangloser Verwünschungen quoll aus seinem Mund. Es waren wirre, unverständliche Rufe. Jetzt wurden seine Bewegungen heftiger, Schaum trat in seine Mundwinkel. Meure fühlte sich elend. Was war mit Halander geschehen? Plötzlich wurden Halanders Gesichtszüge ganz ruhig. Ein erstaunter, neugieriger Ausdruck trat in seine Augen. Interessiert betrachtete er die Wasseroberfläche. Dann war sein Kopf verschwunden, ein paar Ringe kräuselten sich an der Stelle, wo er vor einem Augenblick gewesen war. Im Wasser sah man eine kurze, verschwommene Bewegung, dann war alles still.
Meure atmete schwer vor Entsetzen. Ein Gefährte wurde zum Feind und verschwand – und das alles geschah in ein paar Minuten und ohne einen erkennbaren Grund …
Seine Hände schmerzten von dem Griff, mit dem er das Geländer umklammert hatte. Er trat von der Reling zurück, und sein Blick traf Flerdistar, die ihn anstarrte, als sähe sie ihn zum erstenmal. Tenguft hockte noch immer auf ihrem Platz, doch jetzt deutete sie mit einer ausgreifenden Geste auf ihre Umgebung und rief: „Seht, ein Omen. Das Trübe hat die Farbe des Blutes!“
Es war so, wie sie sagte. Meure beobachtete, wie das Licht der aufgehenden Sonnen die Nebelbänke über dem Fluß rostrot einfärbte. In waagerechten Dunststreifen hob sich der Nebel von der Wasseroberfläche ab, stieg empor und verwehte. Klares Tageslicht umfing sie. Erstaunt betrachtete Meure die Umgebung, die sich nun ihren Blicken bot: Das treibende Boot glitt an einer Stadt vorüber, die sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Niedrige Reihen aus roh zusammengezimmerten Hütten wurden von engen, schmutzigen Gassen durchzogen. Träger Rauch stieg aus unzähligen Kaminen auf und sammelte sich über den Hütten zu einer schmutzig-schweren Dunstglocke. Wohin sie auch schauten, der Anblick war immer der gleiche. Bis zum Horizont erstreckte sich dieses armselige Gewirr. Es war wie ein Alptraum in einem schrecklichen Drogenrausch. Hier war eine riesige Stadt aus einer Armut gewachsen, die bedrückender war als alles, was Meure bis dahin in seinem Leben erblickt hatte.
Tengufts Stimme erklang wie die eines Ausrufers: „Hier seht ihr Yastian, die Stadt der Lagostomer. Seht sie euch an, dann werdet ihr verstehen, warum die Haydars das weite Land vorziehen.“
Meure spürte die Anwesenheit Cretus’, aber es war nur eine leichte Berührung. Er schaute sich um, durch Meures Augen. Cretus’ Empfindung war bestürzender als seine eigene. Cretus war völlig fassungslos, abgestoßen von der riesigen, stinkenden Stadt, die da vor ihnen lag. Er war zutiefst angewidert. Zum erstenmal erlebte es Meure, daß Cretus so verwirrt war und nicht wußte, was weiter geschehen sollte. Cretus zog sich in das Dunkel zurück.
Meure spürte, wie Cretus versank. Er fühlte sich unbeobachtet und hatte keine Scheu, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen: Wie lächerlich ist es doch, von einem Geist besessen zu sein, der es nicht erträgt, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Der uns zu einem Ziel führt, dessen Anblick er nicht erträgt. Noch nie in seinem Leben hatte Meure eine Enttäuschung gespürt, die so tief und so bitter war. Daß in der schrecklichen Erkenntnis, die er im Anblick Yastians hatte, zugleich eine Lösung verborgen war, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen.