Die persische Flotte war vernichtet, der Großkönig nach Sardes zurückgekehrt. Aber der Krieg war noch nicht zu Ende. Das Heer hatte sich, unter dem General Mardonias als Oberbefehlshaber, in Thessalien in Winterquartieren eingenistet. Sechzig- oder siebzigtausend Mann. Im kommenden Frühjahr mußten sie geschlagen werden.
Die griechischen Delegierten begannen wieder zu tagen; diesmal in Sparta.
Es war abermals Themistokles, der diesem Kongreß einen strategisch überraschenden Plan vorlegte. Er riet, mit der Flotte zum Hellespont zu segeln, die Schiffsbrücken zu vernichten, die persischen Stützpunkte auszuheben, die rückwärtige Verbindung abzuschneiden und Mardonias so zum Verlassen Griechenlands zu zwingen.
Der Plan wäre geglückt. Vielleicht hätte er den Großkönig die gesamte Armee gekostet. Die Idee war genial, sie war ein Geschenk des Himmels.
Es ist unbegreiflich, daß sie nicht durchgeführt wurde. Die Griechen maulten herum und fanden Themistokles lästig. Natürlich war er lästig. Geniale Menschen sind immer lästig. Sie sind penetrant, weil sie von der völlig falschen Voraussetzung ausgehen, daß sie Zeitgenossen ihrer Zeitgenossen seien. Das ist selbstverständlich ein großer Irrtum. Sie sind überhaupt keine Zeitgenossen, und auch nachfolgende Generationen würden sie nicht akzeptieren, wenn sie noch lebten. Männer wie Themistokles sind nicht »ihrer Zeit voraus«; diese Formulierung ist ein schmerzstillendes Mittel unserer soziologischen Pillendreher; je weiter Athen fortschritt, desto weiter entfernte es sich von Themistokles. Wir werden den Anfang sofort erleben.
Also, die Griechen legten den Plan ad acta, sie hatten keine Lust. Sie hatten aus mehreren Gründen keine Lust; erstens waren sie müde, zweitens fürchteten sie die Herbststürme, drittens wollten sie ihre Städte aufräumen, viertens fanden sie, daß Themistokles nicht ewig recht haben müsse, und fünftens hatten die Spartaner versichert, man würde die Perser auch zu Lande schlagen. Ja, als die Bevölkerung von Athen — soeben wieder in den Besitz ihrer Väter und Söhne gelangt und mit Sack und Pack auf dem Heimmarsch — von dem Themistokles-Plan hörte, war sie so verärgert, daß sie den Retter Griechenlands für das nächste Jahr nicht mehr zum Strategen wählte! Themistokles zog sich wortlos zurück.
Ganz Griechenland staunte über die unberechenbaren Athener. Ich jedoch glaube, daß sie zu berechnen waren und auch berechnet worden sind, nämlich von Sparta! Die Emeritierung des Themistokles war kein Zufall.
Noch jemand staunte: Mardonias. Er ahnte zwar nicht, welcher Gefahr er entgangen war, aber er vernahm von dem Kurswechsel, und sein Schachzug folgte auf dem Fuße: Er machte durch einen Gesandten den Athenern ein Friedensangebot. Er verlangte die formelle Unterwerfung unter den Großkönig und versprach Begnadigung aller Bürger und Wiederaufbau der Stadt auf persische Kosten!
Er wartete gespannt. Themistokles war nicht mehr da; wer würde antworten? Auch darauf war er gespannt.
Es antwortete Aristides, »der Gerechte«.
Ja, sie waren alle wieder da: Aristides, Xanthippos, der Alk-maionide, und Kimon, Sohn des Miltiades. Von heute auf morgen verwandelten die seegewaltigen Athener sich wieder in Wüstenrot-Sparer. »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.« Es fehlte nicht viel, so hätten sie ihre Schiffe versteigert. Immerhin lautete ihre Antwort an Mardonias abermals »nein«. Das war kühn.
Der Perser hatte es nun satt und marschierte in Attika ein. Die Athener flohen zum zweitenmal nach Salamis.
