Kapitel II
„Guten Abend, Etienne.“
Die ruhige Stimme aus dem Fond des Hybrids ließ den Angesprochenen zusammenfahren wie vom Schlag getroffen.
„Gu… guten Abend, Euer Ehren. Verzeihung, aber ich hatte nicht mit Eurer Anwesenheit gerechnet.“ Nein, er hatte erwartet, dass ein Angestellter ihn mit einem der fünf familieneigenen Gefährte abholen würde, aber doch nicht der Duc persönlich!
„Steig ein. Ich bin gerade auf dem Rückweg aus Dunoise. Es war nur ein kleiner Umweg zu deiner Ausbildungsanstalt.“
Trotzdem war es ungewöhnlich. Belian war noch nie persönlich von seinem Vormund abgeholt worden. Da er genau wusste, wie sehr der Familienvorstand darauf achtete, vermied er peinlich genau jeden Hinweis auf die kleine körperliche Beeinträchtigung, die von seinem Reitunfall vor rund sieben Monaten übrig geblieben war. Zu viel stand für ihn auf dem Spiel.
„Hast du schon deine Ergebnisse bekommen?“
„Nein, Euer Ehren. Sie werden heute Nacht oder spätestens morgen früh in Euer Büro geschickt“, murmelte er, während der Fahrer bereits Gas gab, den Hybrid beschleunigte und schließlich im Flugmodus hochzog.
„Das ist kein Umstand. Ich werde Bürger Abeille Bescheid sagen, dass er sie mir sofort übermitteln lassen soll, wenn sie im Büro ankommen.“ Der Duc d’Auvergne lächelte seinen Erstgeborenen in der üblichen sparsamen Art an. „Was wirst du nachher tun? Willst du nicht vielleicht mal wieder ausreiten? Flore wartet auf dich.“
Gemeint war die sanftmütige Stute, die der Duc ihm vor drei Monaten gekauft hatte, um ihm seinen ehemals liebsten Zeitvertreib wieder schmackhaft zu machen. Belian hatte das Tier einmal der Form halber geritten, aber danach nie wieder. Nicht aus Abneigung gegen sie, denn Flore war hübsch, grazil und vor allem teuer wie alle Geschenke, sondern einfach weil er es nicht wollte.
„Ich weiß nicht, Euer Ehren.“
„Früher wäre es das Erste gewesen, was du getan hättest.“ Der Familienvorstand unterzog ihn ohne ein Wort fast einer noch schlimmeren Prüfung als die Instruktoren der Ausbildungsanstalt während der vergangenen zwei Tage. Nur war hier keine Verachtung spürbar. Oder etwa doch?
Immer wieder hatte Belian die Blicke und die darin liegende Herablassung der Instruktoren gespürt. Es war dieselbe, die ihm auf Gut Auvergne immer wieder von Paul entgegengeschlagen war. Ein Titelerbe hatte perfekt zu sein. Es war sehr unüblich, dass ein Erstgeborener einzeln zur Nachprüfung in der Ausbildungsanstalt erscheinen musste, während alle anderen seines Jahrgangs längst ihre Zeugnisse erhalten hatten und die Halbjahresfreizeit genossen.
„Du hast dich im vergangenen halben Jahr sehr verändert, Etienne.“ Doch, es war genauso wie bei den Instruktoren!
Empfindlich getroffen versuchte Belian, sich nichts anmerken zu lassen. Natürlich gab es einen guten Grund, weshalb das Oberhaupt der Familie sich die Zeit nahm, ihn abzuholen. Es war eine gute Gelegenheit für ein kleines privates Gespräch.
„Ich glaube, ich werde nachher mit Flore ausreiten. Danke für den Vorschlag, Euer Ehren.“ Er versuchte, es heiter klingen zu lassen, aber die Aussage kam spät. Viel zu spät. Darüber hinaus war sie plump, und er wusste es.
Der Duc seufzte leise und verriet sich damit endgültig. „Mein Sohn, das meinst du nicht ernst. Du sagst es, weil du glaubst, dass ich es hören möchte.“
Jedes abstreitende Wort wäre eine ächtenswerte Lüge gewesen und hätte alles noch verschlimmert. Im Grunde wusste Belian längst, was der tiefere Sinn hinter diesem ‚zufälligen‘ Umweg zum Internat war. Er erschreckte ihn maßlos und ließ ihn hilflos zurück.
Er kam sich vor, als würde er ohne Aussicht auf Rettung im All treiben, wie es den ausgestiegenen Terranern in einem System namens Grenne gegangen war. Jenem Ort, an dem sie eine Schlacht gegen einen überlegenen Gegner, den Jasko wohl aus Geheimhaltungsgründen nie benannt hatte, gefochten und trotz des Gewinns doch auch verloren hatten. Kristian Jasko hatte ihm eines nachts davon erzählt, als die Träume wiedergekommen waren und der ausländische Gefangene deshalb verzweifelt das Verbot missachtet und das Gutshaus unaufgefordert betreten hatte. Auf der Treppe war der verstörte Mann gestürzt, und alle waren davon wach geworden. Die Duchesse hatte jedoch in Abwesenheit des Hausherrn keinen Tadel ausgesprochen. Das war einer der wenigen Momente gewesen, in denen sie wahre Klugheit und Größe bewiesen hatte.
„Möchtest du in zwei Wochen nach dem Ende der Halbjahresfreizeit auf die Anstalt zurückkehren?“
Diesmal reagierte er richtig, weil ein Teil von ihm es auch tatsächlich wollte. Der andere Teil, der um seines Freundes Jasko und seiner Schwester Louise willen auf Gut Auvergne bleiben wollte, wurde unterdrückt. „Ja! Ich möchte meine Ausbildung auf der Anstalt abschließen!“ Das kam sogar so heftig heraus, dass er erschrocken hinzufügte: „Pardon, Euer Ehren.“
Bloß nicht an die Trennung denken und schon gar nicht an Leute wie den Sohn des Duc de Tourennes, die ihm nach der langen Abwesenheit das Leben sauer machen würden.
„Ich verstehe.“ Sein Vormund hielt kurz inne und fuhr dann in entschlossenem Ton fort: „Nichtsdestotrotz werde ich deinem Wunsch nicht entsprechen können. Du wirst das Abschlusszertifikat auf genau dieselbe Weise erwerben wie dieses Zeugnis. Ich habe mit dem Direktor bereits alle notwendigen Absprachen getroffen, während ich auf dich gewartet habe.“
Dieses Mal konnte Belian nicht verhindern, dass sein Erschrecken sich in Form eines leisen Lautes äußerte. Es war so endgültig. ‚Ich bringe Schande über meine Familie!’
„Ich habe festgestellt, dass du auf diesem Weg mehr und besser lernst, Etienne. Falls deine Zeit es erlaubt, wirst du demnächst an den Wochenenden nach Dunoise reisen. Der Geschäftsführer wird damit beginnen, dich zu unterweisen.“
Es war verwunderlich, dass keinerlei Klirren zu hören war, wenn das eigene Leben endgültig in Scherben zersprang. „Ich verstehe, Euer Ehren.“
Der Duc lächelte wieder, aber diesmal sah es nicht ehrlich aus. „Es ist zur Vorbereitung. Irgendwann hättest du dich ohnehin mit dem Geschäft auseinandersetzen müssen. Ob nun in einem Jahr oder jetzt, welche Rolle spielt das schon?“
Irgendwie hatte Belian halbwegs erwartet, dass Gott einen Blitz vom Himmel schicken würde. Er hatte seinen Vormund erstmals lügen hören und schaute aus dem Fenster, um dessen Gesicht nicht länger sehen zu müssen. „Natürlich, Euer Ehren.“ Er kannte die Wahrheit, und auch der Duc war sich darüber klar, dass der abzusetzende Erstgeborene es wusste.
„Werdet Ihr dennoch eine Familienallianz mit mir knüpfen?“ Zur Vollendung seiner Schande würde gerade noch fehlen, dass man ihn aus dem Stammbaum der Familie tilgte. Als unfähig und unwürdig erachtete, wegen seiner großen Dummheit weiter dem Geschlecht der d‘Auvergnes anzugehören und eigene Nachkommen in die Welt zu setzen.
„Etienne, du bist mein Erstgeborener. Selbstverständlich wirst du heiraten und Kinder haben. Für dich ist nur das Beste gut genug…“ Natürlich war es eine neue Lüge, weshalb auch schon der vorsichtige Nachsatz kam: „… allerdings werden die Verhandlungen einige Zeit in Anspruch nehmen.“
Obwohl ein Teil von Belian erleichtert war, rann ihm dennoch eine Träne die Wange hinunter. Das Letzte war nicht gelogen gewesen, wie er deutlich erkannt hatte, aber ein nachgeborener Sohn heiratete stets nach dem ersten. Acht Jahre, vermutlich aber neun oder zehn, wenn nicht gar noch mehr. Und wer würde ihn dann noch wollen? Er würde irgendein Mädchen vor den Altar führen müssen, das einen oder gar mehrere Makel hatte und daher keinen besseren Bewerber hatte finden können. Jemanden, der genauso froh sein konnte wie er, überhaupt noch ein Familienbündnis schließen zu dürfen. Vielleicht würde es aber auch eine Gefährtin sein, die unfruchtbar war. Davon würde er natürlich niemals erfahren, oder höchstens nach der Hochzeit. Eine einmal in der Kirche geschlossene Ehe konnte nur Gott scheiden, indem er einen selbst oder den Ehepartner in den Himmel abberief.
Die Presse würde ihrerseits schon bald Spekulationen anstellen, warum der Erstgeborene des Duc d’Auvergne nicht wie alle anderen männlichen Angehörigen seines Standes mit achtzehn Jahren heiratete. Dann würden es alle wissen. Die ganze Welt.
Die Schande ließ Belian um Fassung ringen, während sein Vormund schwieg. Natürlich war hier der Versuch gemacht worden, es ihm so schonend wie möglich beizubringen und nur in Andeutungen zu sprechen, damit eine eher langsame Gewöhnung erfolgte, aber die Sache war trotzdem nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die Fakten standen im Raum, oder vielmehr in der Fahrgastzelle des fliegenden Hybridgefährts. Enterbung.
‚Ob Paul es schon weiß?’ Am liebsten hätte Belian ihn umgebracht, als er sich das Gesicht vorstellte, das spätestens gleich leuchten würde. Natürlich würde der zum künftigen Duc gemachte Zweitgeborene dem vernichteten älteren Konkurrenten alles gleichfalls schon vom Gesicht ablesen können.
‚Und ich werde mein ganzes Leben lang zunächst von meinem Vormund und dann von meinem acht Jahre jüngeren Bruder abhängig sein. Ich werde Paul bei wichtigen Dingen um Erlaubnis fragen müssen, mein Verwaltergehalt von ihm bekommen und ihm folgen müssen, wenn er nach mir ruft. Er wird das Familienoberhaupt sein. An meiner Stelle!’
„Gottes Wege sind unergründlich.“ Im Ganzen hätte der Duc noch sagen müssen: ‚Er hat durch den Unfall und seine Folgen entschieden, dass du nicht der Herrscher der Auvergne wirst. Stell dich nicht gegen Seinen Willen!‘
Während des ganzen restlichen zweistündigen Fluges fiel kein weiteres Wort mehr.
Belian wartete nach der Landung äußerlich gefasst darauf, dass sein Vormund das Gefährt verließ, während in ihm der Sturm tobte. Ein Tornado, der jede Rationalität hinwegwirbelte und nur Chaos zurückließ. Das und völlige Zerstörung. Die Trümmer seines Lebens.
Nun wusste er, was Kristian Jasko und alle anderen Terraner gefühlt haben mussten, als König Alexander ihnen die Wahl zwischen ihrer Hinrichtung oder ihrer Unterwerfung plus lebenslanger Gefangenschaft auf Nouvelle Espérance gelassen hatte. Jaskos damaliger bester Freund, gleichfalls Leutnant wie er, war auf Terra verlobt gewesen. Zwei ältere Offiziere waren sogar verheiratet, während der ranghöchste Terraner wiederum zusätzlich auch noch eine siebenjährige Tochter hatte. Auf wie viele weitere Männer jener ausländischen Schiffsbesatzung das noch zutreffen mochte, ahnte Belian nicht einmal. Alle von ihnen galten zu Hause längst als tot und würden nie mehr eine Chance haben, das Gegenteil zu beweisen.
Dies aus dem Mund seines Freundes zu hören hatte ihn erstmals an der Richtigkeit der Entscheidung des Königs und somit am ganzen gesellschaftlichen System zweifeln lassen. Ein Kristian Jasko war nicht schuld an dem, was vor langen Jahrhunderten auf Terra geschehen war. Er hatte niemals einen Untertan des Königs verletzt, und doch behandelte man ihn und alle anderen terranischen Anführer wie Schwerverbrecher. Die Zerstörung eines schrottreifen Raumschiffes, auf dem ohnehin nichts Wertvolles mehr zu holen gewesen war, konnte doch kein Vergehen sein! Es war ihr Besitz gewesen, und doch hatte jene Kleinigkeit den offiziellen Hauptanklagepunkt dargestellt. Zuwiderhandlung gegen den Willen des Königs, obwohl nur ein in Diensten des Außenhandelsministeriums stehender Schiffsführer den Monarchen in jenem Augenblick in Holberg repräsentiert hatte.
„Grüße, Etienne. Wie waren deine Prüfungen?“
„Ich bin mir sicher, sie sind hervorragend“, verkündete der Duc betont freundlich an seine sie erwartende Gattin gewandt und bot der Duchesse den Arm dar. Der zurückhaltende Familienvorstand merkte womöglich nicht einmal, dass gerade diese überzogene Erwiderung untypisch für ihn war. Es war verständlich, denn auch er war nie zuvor mit der Situation konfrontiert gewesen, gegen sein eigen Fleisch und Blut handeln zu müssen, um das noch größere Wohl der Familie im Fokus zu behalten. Selten musste ein Duc die Erbfolge nach Gottes sich offenbarendem Willen umändern.
Louise wandte sich mit niedergeschlagenen Augen ab, als hätte das versteinerte Gesicht ihres großen Bruders ihr bereits alles gesagt. Vielleicht war dem auch so. Paul wusste es schließlich auch und zeigte ein Lachen, das sämtliche Zähne entblößte, bevor er genau wie der Rest der Familie zurück ins Haus ging.
Belian nahm den kleinen Rückzug, den sein Vormund ihm ermöglichte, an. Es war alles so ungerecht und unfair, aber trotzdem konnte er sich diesem ‚großzügigen’ und dennoch demütigenden Angebot nicht entziehen. Der Familienvorstand glaubte vielleicht zu ahnen, was in seinem Sohn vorging, aber er täuschte sich. Die Gedanken des ältesten Nachkommen gingen weit über das vertretbare Maß hinaus.
‚Wozu braucht man einen Erstgeborenen, den man wegen eines Makels verstößt und zum Nachgeborenen degradiert? Jüngere Söhne kann meine Familie noch viele haben!’
Die Box seiner fuchsfarbenen Stute war gleich am Anfang der Stallgasse. Möglichst weit weg von der Stelle, wo das Vieh gestanden hatte, das an seinem Unglück schuld war. Der schwarze Teufel. Belian scherte sich nicht mehr um Pfarrer Crozier oder Gott. Jede Blasphemie war ihm egal. Die Kirche war ihm egal. Gott war ihm egal. Heute, so erkannte er, war er zu allem fähig.
Zum Beispiel dazu, Flore im schwarzen Anzug und piekfeinen gleichfarbigen Schuhen mechanisch zu satteln, ihr einen viel zu groben Stüber auf die Nase zu geben, damit die freundliche Stute ihn endlich in Ruhe ließ, und sie schließlich geradezu aus der Box zu zerren. Auch Flore war nur ein Pferd. Ein Fluchttier. Wenn er sie an der richtigen Stelle mit Gewalt dazu trieb, durchzugehen, würde sie geradeaus rennen bis zum Schluss. Bis über die Steilklippen von Aberry. Dann hatte sich die Sache erledigt. Sowohl für ihn als auch für seine Familie.
„He, Etienne! Wie sind die Tests gelaufen? Ich bin mir sicher, dass du sie alle mit der Bestnote bestanden hast!“ Jasko rollte ihm in den Weg. Die aufgrund der Stimmung und dem daraus resultierenden Verhalten ihres Besitzers unruhig gewordene Flore warf den Kopf zurück und rollte mit den Augen, als sie sich nun auch noch mit dem Rollstuhl konfrontiert sah.
„Lass mich in Ruhe, Kristian!“ Belian saß noch im Stall auf. Dabei dachte er unweigerlich an all die Mühen der letzten Monate. An den Muskelaufbau, die Schmerzen, das ganze Bewegungstraining und die bittere Erkenntnis, dass alles umsonst gewesen war. Er zog das rechte Bein nach. Zwar nicht viel, aber es war so. Es war genug, um nicht mehr perfekt zu sein. Genug, um ein Leben in Scherben gehen zu lassen. Sein Leben!
Die Worte, der Tonfall und ein einziger Blick in das junge Gesicht reichten. Nahezu ruckartig katapultierte der terranische Leutnant sich aus dem Rollstuhl hoch und griff nahe dem Gebiss in die Zügel des Pferdes.
Flore hatte zunächst zurückweichen wollen und tänzelte trotz ihres ruhigen Gemüts auf der Stelle, obwohl Belian sie geradezu brachial durchparierte. Dennoch gefiel der Stute keineswegs, so abrupt am Kopf angefasst zu werden.
Außerdem fiel das Stehen Jasko immer noch schwer, vom Gehen ganz zu schweigen. Der Familienmedikus hatte vor Monaten geurteilt, dass eine teilweise Reparatur des Rückenmarks zwar möglich war, die volle Bewegungsfähigkeit jedoch nicht mehr zu erreichen sei. Dazu war es nach all der Zeit zu spät. Der Terraner war ein Krüppel. Genauso wie Belian. Nicht vollends bewegungsunfähig, aber auch nicht gänzlich gesund.
Für einige Sekunden hing alles von Belian ab, aber er brachte die Stute zum Stehen. Nun ließ Flore es zu, dass Jasko sich unsicher an ihr festhielt und zu ihrem Reiter aufblickte.
„Was ist passiert? Etienne, du hast doch was!“
„Geh aus dem Weg! Wir reden später!“ Was machte diese Lüge schon noch aus? Es gab keinen Gott… und wer gab irgendetwas auf Familienehre, wenn selbst das Oberhaupt sie nach Gutdünken durch Unwahrheiten besudelte?
„Das werde ich nicht tun“, verkündete Jasko schlicht.
„Ich bin der Sohn des Duc d’Auvergne! Deines Herrschers! Du wirst jetzt gehorchen!“
Die Worte verletzten seinen Freund, wie Belian sehr genau wusste, aber wie gerade schon bewiesen, war der terranische Leutnant kein Feigling. „Ich werde es nicht tun. Nur über meine Leiche werde ich dich in deinem Zustand ausreiten lassen, weil du mir früher gesagt hast, dass du nie wieder ein Pferd besteigen willst. Glaub mir, ich weiß genau, was du vorhast!“
Jemand, der nach eigenen Angaben schon zwei Selbstmordversuche hinter sich hatte und in jener Nacht vor einigen Wochen kurz vor dem dritten gestanden hatte, konnte das womöglich tatsächlich ahnen.
„Steig ab, denn ich werde nicht zulassen, dass du dich umbringst!“
„Ein kleiner Schenkeldruck genügt, und du wirst mich nicht weiter daran hindern können.“
Jaskos Miene verhärtete sich, und seine Augen blitzten. „Dann reite mich doch verdammt noch mal über den Haufen!“
Diese ernst gemeinte Forderung ließ Belian schließlich zögerlich absteigen. „Wieso weißt du es?“
„Du weinst und merkst es nicht!“ Der Terraner beherrschte sich sichtlich und sagte weicher: „Glaub mir, ich war selbst auch schon genau da. Ich weiß, wie das ist, und ich will erfahren, warum. Lass mich für dich da sein, Etienne. Bitte!“
„Auch wenn es sogar meinem Vormund recht wäre?“ Ein unnützer Versager weniger.
„Es wäre mir aber nicht recht. Komm, überlass dieses arme Tier einem der Stallangestellten und lass uns in den Garten gehen. Wir haben hier Zuschauer.“
„Nein…“ Belian wischte sich verstohlen über die Augen, wunderte sich nur kurz über seine nasse Hand… und kam dem besorgten Terraner zuvor, der einen unstandesgemäßen, energischen Einwand formulieren wollte. Worte, die garantiert wieder von irgendeinem Bediensteten gepetzt werden würden. „Nicht der Garten. Wir gehen im Wald spazieren.“ Dort war es schöner und eindeutig privater. Außerdem hatte dort alles angefangen.
„Ich habe zwar auch in deiner Abwesenheit weiter geübt, aber dennoch kann ich noch keine so weite Strecke laufen“, brachte Jasko zaghaft vor.
„Das musst du auch nicht. Pferde haben auch ihren Zweck.“
„Bloß nicht! Das wäre nicht standesgemäß! Außerdem kann ich nicht reiten!“
„Flore ist ein sanftmütiges Lamm für Idioten. Die Madame hat sie mit ausgewählt, damit ich mir auch ja kein zweites Mal wehtue.“
„Herzlichen Dank, dass du mich so betitelst.“
„Ist doch so. Es war außerdem nicht gegen dich gerichtet. Ich meinte mich selbst.“ Belian war nun wirklich nicht in Stimmung, sich noch etwas vorzumachen.
Vielleicht begriff der Terraner das auch. Er biss sich auf die Lippe und ließ zu, dass der Pferdebesitzer die Steigbügel verlängerte und ihn schließlich irgendwie auf die tippelnde Stute bugsierte.
„Sag mal, sollten die Ohren dieses Tieres nicht hochstehen?“
„Das tun sie gleich schon wieder.“ Eher war Belian in Stimmung, das missmutige Pferd trotz seines Kaufpreises zu Mus zu prügeln, wenn es sich auch nur erdreistete, eine falsche Bewegung zu machen, während Jasko oben saß.
Die eisernen Hufeisen klapperten laut auf dem Hof, als der kleine, sehr komisch wirkende Zug sich in Bewegung setzte. Natürlich sahen es alle: den unpassend gekleideten und noch obendrein zu Fuß gehenden ältesten Sohn des Ducs und den terranischen Niemand, der an seiner statt wie ein nasser Sack auf der schlanken Araberstute thronte.
Sowohl die Bediensteten als auch Belians Geschwister, ja sogar die Duchesse und das Familienoberhaupt beobachteten den kleinen Zug. Alle mit sehr unterschiedlichen Emotionen. Die Bediensteten brannten darauf, sich untereinander das Maul darüber zu zerreißen, Belians kleinste Geschwister verstanden nichts, Paul frohlockte und Louise haderte mit dem Herrscher des Himmels. Die Duchesse regte sich über den Sittenverstoß auf, bis ihr Gatte sie über die Gründe ins Bild setzte. Dann schwieg sie und starrte den Hausherrn nur aus großen Augen an, während Pferd, Reiter und der Junge am Zügel irgendwann im Wald verschwanden.
Es dauerte lange, bis Jasko den Mut aufbrachte, nochmals nach dem Grund für die Verzweiflung zu fragen.
Noch einmal so lange musste der hier nur als unstandesgemäßer, sonderbarer Freund und Instruktor des ältesten Sohnes geduldete Terraner auf die Antwort warten.
„Ich bin enterbt worden.“ Die Erde tat sich nicht auf, um Belian zu verschlingen. Leider nicht.
„Warum?“
„Schau mich an.“
Der rothaarige Offizier, der nach sechs Monaten nicht mehr ganz so leichenblass war und glücklicherweise längst nicht mehr diese entwürdigende orangefarbene Gefangenenkleidung tragen musste, tat es, aber er konnte nichts entdecken.
„Mein Bein“, half Belian ihm aus und drängte die Tränen diesmal zurück. Welches Recht hatte er, einem ehemals Gelähmten, der niemals wieder ganz gesund sein würde, sein Leid zu klagen? „Der Reitunfall.“
Natürlich war es dem sich hier oben nur sehr unwohl fühlenden Offizier keineswegs angenehm, während dieser Eröffnung selbst auf einem Pferd zu sitzen. Ganz unsicher tätschelte Jasko Flores Hals, woraufhin die Stute langsam wieder auftaute und zu dem Schluss kam, dieser Amateur von Reiter sei immer noch netter zu ihr als ihr eigener Besitzer.
„Aber dein Bein ist doch wieder völlig in Ordnung, Etienne. Wärst du auf den Kopf gefallen und hättest einen irreparablen Hirnschaden, könnte ich es ja noch verstehen, aber…“
„Ich hinke, Kristian.“ Wieso musste Belian auch noch darauf hinweisen?
„Aber man sieht es doch kaum!“, hielt der Terraner verdattert dagegen.