Inzwischen übten sich die Spartaner fleißig im Manöver, und die Periöken befanden sich bei der Feldarbeit, denn man gedachte, das Versäumte nachzuholen und eine gute Ernte zu machen. So löblich das sein mochte, die Athener waren schier verzweifelt. Sie schickten Xanthippos und Kimon nach Sparta, und den beiden gelang es endlich, die Ephoren von der schrecklichen Lage ganz Mittelgriechenlands zu überzeugen. Die Perser mußten geschlagen werden, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, bis vor den Isthmos von Korinth alles zu verlieren. Es war klar, daß in solcher Situation dann Xerxes in ein, zwei Jahren wieder mit einer Flotte dasein würde.
Jetzt kam Bewegung in die Kriegsmaschinerie der Spartaner. Man mobilisierte in Gedankenschnelle den ganzen Peloponnes und berief zum Oberbefehlshaber Pausanias, den Vormund des noch unmündigen Leonidas-Sohnes. Am Isthmos stießen die Athener, Platäer, Korinther, Ägineten und Mega-rer hinzu, das Heer wuchs auf fast dreißigtausend Mann an, das Höchste, was der Bund in diesem Augenblick aufbringen konnte, und mit dieser Streitmacht setzte sich Pausanias, ohne auch nur einen Blick auf Athen mitsamt seinem Mardonias zu werfen, nach Norden in Richtung Theben in Bewegung. Er marschierte also in den feindleeren Raum im Rücken der Perser.
Mardonias durchschaute die Taktik. So steht es in den Geschichtsbüchern.
Hier muß ich einen Augenblick unterbrechen. Welche Taktik durchschaute er eigentlich? Ich sehe keine. Ich sehe nur einen unerhörten Bluff der Spartaner. Ich fürchte, Mardonias wurde hier das Opfer einer Berufskrankheit, der Vorstellung nämlich, daß Generalstäbler immer etwas durchschauen müssen. Mardonias hätte in aller Ruhe in den Peloponnes einziehen können.
Jedoch, wen die Götter vernichten wollen, den lassen sie etwas durchschauen. Mardonias also durchschaute die Taktik und brach eiligst auf — ebenfalls nach Theben. Als die Griechen die Kithairon-Berge überquert hatten und in die Ebene hinabstiegen, in der das zerstörte Platää lag, sahen sie, daß er bereits angekommen war. Fünfzigtausend Perser, dazu die freiwilligen Thebaner und die zur Heerfolge gepreßten Phoker. Sie hatten das Schachbrett schon fein säuberlich aufgestellt.
Den Griechen schien die Aufstellung gar zu gut vorbereitet, und so zögerten sie lange, die Schlacht anzunehmen. Endlich wurde es Pausanias zu bunt. Er betete vor der Front des Heeres zu den Göttern und machte sich dann an die Lösung dieser, wie ihm als Spartaner schien, mathematischen Musteraufgabe.
Es ist unendlich schade, daß wir den genauen Verlauf dieser weltberühmten Schlacht nicht kennen. Was Herodot erzählt, ist wirr. Wir sind nur über die entscheidende Phase unterrichtet. Sie setzte ein, als im Laufe des Kampfes Pausanias den Befehl zu einer Flankenbewegung rückwärts gab. Der Befehl betraf den linken Flügel, die Athener unter Aristides. Aristides hat entweder das Manöver nicht begriffen, oder er glaubte, es besser zu wissen, jedenfalls machte er die Schwenkung nicht nur nicht mit, sondern drang weiter vor. Die Verbindung riß, eine Lücke klaffte in der Front, Mardonias mußte es bemerken — da setzte auch schon der Stoß der Perser auf die Lücke ein. Mardonias selbst führte ihn mit tausend Reitern.
Kein anderer als die Spartiaten hätte den Anprall ausgehalten. Wer einmal eine Koppel von Pferden in Karriere auf sich zustürmen sah, kennt den Eindruck. Nicht zehn, nicht hundert, ein Hurrikan von Pferden brauste heran. Die Spartaner stießen die Schilde in die Erde und bohrten die Lanzenschäfte tief in den Boden, stemmten sich dagegen und erwarteten so die Wellen der persischen Kavallerie. Die ersten Reihen wurden niedergewalzt, die Pferdeleiber brachen über ihnen zusammen und türmten sich hoch auf, Welle auf Welle stürmte heran, aber die Spartaner standen. Nach jedem neuen Aufprall rückten sie, Schulter an Schulter gelehnt und die Schilde fest zu einer Mauer schließend, um ein paar Schritte vor. Sie sahen nicht rechts und nicht links, sie bemerkten nicht, daß Mardonias gefallen war. Endlich hatten sie den Anschluß an die Athener erreicht; der persische Durchbruch, der das Ende der Schlacht und das Ende der griechischen Freiheit gewesen wäre, war mißglückt.