„Es ist aber da, und man sieht es eben doch. So was wie das, was mir passiert ist, ist ein Gottesurteil. Ich wäre nicht fähig, die Ehre der Familie in einem Duell zu verteidigen wie ein gesunder Mann. Mein Vormund steht in der Öffentlichkeit. Seine Reputation ist alles. Die Menschen der Auvergne würden niemals einen Gutsherrn akzeptieren, der nicht…“
Jetzt kam Widerspruch, dessen Vehemenz überraschte. „Nun mach aber mal Schluss! Was soll denn der Quatsch? Du redest wie jemand, der minderwertig ist und dessen Leben keinen Wert mehr besitzt!“
Belian lachte bitter auf. „Es ist aber so! Mein Vormund hat bereits davon gesprochen, mich frühzeitig in die Geschäfte einzuführen. Ich soll nicht mehr auf die Ausbildungsanstalt zurückkehren und stattdessen auf dieselbe Weise wie dieses Mal auch zu meinem Abschlusszeugnis kommen. Vermutlich auch nur, weil das teure letzte Halbjahr nebst der finalen Zertifikatsprüfung bereits bezahlt ist. Ich bin für eine Verwaltungsposition im Infrastrukturministerium vorgesehen, oder was noch schlimmer wäre: für den Dienst in Dunoise zum Wohl meines kleinen Bruders Paul, der in einigen Jahren an meiner statt der Nachfolger unseres Vormunds werden wird.“
Er unterdrückte den Drang, die Fäuste zu ballen und fuhr fort:
„Wenn ich Glück habe, wird mir in zehn oder fünfzehn Jahren gestattet, mit einer Frau, die sonst niemand haben wollte, eine Familie zu gründen. Das heißt, wenn sie nicht empfängnisunfähig ist. Mein Bruder wird nämlich ein Mitspracherecht haben, und er kann mich nicht leiden. Daher ist es gut möglich, dass er mir sogar einen derartigen bescheidenen Nebenbeitrag zu unserer Blutlinie verwehrt! Ich werde auf jeden Fall die Insel Auvergne verlassen müssen. Das, was ich als meine Heimat ansehe. Das, was ich erben sollte! Dafür wurde ich geboren und erzogen - und jetzt werde ich es nicht bekommen.“
„Das ist ja entsetzlich!“
„Ja. Und da fragst du noch, weshalb ich keinen Sinn mehr gesehen habe?“ Belian sprach ungerecht, aber er konnte nicht aufhören.
„Nein. Ich meinte das anders! Ich finde abscheulich, wie ihr lebt!“
Dieser halblaute Ausruf ließ Belian entgeistert stehen bleiben, woraufhin natürlich auch Flore anhielt.
In Jaskos Augen stand Mitleid, was Belian verletzte und wütend machte. „Was nimmst du dir eigentlich heraus, so etwas zu sagen? Du lebst bei uns besser als viele Bürger auf dieser Welt, hast genug zu essen, passende Kleidung, sogar einen sehr teuren Medikus, und all das, ohne dafür wirklich arbeiten zu müssen!“
Nun beherrschte der Terraner sich mühevoll. Er sah kurz zur Seite, atmete aus und brachte dann hervor:
„Mir geht es gut, ja. Dafür habe ich aber auch jeden Tag sechs bis zehn Stunden mit dir für dein tolles Eliteinternat gepaukt. Ich habe mir meinen Lebensunterhalt bei deiner Familie verdient! Für mich war das Arbeit! Und soll ich dir mal sagen, was in dem Brief stand, den ich nach neun Wochen endlich als Antwort auf meinen eigenen erhalten habe? Mein Freund Andi und die anderen sitzen noch immer in Dunoise im Gefängnis! Man behandelt sie immer noch wie den letzten Dreck. Sie lassen mich herzlich grüßen und beten vermutlich jeden Tag darum, dass auch sie irgendwann ein solches Glück haben werden wie ich und als Privatlehrer irgendeines verwöhnten Adligenkindes ausgewählt werden!“
Obwohl der Treffer bereits vernichtend war, kam noch einer hinterher:
„Stattdessen kommen jedoch höchstens Angehörige eures Geheimdienstes zur Tür herein und zerren einen von ihnen zum Verhör weg! Es heißt immer nur ‚später’, wenn Andi und die anderen darum bitten, wenigstens endlich mal wieder hinausgehen und die Sonne sehen zu dürfen! Das sind Sorgen und nicht irgendwelche Duelle oder arrangierte Hochzeiten, die in der zivilisierten Welt längst verboten sind! Wach auf, Etienne! Was soll Julien sagen, dem ein Medikus namens Haven in der Rettungskapsel ganz primitiv im Schein einer Taschenlampe einen zerschmetterten Arm amputiert hat? Was soll ich sagen? Du hältst dich für einen Krüppel, weil irgendwelche primitiven Leute dir das einreden, aber dabei hast du keine Ahnung vom Universum! Nicht du bist falsch, sondern sie sind es!“
Der ohnmächtige Zorn des Terraners verlieh den Vorhaltungen einen Nachdruck, der Belians Zunge schlicht und ergreifend lähmte.
Irgendwann stapfte er einfach weiter, bis der Offizier schließlich eine Entschuldigung murmelte. Genauso wie die Bitte zur Umkehr, die der Herzogssohn jedoch ignorierte.
„Etienne…“
„Schweig, Kristian! Du und deinesgleichen haben kein Recht dazu, uns zu kritisieren. Eure ach so toleranten Behörden haben uns damals von Terra vertrieben und das Heil in den Sternen suchen lassen. Das hat keinem unserer Ahnen gefallen. Wir haben hier jedoch etwas aufgebaut, das sehr stabil ist. Eine Gesellschaft, in der es noch nie einen Bürgerkrieg gegeben hat und in der alle genug haben sowie aufeinander achtgeben. Ihr mögt das primitiv nennen, aber was seid ihr denn? Ihr habt einen zerstörten schmutzigen Planeten, wo es immer wieder zu Aufständen kommt, und ihr expandiert seit jeher ins All, während eure Raumflotte, der auch du angehört hast, dabei unschuldige Menschen terrorisiert. Ihr habt Nationen dazu gezwungen, der Föderation beizutreten. Ihr habt Widerstand niedergeknüppelt und Bomben auf Staatskolonien geworfen, wenn sie eigenständig werden wollten. Und du willst mir sagen, dass euer System besser sei als unseres? Das kann und will ich nicht glauben!“
Der Offizier schwieg lange, und anschließend war seine Stimme eine gänzlich andere.
„Seit 240 Jahren herrschte Frieden in der Föderation. Es war ein gleicher Frieden. Jeder Nation stand frei, sich den Streitkräften der Föderation anzuschließen. Es gab sogar Zuschüsse zum Werftbau. Die Zeiten, in denen wir andere besiedelte Systeme unterdrückt haben, sind vorbei. Bei uns zu Hause hungert schon lange niemand mehr. Jeder Mensch mit terranischem Pass, ganz egal, ob Mann, Frau oder Kind, ist freier und deshalb vermutlich auch glücklicher als ein hiesiger Bürger. Ihr habt es nur niemals herausfinden wollen, weil ihr euch in dieser Isolation verkriecht! Einer Isolation, in der das eigene Volk tagtäglich unterdrückt wird.“
„Dass ich nicht lache!“ Belian schnaubte abfällig. „Wir unterdrücken niemanden! Ihr hingegen…“
„Dir ist womöglich noch nie der Gedanke gekommen, dass du an eine Form von Propaganda glaubst, oder?“
„Nein. Ich glaube nur, dass du mir deine verkaufen willst!“
„Und was hätte ich davon, dich zu belügen? Ich dachte, wir seien Freunde! In all der Zeit hast du mich nie direkt nach Terra gefragt. Du hast versucht, Transitnavigation zu lernen, was ich dir jedoch mangels der richtigen Ausrüstung und Lehrbücher nicht beibringen konnte, und du hast auch alles über die unregulierten Sternsysteme um Nouvelle Espérance hören wollen. Nur wieso hast du dich nie nach der Welt erkundigt, von der ich stamme? Hattest du Angst davor?“ Traurigkeit sprach aus Jaskos Stimme.
„Nein! Ist dir denn nicht klar, wie prekär deine Lage auf Gut Auvergne ist? Hast du nicht gelegentlich mitbekommen, wie oft ich dich gegenüber meinem Vormund in Schutz nehme, bloß weil einer der Hausangestellten dich mal wieder angeschwärzt hat? Weißt du, was los wäre, wenn irgendwer mitbekäme, dass du von Terra erzählst? Du fändest dich schneller im Gefängnis wieder, als du bis zehn zählen kannst!“
Sein Freund nahm die Worte regungslos hin. „Ich bin keineswegs dumm oder zurückgeblieben. Ich weiß es. Nur sei du jetzt auch ganz ehrlich und frag dich selbst, warum ich wohl so schnell zurück im Gefängnis wäre. Du bist gleichfalls nicht blöd, also sag mir, was dahinter steckt.“
„Eigentlich könnten sie dich schon dafür verhaften, dass du mich duzt und so respektlos mit mir redest! Ich bin der Erstgeborene des…“ Belian sprach diese vermeintliche Ausflucht nicht zu Ende.
Jasko tat es für ihn, schonungslos, wie der Mann manchmal sein konnte. „Gewesen, Etienne. Biologisch zwar nicht, aber gesellschaftlich bist du es wohl laut deiner eigenen Ansicht mal gewesen. Und dir geht es nur so schlecht, weil du dich zu Recht falsch behandelt fühlst. So grundverkehrt diese absolute Monarchie aus meiner auswärtigen Sicht auch generell sein mag, selbst du als Teil der Aristokratie rebellierst gegen den Teil, den du als ungerecht empfindest. Wie geht es da wohl einem Bürger oder gar einem Leibeigenen?“
„Oder einem rechtlosen Gefangenen. Das meinst du doch auch, nicht wahr?“
„Ich sprach jetzt nicht von mir!“, verwehrte der Terraner sich energisch.
„Aber von deinem Freund und deinen Kollegen. Von eurer Besatzung.“
Ein Kopfschütteln war die Antwort, als der Offizier die Sinnlosigkeit seines Anliegens einsah. „Lass uns nicht streiten. Es führt zu nichts. Du bist in deiner Welt aufgewachsen und ich in meiner. Unsere Leute sind glücklicherweise nicht im Gefängnis, sondern nur in alle Winde verstreut worden. Wie man uns damals sagte, gelten nur Offiziere als nicht umerziehungsfähig. Vermutlich haben wir das zweifelhafte Glück gehabt, irgendwie als aristokratenähnlich betrachtet zu werden. Wie ich in eurer so genannten Verfassung las, hat der König bei euch sogar das Recht, eine ganze Familie auszulöschen, wenn das Oberhaupt Verrat begeht. Von daher ist unsere Haft vielleicht… nachvollziehbar. Wir hatten wohl noch Glück, dass es nur ein Gefängnis war und nicht die Verbannung in die Wüste… ach scheiße! Lass uns einfach nicht mehr darüber reden.“
„Okay“, bestätigte Belian bewusst mit einem terranischen Wort, das auch Jasko manchmal benutzte. Heute bekam er jedoch kein Lächeln zur Antwort wie sonst.
„Könnten wir bitte umkehren? Meine Oberschenkel tun mir langsam weh.“
Wie erbeten wandte Belian sich um und strich dabei auch Flore über den ebenmäßigen weißen Stern. Wie hatte er seine Wut heute nur an der Stute auslassen können? Sie war nicht Vent, und selbst wenn sie es gewesen wäre, so stellte der Unfall immer noch ein Gottesurteil dar.
Erst nach einigen Schritten dämmerte ihm etwas. „Sag mal, Kristian, hast du eigentlich gerade gesagt, deine Oberschenkel täten dir weh?“
„Ja, so ziemlich. Ich bin das Reiten einfach nicht…“ Der Satz wurde nie zu Ende geführt. Jasko starrte nur verdutzt an sich herunter und schlug eine Hand vor den Mund. Der erste Spruch war einfach eine Floskel gewesen, in Gedanken hervorgebracht, ohne darüber zu reflektieren.
„Tja, ich befürchte, wir werden noch öfters ausreiten müssen. Es gibt auf dem Kontinent Hospize, die kranken Kindern armer Bürger eine kostenlose Tiertherapie ermöglichen. Wir sollten wohl mal dasselbe versuchen. Flore mag dich, also fang schon einmal an, sie zu mögen. Wenn man Schmerzen in einem Körperteil hat, fühlt man es nämlich wieder!“
Das nun entstehende Schweigen war gänzlich anders als das in dem Hybridgefährt. Es war gemeinschaftliches freundschaftliches Schweigen.
Etienne Belian wusste, dass wenigstens Kristian Jasko immer für ihn da sein würde. Vorbehaltlos und mit all seiner fremdweltlerischen Unverschämtheit. Hinken hin oder her, für seinen Freund war er nicht behindert.
Dafür dachte der fassungslose Terraner mit seiner Rückenverletzung erstmals hoffnungsvoll an die Möglichkeit, irgendwann in ferner Zukunft womöglich sogar die eigenen Zehen wenigstens wieder als Teil seines Körpers spüren zu können. Es musste kein Marathonlauf sein, aber nur das Bewusstsein, einen gänzlich fühlbaren und kontrollierbaren Körper zu haben. Diese Hoffnung verdankte er allein dem störrischen Jungen, den er gerade so zusammengestaucht hatte.
Noch immer unter dem Einfluss dieses Hochgefühls fand sich Jasko drei Stunden später plötzlich Theodore Charles Belian d’Auvergne gegenüber. Der Duc hatte den Trakt der Hausbediensteten heute aufgesucht, um sich zu bedanken. Er kannte seinen Erstgeborenen und glaubte, auch die kühle Reaktion des Terraners zu verstehen. Erst als der Hausherr seinen dennoch aufkeimenden Zorn kontrollierte, schaffte er es, doch noch auszusprechen, was er sich überlegt hatte.
„Sie sind jetzt beinahe sieben Monate in meinen Diensten, Monsieur. Dank Ihnen hat Etienne jetzt nicht nur in seinen starken Fächern brilliert, sondern auch in allen anderen. Die Ergebnisse sind angekommen, und er war der Beste seines Jahrgangs. Sie haben ihm in dieser schweren Zeit stets geholfen und tun dies immer noch. Sie sind ihm ein Vorbild geworden, auch wenn ich natürlich meine Vorbehalte gegenüber Ihrer Person hatte. Etienne war auf seine Art schon immer ein Träumer, genauso wie Paul einen grausamen Zug an sich hat, den ich noch korrigieren werde. Vielleicht auch mit Ihrer Hilfe, denn Sie sind kein schlechter Instruktor. Die Freiheit kann ich Ihnen nicht bieten, aber wenn es sonst irgendetwas gibt, das ich für Sie tun kann…“
Die zwei Hybridgefährte des Staatsschutzes von Nouvelle Espérance flogen äußerst niedrig über die Wiese vor dem Haus hinweg, setzten auf dem leeren Parkplatz auf und rollten im Fahrmodus auf den Hof.
Belian hatte deshalb nicht nur mit Flore zu tun, sondern auch mit dem leichenblass gewordenen und schwitzenden Terraner.
„Sie werden dich nicht von hier wegholen, Kristian.“ Auch wenn seine Position innerhalb der Familie sich wandeln mochte, noch war er der offizielle Erbe der Auvergne!
Die Polizisten kamen jedoch nicht einmal zur Wiese, sondern zwei der Beamten steuerten auf das Haus zu.
„Lass uns hingehen, Etienne.“ Die dünne Stimme seines Freundes zeugte jedoch von einem sehr gegenteiligen Wunsch. Der fatalistische Vorsatz, sich allem Übel schnellstmöglich stellen zu wollen, um es hinter sich zu bringen, versagte.
Immer mehr Polizisten stiegen aus, und schließlich kam die erste Gestalt in der altbekannten signalfarbigen Gefängniskleidung zum Vorschein. Sie konnte nicht allein aussteigen, weil ihre Hände gefesselt waren. Es wurden mehr, bis schließlich fünf Personen in dem auffälligen Orange und mit schwarzen Säcken über dem Kopf unsicher und wacklig auf dem Hof standen. Sie wurden nach wenigen Augenblicken mit Stößen zum Niederknien gezwungen. Einer von ihnen wurden sogar die Beine weggetreten.
Es war im Grunde noch nicht einmal notwendig, den einzigen ungebundenen Gefangenen zu identifizieren. Wer nur eine Hand hatte, den konnte man schlecht fesseln. Kristian Jaskos entsetzte Reaktion sagte jedoch alles. Er kannte die Männer. Natürlich, denn sie waren seine Landsleute.
Das englische Gemurmel war für Belian nicht verständlich. Er hatte sich nie für die Muttersprache des Terraners interessiert, sondern nur ein paar kleine Brocken aufgeschnappt, um Jasko gelegentlich damit zu erfreuen. Das hier war jedoch etwas anderes. Was machten die anderen terranischen Offiziere auf dem Gut?
„Etienne!“, erscholl der Ruf des Duc d’Auvergne. Der Herzog war allein nach draußen getreten, um die offiziellen Besucher zu empfangen. So machte man es einfach, und das war ein neuerlicher Stich. In fünf Monaten und 18 Tagen wäre Belians Aufgabe gewesen, als legitimer verheirateter Erbe beim Duc zu stehen. Dieser Tag würde nun niemals kommen.
Auch nach drei Tagen und Nächten schmerzte diese innere Wunde immer noch grauenvoll. Belian hatte sich fast völlig zurückgezogen und sogar den Unterricht unterbrochen. Es war sowieso noch Halbjahresfreizeit, und das nutzte er aus, obwohl er an sich weiter hatte lernen wollen, um nach dem letzten Halbjahr einen sehr guten Endabschluss zu machen. Nur welchen Sinn hatte das jetzt noch? Die Noten konnten ihm doch egal sein. Für ihn würde schon gesorgt werden. Er gehörte immer irgendwie zur Familie, auch wenn er nicht mehr Familie war. Aus reinem Pflichtbewusstsein übte er jeden Tag vormittags und nachmittags jeweils eine Stunde mit Jasko auf Flore. Davor konnte er sich nicht drücken, denn sein Gewissen ließ es nicht zu.
Vielleicht würde es aber bald nicht mehr nötig sein, je nachdem, weshalb die Polizisten vom Festland die 990 Kilometer übers Meer hergekommen waren.
Erbe hin oder her, die Anweisungen seines Vormunds waren bindend. Weil der Duc ihm das Signal dazu gab, führte Belian auch Flore am Zügel mit sich. Ihr schwitzender Reiter saß wie eine Statue des Schreckens im Sattel. Was auch immer er erlebt haben mochte, Jaskos Angst vor den Staatsschützern war echt. Angesichts der Behandlung, die seine Offizierskollegen gerade erfuhren, war ihm das kaum zu verdenken. Auch Belians Freund hatte zweifellos dasselbe erlebt, bevor die Königin sich des selbstmordgefährdeten Terraners erbarmt und ihn als Instruktor nach Gut Auvergne geschickt hatte.
Einer der Polizisten machte eine Bemerkung zum Gutsherrn, die unbewegt aufgenommen wurde.
Von den fünf knienden Gefangenen machte keiner auch nur die geringste Bewegung, als sich der Hufschlag näherte.
Zwei der Beamten steuerten zu Belian und seinem Begleiter, während der ranghöchste Polizist erneut den Duc ansprach: „Es werden regelmäßig Kontrollen durchgeführt. Alle Gefangenen haben wie gesagt ständig und ausschließlich diese Kleidung zu tragen, die sie als inhaftierte Terraner ausweist. Sie müssen nachts nach einer Zählung eingesperrt werden und sollte auch nur einer fehlen, sind Sie und Ihre Familie dem König dafür verantwortlich und werden dementsprechend haftbar gemacht, Monsieur!“ Wie respektlos sie doch mit einem Oberhaupt einer der großen Familien sprachen, aber natürlich hatte der Staatsschutz umfassende Vollmachten des Königs. Sogar gegenüber einem Duc d’Auvergne.
Währenddessen holte einer der Herankommenden bereits etwas aus seiner Tasche und entfaltete es. Jaskos Mund öffnete sich, aber kein Ton kam hervor. Auch Belians Abwehr blieb in seiner Kehle stecken, als der Duc ihn mit einem Blick zum Schweigen brachte.
„Absteigen!“
„Es ist einfacher, wenn er oben bleibt.“ Nach einem abschätzigen Blick auf Belian, dessen Hand sich um den zusätzlich angelegten Führzügel krampfte, zerrte einer der Beamten den bleichen Terraner beinahe von der Stute. Flore tänzelte und brach fast aus, aber sie zogen Jasko nicht herab. Sie taten nur das mit ihm, was sie auch mit den anderen gemacht hatten.
In der Stille des Hofes zerrten sie dem nun vermummten sechsten Terraner einen der Gummireitstiefel, welche Jasko erst seit vorgestern besaß, vom Fuß. Auch die Socke wurde in den Matsch geworfen.
„Schau weg, Junge!“
Mit klopfendem Herzen tat Belian wie angewiesen. Er konzentrierte sich ganz auf Flore und hatte schreckliche Angst um seinen Freund.
Sie machten irgendetwas an dem Bein, aber es tat wenigstens nicht weh. Oder verbiss der Gefangene, zu dem er gerade erneut geworden war, sich nur den Schmerz?
Würden sie ihn jetzt etwa mitnehmen?
„Fertig“, grunzte einer der beiden. Genauso wie ein: „Unverantwortlich! Kleidung, kein Sender und dann auch noch ein Pferd!“
„Das hier ist eine Insel“, gab der andere Polizist zurück.
„Das ist wohl der Grund gewesen, aber sicher ist sicher. D’Auvergne muss sich auch sehr sicher sein, wenn er mit seiner Familie dafür haftet.“
Die beiden Staatsschutzbediensteten entfernten sich wieder, und Belian sah geradezu hektisch zu Jasko. An dessen linkem Knöchel prangte nun ein merkwürdiges Gerät, auf dem in regelmäßigen Abständen eine LED rot blinkte.
„Ich bin bei dir, Kristian.“
„Wenn du weggehst, geht mir das Pferd durch, Etienne!“ Und nicht nur Flore, sondern auch Jaskos Angst drohte mit dem terranischen Reiter durchzugehen.
Wegen der Fremden und nicht zuletzt auch wegen seines Vormunds wagte Belian nicht, die zittrige Hand zu ergreifen, wie er es sonst nach Terranerart getan hätte. So hätte er Jasko wenigstens etwas helfen und ihm eine Illusion von Sicherheit vermitteln können, aber nicht vor Publikum. Das hier war nicht Terra, sondern Nouvelle Espérance! Vor allem aber hatte die Polizei sogar hier auf dem Stammsitz einer der mächtigsten Familien des Planeten beinahe uneingeschränkte Vollmachten. Vor dem Staatsschutz waren alle Menschen gleich.
„Übernehmen Sie die Terraner ab jetzt, Monsieur?“
„Warten Sie einen Moment“, gab der Hausherr in normaler Tonlage zurück. Belian bewunderte seinen Vormund für diese Ruhe. Der Herr der Auvergne wandte sich zu den knienden Männern. „Wer von Ihnen hat das Sprachrecht?“
Daraufhin begann einer der fünf mit hoher Stimme zu reden, aber er klang jung. Zu jung. Außerdem sprach er Englisch. Unweigerlich dachte Belian an die Newsaufzeichnung und den blonden jungen Mann, obwohl er es natürlich nicht nachprüfen konnte. Unter dem schwarzen Stoff sahen beinahe alle gleich aus. Nur der Einarmige stach durch das körperliche Merkmal heraus.
„Ich.“ Ein einziges Wort des ganz links knienden Mannes. Er war reifer, weil man ihm das höhere Lebensalter anhörte. „Commander Jeffrey Abraham. Terranische Navy.“ So viel kam auf Französisch, dann folgte etwas auf Englisch.
„Mit wem habe ich die Ehre, Monsieur?“ Es war eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Mund des Jüngeren, so viel war klar.
Verstanden die Terraner etwa immer noch nicht alle die französische Sprache? Es waren doch schon anderthalb Jahre, seit Bürger Olliviers Besatzung sie in Holberg aufgegriffen hatte.
Für einen kurzen Moment zögerte der Hausherr vor lauter Empörung, aber die Polizei reagierte schon. Alle fünf der auf dem Pflaster Knienden kassierten jeweils eine harte Kopfnuss. Nur Jasko blieb davon verschont, aber der leise Schrei eines der anderen Männer ließ auch ihn zusammenfahren, was Belian wiederum durch seine Verbindung zu Flore spürte.
„Erweist dem Duc d’Auvergne die Achtung, die ihm gebührt, oder er verweigert rechtlosen Ausländern wie euch die Aufnahme!“ Anscheinend war es für die Staatsschutzbeamten ein Unterschied, ob sie selbst gegenüber einem Duc respektlos und unfreundlich waren, oder ob sich ein geächteter Terraner dasselbe erlaubte.
„Bitte verzeihen Sie vielmals, Euer Ehren! Hätten der Commander und ich das gewusst…“ Die zittrige Stimme legte nahe, dass der Übersetzer womöglich gerade kurz die Beherrschung verloren und den Laut geäußert hatte.