Nach dieser unvorhergesehenen Krise scheint sich die Kampflage völlig geändert zu haben. Die Athener, am weitesten vorgeprellt, sahen bereits das persische Lager in Reichweite und faßten noch einmal alle Kräfte zusammen. Da gaben die Perser endgültig die Schlacht verloren und flohen. Die Flut rollte zurück, mühsam gelenkt von den Generälen, weiter, immer weiter, über Theben hinaus, nordwestwärts in Richtung Thessalien.
Die Griechen wischten sich den Schweiß von der Stirn und erfüllten zunächst ihre vornehmste Aufgabe: das persische Lager zu plündern. Das war eine echte Feierstunde. Nachdem man dieser altehrwürdigen griechischen Tradition gepflogen, nachdem man Zeus gedankt, ihm ein Heiligtum auf dem Schlachtfeld versprochen und die hartgeprüfte Stadt Platää für künftig unverletzlich erklärt hatte, beschloß man sofort, in einem Zuge noch die Rechnung mit Theben zu begleichen.
Die gut befestigte Stadt, die eine lange Belagerung hätte aus-halten können, war mürbe und kapitulierte. Sie lieferte die führenden Männer der perserfreundlichen Partei aus, während sich die nicht minder perserfreundliche anonyme Masse, wie immer in der Welt, rasch wieder ins Privatleben zurückzog und die verdutzten Führer allein auf dem Kampfplatz der Ideen zurückließ.
Pausanias nahm, da man sich ja »an jemand halten« muß, und der Plebs, sobald es schiefgeht, nicht mehr »jemand« ist, Pausanias also nahm die thebanischen Führer, gedachte der überstandenen Gefahr, der Schrecken der niedergebrannten Städte, der Flüchtlinge und der Toten und ließ die Männer hinrichten.
Es waren die letzten Toten dieses Krieges.
Aus Thessalien, dann aus Makedonien und Thrakien kam die Nachricht, daß sich die Perser auf dem Wege in die Heimat befänden.
Der Kampf war beendet, Griechenland frei.
»Frei« — das Wort ist erst hier geboren worden. Wie ofl hatte man es vorher im Munde geführt, ohne zu wissen, wofür es eigentlich stand. Man hatte es benutzt für Kinkerlitzchen, für Wünsche, für Befriedigungen, für persönliche Vorstellungen, für Ungebundenheit, für mehr Macht, mehr Lust, mehr Recht, für lauter »Mehrs«, mehr Zeit, mehr Liebe, mehr Geld: Was für ein Irrtum war das gewesen! Es kratzte das Gold nicht einmal an der Oberfläche an.
Nach den Perserkriegen wußten die Griechen, was »frei« ist. Und wenn wir es wissen, dann auch von ihnen. Nicht Arminius und Vercingetorix, Johanna von Orleans und Prinz Eugen stehen vor unseren Augen auf, obwohl das unsere Welt ist, sondern das Bild Griechenlands, wehender Helmbüsche, kämpfender Hopliten und sterbender Leonidasse.
Die Not ist das Tor, durch das allein man zur Freiheit geht. Das unerbittliche Entweder-Oder, und nicht ein blasser Wunsch nach Besser oder nach Mehr ist der Aufbruch zur Freiheit. Den Griechen, ihren großen Geistern jedenfalls, ist mit den Perserkriegen ein starkes Gefühl der Dankbarkeit aufgegangen. Sie hatten es zuvor kaum besessen.
»Πόλεμος πάντων πατήρ«, »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, schrieb Heraklit, »und aller Dinge König.« Aber der Satz geht weiter! »Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen. Die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.«
Was wäre Griechenland ohne die Perserkriege? Sie erst offenbarten das Geheimnis, das um das Wort Freiheit ist. Freiheit kommt nirgends von selbst; sie ist nur da, wo sie gerufen wird.