„Schweigen Sie!“ Der Familienvorstand war keineswegs glücklich, den Staatsschutz auf seiner Insel oder gar auf seinem Gut zu haben. Außerdem war er natürlich noch immer verärgert. „Was ich von jedem von Ihnen verlange, ist ein Schwur auf Gott und Ihr Leben, dass Sie keine Gefahr für meine Familie darstellen, sich meiner Gerichtsbarkeit unterwerfen und jeden Fluchtversuch unterlassen. Ich habe drei Söhne. Sollten Sie Ihren Schwur brechen, wird der König mich und sie dafür verantwortlich machen. Also entweder leisten Sie alle diesen Eid oder Sie landen wieder in Dunoise und verbringen den Rest Ihres Lebens in Haft, weil niemand die Verantwortung für Männer wie Sie übernehmen will! Übersetzen Sie das, Monsieur!“
„Sie sind gut beraten, keinem dieser Kerle zu trauen. Sie lügen Ihnen heute ins Gesicht und sind morgen trotzdem weg. Lassen Sie sie uns wieder einladen, und zwar alle!“
Dem Gutsherrn war anzusehen, dass er nach diesen Worten des ranghöchsten Beamten überlegte. Mit tief gefurchter Stirn starrte er Jasko an, der das natürlich nicht sehen konnte.
Äußerst leise und am ganzen Körper bebend gab der verängstigte Übersetzer die von ihm geforderten fremdsprachlichen Phrasen von sich.
Das war der Moment, in dem Belians Freund erstmals sprach. Zunächst auf Englisch, was alle fünf anderen vermummten Gestalten aufmerken und einen von ihnen sogar aufschreien ließ, und dann auf Französisch.
„Ich schwöre, Duc.“
Vielleicht waren es Jaskos langsam ausgesprochene, entschlossene Worte oder die schiere Erkenntnis, dass der lange nicht mehr gesehene Leidensgefährte auch hier war.
Jedenfalls kam schließlich die Reaktion des ganz Linken. Die Worte waren eine sehr holprige Nachahmung, aber sie kamen.
„Ich schhhhwöre, Duc.“
„Ich schwöre, Euer Ehren.“ Der furchterfüllte junge Mann, der natürlich die formelle, korrekte Anrede verwendete.
Auch die letzten drei Terraner schlossen sich an, wobei der Einarmige die Aussprache am besten hinbekam. Der auch recht reif klingende mittlere Gefangene hatte große Mühe, während der sechste nur gebrochenes Gestotter herausbekam. Er weinte.
Daraufhin wurde er von dem Terraner namens Jeffrey Abraham auf Englisch äußerst scharf zurechtgewiesen und bekam die Worte nochmals vom Übersetzer vorgesprochen.
Insbesondere die Polizisten amüsierten sich dabei prächtig, aber schlussendlich hatte auch der letzte Terraner den Eid in einigermaßen verständlichem Französisch vorgebracht. Nun war der links kniende reife Anführer wieder dran, was prompt für die Einheimischen verständlich wiederholt wurde:
„Das Wort eines terranischen Navyoffiziers ist genauso verbindlich wie das eines Mannes von Nouvelle Espérance. Niemand wird weglaufen, jeder der hier Anwesenden wird Ihren Befehlen Folge leisten und auch Ihrer Familie nur mit der schuldigen Achtung begegnen, Euer Ehren. Commander Abraham dankt Ihnen für Ihre Barmherzigkeit und versichert Ihnen, dass er und seine ihm untergebenen Offiziere sich durch ihr Wort als gebunden betrachten.“
Der fremde Gefangene mit Französischkenntnissen hatte nur zu sprechen angesetzt, aber prompt wieder aufgehört, als Kristian Jasko die kurze Rede mit flacher Stimme verdeutlichte.
Nach einer unbehaglichen Stille, die Belians Gänsehaut nur noch verstärkte, nickte der Duc schließlich. „Ich übernehme die volle Verantwortung für diese sechs Terraner, Monsieur.“
Binnen drei Minuten war der Hof leer.
Nur das Familienoberhaupt, der Erstgeborene mit dem Pferd und die sechs Häftlinge waren noch da. Die fünf gefesselten Offiziere verharrten immer noch regungslos auf dem Boden, obwohl kein einziger Staatsschutzbediensteter mehr anwesend war. Jasko zuckte hin und wieder unkontrolliert und krallte beide Hände in Flores Mähne. Auch zwei der anderen Ausländer hatten die Beherrschung verloren. Der Übersetzer und derjenige, der kaum den Schwur herausgebracht hatte.
„Kümmere dich darum, Etienne. Das hier ist deine Sache. Monsieur Burdet hat den Geräteschuppen gestern geräumt und umfunktioniert. Ich schlage vor, dass du sie zunächst dorthin bringst.“
„Ich, Euer Ehren?“ Es war doch einfach nicht zu fassen! Was hatte er bitte mit diesen Leuten zu tun? Jasko mochte ja noch angehen, aber die anderen? Belian hatte doch nicht darum gebeten, dass sie hergebracht wurden! Sein Freund würde sich sicherlich darüber freuen, aber…
Der ungläubige, fast schon ablehnende Ton ließ den sprachkundigen fremden Terraner geradezu flehentlich schluchzen: „Bitte! Schicken… Sie uns nicht wieder… nach Dunoise, Monsieur!“
Erst Jasko, der sich die schwarze Maske vom Kopf zog und in seiner Muttersprache irgendwelche schnellen Worte hervorstieß, brach den Bann.
„Kris!“ Es war ein einziger Schrei und er ließ Belians Freund beim Absteigen fast abstürzen. Mit einem nackten Fuß und dem klobigen Gerät um den Knöchel strebte der Mann über die matschige Wiese auf einen der Gefangenen zu, zog ihm die Maske herunter und umarmte ihn. Es war vermutlich der Mann, der Andi hieß.
Auch die anderen noch Vermummten brachen jetzt ihr Schweigen und redeten in ihrer Sprache völlig wirr durcheinander.
„Ich schätze, es wird dich beschäftigen, mein Sohn.“ Die vermeintliche Freundlichkeit in den Worten seines Vormunds täuschte Belian nicht. Der Familienvorstand wusste, weshalb sein Erstgeborener sich während der vergangenen drei Tage beinahe in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Das hier war wohl eine Art Beschäftigungstherapie, aber der sich eilends zurückziehende Gutsherr hatte dabei keineswegs einkalkuliert, dass sie seinem Spross zutiefst zuwider sein könnte. Ja, die Terraner hatten Etienne Belian leidgetan, aber er hatte die Kerle keineswegs alle hier haben wollen!
Das, was sich gerade schon angedeutet hatte, war nämlich Realität geworden. Sein einziger noch verbliebener Freund, der ihm nicht einmal gesagt hatte, wie ihn seine eigenen Leute verkürzt riefen, brauchte jetzt keinen ‚hinterwäldlerischen’ siebzehnjährigen Jungen mehr. Die Ersatzlösung wurde nicht mehr benötigt, da nun die eigenen Freunde und Kollegen hier waren. Viel wichtiger war, sie zu befreien, sich die letzten Monate zu erzählen und alle nacheinander zu umarmen.
Kristian Jasko humpelte umher wie trunken, schwankte und fiel fast um vor Glückseligkeit. Die blassen, hageren Männer mit den abgezehrten Gesichtern beglückwünschten ihn sichtlich zur Wiedererlangung seiner Gehfähigkeit und waren ansonsten einfach nur glücklich. Über das Wiedersehen und die erste Sonne, die sie seit vielen Monaten sahen. Die erste Frischluft, die sie schmeckten und über alles um sie herum. Die Bäume, die Vögel, der nach dem Durchzug der gestrigen Regenfront wieder strahlend klare Himmel, eben über die Freiheit nach der langen Haft. Auch wenn sie nur beschränkt sein mochte, die fünf Ex-Häftlinge waren selig und Jasko mit ihnen.
Dabei vergaß der längst zu einem Teil des Guts gewordene Terraner jedoch völlig, wer überhaupt den Duc d’Auvergne bekniet hatte, damit sein Freund einen persönlichen Brief an fünf vielleicht schon von aller Welt vergessene Gefängnisinsassen schicken durfte. Wer dem Terraner durch eine hitzige Debatte über Gottes Gebote ermöglicht hatte, vom Familienmedikus behandelt zu werden und teure Spezialinjektionen zu erhalten. Wer in jener Nacht für ihn da gewesen war, als die Erinnerung so schlimm über ihn gekommen war.
Als er blind vor Wut die Steigbügel neu einstellte und sich in den Sattel der Stute schwang, erregte Belian die Aufmerksamkeit eines der Terraner. Es war der zweitälteste Mann der Gruppe. Jemand, dessen Haare früher braun gewesen waren und nun vor Dreck starrten.
„Danke.“
Dieses auch noch auf Englisch vorgebrachte Wort, das Jasko ihm einmal in einer Elementarlektion beizubringen versucht hatte, ließ Belian die Zügel aufnehmen und Flore leicht die Schenkel in die Seiten drücken. Das sensible Pferd, das seit Tagen nur die unbeholfenen Reitversuche eines halbgelähmten Anfängers erduldet hatte, reagierte prompt.
Der verdutzte Terraner wich natürlich überweit zur Seite aus, als das wertvolle Tier lostrabte. Die Ausländer kannten Pferde ja zumeist nur aus dem Fernsehen oder dem Zoo, wie Jasko vorgestern in der Führstunde auf Flore beiläufig erwähnt hatte. Früher hätte Belian sich womöglich in der freien und dadurch nicht so ohne Weiteres belauschbaren Umgebung näher erkundigt, aber so war es nur ein gescheiterter Konversationsversuch von vielen gewesen. Ein wenig hatte der verstoßene Erstgeborene sich deswegen schlecht gefühlt, aber dieses Gefühl existierte jetzt nicht mehr.
Es wurde hinweggewischt vom neuerlichen Schmerz angesichts der Erkenntnis, hier jetzt gleichfalls überflüssig zu sein. Vom letzten Menschen, der ihn gebraucht und dem er etwas bedeutet hatte, ebenfalls fallen gelassen zu werden. Nach der eigenen Familie auch noch das!
Der Ruf seines stehen gelassenen Landsmannes ließ den ortskundigen Leutnant herumfahren. Bevor er jedoch etwas zu dem höchst seltsamerweise entgegen aller Abneigung urplötzlich doch wieder reitenden Einheimischen sagen konnte, kam Belian ihm brutal zuvor: „Der Geräteschuppen ist für Sie und Ihre Leute geräumt, Leutnant Jasko. Halten Sie Ihren Eid oder lassen Sie es!“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, kickte Belian der Stute geradezu heftig die Fersen in die Flanken. Die Ohren flach anlegend stürmte das Tier los und ersparte es ihrem sich über den Pferdehals duckenden Besitzer, das Erschrecken des Mannes zu sehen, den er bis gerade als seinen Freund betrachtet hatte.
Das war der Punkt, an dem Belian endgültig alles egal war. Er war jedoch nicht traurig wie damals, sondern vor allem wütend. Das war der große Unterschied. Er hatte Jasko verletzen wollen, genau wie er gerade selbst verletzt worden war.
Dieses Vorhaben war ihm gelungen. Der laute Ruf: „Etienne! So warte doch! Was hast du denn?“, zeugte davon.
Auf eine Eigenschaft legte der Duc d’Auvergne bei Pferden Wert: Sie mussten schnell sein. Flore mochte ein ruhiges Temperament haben, aber sie hatte ein gutes Geläuf. In Windeseile trug sie ihren jugendlichen Reiter davon. Weg von seinem verräterischen Freund. Weg von denjenigen, die ungebeten gekommen waren, um ihn Belian wegzunehmen. Weg vom Duc d’Auvergne, der mit seinem Wort für die Terraner einstand. Sollten die Mistkerle doch davonlaufen und zum Festland schwimmen, sie und auch die Familie des Ducs hatten doch alle miteinander nichts Besseres als den Tod verdient!
‚Außer Louise! Meine Schwester hatte damals natürlich Recht, was den Leutnant angeht. Alle Terraner sind Verräter! Sie sind nicht wie wir!’
Fast schon wünschte er sich geradezu die Flucht der Gefangenen und den Zorn des Monarchen, der seine Familie daraufhin treffen würde. Ihm machte das nichts mehr aus. Was schreckte der Tod einen Jungen, der vom Leben nichts mehr zu erwarten hatte? Schlimmer als solche ‚Beschäftigungstherapien’ konnte es kaum noch werden. Überflüssige, sinnlose Aufgaben für einen aufs Abstellgleis geschobenen, der Familie bloß noch Schande bereitenden Sohn.
Ein normales Abendessen im Gutshaus Auvergne bot an sich nie den Rahmen für eine erregte Gesprächsrunde. De facto herrschte an sich immer vom ersten bis zum letzten Gang Schweigen. Außer heute.
Der am Kopf der Tafel sitzende Familienvorstand ergriff während des Hauptganges persönlich das Wort. Das geschah auf eine beinahe zufällig wirkende und dennoch selbstverständlich genau kalkulierte Art und Weise.
„Wie gefällt dir dein Pferd, Etienne? Möchtest du Flore nach dem heutigen Testritt behalten oder lieber ein anderes haben?“
Natürlich war das nicht wortwörtlich gemeint. Vielmehr war es ein Kommentar zum Zustand der Stute, die Belian vor weniger als zwei Stunden nach einem langen Gewaltritt schweiß- und schaumbedeckt sowie mit beinahe blutigem Maul wieder in den Stall zurückgebracht hatte.
„Könnte ich sie vielleicht haben, wenn Etienne sie nicht mehr will, Euer Ehren?“ Es war kaum begreiflich, wie gut ein Neunjähriger sich auf das Verschießen von Giftpfeilen spezialisiert hatte. Natürlich wirkte Paul gänzlich unschuldig, und seine blauen Augen, die im Gegensatz zu Etiennes braunen garantiert das Ergebnis einer genetischen Auswahl waren, blickten aufrichtig und bittend.
„Also, ehe du das Tier verkaufen willst, Theodore…“, sprang die Duchesse natürlich prompt darauf an.
„Ich denke, ich werde sie behalten. Sie ist willig und sehr ausdauernd.“ Beides war gelogen, obwohl Belian sich natürlich genau darüber klar war, dass es seine Schuld war. Sie war das Ventil für seine Wut gewesen.
Früher wäre das nie vorgekommen, aber die vergangenen Monate und insbesondere diese Woche hatten ihn zu einem anderen Menschen werden lassen. Zu jemandem, der hassen konnte. Zu einer Person, die lieber ein womöglich zuschanden gerittenes Pferd behielt als es seinem Kontrahenten zu gönnen.
Andererseits hatte Paul genau das natürlich vorausgeahnt und schickte zusätzlich zu seinem gehauchten „Schade…“ ein ganz kurzes boshaftes Grinsen.
Daraus wurde jedoch schnell eine Grimasse, als Louise, die dem kürzlich ernannten Erben wohl aus eben diesem Grund genau gegenübersaß, unter dem Tisch zutrat. Es war das Schienbein gewesen, wie Etienne Belian spontan schätzte.
‚Danke, Schwester!’
„Louise, muss das sein? Hör auf, so auf deinem Stuhl herumzurutschen! Das geziemt sich nicht für eine junge Dame, die in fünf Jahren einen Mann glücklich machen will!“
Dieser typisch gedankenlose Kommentar der Duchesse tat Belian weh und ließ die Wangen des Enterbten glühen. Er würde niemals heiraten, wenn er achtzehn war. Er war das fünfte Rad am Wagen.
Der Duc rettete die Situation und gebot in gewohnter Manier wie sonst auch immer: „Am Esstisch wird nicht gesprochen!“
Belian fiel pflichtschuldig in den fünfstimmigen Chor ein, der „Ja, Euer Ehren!“ murmelte.
Es war alles so heuchlerisch und schrecklich verlogen! Am liebsten wäre er von seiner heutigen Flucht gar nicht zurückgekommen, aber wohin sollte er schon reiten? Die Auvergne war und blieb eine Insel.
Der letzte Gang zog sich endlos hin, bis sie endlich aufstehen durften.
„Etienne, komm bitte auf ein Wort in die Bibliothek.“
Ganz im Gegensatz zu früher konnte ihn diese Anweisung seines Vormunds nicht mehr erschrecken. Was sollte schon noch kommen? Das Erschießungskommando, das die Terranische Navy kannte? Wohl kaum! Und alles andere hatte er schon hinter sich.
Von daher zogen seine kleinsten Geschwister sich völlig grundlos betreten zurück, und auch Louise sowie die manchmal so schrecklich taktlose und dumme Duchesse sorgten sich genauso ohne Anlass. Und Paul… nun, mit dem würde der große Bruder noch abrechnen. Irgendwann würde sich schon eine Gelegenheit dazu ergeben.
In der imposanten Bibliothek, die ihn früher einmal so eingeschüchtert hatte, blieb Belian entgegen der anderslautenden Aufforderung einfach stehen. Er leistete sich sogar ein Verschränken der Arme.
Der Familienvorstand nahm diese komplett ungewohnte stille Abwehr ohne Reaktion zur Kenntnis und setzte sich allein. Dann räusperte sich der Duc. „Mir ist klar, dass deine Lage nicht einfach für dich ist. Ich bin jedoch sehr beunruhigt über dein Verhalten.“
‚Mir ist so was von egal, was du über mein Verhalten denkst.’ Nur ganz kurz schreckte er vor diesem radikalen Gedanken zurück, aber dann kostete er ihn voll aus. Was hatte er schon noch zu verlieren?
Das kurze Verziehen des Gesichts fehlinterpretierend fügte der Duc an: „Ich kenne dich nicht mehr, mein Sohn. Heute stürmte Monsieur Jasko ins Haus und verlangte, mich sofort zu sprechen. Das musst du dir mal vorstellen! Er verlangte es! Und das auch noch in einem Ton…“ Ein Stocken der Stimme plus ein eindeutiges Schütteln des Kopfes. „Zu seiner Verteidigung muss ich vorbringen, dass er der festen Überzeugung war, du wolltest dich umbringen. Aus so etwas Dummem wie krankhafter Eifersucht und… wegen dem, was am Abschlusstag deiner Halbjahresprüfung gewesen ist.“ Nur ganz kurz trommelte der Gutsherr auf die teure Platte seines massiven Schreibtisches, der Belian niemals gehören würde. „Ist das wahr, Etienne? Hast du wirklich jemals daran gedacht, den Pfad in die sichere Hölle zu beschreiten?“
Die Anrede ‚mein Sohn’ hatte Belian die Lippen fast verächtlich kräuseln lassen. War er für den Duc wirklich noch ein Kind oder nur eine Altlast? Garantiert das Zweite!
„Ob das wahr ist, habe ich gefragt! Antworte mir und sag die Wahrheit, so wie es alle Belians d’Auvergne stets tun!“
„Alle außer Euch selbst, Euer Ehren!’ So etwas durfte natürlich nicht vorgebracht werden. Also formulierte Belian seine Antwort kühn diplomatisch: „Es ist nicht wahr. Das sage ich Euch so aufrichtig wie Ihr mit mir damals über meine Zukunft gesprochen habt.“
Die Kränkung, der Schmerz und der Verlust ließen ihn so sprechen und jede Angst vergessen. Wer war er schon? Jemand, der erst in vier Jahren volljährig sein würde, und doch nahm er es sich einfach heraus. Die Frechheit, für sich selbst zu sprechen. Andere in den Spiegel blicken zu lassen.
Sein Vormund hatte kurz die Zähne zusammengebissen. Dann schwand die aufkommende Wut jedoch plötzlich. „Ich bedaure alles genauso sehr wie du. Doch trotz allem bist und bleibst du mein Sohn.“
„Tatsächlich?“ Das Wort war heraus, noch bevor der Minderjährige es stoppen konnte.
„Ja. Tatsächlich. Vielleicht ist sogar gut, dass Monsieur Jasko dich in den vergangenen Monaten eine differenziertere Sichtweise gelehrt hat. Ich habe lange nachgegrübelt, weshalb es ausgerechnet dieser Mann sein musste, aber heute ahne ich es. Die Königin wusste, was gut für dich ist, noch bevor wir es selbst ahnten. Deine Offenheit… ist sehr ungewohnt, aber sie macht mir jetzt vieles leichter. Ich will dir gegenüber jetzt genauso direkt sein. Erinnerst du dich an mein Gespräch mit unserem Medikus? Es war, als du aufgewacht bist.“
Belian wollte erst nicken, zögerte dann aber. Hatte er damals nicht geglaubt, das Familienoberhaupt empfände so etwas wie ehrliche Sorge und Liebe für ihn? Die Erinnerung tat weh.
„Ich weiß, dass du es mitbekommen hast. Wir haben den Zeitpunkt bewusst gewählt.“ Der Herzog musterte ihn ernst und wartete, bis der zusammenfahrende Belian sich wieder gefasst hatte. „Ja, Etienne. Du hast geglaubt, uns zu belauschen, aber du hast nur mitbekommen, was genau für deine Ohren gedacht war. Die wahre Diagnose, dass der Unfall dich dein Leben lang schwer beeinträchtigen würde und du vermutlich nie mehr würdest gehen können, hast du nämlich nicht mitgeteilt bekommen. Ich allein habe sie gehört. Nicht einmal Alexandra wusste davon.“
Der Duc zuckte vage die Achseln. „Dein Unfall war für mich ein genauso schwerer Schlag wie für dich. Ich war persönlich dabei, als dieses… Tier zur Schlachtbank geführt wurde. Ich habe abgedrückt. Dennoch weigerte auch ich mich, die Diagnose zu akzeptieren. Ich wusste, wie stark du bist. Das Gespräch mit dem Medikus diente dazu, dir sprichwörtlich Beine zu machen. Dir einen Anlass zu geben, es wenigstens zu versuchen. Und wirklich hast du jede Prophezeiung übertroffen. Man sieht dir kaum noch an, dass mit deinem rechten Bein etwas nicht stimmt. Du hinkst kaum merklich und wenn du weiter daran arbeitest, wird es vielleicht irgendwann ganz verschwinden. Du kannst rennen, reiten, wieder mit deinem Kampfsport anfangen, kurzum alles tun, was du willst. Das musst du nur begreifen.“
Sich auf die Zunge beißend, starrte Belian auf die Bücher im Regal. Er wollte nichts erwidern und bloß für sich behalten, wie tief ihn das alles verletzte. Er war monatelang systematisch belogen worden. Wie ein Pferd hatte man ihn trainiert, ihn immer höher und weiter springen lassen, obwohl von Anfang an schon klar gewesen war, dass er die finale Kombination vor dem Ziel niemals schaffen würde. Schon damals war die Auvergne für ihn verloren gewesen. Seine Heimat.
„Ohne es zu wissen oder überhaupt zu wollen, hat Monsieur Jasko dich vorbereitet. Dafür bin ich ihm trotz seiner Herkunft und seines nicht vorhandenen gesellschaftlichen Standes sehr dankbar. Eure Freundschaft ist gegen jede Regel, aber weil er im Grunde nicht existiert, ist sie legitim und wurde von mir gefördert. Dieser Terraner hat dich gelehrt, mit deiner Behinderung umzugehen und weiter zu blicken. So wirst du ab jetzt auch das leichter akzeptieren können, was du in Zukunft für die Familie tun musst. Ich denke zwar noch nicht ans Sterben, aber ich habe natürlich meinen Letzten Willen bereits geändert und beim Bürger Notar neu beglaubigen lassen. Du kennst deinen Bruder Paul. Yves ist zwar noch zu klein, um großartig etwas über ihn sagen zu können, aber Paul wird mein Nachfolger werden. Bei ihm ist bereits seit Jahren absehbar, dass er kein hervorragender Träger des Titels sein wird. Du wärst es vielleicht geworden, aber der Herrscher des Himmels hat andere Pläne mit dir als ich. Das müssen wir akzeptieren. Sowohl du als auch ich.“
Weil eine erwartungsvolle Stille eintrat, zwang Belian seine Lippen zum Gehorsam. „Ja, Euer Ehren.“ Seine Stimme klang kalt wie Eis, aber so war ihm auch zumute.
Zufriedengestellt erklärte der Familienvorstand weiter: „Für mich war eine unmögliche Vorstellung, dass du dich womöglich gehen lässt, wenn du es erfährst. Ich weiß, dass dein jüngerer Bruder dir sehr zusetzt, aber du wirst es ertragen und ihn leiten. Hörst du, Etienne? Er braucht dich an seiner Seite! Ansonsten weiß ich nicht, was womöglich aus der Auvergne wird.“
Nun kam die Bitterkeit des Ducs voll durch:
„Du hättest es wohl besser gemacht, aber Gottes Wille war, Paul an deiner statt zu erwählen. Deshalb bist du verpflichtet, ihn zu lehren, ihm zur Seite zu stehen und notfalls auch seine Fehler wieder auszubügeln. Ein Nachgeborener ist natürlich immer nur ein beigeordneter Bruder, aber auch er hat viel Einfluss… oder kann vielmehr viel Einfluss haben. Paul wird genau wissen, dass er dich braucht. Genau wie ich es jetzt weiß. Deshalb werde ich dafür sorgen… und habe auch im Fall der Fälle dafür gesorgt, dass du dafür zumindest lebenslang ein sehr gutes Auskommen hast. Außerdem werde ich dir nach der Hochzeit deines Bruders so schnell wie möglich die beste Gefährtin kaufen, die ich für dich finden kann. Ansonsten wird dein Bruder das tun müssen, weil ich es in mein Testament schreiben werde. So viel verspreche ich dir, aber dafür verlange ich auch, dass du deine Pflicht anerkennst und wahrnimmst. Die Familie geht immer vor. Versöhne dich mit Paul, und zwar so schnell es geht! Hilf ihm, sich zu ändern, noch bevor er mit zehn für acht Jahre auf die Ausbildungsanstalt kommt und dadurch dem familiären Einfluss weitestgehend entzogen wird.“
Wieder trat eine Pause ein, die länger und länger wurde.
Schließlich, als es fast nicht mehr ging, sagte Belian: „Und wenn ich es nicht tue?“
Dem Duc d’Auvergne blieb der Mund offen stehen. Der Familienvorstand hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Der Schock über diese Gehorsams- und Dankbarkeitsverweigerung war so groß, dass Belian beinahe auflachte.
„Was erwartet Ihr eigentlich von mir? Etwa, dass ich mich dankbar zeige, weil Ihr mich wie einen Bauern beim Schach in der Gegend herumschiebt und opfert? Ich bin ein Mensch, Euer Ehren. Ich habe rein zufällig Gefühle, die über die bloße Pflicht gegenüber der Familie hinausgehen. Wie kann ich Euch gegenüber loyal sein, während Ihr mich doch nur benutzt habt und es mir gegenüber nicht wart? Ein halbes Jahr lang habt Ihr mich genauso wie der Medikus belogen. Ihr habt mir eine heile Welt vorgespielt, um mich anzutreiben, während Ihr längst Pauls Namen an erster Stelle in Euer Testament geschrieben hattet. Wie…“
Für einen Moment versagte Belian die Stimme, und er musste allen Willen aufbieten, um sich weiter mitteilen zu können.
„… Wie könnt Ihr nur glauben, dass ich Euch das jemals verzeihen könnte? Was maßt Ihr Euch eigentlich an? Ihr verwehrt mir sogar die Rückkehr zur Ausbildungsanstalt, weil ich für einen bloßen Guts- oder Firmenverwalter sowieso bereits viel zu viel weiß. Stattdessen soll ich einem Bruder dienen, der mich hasst. Ihr habt ihn dazu gebracht, zusammen mit der Madame. Ihr und Eure Gattin habt ihm nämlich jahrelang das erzählt, was ich heute hören durfte. Vielleicht kann ich ihn deshalb sogar verstehen, aber mögen oder gar lieben werde ich ihn nie. Meinetwegen könnt Ihr mich verstoßen, aber lieber wähle ich eine bürgerliche Existenz in Dunoise oder an einem anderen Ort, als dass ich mich auch noch selbst komplett erniedrige und Paul gehorche. Es reicht mir völlig, dass andere das von mir verlangen.“
Er hatte bereits die Brücke hinter sich in Brand gesteckt, also konnte er sie jetzt auch noch ganz einreißen. Ohne jede Erlaubnis verließ er die Bibliothek und danach das Haus. Jeden Augenblick rechnete er mit einem Losbrüllen des Ducs, aber nichts geschah. Er erreichte völlig unbehelligt den Stall und trat ein. Anstatt der heiß ersehnten Ruhe nach der Abendfütterung fand er jedoch zwei der Terraner vor. Den blonden Übersetzer und den Einarmigen. Der Gesunde schippte Mist, während der Invalide mit seiner ihm gebliebenen rechten Hand unbeholfen und deshalb geradezu übervorsichtig Gardienne striegelte.
Für einen Moment fuhr der im Erzählen begriffene braunhaarige Behinderte noch fort, dann zuckte er zusammen und blickte genau wie sein Landsmann Belian an. Beide Fremdweltler sahen jetzt bedeutend besser aus als zu früherer Stunde. Sie hatten geduscht, sich gepflegt und vor allem beinahe enthusiastisch geschwatzt. Bis jetzt, als der Schrecken in sie gefahren war und sie lähmte.
„Guten Abend, Monsieur Belian. Bitte verzeihen Sie die Störung, aber der Stallmeister hat uns angewiesen, nochmals auszumisten“, brachte der Blonde schwach vor. Es klang, als wolle er sich verteidigen.
Auch der andere Terraner murmelte einen halbwegs verständlichen französischen Gruß und sah dann zu Boden. In dem trotz langer Gefängnishaft noch sehr ebenmäßigen Gesicht des attraktiven Mannes stand die Angst. Dieselbe, die seit Belians Ankunft auch in der Mimik und im Ton des Übersetzers abzulesen war.
„Fahren Sie fort!“ Belian schlüpfte an der Mistkarre vorbei und trat zu Flores Box. Die Stute war von den Stallbediensteten gut versorgt worden, aber sie rollte mit den Augen, als sie ihn sah. Dann schnappte sie nach ihm. Beinahe schon gewohnheitsmäßig wich er aus. Das kannte er von Vent. Nur bei ihr war es neu.
„Ich bin hier um mich bei dir zu entschuldigen, Mädchen. Ich habe dir heute Unrecht getan…“ Zu einem Pferd konnte Belian sagen, was bei anderen Menschen schwerer gewesen wäre. Er bedauerte, keine Mohrrübe dabei zu haben, aber andererseits hatte sie gerade ihr Abendfutter bekommen, und Pferde konnten eigen sein. Genauso wie nachtragend.
„Monsieur?“ Einer der Terraner hatte sich zaghaft genähert. Der Mann mit dem fehlenden Arm. Er hatte den Striegel weggelegt und holte etwas aus der Tasche der schrecklichen orangefarbenen Hose.
Die Vokabeln, um es anzubieten, fehlten, also wurde nur die Hand ausgestreckt. Darauf lagen zwei Stücke Zucker, aber als die Stute das auch mitbekam und sich ruckartig streckte, fuhr der Ausländer zusammen und prallte zurück.
Es war so urkomisch, dass Belian trotz seiner düsteren Stimmung fast lachen musste. Er winkte den Mann heran, der äußerst misstrauisch auf das Pferd schielte, und packte dann die Hand.
Ein leiser Schrei war die einzige Reaktion, als der Besitzer dem Tier die Stücke auf diese Weise präsentierte. Wenn Flore die Wahl zwischen Bösartigkeit und Zucker hatte, wählte sie den Zucker. Sehr pferdetypisch.
Eine gute Idee war das jedoch dennoch nicht gewesen, denn der Offizier hatte sich versteift und sah sich aus weit aufgerissenen Augen hilfesuchend um. Sein Freund war jedoch fort.
‚Was müssen sie ihm angetan haben, dass er so schreckhaft ist? Ich habe doch nichts Böses gewollt!’
„Entschuldigung“, murmelte Belian auf Englisch und schöpfte damit einen guten Teil seines ‚Hallo, tschüss, bitte, danke, Entschuldigung’-Wortschatzes aus.
Die grünen Augen mit den langen Wimpern waren die eines scheuen Rehs, und das war nicht richtig. Diese Furcht war trotz des Umstandes, dass der Mann überhaupt ungebetenerweise hier war, schlimm! Belian war schließlich niemand vom Staatsschutz!
Auf das Pferd deutend murmelte er langsam: „Flore.“ Dabei formte er eine Blüte mit der Hand. Dann zeigte er auf sich selbst. „Etienne Belian.“ Nun kam der schwierige Teil: die Geste zu dem Mann, dem er gerade ungewollt Angst eingejagt hatte.
Es dauerte, aber schließlich kam die Reaktion nach einem tiefen Durchatmen und einem deutlichen Schlucken. „Julien Niven.“ Eine ganz leise, tonlose Auskunft.
„Leutnant Niven?“ Dieser Titel hatte auch Jasko viel bedeutet.
Ein Kopfnicken und eine Wortkombination, aus der Belian nur die Bestandteile ‚Navy’ und ‚Terra’ verstand, bestätigten das Phänomen auch hier. Wenigstens hatte die harmlose Nachfrage die Zunge etwas gelöst.
„Sprechen Sie Französisch? Ihr Name klingt vertraut.“
Blankes Unverständnis, das auf seine Art auch eine Erwiderung war.
„Julien kommt aus Toulouse. Das ist eine Stadt in der Gegend, aus der deine Urahnen damals ins All emigriert sind, Etienne. Heute spricht dort jedoch kaum noch jemand Französisch. Englisch ist die einzige Pflichtsprache Terras, wie ich dir glaube ich irgendwann schon erzählt habe.“
Jaskos nicht gänzlich ungezwungener Ton und die Verwendung des Du verleiteten den anderen Sprachkundigen, der neben dem Rollstuhl ging, zu einer leisen Bemerkung.
Niven entspannte sich sichtlich, als er sich im Kreis seiner Landsleute befand, während Belian unwohl zumute war. Sie waren jetzt zu sechst und er allein. Genau genommen hatten sie ihn von der nächstgelegenen Tür abgeschnitten. Er konnte zwar nach hinten rennen, aber zumindest Niven und der Übersetzer waren jung und wirkten nicht allzu sehr entkräftet. Auch der schwarzhaarige Terraner, der den Rollstuhl schob, würde zweifellos mitmischen können. Nur der Anführer und der braunhaarige Mann, den Belian heute mit Flore stehen gelassen hatte, waren etwas älter. Trotzdem, wenn sie es darauf anlegten, würden sie ihn vor der hinteren Tür einholen und gemeinschaftlich überwältigen können. Mit so vielen würde er trotz seiner Kenntnis in grundlegenden Selbstverteidigungstechniken nicht fertig werden.
Der Älteste sagte etwas, das nicht sonderlich bedrohlich klang. Der jüngere Blonde und der nun wieder ins Gefangenenorange gekleidete Jasko fingen zeitgleich an zu reden, und es war Julien Niven, der zuerst darüber lachen musste. Das war ein Signal und gleichzeitig auch eine Entwarnung für Belian, denn wer noch Humor hatte, dem ging es nicht allzu schlecht. Wenigstens ein Punkt weniger auf seiner ellenlang gewordenen Sündenliste, die dem Einheimischen wiederum den Frohsinn gleich im Ansatz vergällte. Das hatte seinerseits wieder einen deutlichen Effekt auf die Ausländer.
Der ältere Blonde machte schließlich eine Geste, und Jasko sprach die Übersetzung plus Zusatz aus: „Du musst keine Angst haben, Etienne. Wenn es dir lieber ist, reden wir zuerst allein, und ich stelle dir die anderen später vor. Lass mich dir nur sagen, dass kein Grund für Eifersucht besteht. Wir sind nach wie vor noch Freunde, genauso wie das hier auch meine Freunde sind. Ich möchte mich entschuldigen, denn ich habe mich heute falsch verhalten. Es war so unendlich überraschend. Ich hätte nie daran gedacht, dass dein Vater das mit dem Wunsch ernst meint und tatsächlich anbietet, uns alle aufzunehmen.“
„Ach, deshalb sind sie hier! Ich habe es bereits für eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gehalten.“
Der bittere herausfordernde Ton irritierte alle Männer, aber besonders diejenigen beiden, die nahezu perfekt Französisch beherrschten.
„Warum bist du denn plötzlich so aggressiv?“ Jasko war völlig verdattert. „Für uns ändert sich doch nichts.“
„Kristian, alles hat sich heute für mich verändert.“ Belian war völlig egal, wer alles zuhörte oder nicht. Dennoch dämpfte er aus reiner Gewohnheit seine Stimme. „Sie sind hier, weil mein Vormund dir dadurch den Lohn dafür auszahlte, dass du dich von ihm hast benutzen lassen. Er hat es mir gerade gesagt.“
„Aber…“ Jasko hatte lange genug auf dem Gut gelebt, um zu ahnen, dass etwas schiefgelaufen war. Die anderen waren hingegen auf eine Übertragung der Worte in ihre Sprache angewiesen, wozu der Zweitälteste den jungen Blonden nun mit einem Rippenstoß nachdrücklich aufforderte.
Noch während die englischen Worte zögerlich und äußerst leise flossen, strich Belian unbewusst über Flores weiche Nase. Ihm war nicht einmal klar, dass die Stute zwar nicht mehr nach ihm schnappte, aber dennoch keineswegs erfreut darüber war.
„Kein Aber. Er hat es mir gesagt. Ich bin ein halbes Jahr lang belogen worden. Die Auvergne war schon damals für mich verloren, und ich sollte darauf vorbereitet werden, meinem lieben kleinen, mich verabscheuenden Bruder zukünftig als Verwalter zur Seite zu stehen. Natürlich nur zum Wohl der Familie. Die Königin muss es in Anbetracht dessen wohl sehr passend gefunden haben…“
„… jemanden wie mich hierher zu schicken“, vollendete Jasko prompt. „Das tut mir schrecklich leid! Ich wusste das alles nicht, das musst du mir glauben!“
„Nein, das hat er mir auch gesagt. Mein Vormund war vermutlich sogar noch stolz darauf, dich genauso manipuliert und herabgewürdigt zu haben wie mich.“ Belian hob den Kopf. „Nur ich habe mir das nicht bieten lassen. Er kann sich jemand anderen suchen, der das für Paul macht.“
„Du hast dich gegen deinen Vater gestellt?“, wollte Jasko gepresst wissen. Natürlich wusste auch er um die Unmöglichkeit dessen, was Belian getan hatte. Es war beispiellos, sündhaft und würde garantiert schwere Konsequenzen nach sich ziehen.
„So ähnlich. Sagen wir, dass ich mich geweigert habe, seinem Willen zu entsprechen. Falls das jetzt irgendwelche Auswirkungen auf dich und deine Freunde hat, tut es mir leid, aber ich kann es nicht ändern.“
Nun war die Beunruhigung den Männern nach der Übertragung ins Englische klar anzusehen. Natürlich dachten sie dasselbe, aber schlussendlich sprach der Älteste mit der Narbe, und es wurde prompt von dem jüngeren Blonden auf Französisch ausgeführt: „Sie sollten sich um uns keine Sorgen machen. Ich vertraue auf das Wort des Duc d’Auvergne. Er ist gegenüber der Polizei verpflichtet und wird sein Angebot kaum zurücknehmen können. Wir werden ihm jedenfalls keinen Anlass geben, es zu tun. Denn entgegen allen Befürchtungen Ihres Geheimdienstes wird niemand von uns ernsthaft versuchen, sich nach Dunoise durchzuschlagen, ein Shuttle zu entwenden und ein Raumschiff zu entführen. Die Zeiten, in denen wir solche verzweifelten Pläne geschmiedet haben, sind lange vorbei. Es ist unrealistisch.“
„Nouvelle Espérance hat keinen Geheimdienst“, stellte Belian automatisch richtig.
„Und deine Blume kann aus der Pferdebox fliegen.“ Jasko fasste demonstrativ an seinen Fuß.
„Was ist das überhaupt, was du da hast?“
„Ein moderner Sender, was sonst? Wir alle haben heute so ein Ding um den Fuß bekommen. Mit Sicherheit orten sie uns per Satellit. Als wenn ohne diese ‚Schutzmaßnahme’ irgendjemand von uns ernstlich gewillt wäre, diese erträgliche Art der Gefangenschaft gegen eine Rückkehr ins Gefängnis einzutauschen. Schau dir die anderen doch an, Etienne! Da drin gehst du langsam kaputt.“
Der Übersetzter war damit nicht einverstanden und wandte etwas ein, woraufhin sich die anderen einmischten, und die Diskussion erst richtig losging.
Belian nutzte den Moment der Ablenkung, um sich von ihnen zu lösen, aber er hatte damit nicht viel Erfolg. Niven war scheinbar eher der stille Typ und schloss sich ihm ungefragt an. Immer noch von seinem schlechten Gewissen geplagt, wagte Belian nicht, ihn wegzuschicken.
Er ging lediglich in die Futterkammer und setzte sich auf eine Kiste. Der Terraner zögerte und gesellte sich schließlich dazu. Während der 24- oder 25-jährige Mann anscheinend Überlegungen anstellte, wie er die Sprachbarriere überwinden könnte, rief draußen jemand: „Julien?“
Das eine englische Wort hieß wohl: „Hier!“
Danach waren die anderen wieder da. Zwei der Offiziere sahen jedoch deutlich, wie negativ Belian darauf reagierte, und so blieb es lediglich bei einer kurzen Vorstellungsrunde und wenigen Erklärungen.
Der Übersetzer hieß Francis Garther, der ältere Braunhaarige William Heathen und der kompakt gebaute Schwarzhaarige, der immer in Kristian Jaskos Nähe blieb, war wie schon vermutet Andreas Maitland alias Andi, von dem Belian schon so manches Mal gehört hatte. Julien Niven hatte sich ihm ja bereits vorgestellt.
Zusammen mit dem im Gesicht gezeichneten Commander Jeffrey Abraham bildeten die fünf terranischen Leutnants jedenfalls eine in sich sehr verschiedene Gruppe. Sie waren einander aber auch durch etwas verbunden, das sie gemeinsam vollbracht und durchlitten hatten. Der Schiffbruch im All, die wochenlange Not, dann die Gefangenschaft und die Verhöre.
Nur zwei von ihnen sprachen Französisch, weil der blonde Garther es früher auf Terra von einem Privatlehrer gelernt, und Jasko in sechs Monaten auf der Schiffskrankenstation als Einziger die Zeit für das Sprachstudium mit einem Übersetzungsgerät gefunden hatte. Alle anderen hatten um das nackte Überleben gekämpft. Jeden Tag aufs Neue und 24 Stunden lang. Genauso wie der Rest ihrer viel zu kleinen Besatzung.
Nachdem sie sich bekanntgemacht hatten, zogen die Terraner sich zurück. Insbesondere Niven tat das sehr eigenartig, denn der Offizier berührte im Vorbeigehen vollkommen absichtlich und deshalb geradezu frech Belians Hand und drückte sie. Maitland ging ungern, aber Jasko bestand anscheinend darauf. Da war also noch jemand eifersüchtig, wie Belian nicht ohne Ironie dachte. Ein deutlicher Blick von Heathen war nötig, damit Jaskos Freund den anderen vier Männern folgte.
Der halb gelähmte Ausländer wendete seinen Rollstuhl gekonnt, als sie allein waren. „So… und jetzt erzähl mir bitte im Detail noch einmal…“
„Etienne!“, trällerte Paul geradezu fröhlich, und stand plötzlich in der Stalltür. „Bist du hier? Zeig dich! Unser Vormund verlangt nach dir, um deinen fetten Hintern ans Kreuz zu nageln, wie du es verdienst, wertes Bruderherz…“
Ironischerweise waren es exakt jene im Überschwang gesungenen, unstandesgemäßen Worte, die genau das verhinderten und dem Neunjährigen im übertragenen Sinn das Genick brachen.
Kristian Jasko hatte ein halbes Jahr lang hier gelebt. Er wusste um die absolute Macht des Ducs und auch um die Lebensweise der Bediensteten sowie die Belange des alltäglichen Lebens. Natürlich hörte angeblich keiner der Gutsangestellten jene Worte, aber sechs Terraner vernahmen sie. Zwei von ihnen folgten Belian daraufhin nach äußerst kurzer Beratung ins Gutshaus, aber dabei blieb es nicht. Der Duc glaubte nicht, was er hörte. Außer Jaskos und Garthers Aussagen waren in den zusätzlichen Einzelverhören jedoch auch die Äußerungen aller anderen Männer noch mehr oder weniger hilfreich.
So war die Haft eines Julien Niven beispielsweise aufgrund seines ‚französischen’ Geburtsortes auf Terra anfangs leichter gewesen als die der anderen Offiziere, bis der Leutnant energisch gegen die Vorzugsbehandlung protestiert hatte. Selbstverständlich hatte der Gefangene bis dahin regelmäßig unter Bewachung die Sonntagsmesse in einer Kirche von Dunoise besucht. Viel verstanden hatte er nicht, aber er hatte gleichfalls jedes Mal das Kreuz geküsst. Daher kannte er diese eine französische Vokabel und konnte sie nennen.
Abraham, Heathen und Maitland hatten ihrerseits während der Verhöre und bei anderen ‚Gelegenheiten’ verschiedene Verständniskompetenzen erworben. Sie legten ihr dürftiges Wissen genau wie die anderen drei Kollegen völlig offen, was sie im Gefängnis niemals getan hätten. Natürlich war die Situation ihnen allen unangenehm. Sie trieb Garther und Niven, die früher immer am meisten darunter gelitten hatten, auch diesmal den Angstschweiß auf die Stirn, aber alle Terraner sagten aus. Was zunächst nach Absprache und Verschwörung aussah, wurde gerade wegen der sich ergänzenden Bruchstücke schließlich zur Gewissheit. Weder Belian noch die Gefangenen hatten sich das Ganze ausgedacht.
Anstatt seinen zurückgesetzten Erstgeborenen wegen seiner Verweigerung und des sich darin manifestierenden Verstoßes gegen eines der Zehn Gebote trotz seiner siebzehn Jahre windelweich zu prügeln, nahm der Duc stattdessen den neunjährigen Paul. Der Kleine musste auf die harte Tour lernen, dass das Privileg, der Erbe zu sein, auch gravierende Nachteile haben konnte, wenn man sich danebenbenahm. Blasphemie wog noch schwerer als ein Verstoß gegen die in der Bibel festgeschriebene Ehrung von Vater und Mutter.
Anschließend war in Belians Fall vorerst nie wieder die Rede von Pflichten gegenüber der Familie. Nicht einmal mehr während des einmonatigen Zimmerarrests, den er sich verbissen mit dem Selbststudium seiner Lehrwerke vertrieb. Er wollte seine Ausbildung auf der Anstalt abschließen, und er durfte die Zeit nicht verlieren.
Es war hart, und er verlor trotz aller Bemühungen viel, weil manche Dinge sich eben nicht von selbst erschlossen, sondern einer Erklärung bedurften. Er umging es so gut er konnte, indem er in anderen leichteren Fächern eben vorarbeitete und mit dem Rest wartete. Alles hatte seinen Preis, aber gerade in Mathematik, Physik und vielleicht sogar in Chemie wusste er genau, wer ihm künftig helfen würde.
Die Terraner winkten ihm manchmal vom Hof aus zu, wenn sie von einem Ort zum nächsten geschickt wurden. Ihnen verdankte er viel, aber sie hatten es nicht aus uneigennützigen Motiven getan. Ein Kristian Jasko vielleicht, aber keiner der anderen. Das war während der Befragungen in der Bibliothek, die Belian alle live miterlebt hatte, klar geworden. Garther hatte fast die Nerven verloren, während Niven geheult und lediglich gestammelt hatte.
Der junge Erbe Paul hatte sich erneut keineswegs gut in Szene gesetzt, als er insbesondere den verängstigten und dadurch verletzbaren Invaliden Niven wegen dessen Standeslosigkeit ausgelacht und grob beschimpft hatte.
Die Terraner hatten sich alldem jedoch nicht grundlos ausgesetzt. Sie setzten auf Belian. Er war der Freund ihres Landsmannes Jasko. Er war daher vertrauenswürdig, und aus Vertrauen erwuchs wiederum eine Pflicht.
Der Zusammenhang wurde dem in der Schwebe hängenden ältesten Sohn des Ducs nur allzu deutlich klar, als er eines Abends aus der Ferne beobachtete, wie Maitland neben seinem besten Freund herging. Jasko thronte wiederum auf der willigen Flore, die von Niven langsam im Kreis herumgeführt wurde. Garther saß auf dem Rand eines Blumentrogs und schaute zu, während Heathen und Abraham sich unterhielten und ihn gelegentlich einbezogen. Es war ein friedliches Bild, zu dem Belian am Frühstückstisch die Erlaubnis gegeben hatte. Das wiederum war den Terranern übermittelt worden, die sein Pferd für die Fortsetzung von Jaskos Tiertherapie brauchten. Verständlicherweise hofften auch sie auf eine weitergehende Besserung der Rückenmarksverletzung und arbeiteten daran, so gut sie konnten. Sie standen füreinander ein, und sie hatten gemeinschaftlich für Etienne Belian eingestanden, um seine Position zu stärken und ihn gegen seinen kleinen Bruder zu verteidigen. Welchen Preis würden sie eines Tages dafür fordern? Ihre Freiheit? Die konnte Belian ihnen nicht geben. Was sonst wollten sie von ihm?
Sein Vormund behandelte ihn seit jenem Tag wie Luft, und auch die Duchesse vermied während der abendlichen Mahlzeiten gleichfalls, ihr erstes Kind anzusprechen. Nur Louise hatte manchmal ein trauriges Lächeln für ihren einsamen großen Bruder übrig. Was war es, was ein Außenseiter wie er sechs gefangenen Fremden geben konnte? Sie waren wenigstens erwachsen und kannten ihren Status auf Nouvelle Espérance. An jenem Abend ertappte der am Fenster stehende Belian sich dabei, dass er sie zumindest darum beneidete. Genauso wie um ihre Gemeinschaft, zu der er nie gehören konnte. Das dachte er jedenfalls.